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Mysterienspiele

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Parody and Pathos

Parody and Pathos

Musik von Galina Ustwolskaja, Dmitri Schostakowitsch und György Ligeti

Anne do Paço

Sie zählte zu den rätselhaftesten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, in keine Schublade der zahlreichen Musikströmungen ihrer Zeit lässt sie sich stecken. Eine wortkarge, zurückgezogen lebende Eigenbrötlerin war sie, die weder auf die große Musikwelt schielte, noch sich den herrschenden Doktrinen beugte. Sie ignorierte die sowjetische Kulturpolitik weitgehend, weshalb ihre Werke bis heute in Russland kaum zur Aufführung kommen. Aber auch im Westen wurde sie seit den 1980er Jahren nur zaghaft entdeckt. In ihrer Musik reflektierte sie das Eingesperrtsein in einem System, das keine Freiheit erlaubt. Sie war eine scharfe, kühle Denkerin und zugleich eine Gottesfürchtige, die dem Moment der Inspiration vertraute und sich ihm immer wieder auslieferte – doch ohne den Weihrauch der Kirche, ohne den Glauben an eine konkrete Religion. Vor allem ihre späteren Werke verweisen auf christliche Texte und sind doch keine religiösen oder liturgischen Kompositionen, sondern Ausdruck des Ringens um eine kompromisslose Wahrhaftigkeit, die die Konfrontation mit den letzten Dingen und den Grundfragen des Seins sucht: „Ich schreibe dann, wenn ich in einen Gnadenzustand gerate. Danach ruht das Werk eine Zeitlang, und wenn seine Zeit gekommen ist, gebe ich es frei. Wenn seine Zeit nicht kommt, vernichte ich es […]. Nur ich selbst bestimme den Weg meiner Werke.“

Galina Ustwolskaja, deren 100. Geburtstag für den Pierre Boulez Saal Anlass ist, ihr Schaffen über die Spielzeit 2019/20 hinweg mit einer Serie von Konzerten zu würdigen, wurde am 17. Juni 1919 in Sankt Petersburg (dem damaligen Petrograd und späteren Leningrad)

geboren. Sie hat ihre Heimat zu Sowjetzeiten nie verlassen – erst 1995, als der niederländische Dirigent und Pianist Reinbert de Leeuw der inzwischen 76-Jährigen mit einer Konzertserie große Aufmerksamkeit bescherte, reiste sie erstmals in den Westen. Ihr ohnehin nicht gerade umfangreiches Werk hatte Ustwolskaja Ende der 1980er Jahre einer grundlegenden Befragung unterzogen, der eine ganze Reihe von Partituren, die zumindest ihrer Thematik nach der sowjetischen Ästhetik entsprachen, zum Opfer fielen: 25 Kompositionen mit einer Gesamtspieldauer von nur knapp sieben Stunden beließ sie in ihrem Katalog – ein Œuvre, das auch heute für die meisten Hörerinnen und Hörer zu den großen Unbekannten des 20. Jahrhunderts zählt. Hat man den ersten Schock der Begegnung, den viele ihrer Werke immer noch auslösen, erst einmal überwunden, dann faszinieren sie in ihrer Monumentalität, ihrer Archaik, ihrer harschen Unerbittlichkeit, ihrer das Publikum geradezu erschlagenden Expressivität und Vorliebe für holzschnittartige Extreme zutiefst: keine Musik für den raschen Konsum, sondern Musik, die uns im besten Sinne fordert und auf ganz „direkte Art betroffen macht“, wie Reinhard Schulz in seinem Nachruf auf die Komponistin 2007 in der Neuen Musikzeitung schrieb. Musik, die aber auch an den Interpreten hohe Ansprüche stellt. So bekannte Reinbert de Leeuw, dass er für einige Partituren Ustwolskajas heute nicht mehr die körperliche Kraft habe. Und die Geigerin Patricia Kopatchinskaja berichtet: „Deine Finger bluten buchstäblich beim Spielen. Du leidest wirklich, wenn du diese Musik spielst. […] Es ist, als würde man sein eigenes Kreuz tragen – in sich selbst. Keine Effekte; kein Raum für Interpretation. Es ist ein Bekenntnis.“

