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Zwischen Hof und Opernbühne
Streichquartette von Mozart, Verdi, Puccini und Tschaikowsky
Jürgen Ostmann
Die Anfänge des Streichquartetts wurden durch Luigi Boccherini zwar von einem italienischen Komponisten mit geprägt, doch die weitere Entwicklung der Gattung zur angesehensten und anspruchsvollsten der Kammermusik ist untrennbar verbunden mit der deutsch-österreichischen Tradition und den Leistungen der Wiener Klassiker. Ein Werk aus dem Kernbestand dieser Tradition eröffnet den heutigen Abend. Für die Autoren der drei folgenden Stücke spielte die Quartettkomposition dagegen nur eine angenehme Nebenrolle.
Cellomelodien für einen König Mozarts Streichquartett KV 589
Wolfgang Amadeus Mozart litt in seinen letzten Lebensjahren unter drückenden finanziellen Sorgen. Als Klaviervirtuose war er in Wien nicht mehr gefragt, er musste zunehmend vom Unterrichten leben und schrieb immer häufiger Bettelbriefe an den befreundeten Kaufmann Michael Puchberg. In dieser Lage nahm er gern eine Einladung des Fürsten Karl Lichnowsky an, ihn auf einer Reise zu begleiten. Sie führte die beiden im April und Mai 1789 über Prag, Dresden und Leipzig nach Potsdam und Berlin. Dort bemühte sich Mozart intensiv darum, vor dem musikliebenden König Friedrich Wilhelm II. spielen zu dürfen, und lange Zeit nahm man an, er habe bei einem solchen Zusammentreffen den Auftrag für sechs neue Streichquartette erhalten. Briefe des Komponisten an seine Frau legen dies nahe, doch Hofdokumenten zufolge fand die Audienz nie statt. Mozart schrieb seine letzten Quartette offenbar ohne formellen Auftrag.
Dennoch begann er schon auf der Rückreise nach Wien mit der Komposition. Fertig wurde zunächst nur ein Werk, das D-DurQuartett KV 575. Zwei weitere, KV 589 und KV 590, konnte Mozart erst im Juni 1790 vollenden, ein viertes brach er frühzeitig ab. So kam die zeitübliche Sechserserie und damit auch die Widmung an den preußischen König nicht zustande. Mozart sah sich „gezwungen, meine Quartetten (diese mühsame Arbeit) um ein Spottgeld herzugeben“, und der Wiener Verlag Artaria, der ihm dieses Honorar zahlte, ließ die Stücke zunächst in der Schublade verschwinden. Erst am 31. Dezember 1791 kündigte das Unternehmen den Druck an – nicht ohne den Tod des Komponisten knapp vier Wochen zuvor verkaufsfördernd ins Spiel zu bringen: „Diese Quartette sind eines der schätzbarsten Werke des der Welt zu früh entrissenen Tonkünstlers Mozart, welche aus der Feder dieses so großen musikalischen Genies nicht lange vor seinem Tode geflossen sind, und all jenes musikalische Interesse von Seiten der Kunst, der Schönheit und des Geschmackes an sich haben, um nicht nur in dem Liebhaber, sondern auch in dem tiefen Kenner Vergnügen und Bewunderung zu erwecken.“ Später wurden Mozarts letzte Streichquartette doch noch als seine „Preußischen Quartette“ bekannt, und ihre ursprüngliche Bestimmung ist ihnen auch deutlich anzumerken. Friedrich Wilhelm II. war ein begeisterter Cellist – wohl kaum ein Virtuose, aber doch ein überdurchschnittlich befähigter Amateur. Sein Hof wurde daher zu einem Zentrum des Cellospiels, zumal mit den Brüdern JeanPierre und Jean-Louis Duport zwei der berühmtesten Cellisten der Zeit in der königlichen Kammermusik wirkten. In Mozarts „Preußischen Quartetten“ spielt das Cello eine prominente Rolle: Statt wie früher nur das harmonische Fundament zu liefern, tritt es oft und zuweilen in überraschend hoher Lage solistisch hervor. Im B-Dur-Quartett KV 589 stellt es beispielsweise das fließende zweite Thema des Kopfsatzes vor, ebenso das Hauptthema des langsamen zweiten Satzes.
