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Befreiung der Musik
Igor Levit im Gespräch mit Michael Kube
Zwischen Muffat und Kerll, Busoni und Rzewski liegen mehrere Jahrhunderte Musikgeschichte. Welche Idee steht hinter der Programmkombination dieses Konzerts?
Ich denke Programme gern vom letzten großen Werk aus und gehe dann quasi von hinten nach vorn. In diesem Fall hatte ich einfach den großen Wunsch, mit Busoni zu schließen. Als Figur, als Komponist, als Denker, als Pianist ist er fraglos eine der entscheidendsten Musikerpersönlichkeiten meines Lebens. Sein Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst ist eine Art Bibel für mich, und die Fantasia contrappuntistica halte ich für eines der bedeutendsten Klavierwerke überhaupt.
Busoni knüpft hier nicht nur an Bachs unvollendete Kunst der Fuge an, sondern transformiert sie gleichsam ins 20. Jahrhundert.
Es ist vor allen Dingen ein Freilassen. Busoni lässt im Grunde genommen das Bachsche Material von den Ketten – wobei man sicher auch darüber streiten kann, ob das funktioniert oder nicht. Es ist eigentlich ein zutiefst utopisches Stück Musik, gerichtet ins Transzendente. Ich finde das einfach atemberaubend. Diese Idee der Freiheit in der freien Musik ist, so glaube ich, auch Frederic Rzewski sehr wichtig. Bezogen darauf wollte ich sehr gern Rzewskis Dreams II spielen, ein Stück, das er mir gewidmet hat. Es ist ein Auftragswerk für das Festival Heidelberger Frühling, und ich habe es dort 2015 uraufgeführt – eines der wichtigsten Konzerte meines bisherigen Lebens.
Inwiefern?
Der Abend der Uraufführung war auch der Abend, an dem ich zum ersten Mal Bachs „Goldberg-Variationen“ öffentlich gespielt habe. Und Frederic Rzewski hat als Komponist und als Mensch, der sehr eng in meinem Leben war und ist, einen Großteil dazu beigetragen, dass ich selbst freier wurde. Seine Angstfreiheit – das war etwas, das ich in den letzten Jahren intensiv aufgesogen habe. Und so stehen diese zwei Komponisten, Busoni und Rzewski, im Zentrum dieses Programms.
Rzewskis Stück lässt Ihnen also auch Freiheiten?
Er hat es für mich geschrieben, und wir haben es einmal miteinander durchgearbeitet – das war’s dann aber auch. Denn Frederic ist jemand, der in vielen seiner Stücke zur Improvisation aufruft. Es gibt ganze Passagen, in denen es heißt: freie Improvisation. Dann kann man tun, was man will – auch 30 Minuten improvisieren. Er verlangt regelrecht das freie Spielen, er ist wirklich das Gegenteil von einem Dogmatiker und einem Komponisten, der dem Interpreten sagen würde, was er zu tun hat. Das habe ich in den 14 Jahren, seit ich zum ersten Mal mit ihm in Kontakt kam, nie erlebt.
Worauf lohnt es sich also beim Hören von Dreams II zu achten?
Es ist eine sehr erzählmächtige Musik. Sie ist sehr emotional und bilderreich, wie das Schauen eines Films, sie ist sehr abwechslungsreich. Es ist einfach zutiefst emotionale Musik. Wenn etwa eines der Stücke Bells überschrieben ist, dann sind es scheinbar wirklich Glocken, die da klingen. Frederics Erzählmächtigkeit ist frappierend, in allen seinen Werken. Deshalb ist diese Musik auch so vielen Hörerinnen und Hörern so nah – weil sie mitnimmt, vom Leben erzählt. Sie hat keine abstrakte Gefühlswelt. Das Entscheidende ist, sich auf diese Musik einzulassen, sie einfach zuzulassen.
Sie eröffnen beide Programmhälften mit einem Werk eines süddeutschen Barockkomponisten, Georg Muffat und Johann Caspar Kerll. In welchem Verhältnis stehen diese Stücke zueinander?