Mit Dmitri Schostakowitsch, dessen Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester den Abschluss des heutigen Konzertes bildet, verband Galina Ustwolskaja mehr als nur der Versuch, in der Sowjetunion einen eigenen Weg als Künstlerin zu finden. Sie war seine Schülerin und Schostakowitsch schätzte sie immens, unterstützte sie immer wieder und zitierte sie in mehreren seiner eigenen Werke. „Nicht Du stehst unter meinem Einfluss, sondern ich unter Deinem“, schrieb er in einem Brief. Doch Ustwolskaja distanzierte sich immer mehr von ihrem Lehrer, zu dem zeitweilig eine so enge Beziehung bestand, dass Schostakowitsch sogar – vergeblich – um ihre Hand anhielt. Voller Bitterkeit äußerte sich Ustwolskaja vielmehr über ihren Mentor und seine Musik und verstummte schließlich, so dass ihrer Verbindung bis heute etwas Rätselhaft-Geheimnisvolles anhaftet. In künstlerischer Hinsicht bezeichnet ihre Biographin Olga Gladkowa sie als „Geschichte einer Konfrontation“ und Ustwolskaja „nicht als eine Nachfolgerin von Schostakowitsch, sondern eher als seine Widersacherin […] nicht nur in Bezug auf die musikalischen Inhalte, sondern auch hinsichtlich der Ausdrucksformen. […] Schostakowitsch hatte viele Gesichter, Ustwolskaja aber war einheitlich; er wandte sich an die Massen, sie an ihr inneres Ich.“

Wie Ustwolskajas frühes Klavierkonzert ist auch Schostakowitschs Konzert für Klavier und Trompete das Werk eines 27-Jährigen – ein mit groteskem Humor überspitztes Stück. Mit den Mitteln der Parodie und Ironie kreiert Schostakowitsch hier einen „musikalischen Spaß“, anders als vielen späteren Werken, in denen er immer wieder nach einer Sprache suchte, in der sich sagen ließ, was man offiziell nicht sagen durfte. Bei György Ligetis bitterböser Satire Le Grand Macabre dagegen vergeht einem das Scherzen schnell. Die als Mysteries of the Macabre bekannte Bearbeitung dreier Arien aus diesem absurden, hochpolitischen Musiktheater stellen das Ensemble Resonanz und Jeroen Berwaerts (in der Version für Trompete und Kammerorchester) im heutigen Programm neben die monolithischen Klangwelten Ustwolskajas.

Ligeti bezeichnete sich einmal als ein „in Siebenbürgen gebürtiger Ungar jüdischer Abstammung mit rumänischer Staatsbürgerschaft zu Beginn, später mit ungarischer, noch später mit österreichischer“. In Ungarn war auch ihm nicht nur der Zugang zur musikalischen Avantgarde Westeuropas verwehrt, sondern unter den verbindlichen Doktrinen des sozialistischen Realismus ebenfalls jede Perspektive für eine eigene Kunst genommen, die sich bald schon andere Wege als die durch den Einfluss Béla Bartóks vorgepfadeten suchte. Anders als Schostakowitsch und Ustwolskaja entschied Ligeti sich 1956, nach der blutigen Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands durch stalinistische Truppen, mit der die Hoffnung auf Freiheit für die nächsten drei Jahrzehnte endgültig begraben wurde, schließlich zur Flucht nach Österreich, von wo ihn sein Weg nach Köln ins direkte Umfeld von Karlheinz Stockhausen führte. Mit einem Klangcluster gelang ihm schließlich der Durchbruch: sein Orchesterstück Atmosphères wurde 1961 in Donaueschingen derartig gefeiert, dass es wiederholt werden musste. Ligeti zählte nun zu den Schlüsselgestalten der zeitgenössischen Musik – und bald schon zu ihren meistgespielten Komponisten.

