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Leidenschaft und Empfindsamkeit
Leidenschaft und Empfindsamkeit
Werke für Violine und Klavier aus drei Jahrhunderten
Anne do Paço
„Sehr viel Geschmack und Empfindung“
„Italien hat nun wieder eine vortrefliche Violinspielerin an der Signora Caterina [sic] Strinasacchi aus Mantua gebürtig. Ich habe sie verschiednemal in Florenz, und jederzeit mit dem innigsten Vergnügen, in ihrem Concert gehöret. Es ist unglaublich, mit welcher Leichtigkeit und gutem Anstand das Mädchen (sie ist ohngefähr 18 Jahr alt und sehr gut gebildet) dies an sich schwere Instrument zu behandeln weis. Der Ton, den sie aus ihrer cremonesischen Geige herauszieht, ist feiner abgeschliffener Silberton. […] Sie hat sich einige Jahre in Paris aufgehalten, wo sie Gelegenheit hatte, die besten und größten Tonkünstler und Violinisten aller Nationen am Concert Spirituel zu hören, und das Brillante in der Ausführung, wie auch einige unschuldige Galanterien, mag sie wohl dort gelernt haben. […] Kurz, sie hat den besten Geschmack in der Music.“ Mit diesen Worten berichtete der deutsche Journalist und Musikschriftsteller Carl Friedrich Cramer 1782 begeistert über die italienische Geigerin Regina Strinasacchi. An Venedigs berühmtem Ospedale della Pietà ausgebildet, zählte sie zu den größten Violinvirtuosinnen der damaligen Zeit, in einem – abgesehen von den Fächern Gesang und Klavier – vollständig von Männern dominierten Musikbetrieb absolut ungewöhnlich. Nach ihrer Heirat mit dem Cellisten Johann Konrad Schlick wurde Strinasacchi außerdem als einzige Frau Mitglied der Gothaer Hofkapelle, wo sie auch als Gitarristin, Dirigentin und Komponistin wirkte.
Heute erinnert man sich an diese Ausnahmekünstlerin vor allem aufgrund der Sonate für Violine und Klavier B-Dur KV 454, die sie während eines Wien-Aufenthaltes bei Wolfgang Amadeus Mozart in Auftrag gab und mit ihm am Klavier am 29. April 1784 in einer Akademie in Anwesenheit von Kaiser Joseph II. zur Uraufführung brachte. Vier Tage vor dem Konzert berichtete Mozart an seinen Vater Leopold: „Hier haben wir nun die berühmte Mantuanerin Strinasacchi, eine sehr gute Violinspielerin; sie hat sehr viel Geschmack und Empfindung in ihrem Spiele. – Ich schreibe eben an einer Sonate, welche wir Donnerstag im Theater bey ihrer Akademie zusammen spielen werden.“ Die Uraufführung des Werkes war allerdings mit extrem heißer Nadel gestrickt, hatte Mozart bei seinen zahlreichen Verpflichtungen – Musikabende bei den Grafen Esterházy, Golicyn, Zichy und Pálffy, Subskriptionskonzerte, eine eigene Akademie im Burgtheater und tägliches Unterrichten – doch eigentlich gar keine Zeit zum Komponieren. Laut Hermann Aberts Mozart-Biographie konnte Regina Strinasacchi ihm am Vorabend des Konzertes zumindest die Violinstimme abnötigen. Für eine gemeinsame Probe reichte die Zeit aber ebenso wenig wie für das Ausschreiben des Klavierparts, so dass Mozart diesen im Konzert improvisierte und erst später schriftlich festhielt.
Die Umstände ihrer Entstehung merkt man der Sonate in keiner Weise an. Im Gegenteil: Entstanden ist eine Komposition, die in ihrem Ausdrucksspektrum, ihrer Virtuosität, aber auch großen Intimität und Zartheit aufs Schönste zeigt, was für eine außergewöhnliche Künstlerin Regina Strinasacchi gewesen sein muss. Mit kraftvoll-pathetischen Akkorden im Klavier und Doppelgriffen in der Geige, die Mozart mit einer innigen Melodie kontrastiert, beginnt die ebenso spannungsgeladene wie raumgreifende LargoIntroduktion, bevor sich Violine und Klavier im schnellen Hauptteil des Kopfsatzes einen humorvollen Schlagabtausch liefern, hinter dem immer wieder auch eine tiefgründige Empfindsamkeit hervorblitzt. Die expressive Sanglichkeit des Andante schmückt Mozart mit vielfältigen Verzierungen aus, die er womöglich aus dem improvisierenden Dialog der Uraufführung übernahm und festschrieb, während der Mittelteil des Satzes von einer dunkel-irrlichternden Romantik geprägt ist. Im Finale – einem tänzerischen Rondo – kehren Violine und Klavier dann wieder zu ihrem lustvollen musikalischen Wettstreit zurück.