Beide Stücke, vor allem die Passacaglia von Muffat, sind Kompositionen, die sozusagen ebenfalls diese Ketten sprengen. Sie sind frei, improvisatorisch und spielerisch, kühn und mutig. Der glücklichste Moment der Freiheit, der Moment der Selbst-Freiheit und der Moment des Ketten-Loslassens als Moment der Improvisation – er durchzieht das ganze Programm.
Busoni hat Bach für den modernen Konzertflügel adaptiert. Sie tun das jetzt mit Muffat und Kerll?
Ich lebe als Kind meiner Zeit, und in dieser Zeit habe ich meinen Flügel. Ich bin ein großer Bewunderer der sogenannten historischen Aufführungspraxis, aber ich liebe mein Instrument und möchte es spielen. Busoni sagt ja im Grunde nichts anderes, als dass die Musik so frei und unendlich ist in ihrer Veranlagung wie ein Kind, das springen will. Und dann spricht er von den sogenannten „Gesetzgebern“ dieser Musik, die sie einsperren wollen in Zeichen und Worte. Er sagt ganz klar, dass das Aufschreiben von Unendlichkeit in kleine schwarze Punkte eine Einengung ist, und die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, diese Musik wieder freizulassen. Ich kann ein musikalisches Gefühl niemals mit Bezeichnungen wie „allegro“ oder „decrescendo“ einfangen. Das funktioniert nicht – es ist zu klein, zu eng.
Wie befreien Sie die ältere Literatur des ausgehenden 17. Jahrhunderts?
Indem ich sie einfach spiele. Wir leben in einer Welt, die nicht nur politisch, sondern teilweise auch künstlerisch ziemlich viele Verschrumpfungsmomente hat. Es wird Sprache ebenso verschrumpft wie Gedanken. Dann bleiben Sätze übrig, die klingen wahnsinnig klug, vielleicht sogar manchmal bescheiden, aber wenn man sich fünf Minuten Gedanken darüber macht, merkt man, wie leer und kümmerlich sie sind. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Künstler stellt sich hin und sagt: „Ich spiele nur, was Beethoven schreibt.“ Das klingt toll. Wenn man aber ein bisschen darüber nachdenkt, stellt man fest, dass eine Arroganz darin liegt. „Arroganz“ reicht nicht einmal aus. Was weiß ich denn? Ich weiß gar nichts, ich weiß nicht, was Beethoven geschrieben hat. In welchem Kontext schreibt Beethoven ein Crescendo oder ein Diminuendo? Worum es mir geht, ist dies: Ein Künstler ist nicht dann ein toller Künstler, wenn er – eine Formulierung, die man häufig hört – hinter das Werk zurücktritt. Ich verstehe weder künstlerisch noch intellektuell, wie das funktionieren soll. Ich trete hinter gar nichts zurück. Ich bin da auf der Bühne, und ich existiere, habe das Recht zu existieren. Wir können nicht tagein, tagaus vom freien Menschen sprechen, und dann bei der Kunst, die am freiesten ist – nämlich der Musik – die menschliche Souveränität in Frage stellen. Das funktioniert nicht. Und dagegen schreibt ja Busoni an, wenn er sagt, die Aufgabe des Schaffenden sei es, eigene Gesetze zu schaffen, und nicht den Gesetzen anderer zu folgen. Dieses Freilassen hat sehr viel mit Selbstbewusstsein zu tun. Welchen Ton auch immer ich anschlage, ich suche nicht Beethovens Klang, ich suche meinen eigenen, und ich versuche, Beethoven zu verstehen. Ich bin derjenige, der dort sitzt. Das sind psychologische und emotionale Prozesse – ich kann Ihnen nicht eins zu eins erklären, was da geschieht. Aber ich wehre mich einfach gegen diese strikte Festlegung.
Busonis Fantasia contrappuntistica stellt technisch wie gestalterisch extreme Anforderungen – wie persönlich ist dieses Werk für Sie?