Farce noire - Ligetis Mysteries of the Macabre

Ligetis im April 1978 in Stockholm uraufgeführtes und von ihm selbst als „Anti-Anti-Oper“ bezeichnetes Musiktheater Le Grand Macabre ist mit den Farcen Mauricio Kagels oder Bernd Alois Zimmermanns „Ballet noir“ Musique pour les soupers du Roi Ubu nach Alfred Jarry verschwistert. Inspirieren ließ sich Ligeti von den drastisch-visionären Gemälden Schlaraffenland und Triumph des Todes des Malers Pieter Bruegel d.Ä. sowie der grotesken Parabel auf den Krieg La Balade du grand macabre des flämischen Schriftstellers Michel de Ghelderode aus dem Jahre 1934, der sich mit diesem Text gegen Adolf Hitler wandte, während Ligeti – wie er im Interview mit Eckhard Roelcke erläutert – ein allgemeingültiges, „politisches Stück gegen falsche Propheten“ vorschwebte. Im Zentrum der in der zutiefst korrupten und in allen Sitten verkommenen Bananenrepublik Breughelland [sic] angesiedelten Handlung steht der „Große Makabre“ Nekrotzar. Aus einem Grab aufsteigend und von fanatischem Sendungsbewusstsein geleitet, gibt er sich selbst als Tod aus und will mit Hilfe eines Kometen die Welt vernichten. Am Hofe des permanent kalorienreiche Torten verschlingenden, infantilen Fürsten Go-Go lässt sich Nekrotzar jedoch zu einem derart exzessiven Saufgelage hinreißen, dass er den Zeitpunkt der prognostizierten Apokalypse im Vollrausch verpasst. „Meine Oper ist eine Art schwarze Farce, ein lächerliches Stück, humoristisch und doch zugleich auch absolut tragisch“, erläutert Ligeti. „Im Zentrum des Stücks stehen die Angst vor dem Sterben, die Unmöglichkeit, das Schicksal zu ändern, und die Handlungen und Anstrengungen, die man vergeblich unternimmt, um dem Faktum des Todes zu entkommen. Eine der Strategien (oder Träume), die eingesetzt werden, um diesem Geschick zu entgehen, ist der Versuch, den Tod ins Lächerliche zu ziehen.“ Um dies zu erreichen, komponierte Ligeti eine irrwitzige Collage aus Zitaten von der mittelalterlichen Musik bis ins 20. Jahrhundert, Zirkus-, Popular-, Rock- und Volksmusik sowie Geräuschen. Aber auch die Avantgarde wird auf die Schippe genommen und die Gattung der Oper parodiert. Die Ouvertüre etwa bezieht sich auf die Intrada zu Monteverdis L’Orfeo – bei Ligeti gespielt von zwölf Autohupen.

Für den Konzertsaal bearbeitete der Dirigent der Stockholmer Uraufführung, Elgar Howarth, drei Arien, die vom Chef der Geheimen Politischen Polizei Gepopo (einer Koloratursopranrolle) gesungen werden, für Solostimme oder alternativ Trompete und Kammerorchester. Entstanden ist mit dieser 1994 in Paris aufgeführten Version eine eigenständige Fassung, die die Atmosphäre von Ligetis Werk auf höchst konzentrierte Weise einfängt und von den Ausführenden nicht nur eine äußert virtuose Beherrschung ihrer Instrumente fordert, sondern auch zahlreiche Nebeneffekte wie Pfeifen, Stampfen, Schreien und Singen.

Ein herbes Relief - Ustwolskajas Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauken

Galina Ustwolskajas einsätziges Werk entstand 1946, zu einer Zeit, in der absolute Musik in der UdSSR wenig Raum hatte, waren doch ein volksnaher Ton und die Vermittlung der stalinistischen Leitbilder und Ideen gefordert – eine Indoktrinierung aller Bereiche der Kunst durch die Politik, die zwei Jahre später in den „Musikbeschlüssen“ des Zentralkomitees der KPdSU als verbindliches Leitbild festgeschrieben wurde. Alle, die es wagten, sich dem zu widersetzen, wurden als „Volksfeind“ stigmatisiert, der „Dekadenz“ bezichtigt, gegängelt und geschmäht oder gar mit dem Tode bedroht. Für Schostakowitsch bedeuteten die späten 40er und die 50er Jahre eine traumatische Erfahrung, die ihn in einen Zustand der Agonie versetzte, aus dem es ihm erst mit seinem Ersten Cellokonzert 1959 wieder auszubrechen gelang. Ustwolskaja dagegen machte keine Konzessionen. Sie zog sich zurück, scheute die Öffentlichkeit und schrieb – ohne Eingriffe in ihre schöpferische Autonomie zuzulassen – ihre ganz eigene Musik.

In ihrem Klavierkonzert ist auf jede Art von pianistischem Gestus und virtuosem Spielwerk verzichtet. In der als Bogenform angelegten, stark vom Element des Rhythmus und extremen dynamischen Kontrasten geprägten Partitur spalten sich wie in einer Kernreaktion von einem Grundmotiv zahlreiche Gedankensplitter ab, die in herber Reliefartigkeit und mit geradezu eherner Widerständigkeit die Musik aus additiven Transformationen dieses Grundmotivs entfalten. In ihrem Werkverzeichnis positionierte Ustwolskaja das Klavierkonzert als erste vollgültige Komposition – eine Musik von karger Wucht und Aufgewühltheit, die attackiert, aber auch von elegisch entrückter Fragilität.