Die Interessen seines Adressaten berücksichtigte Mozart aber noch in einem anderen Punkt: Im Vergleich zu den experimentierfreudigen „Haydn-Quartetten“ aus den Jahren 1782 bis 1785 sind die „Preußischen“ etwas einfacher strukturiert, klanglich durchsichtiger und von kürzerer Spieldauer. Zudem vermied Mozart Extreme im Ausdruck und beschränkte ungewohnte klangliche Effekte auf wenige, eng begrenzte Stellen. So fällt beispielsweise in der Reprise des ersten Satzes von KV 589 eine stark chromatische, kanonartig zwischen hohem und tiefem Stimmenpaar pendelnde Passage auf. Der zweite Teil des Trioabschnitts im Menuett beginnt mit merkwürdigen Akzenten, harschen Harmoniewechseln und einer überraschenden Generalpause. Und das knapp gefasste Schlussrondo enthält manche gewagte Modulation. Insgesamt jedoch schrieb Mozart – ohne je seinen kompositorischen Anspruch zu verleugnen – Gesellschaftsmusik nicht nur für „tiefe Kenner“, sondern auch für „Liebhaber“.
Eine Pflanze in fremdem Klima Verdis Streichquartett e-moll
Giuseppe Verdis Streichquartett verdankt seine Entstehung einer unfreiwilligen Unterbrechung in der Opernarbeit des gefeierten Bühnenkomponisten. Im Winter 1872/73 hielt er sich in Neapel auf, um dort Don Carlo und Aida einzustudieren. Als die Proben wegen einer Erkrankung der Sopranistin verschoben werden mussten, nutze Verdi die Zeit zur Komposition seines einzigen Kammermusikwerks – ungeachtet seiner eigenen Feststellung, das Streichquartett könne in Italien nicht gedeihen, sei wie eine Pflanze, der das Klima dort nicht bekomme. Doch er hatte sich mit der Gattung lange und intensiv beschäftigt, und die Quartette der Wiener Klassiker nahmen im Notenschrank auf seinem Landgut Sant’Agata den Ehrenplatz über seinem Bett ein. Mit der privaten Uraufführung des e-moll-Quartetts überraschte Verdi am 1. April 1873 seine Freunde. Danach widersetzte er sich zunächst allen Plänen, das Werk öffentlich aufzuführen oder gar drucken zu lassen. Erst dem wiederholten Drängen seines Verlegers Giulio Ricordi gab er drei Jahre später schließlich nach.