John Cage, geboren am 5. September 1912 in Los Angeles, wollte als junger Mann zunächst Schriftsteller werden. Er studierte Literatur und schrieb Gedichte, zog 1930 durch Europa, beschäftigte sich mit antiker und gotischer Architektur, verfolgte die Ideen der Kunst-Avantgarde, begeisterte sich für das Bauhaus, spielte Klavier und begann schließlich während eines Aufenthaltes auf Mallorca zu komponieren. Er liebte Frauen und Männer und die Natur. Pilze faszinierten ihn genauso wie der Zen-Buddhismus. Schließlich intensivierte er seine Kompositionsstudien – in die USA zurückgekehrt – u.a. bei Henry Cowell in New York und Arnold Schönberg in Los Angeles und trat bald schon als Künstlerpersönlichkeit in Erscheinung, die die Entwicklung der Musik, aber auch die der Bildenden Kunst und – an der Seite seines Lebenspartners Merce Cunningham – des Tanzes im 20. Jahrhundert nicht nur nachhaltig beeinflussen sollte, sondern die Trennung der verschiedenen Bereiche kreativ aufbrach. Das klassische Konzert öffnete er zur Performance, zum Happening, Event und Crossover mit benachbarten Künsten. Mit seinem viereinhalbminütigen „Schweigen“, das bei seiner — Uraufführung 1952 einen Skandal provozierte und in dem all das hörbar wird, was sich gerade im Raum ereignet, landete er postum zu Weihnachten 2010 in den britischen Pop-Charts – initiiert durch eine Gruppe von Musikern, die der permanenten Dauerbeschallung mit Cages revolutionärem Aushebeln aller Konventionen ein stilles Statement entgegensetzen wollten. Auch heute, 27 Jahre nach seinem Tod in New York, polarisiert John Cage noch immer. Die Stille, mit der Cage in 4’33 derart radikal umging, ist ein zentraler Parameter seiner Musikauffassung. Aber auch alltägliche Klangkulissen wie Straßengeräusche oder das Gezwitscher der Vögel integrierte er in seine Werke. In vielen davon sah er sich selbst weniger als Schöpfer denn als Ermöglicher, der Räume öffnet, in denen sich die – nach seiner Vorstellung – selbständig existierenden Klänge, in einem von ihm entworfenen Koordinatensystem dem Zufall aleatorischer Prinzipien überlassen, entfalten können. Ein wichtiger Wegweiser war ihm hierbei das chinesische Orakel-Buch I Ging. Cage brachte aber auch den Humor in die Neue Musik zurück und vermochte nicht nur auf einem Kaktus zu musizieren, sondern vor allem dem traditionellen Instrumentarium durch Manipulation seiner Funktionsweisen neue Klangräume zu eröffnen. Bekanntestes Beispiel hierfür ist sein mit Schrauben, Bolzen,
Gummikeilen und anderen Materialien präpariertes Klavier, für das Cage eine ganze Reihe von Werken komponierte.
Seine dem Künstlerpaar Josef und Anni Albers gewidmeten Six Melodies für eine ohne jedes Vibrato zu spielende Violine und Klavier (in der Partitur nicht als „piano“, sondern als „keyboard“ bezeichnet) zeigen dagegen eine andere Seite des Komponisten. Cage schrieb sie 1950, kurz nachdem er sein Streichquartett vollendet hatte, und bezeichnete sie gegenüber Pierre Boulez als ein „postscript“ zu diesem. Die Kompositionsweise ist dieselbe: die sogenannte Gamut-Technik, in der im Vorfeld festgelegte Klangeinheiten aus Einzeltönen, Intervallen oder Akkorden zu Melodien verbunden werden, deren Tonalität nichts mehr mit einer funktionalen Harmonik zu tun hat. Die Six Melodies entfalten sich als musikalischer Fluss, in dem sich die beiden Instrumente die Töne – wie in einem mittelalterlichen Hoquetus – permanent gegenseitig zuspielen. Eine Melodie erscheint so nicht mehr als durchgezogene Linie in einem einheitlichen Klangklima, sondern als eine raffinierte Verschränkung von zwei komplementär sich ergänzenden Klangfarben und nicht zuletzt zwei Musikern, die wie in einem Ballspiel miteinander agieren.
