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Tabea Zimmermann

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Inside the Inside

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Stimme der Melancholie?

Musik für und mit Bratsche

Michael Kube

Bach griff gern zur Bratsche. Auch Mozart spielte im Herbst 1786 bei ebenso legendären wie privaten Quartett-Unterhaltungen die Viola. Und für Paul Hindemith, der einige Jahre als Konzertmeister im Frankfurter Opern- und Museums-Orchester wirkte, war das Instrument im Streichquartett wie auch beim Solo die erste Wahl. Weshalb? Weil die Bratsche in der Mittellage nicht nur die Außenstimmen eines Ensembles zusammenhält, sondern auch selbst durch ihren sonoren, melancholischen, nahezu menschlich wirkenden Ton fasziniert. So ist die Viola ein von innen heraus singendes Instrument, auf dem sich in früheren Jahrhunderten müde Musiker ausgeruht haben mögen, das aber spätestens seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Solorolle höchste Virtuosität erfordert – etwa in Hindemiths 1922 entstandener Sonate für Bratsche solo op. 25 Nr. 1, die den Interpreten mit Vortragsbezeichnungen wie „viel Ausdruck“, aber auch „rasendes Zeitmaß. Wild. Tonschönheit ist Nebensache“ konfrontiert. Dass die Viola, konzertant wie kammermusikalisch, in der Musikgeschichte überhaupt und viel zu spät als Soloinstrument entdeckt wurde, geht wohl zu einem Großteil auf all jene Komponisten zurück, die selbst mit dem Instrument auf die Bühne traten – neben Hindemith zählen dazu auch Emil Bohnke, Frank Bridge und Benjamin Britten. Bereits Hector Berlioz hatte 1834 mit Harold en Italie eine Symphonie mit obligater Bratsche geschaffen (das Werk war für Paganini bestimmt) und notierte ein Jahrzehnt später in seiner wegweisenden Instrumentationslehre: „Von allen Instrumenten im Orchester ist die Viola dasjenige, dessen ausgezeichnete Eigenschaften man am längsten verkannt hat. Sie ist ebenso behende als die Violine, der Ton ihrer tiefen Saiten besitzt einen eigentümlichen Anreiz, ihre hohen Töne schillern durch ihren traurig-leidenschaftlichen Ausdruck, und ihr Klangcharakter im Allgemeinen, von tiefer Schwermut, scheidet sich von dem der anderen Streichinstrumente merklich ab.“ Noch sinnfälliger, in der Wortwahl an die Geschmacksnuancen eines Whiskys erinnernd, beschrieb 1994 György Ligeti den spezifischen Charakter des Instruments, das tatsächlich das Innerste anzusprechen vermag und durch seine Klangschatten seltsam wärmt: „Eigenartige Herbheit, kompakt, etwas heiser, mit dem Rauchgeschmack von Holz, Erde und Gerbsäure.“

George Benjamin: Viola, Viola

Unter den zeitgenössischen Komponisten zählt er keinesfalls zu den Vielschreibern. Vielmehr befragt der 1960 in London geborene George Benjamin sein musikalisches Material intensiv und lotet es in seinen Konsequenzen aus. Dies gilt auch für das Duo Viola, Viola, das 1997 für eines der von Tōru Takemitsu kuratierten Konzerte zur Einweihung der Tokyo Opera City Concert Hall entstand. Über die damit verbundenen klanglichen und schöpferischen Herausforderungen notierte Benjamin bei späterer Gelegenheit: „Ich freute mich natürlich darauf, diesen Vorschlag meines tief betrauerten Freundes Tōru Takemitsu aufzugreifen. Es war seine Idee, ein Bratschen-Duo für seine Freunde Yuri Bashmet und Nobuko Imai zu komponieren. Meine ersten Überlegungen, wie man die vielen kompositorischen Probleme dieser unkonventionellen Besetzung lösen könnte, legten die angestammte Rolle der Viola als melancholisch umschattete Stimme nahe. Doch schon bald drängte sich ein völlig anderer, nämlich feuriger und energiegeladener instrumentaler Charakter auf. Manchmal schwebte mir eine geradezu orchestrale Tiefe und Vielfalt des Klangs vor. Dies trug dazu bei, dass die beiden Viola-Stimmen nachgerade miteinander verflochten sind – klar unterscheidbare Linien beginnen erst zur kantablen Mitte des Werkes hin aufzublühen. Die angedeutete Harmonik soll so klangvoll wie möglich sein, indem die Faktur über längere Passagen manchmal vier oder mehr Stimmen umfasst.“