Der Einfluss Haydns, Mozarts und Beethovens ist in Verdis Quartett offenkundig, so etwa im ersten Satz mit seinem klassischen Kontrapunkt, dem Prinzip der „durchbrochenen Arbeit“ (in der ein Thema auf verschiedene Stimmen verteilt wird) und der konzentrierten Durchführung. Doch ganz kann Verdi den Opernkomponisten nicht verleugnen: Das Hauptthema des Kopfsatzes ist aus einem Motiv aus Aida abgeleitet. Den spieltechnisch anspruchsvollsten Teil des Quartetts bildet zweifellos das nach allen Regeln polyphoner Kunst gestaltete Finale. Verdi war sich darüber im Klaren, als er an Ricordi schrieb: „Wenn Du während der Proben eine Stelle hörst, die ziemlich unklar klingt, dann sag ihnen nur, dass sie zwar richtig spielen, aber schlecht interpretieren. Alles sollte klar und genau herauskommen, selbst im kompliziertesten Kontrapunkt. Und das gelingt nur, wenn man ganz durchsichtig und staccato spielt, so dass das Thema immer hervortritt, sei es nun in der originalen Gestalt oder in der Umkehrung.“
Anders als seine begeisterten Zeitgenossen äußerte sich der Komponist mit typischer, leicht geringschätziger Selbstironie über die Qualität des Stücks: „Ob das Quartett gut oder schlecht ist, weiß ich nicht […] Aber dass es ein Quartett ist, das weiß ich!“ Ironischerweise wird gerade dieser bescheidene Anspruch bis heute immer wieder in Frage gestellt. Ist das Werk ein echtes Streichquartett oder doch eher eine verkappte Orchesterkomposition? Zu solcherlei Spekulationen trug nicht zuletzt Verdi selbst bei: Er billigte später das Vorhaben, das Quartett in Streichorchesterbesetzung aufführen zu lassen, „da es gewisse Phrasen darin gibt, die einen vollen und üppigen Klang erfordern statt dem mageren einer einzelnen Violine.“
Totenblume für einen Herzog Puccinis Crisantemi
Wie Verdi konzentrierte auch Giacomo Puccini seine Schaffenskraft fast ausschließlich auf die Komposition von Opern und hinterließ nur wenige rein instrumentale Werke. Während seines Studiums am Mailänder Konservatorium Anfang der 1880er Jahre entstanden ein Streichquartett sowie ein Scherzo und einige Fugen für Quartett. 1884 komponierte Puccini für die gleiche Besetzung drei Menuette und 1890 einen etwas umfangreicheren Satz mit dem Titel Crisantemi. Zu diesem Stück notierte er: „Ich habe es in einer Nacht geschrieben anlässlich des Todes von Amedeo di Savoia“. Der vom Komponisten verehrte Herzog von Aosta, zweitältester Sohn des italienischen Königs Vittorio Emanuele II., war am 18. Januar 1890 im Alter von 45 Jahren gestorben. Dem Anlass entsprechend hat das etwa fünf Minuten lange, dreiteilig angelegte Stück den Charakter einer Trauermusik, was schon der Titel zum Ausdruck bringt: Die Chrysantheme gilt, nicht nur in Italien, als Totenblume. Drei Jahre später griff Puccini zwei Themen aus dem Quartett im Schlussbild seiner dritten Oper Manon Lescaut wieder auf, dem Werk, das ihn international bekannt machte – dort sind sie mit dem körperlichen Verfall der Titelheldin verbunden. Die Crisantemi wurden in Mailand bereits eine Woche nach dem Tod des Herzogs vom Quartetto Campari uraufgeführt. Der Erfolg war so groß, dass das Stück noch im gleichen Konzert wiederholt werden musste.
Klassische Tradition und Volksmusik Tschaikowskys Streichquartett Nr. 1
Im Russland des späten 19. Jahrhunderts bestimmten zwei konkurrierende Parteien die musikästhetische Diskussion: Auf der einen Seite standen der Sankt Petersburger Kunstkritiker Wladimir Stassow und die zumeist autodidaktisch geschulten Komponisten des „Mächtigen Häufleins“. Sie propagierten eine betont nationale, urwüchsige, von Theorien unbelastete Komponierweise. Auf der anderen befand sich der Kreis um die Pianisten und Dirigenten Anton und Nikolai Rubinstein, die bei ihren Gegnern als „Westler“ verschrien waren. Die Rubinstein-Brüder hatten die Musikkonservatorien in Sankt Petersburg und Moskau gegründet. Sie legten Wert auf solide handwerkliche Grundlagen des Komponierens – Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Mendelssohn und Schumann standen bei ihnen auf dem Lehrplan. Den „Westlern“ rechnete man insbesondere auch Pjotr Tschaikowsky zu, der bei Anton Rubinstein in Sankt Petersburg studiert und danach eine Stelle als Theorielehrer an Nikolais Moskauer Institut erhalten hatte.