Ich bin sehr selten in meinem Leben nervös vor einem Konzert, aber die Fantasia ist ein Stück, das mich an den Rand der Leistungsfähigkeit bringt – mental, intellektuell, physisch. Es ist sicher ein Grenzgangs-Stück, absolut. Danach bin ich ein Wrack, ein richtiges Wrack.
Träume -Fantasien: Zu den Werken und Komponisten
Georg Muffat: Passacaglia g-moll
Seine Vorfahren väterlicherseits stammten aus Schottland, die Mutter aus Frankreich, geboren wurde er in Megève in den Savoyer Alpen. Dennoch soll sich Georg Muffat als Deutscher bezeichnet haben. Bereits als Jugendlicher erhielt er eine umfassende musikalische Ausbildung in Paris, und im Alter von 25 Jahren wurde er Domorganist in Salzburg – ein Glücksfall, denn der Erzbischof ermöglichte Muffat eine Studienreise nach Italien. Dort begegnete er unter anderem Arcangelo Corelli und erweiterte seinen musikalischen Horizont in allen instrumentalen Gattungen der Zeit. Ab 1690 wirkte Muffat bis zu seinem Tod als Kapellmeister in Passau. Dies ist auch das Jahr, in dem sein Apparatus musico-organisticus im Druck erschien: eine Sammlung von insgesamt zwölf Toccaten, einer Ciacona, einer Passacaglia und einem abschließenden Werk in freier Form. Für das ausgehende 17. Jahrhundert stellt die Sammlung einen Superlativ dar, denn seit den Toccatenbüchern von Girolamo Frescobaldi, die 1615 und 1627 in Rom veröffentlich wurden, war nichts Vergleichbares mehr erschienen. Muffat selbst war sich darüber im Klaren, zumal er als einziger Komponist seiner Generation sowohl den französischen wie den italienischen Stil aus erster Hand kennen gelernt hatte. So konnte er im Vorwort schreiben: „Es ist mir nicht unbewusst, was sich bisher für hocherfahrene Männer in dieser [musikalischen] Wissenschaft und [kompositorischen] Geschicklichkeit hervor gethan haben; aber weilen ich nunmehro fast von siebentzig Jahren, ich sage, von des Herrn Frescobaldi Zeiten her, niemals in Erfahrenheit gebracht, dass etwas dergleichen in dem Druck ausgegangen [erschienen] wäre; so hat mir die bisher ziemlich veränderte [stilistische] Art der Kunst dieses Werk abzudringen geschienen.“
Frederic Rzewski: Dreams II
„Revolution in Akkorden“ titelte Ende 2018 die Frankfurter Allgemeine Zeitung über ein Konzert des Pianisten und Komponisten Frederic Rzewski. In der Tat handelt es sich bei dem 1938 in Westfield (Massachusetts) geborenen Rzewski um einen der letzten musikalisch mahnenden Künstler seiner Generation. Schon früh schöpferisch tätig, führte ihn der Weg nach einem Studium bei Walter Piston und Randall Thompson in Harvard sowie bei Roger Sessions und Milton Babbitt in Princeton nach Florenz zu Luigi Dallapiccola. Hier begann seine Karriere als Pianist zeitgenössischer Musik, später beeinflussten ihn Studien bei Elliott Carter in Berlin und die Bekanntschaft u.a. mit John Cage. Rzewskis ausgeprägtes Selbstverständnis als politischer Komponist geht auf die Zeit ab 1966 zurück, als er in Rom das Ensemble Musica Elettronica Viva mitbegründete. Die hier gesammelten Erfahrungen in der Kombination von komponierter und improvisierter Musik spiegeln sich auch in dem vier Teile umfassenden Dreams II von 2014. Zwar ist die Partitur vollständig ausnotiert, doch gewährt Rzewski dem Interpreten immer wieder Freiräume in der rhythmischen wie zeitlichen Gestaltung und fordert ihn schließlich in der Introduktion zum abschließenden Wake up! auf: „Play the notes, think the words.“