Als einer von wenigen Musikern trat Frank Bridge neben seiner schöpferischen Tätigkeit als Komponist auch als professioneller Bratscher hervor. Zeit seines Lebens außerdem als Dirigent aktiv, lag ihm mehr noch als das Schreiben symphonischer Partituren die Kammermusik am Herzen. Bei den legendären Wettbewerben von Walter Wilson Cobbett ging er vor dem Ersten Weltkrieg mit seinen Phantasies mehrfach als Preisträger hervor; 1923 lud ihn die vor allem an Kammermusik interessierte amerikanische Mäzenin Elizabeth Sprague Coolidge zum Pittsfield Festival ein und gewährte später eine jährliche Unterstützung, mit deren Hilfe sich Bridge gänzlich auf das Komponieren konzentrieren konnte. Neben vier Streichquartetten und zwei Klaviertrios entstanden auch ein Streichquintett und ein Sextett. Das in weiten elegischen Linien sich aussingende Lament für zwei Bratschen stammt noch aus der Vorkriegszeit. Es wurde von Bridge und Lionel Tertis zusammen mit Werken von Cyril Scott, Benjamin Dale und York Brown am 18. März 1912 in London uraufgeführt – in einem Konzert, das unter dem Motto „Music for the Viola“ der Idee des heutigen Programms nicht fern stand.

Paul Hindemith: Des Todes Tod

Hindemiths tief empfundener und ausdrucksstarker dreiteiliger Liederzyklus, der 1922 innerhalb von nur drei Tagen entstand, gehört zu den unbekannten und sehr selten gespielten expressionistischen Werken des jungen Komponisten. Gründe für die geringe Popularität lassen sich in der späten Publikation 1953 (zu der Hindemith durch wiederholte Anfragen gedrängt worden war) wie auch in der ungewöhnlichen Besetzung mit Sopran, zwei Bratschen und zwei Violoncelli finden. Die zugrunde liegenden Verse von Eduard Reinacher erschienen erst nach Abschluss der Komposition 1923 selbständig im Druck. Gewidmet ist das Werk dem „Angedenken an Frau Doktor Weber in Aarau“ (in der Schweiz), bei deren Familie Hindemith vor dem Ersten Weltkrieg mehrfach zu Gast war. Möglicherweise wären die Lieder ohne diesen äußeren Widmungsanlass gar nicht geschrieben worden, denn Hindemith hatte, so erinnerte sich Reinacher, ursprünglich keinen musikalischen Zugang zu den Dichtungen gefunden: „Diese Verse sprechen mich an, aber sie reizen mich nicht zum Komponieren. Wenn ich aus einem Text ein Lied machen soll, so muß es lockere Stellen haben, die vom Dichter gewissermaßen ausgespart sind, freigelassen für den Komponisten, derart, daß die Musik hier gebraucht wird. Du aber arbeitest selbst auf Deine Art als Musiker, es bleibt mir kein Raum, das eigene beizutragen […].“ Hindemith umging die Schwierigkeiten, indem er die Texte wie einen natürlichen Sprechgesang vertonte, der instrumentalen Begleitung aber in den Vor-, Zwischenund Nachspielen zur eigenen Sprache verhalf – so in Gesicht von Tod und Elend, noch radikaler aber in Des Todes Tod, das nur von einer einzigen gedämpften und zunächst auf der C-Saite zu spielenden Viola begleitet wird.