Poesie der Nacht
Wie John Cage nimmt auch George Crumb, der im Oktober 2019 seinen 90. Geburtstag feierte, eine solitäre Stellung in der Musik des 20. Jahrhunderts ein. In Charleston, West Virginia, als Sohn einer Musikerfamilie geboren, studierte er Komposition u.a. an der University of Michigan bei Ross Lee Finney sowie in Berlin bei Boris Blacher. Lehraufträge führten ihn an verschiedene amerikanische Universitäten. 1968 wurde er für sein Orchesterwerk Echoes of Time and Rivers mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Sind einige seiner frühen Werke durch Anton Webern und die Zwölftontechnik beeinflusst, so ging Crumb ab den 1960er Jahren konsequent seinen ganz eigenen Weg einer Musik, die als Poesie des Nächtlichen beschrieben werden kann. In einer Art Alchemie der Klänge fängt Crumb Licht und Schatten ein und spürt Räume auf, die hinter dem äußerlich Sichtbaren liegen. In ihrem spekulativen Gestus und ihrer völligen Subjektivität ist Crumbs Musik von einer großen Verletzlichkeit und Fragilität. Der Dialog mit der ihn umgebenden Welt, die Transformation von Geräuschen und Assoziationen in Kompositionen ist – zu einer Zeit, in der die Integration außer-
musikalischer Ereignisse in zeitgenössische Musik ungewöhnlich, in bestimmten Avantgarde-Kreisen gar verpönt war – ein weiteres zentrales Moment der Ästhetik Crumbs. Er wollte „die uralte Idee wieder einführen, dass Musik eine Widerspiegelung der Natur ist“ und bekannte: „Musik drückt sich selbst aus. Aber ich glaube, sie kann gleichzeitig gefärbt sein durch außermusikalische Dinge, etwa ein Gemälde, ein Gedicht, ein Ereignis, einen Menschen oder eine Erinnerung. All dies kann auf sehr mysteriöse Weise Teil der Musik werden.“ Im Aufspüren verborgener Geheimnisse, seinem Verständnis des Menschen als winziges Körnchen in einem unendlichen Schöpfungskosmos, aber auch einer Kompositionstechnik, die in der Genauigkeit der Setzung aller musikalischen Parameter zutiefst rational ist, ist Crumb dem Franzosen Olivier Messiaen vergleichbar. Große Orchesterbesetzungen finden sich in Crumbs Werken – anders als bei Messiaen – allerdings nur selten. Vor allem dem Klavier und dem Kammermusikalischen wusste er neue Dimensionen zu eröffnen.
Four Nocturnes (Night Music II) für Violine und Klavier entstand 1964 als Fortspinnung der im Jahr zuvor komponierten Night Music I für Sopran, Klavier und Schlagzeug. Das Stück ist eine Einladung, in die äußerst zarten Klänge der nächtlichen Natur einzudringen – in ihre Stille, ihre Sanftheit, das ruhige Säuseln des Windes, das Klopfen eines Spechts, die Stimmen jener Vögel, die noch nicht schlafen, oder ein nicht klar zu deutendes Rascheln im Dunkeln. In nur acht Minuten gelingt es Crumb, nicht nur unser präzises Zeitempfinden, sondern auch die tradierten Vorstellungen vom Klang der Violine und des Klaviers außer Kraft zu setzen. Auf beiden Instrumenten verwendet Crumb ungewöhnliche Spieltechniken wie filigrane Flageoletts der meist im höchsten Register spielenden Violine, flirrend-nervöse Tremolo-Effekte, große Intervallsprünge, verschiedene Arten von Pizzicato und Klopfen auf den Geigenkorpus. Auch der Pianist beschränkt sich nicht auf das Anschlagen der Tasten, sondern nutzt die Möglichkeiten des Flügels jenseits der Klaviatur: durch Zupfen oder Abdämpfen der Saiten mit den Fingern, Darüberstreichen mit einem Metallpinsel oder Klopfen auf die Metalltraversen des Instruments. Wie Cage begibt sich Crumb mit derartigen Experimenten auf die Suche nach unverbrauchten Gestaltungsmitteln und erweitert vertraute Timbres und Klangmuster durch in vielfältige Facetten ausdifferenzierte Geräuschfarben. Während Cage aber auf der Basis ostasiatischer Philosophie den „Sinn der Musik“ darin sah, „den Geist zu ernüchtern und zu beruhigen, um ihn so für göttliche Einflüsse empfänglich zu machen“, ist Crumb überzeugt, „dass die wahrhaft magischen und spirituellen Kräfte der Musik tief aus unserer Seele kommen“. Im Aufspüren dieser Kräfte entstehen Crumbs von einer ganz eigenen Schönheit geprägte Klangwelten.