Wahrhaftige Musik - Ustwolskajas Oktett

In Ustwolskajas 1949/50 entstandenem, mit zwei Oboen, vier Violinen, Klavier und Pauken ungewöhnlich besetztem Oktett entfalten alle acht Instrumente als Solisten ihre eigene Individualität. Die fünf abwechselnd langsamen und schnellen Sätze sind durch eine Montage von sich ohne Variation wiederholenden Patterns und Taktreihen geprägt. Der statische Charakter dieser Satztechnik wird durch eine gleichmäßige Viertelbewegung, die paradoxerweise aber durch eine komplementäre Rhythmik aller Instrumente und einem in jedem Takt sich verändernden Metrum entsteht, noch unterstützt. Wie mit „schwarzen Löchern“, die mit einer enormen Sogwirkung unvorstellbare Abgründe aufreißen, erscheint der musikalische Satz durchbrochen. Die eigenartig spannungsgeladene Harmonik wird durch den Tritonus geprägt – das in der abendländischen Tradition lange als „Diabolus in musica“ geltende Intervall, das allerdings in der russischen Kirchen- und Volksmusik eine ganz eigene Rolle spielt. Immer wieder fahren die allgegenwärtigen Pauken mit brachialer Kraft wie Schicksalsschläge in eine Musik hinein, in der Optimismus keinen Platz hat. Als Igor Strawinsky kurz vor seinem Tod Ustwolskajas Oktett hörte, soll er darauf sichtlich betroffen geäußert haben: „So wie diese Musik klingt und wirkt, muss man sich den eisernen Vorhang vorstellen.“ Und Reinhard Schulz schrieb 2007: „Bei Ustwolskaja wird niederschmetternd klar: Es gibt kein Entkommen. Musik blüht nicht mehr auf, sondern blickt einzig auf ihre Ruinen zurück. Wahrhaftige Musik? Die These, dass Musik nicht schön, sondern wahr sein solle, hat Schönberg einst mit grandioser Geste ins Feld geführt. Sie war Parole mit zutreffendem Kern, aber was wirklich Wahrheit in der Musik ist, das hat wohl allein Galina Ustwolskaja bis in die letzten existentiellen Winkel durchlebt. Denn Wahrheit kann man nicht behaupten, zumindest nicht nur, man muss sie leben.“

„Ein Werk des leichten Genres“ - Schostakowitschs Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester

Wie Ligetis Le Grand Macabre wimmelt auch Schostakowitschs Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester von Zitaten. Im Sommer 1933 wenige Wochen nach dem Abschluss seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk komponiert und am 15. Oktober dieses Jahres mit Schostakowitsch selbst am Klavier, Alexander Schmidt an der Trompete und den Leningrader Philharmonikern uraufgeführt, fordert diese Musik mit den Mitteln der Parodie und Groteske den – so Schostakowitsch – „konservativ-seriösen Charakter des klassischen Konzert-Gestus“ spöttisch heraus und bleibt dabei trotzdem ein Konzert, das sich schlicht als solches hören lässt. Geplant hatte Schostakowitsch das Stück ursprünglich als Trompetenkonzert. Im Verlauf der Arbeit stellte er der Trompete jedoch ein Klavier zur Seite – zunächst an eine Art Doppelkonzert denkend – und machte das Klavier schließlich zum Hauptprotagonisten, der immer wieder von Einwürfen der Trompete herausgefordert wird. Wie in einem Ratespiel kann man sich auf die Suche nach all den Anklängen begeben, mit denen Schostakowitsch in seiner Komposition auf Musik anderer Komponisten anspielt: Gleich zu Beginn und auch im weiteren Verlauf des ersten Satzes erklingen die ersten Takte aus Beethovens „Appassionata“-Klaviersonate. Später dann sind Anspielungen auf das Thema der Burleske aus Gustav Mahlers Neunter Symphonie, das Klavierkonzert von George Gershwin, die D-DurKlaviersonate von Joseph Haydn, auf Rossinis Guillaume TellOuvertüre oder Beethovens Klavier-Rondo „Die Wut über den verlorenen Groschen“ zu hören – aber auch das von Schostakowitsch immer wieder verwendete Tonmotiv seines Namens D–eS–C–H sowie Anspielungen auf Bar-, Varieté- und Zirkusmusik sind Teil dieser Partitur. Das Material erscheint vertraut und steht doch in einem fremden Kontext, wodurch es sich dem Hörenden – wie eine flüchtige Erinnerung – immer wieder entzieht, denn stets geht die Musik anders weiter, als es zu erwarten wäre. „Ich habe es als ein Werk des leichten Genres geschrieben“, bekannte Schostakowitsch über seine Komposition, die in der Tat ein virtuoser musikalischer Spaß ist.

Anne do Paço studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Germanistik in Berlin und ist seit 2009 Dramaturgin an der Deutschen Oper am Rhein. Sie veröffentlichte Aufsätze zur Musik- und Tanzgeschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts und war als Autorin u.a. für die Kammerphilharmonie Bremen, das Wiener Konzerthaus und die Opéra National de Paris tätig.

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