György Ligeti: Sonate für Viola solo

Er gilt als einer der großen Klangmagier des 20. Jahrhunderts: Mit Continuum befreite György Ligeti 1968 das Cembalo von seiner barocken Perücke, und bereits in den Jahren unmittelbar zuvor hatte er mit Lontano ein Symphonieorchester in ein Kaleidoskop verwandelt und mit Lux aeterna ein Chorstück wie ein schwebendes Klangfeld geschrieben. Später erweitere Ligeti sein stilistisches Spektrum um rhythmische Verwebungen, mikrotonale Farben und oftmals aus dem europäischen Osten stammende Tonsysteme. Doch wo seine Musik ein volksmusikalisches Idiom aufgreift, wird sie nicht bloß zitathaft, sondern bleibt originär. So auch in der sechs Sätze umfassenden Sonate für Viola solo, die Stück um Stück zwischen 1991 und 1994 entstand, angeregt durch das Spiel von Tabea Zimmermann. Über die einzelnen Sätze notierte Ligeti anlässlich der Uraufführung am 23. April 1994 in Gütersloh:

Erster Satz „Hora lungă“. Er evoziert den Geist der rumänischen Volksmusik, die mich – zusammen mit der ungarischen und der der Zigeuner – in meiner Kindheit in Siebenbürgen stark geprägt hat. Ich habe aber keine Folklore komponiert und auch keine folkloristischen Zitate verwendet, eher scheint diese Musik in Allusionen auf. „Hora lungă“ bedeutet wörtlich „Langsamer Tanz“, doch in der rumänischen Tradition […] ist das kein Tanz, vielmehr sind es gesungene Volkslieder, reich ornamentiert, nostalgisch und melancholisch. […] Dieser Satz wird vollständig auf der C-Saite gespielt, wobei ich Naturintervalle (reine große Terz, reine kleine Septime, auch den elften Oberton) verwende.

Zweiter Satz „Loop“. Der Titel bezieht sich auf die Form: Dieselben melodischen Wendungen werden wiederholt, rhythmisch stets variiert und in immer schnellerem Tempo. Der Interpret spielt ausschließlich Doppelgriffe, wobei eine der beiden Saiten stets leer ist. Das zwingt den Spieler zu waghalsigem Lagenwechsel, was im schnellen Teil des Satzes eine „gefährliche Virtuosität“ erzeugt. Außerdem muss dieser Satz im Geist des Jazz gespielt werden, elegant und „relaxed“.

Dritter Satz „Facsar“. „Facsar“ ist ein ungarisches Zeitwort, das „wringen“ oder „verdrehen“ heißt und sich auch auf das ziehende, bittere Gefühl bezieht, das man in der Nase spürt, wenn man weinen muss. Dies ist ebenfalls ein Doppelgriffstück, eine Art gemessener Tanz mit verrückten, verdrehten Modulationen, pseudotonal.

Vierter Satz „Prestissimo con sordino“. Aus einer gleichmäßigen Perpetuum mobile-Bewegung […] schälen sich allmählich, durch polyrhythmische Akzentuierung und durch das Ausnutzen der kontrastierenden Charaktere der einzelnen Saiten, halb versteckte, illusionistische Melodiefragmente heraus, etwa im Geiste von Maurits Escher. Fünfter Satz „Lamento“. Strenge Zweistimmigkeit, hauptsächlich in Sekund- und Septimparallelen. Indirekter Einfluss von verschiedenen ethnischen Kulturen: Ähnliche Sekund-Zweistimmigkeit gibt es auf dem Balkan […], an der Elfenbeinküste […] und in Melanesien […].

Sechster Satz „Chaconne chromatique“. Man sollte keine Anspielung auf die berühmte Bach-Chaconne erwarten, meine Sonate ist viel bescheidener, nicht historisierend, auch verträgt sie keine Monumentalformen. Ich verwende das Wort Chaconne im ursprünglichen Sinn – als wilden ausgelassenen Tanz in stark akzentuiertem Dreivierteltakt mit ostinater Basslinie.