Aus der Seele des Künstlers
Guillaume Lekeu zählt zu jenen Komponisten, bei denen man sich unweigerlich fragt, was die Welt wohl noch von ihnen hätte erwarten dürften. Vor 150 Jahren am 20. Januar 1870 im belgischen Heusy bei Verviers geboren, schon als Kind auf dem Klavier, Violoncello und der Violine und später bei César Franck und Vincent d ’ Indy in Paris zum Komponisten ausgebildet, galt er als eines der großen Talente des Fin de siècle. Er bewunderte Beethoven und Wagner, dessen Werke er bereits als Jugendlicher in Bayreuth hörte. Für seine Kantate Andromède wurde ihm 1891 der zweite Preis im Wettbewerb um den begehrten Prix de Rome zuerkannt, er lehnte die Auszeichnung aber ab, weil er sich von der Jury nicht verstanden fühlte. Sein Werk umfasst an die 50 Kompositionen, von denen seine großformatige Violin- und eine Cellosonate, ein Streichquartett, ein Klaviertrio sowie ein nicht vollendetes Klavierquartett besonderes Augenmerk verdienen. Zeitgenossen wie Claude Debussy erkannten schnell die ungeheure Begabung Lekeus. Sie zur Reife zu bringen, war ihm indes nicht vergönnt: einen Tag nach seinem 24. Geburtstag starb er am 21. Januar 1894 an den Folgen einer Typhus-Infektion. Seine Violinsonate entstand zwei Jahre zuvor im Auftrag des belgischen Violinvirtuosen und Komponisten Eugène Ysaÿe, der sie im März 1893 dann auch zur Uraufführung brachte. Wie die Violinsonate seines Lehrers César Franck zeichnet sich Lekeus Werk durch ihre zyklische Geschlossenheit aus. Der zu Beginn eingeführte Hauptgedanke zieht sich in immer neuer Beleuchtung durch alle drei Sätze – ein im Charakter lyrisch-versonnenes Thema, das aber auch dramatisch auftrumpfend oder voller romantischer Emphase erscheinen kann. Nach einem abwärts gerichteten Oktavsprung wird dieser Raum dann in den folgenden Takten ausgefüllt, so dass es scheint, als hörte man beim Entstehen der Gedanken zu. Das Klavier bereitet der Violine einen weichen Akkordteppich, bevor es das Thema selbst aufgreift und sich ein Dialog zwischen den Instrumenten entspinnt. Die Harmonik ist von fluktuierender Chromatik geprägt, und durch Arpeggien, Überbindungen und Triolen werden die Taktschwerpunkte immer wieder verwischt. Im Hinblick auf die formale Anlage geht Lekeu ganz eigene Wege, indem er die tradierte Form des Sonatensatzes in den Hintergrund stellt zugunsten einer zutiefst subjektiven Emotionalität – einer Kunst des Ausdrucks, die mal voller energiegeladener Leidenschaft, fesselnder Dramatik, großer Klangfülle und expressiver Farbigkeit, dann wieder von ruhelos herumirrender Melancholie und hitziger Verzweiflung gekenn - zeichnet ist. Seine ganze Seele wollte Lekeu, nach seinen eigenen Worten, in seine Musik legen. In der mit 35 Minuten Spieldauer monumentalen Violinsonate gewährt uns dieser junge Künstler einen Blick in sein Innerstes. Vielleicht war es diese Komposition (und nicht die Violinsonate von César Franck), die Marcel Proust in seiner „Schule der Sensibilität“, dem Roman À la recherche du temps perdu, zur berühmten literarischen Fiktion der Vinteuil-Sonate inspirierte.
Anne do Paço studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Germanistik in Berlin und ist seit 2009 Dramaturgin an der Deutschen Oper am Rhein. Sie veröffentlichte Aufsätze zur Musik- und Tanzgeschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts und war als Autorin u.a. für die Kammerphilharmonie Bremen, das Wiener Konzerthaus und die Opéra National de Paris tätig.