Johann Caspar Kerll: Passacaglia d-moll
Johann Caspar Kerll wurde das Orgelspiel gleichsam in die Wiege gelegt. Sein Vater, ursprünglich Orgelbau-Geselle, hatte sich 1625 in der kleinen sächsischen Stadt Adorf niedergelassen und dort das vakante Organistenamt übernommen. Noch während des Dreißigjährigen Kriegs ging Kerll Mitte der 1640er Jahre für seine weitere Ausbildung nach Wien und Rom. Bereits ab 1647 ist er in Brüssel als Kammerorganist angestellt; 1656 wurde er in München zum Hofkapellmeister ernannt und war fortan auch für die Hofoper verantwortlich. Ob er später tatsächlich am Wiener Stephansdom als Organist wirkte, lässt sich nicht belegen. Durch seine namhaften Orgel- und Kompositionsschüler hatte sich Kerll einen bedeutenden Ruf als Pädagoge erworben. Als Komponist etablierte er die moderne italienische Oper und Kirchenmusik nördlich der Alpen, an der Orgel soll er vor allem mit Improvisationen geglänzt haben. Johann Nikolaus Forkel bezeichnete ihn 1778 (neben Johann Kuhnau, Händel und Bach) als „Orpheus der Deutschen“ – ein Orpheus freilich, um den es zu dieser Zeit eher still geworden war. Die Passacaglia d-moll zeigt Kerll als Komponisten, der durch den Einsatz von Chromatik die harmonischen Möglichkeiten seiner Zeit voll ausschöpft und dessen musikalische Fantasie durch die für eine Passacaglia charakteristische ostinate Basslinie offenbar erst recht stimuliert wurde.
Ferruccio Busoni: Fantasia contrappuntistica
„Gestern Kunst der Fuge gehört. Herrlich!! Ein Werk, das bisher für Mathematik gehalten wurde. Tiefste Musik!“ So berichtete Alban Berg 1928 voller Enthusiasmus über eine Aufführung von Bachs Kunst der Fuge. Tatsächlich galt dieses Werk noch bis ins 20. Jahrhundert hinein eher als enzyklopädisches Traktat über den Kontrapunkt, dessen abschließende Fuge mit vier Themen angeblich aufgrund von Bachs Tod unvollendet geblieben war (inzwischen vermutet man, dass Teile des mehr oder weniger ausgeführten Schlusses verloren gegangen sind). Angeregt von dem in Chicago wirkenden deutschen Organisten Wilhelm Middelschulte, fasste Ferruccio Busoni, der sich mit Bachs Schaffen zuvor schon gleichermaßen schöpferisch wie pianistisch auseinandergesetzt hatte, für seine Fantasia contrappuntistica zunächst den Plan, sie den Bachschen Fugen voranzustellen. Anfang 1910 entschloss er sich dann, „alles Fantasieartige in der Fuge selbst“ anzubringen. Auf diese Weise entstand eines der technisch und interpretatorisch anspruchsvollsten Werke der gesamten Klavierliteratur. In ihrer letztgültigen Fassung besteht die Fantasia aus einem Preludio corale (über die Melodie „Allein Gott in der Höh sei Ehr“), gefolgt von den ersten drei Fugen (die letzte über die Tonfolge B-A-C-H), einem Intermezzo, drei Variationen, einer kombinatorisch vertrackten vierten Fuge und der Wiederaufnahme des Chorals. Das Werk endet mit einer Stretta, die schließlich auf dem über sechs Oktaven aufgefächerten Ton d zum Stehen kommt.
PD Dr. Michael Kube ist Mitglied der Editionsleitung der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), Herausgeber zahlreicher Urtext-Ausgaben und Mitarbeiter des auf klassische Musik spezialisierten Berliner Streaming-Dienstes Idagio. Außerdem konzipiert er die Familienkonzerte „phil zu entdecken“ der Dresdner Philharmoniker. Er ist Juror beim Preis der deutschen Schallplattenkritik und lehrt an der Musikhochschule Stuttgart sowie an der Universität in Würzburg.