György Kurtág: In nomine – all’ongherese

Von Anfang an stand für György Kurtág die Konzentration des musikalischen Materials im Mittelpunkt des Schaffens. Jedes seiner Werke gleicht einer Momentaufnahme, bei der in extremer Verknappung einzelne Intervalle, Töne und Gesten pointiert erscheinen, melodische Fragmente und Bewegungsimpulse genau abgehört und ausgelotet werden. Dies gilt auch für In nomine – all’ongherese, als Teil der Sammlung Jelek, játékok és üzenetek (Zeichen, Spiele und Botschaften). Das Stück steht in Zusammenhang mit einem vom ensemble recherche und den Wittener Tagen für Neue Kammermusik initiierten Projekt, bei dem erstmals 1999 insgesamt 14 zeitgenössische „In nomine“-Kompositionen zur Aufführung gelangten. Aufgegriffen wurde damit eine im 16. Jahrhundert bestehende Tradition, die ihrerseits auf einen motivisch wie kontrapunktisch signifikanten Abschnitt der Messe Gloria tibi trinitatis von John Taverner zurückgeht.

Luciano Berio: Naturale

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörte Luciano Berio zu jenen Komponisten, die sich mit den gegebenen technischen wie ästhetischen Dogmen zwar auseinandersetzten, diese aber in ihrem Schaffen durch ganz eigenständige Lösungen zu überwinden suchten. Für Berio spielte die menschliche Stimme dabei eine ebenso große Rolle wie die Verwendung von nur einem einzigen Instrument. Beispielhaft zeigt sich dies in den zwischen 1958 und 2002 entstandenen, insgesamt 14 mit Sequenza überschriebenen Kompositionen (von denen einige unter dem Titel Chemins ins Orchestrale erweitert wurden). Dieser inneren Freiheit steht vielfach als „Kontrapunkt“ die intensive kreative Auseinandersetzung mit Musik der Vergangenheit gegenüber: von Monteverdi über Schubert und Brahms bis hin zu Gustav Mahler. In der Spannung zwischen Altem und Neuen, zwischen verschiedenen musikalischen Kulturen entzündete sich offenbar Berios Fantasie am leichtesten. Dies gilt auch für das 1985 komponierte Naturale. Nur rein optisch steht dabei in der Partitur die Viola im Zentrum, tatsächlich findet akustisch eine dichte, vollständig auskomponierte Interaktion mit insgesamt sieben Zuspielungen vom Tonband statt, bei denen es sich um Lieder des sizilianischen Volkssängers und Wanderhändlers Peppino Celano handelt. Berio hatte sie einst selbst auf einem Markt in Palermo aufgenommen und bemerkte dazu: „Wenn ich mit dieser Musik [Volksmusik] zu tun habe, bin ich gefangen von der Aufregung, Entdeckungen machen zu wollen.“ Rhythmisch wie klanglich werden Viola und Zuspielung sekundiert von Tam-Tam, Marimba und Pauken, und wie auf einer Theaterszene wird das Werk durch einen Gongschlag ein- und ausgeleitet. Ursprünglich war das Stück als „tänzerische Handlung“ konzipiert, doch hat Berio auch konzertante Aufführungen zugelassen – wohl wissend, dass es die Musik selbst ist, die in Bewegung gerät.

PD Dr. Michael Kube ist Mitglied der Editionsleitung der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), Herausgeber zahlreicher Urtext-Ausgaben und Mitarbeiter des auf klassische Musik spezialisierten Berliner Streaming-Dienstes Idagio. Außerdem konzipiert er die Familienkonzerte „phil zu entdecken“ der Dresdner Philharmoniker. Er ist Juror beim Preis der deutschen Schallplattenkritik und lehrt an der Musikhochschule Stuttgart sowie an der Universität in Würzburg.

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