Dass gerade der akademisch gebildete Tschaikowsky sich als erster russischer Komponist ernsthaft mit der deutsch-österreichisch geprägten Gattung des Streichquartetts beschäftigte, überrascht insofern kaum. Neben verschiedenen Schülerarbeiten hierließ er immerhin drei Quartette, komponiert relativ früh in seiner Laufbahn zwischen 1871 und 1876. Das D-Dur-Quartett op. 11 entstand zuallererst aus finanziellen Gründen: Es war für ein Konzert bestimmt, dessen Erträge Tschaikowskys karges Gehalt als Harmonielehrer aufbessern sollten. Zu diesem Anlass ein Orchester zu engagieren, war nicht denkbar, und so wählte er die kleinere Streicherbesetzung. Das Quartett setzte sich dennoch rasch durch, nicht zuletzt wohl aufgrund der folkloristischen Züge der Partitur. Sie wurden im Ausland als aufregend neu empfunden, im Inland besänftigten sie die Anhänger der nationalrussischen Musik. So lobte etwa César Cui, sonst ein scharfer Kritiker Tschaikowskys, das Quartett in den höchsten Tönen: „Schon im ersten Satz finden sich Charakterzüge dieses talentierten Komponisten: Glücklich erfundene Melodik, schöne Harmonisierung, verschiedenartige und raffinierte Rhythmen. […] All diese Eigenschaften erreichen ihre höchste Stufe im Andante cantabile, dem besten Satz des Quartetts […]. Beide Themen – das erste in russischem Geist, das zweite ganz subjektiv – sind entzückend; instrumentiert sind sie wunderbar; das ganze Andante ist erfüllt von jener weiblichen Schönheit, jener aufrichtigen, warmen, innigen Lyrik, deren Zauber man nicht widerstehen kann.“ Typisch russische Elemente enthalten vor allem die Mittelsätze des Werks. Das erste Thema des Andante cantabile beruht sogar auf einem echten Volkslied aus der Ukraine. Tschaikowsky lauschte es einem Handwerker auf dem Landgut Kamenka ab, das seine Schwester und ihr Mann 300 Kilometer südöstlich von Kiew besaßen. „Wanja saß auf dem Sofa und rauchte eine Tabakspfeife“ lautet der Text des Liedes, aus dem der Komponist das Eröffnungsthema formte. Diesem ländlichen stellte er ein zweites, selbst erdachtes Thema gegenüber, das eher nach städtischer Salonmusik klingt. Ähnlich stehen sich im Scherzo die bäurisch stampfenden Rhythmen des Hauptteils und die raffiniert angeordneten Akzente des Trioabschnitts gegenüber.
Weniger offensichtlich sind die Volksmusikbezüge im eröffnenden Moderato e semplice und im Finale, die beide in klassischer Sonatenhauptsatzform gestaltet sind. Deren Grundprinzip, einmal vorgestellte Themen kunstreich zu verarbeiten, in ihre Bestandteile zu zerlegen und diese neu zu kombinieren, lässt sich auf Volksmelodien weniger leicht anwenden. Trotzdem folgte Tschaikowsky nicht streng den Regeln, die den Bau eines Sonatensatzes bestimmen. So fehlt im ersten Satz der typische Ausdrucksgegensatz zwischen den beiden Hauptgedanken: Das zweite Thema ist ähnlich liedhaft angelegt wie das erste, und beide sind zudem homophon gesetzt, die vier Stimmen bewegen sich also im gleichen Rhythmus. Ein Kontrast besteht allerdings zwischen dem Kopfsatz und dem zweiten Sonatensatz, dem Finale: Hier sorgt das dominierende Hauptthema mit seinem eröffnenden Quartsprung für einen festlichen und kraftvollen Charakter.
Jürgen Ostmann studierte Musikwissenschaft und Orchestermusik (Violoncello). Er lebt als freier Musikjournalist und Dramaturg in Köln und arbeitet für verschiedene Konzerthäuser, Rundfunkanstalten, Orchester, Plattenfirmen und Musikfestivals.