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„Ganz wundersam gefügte Stücke“

Sonaten für Violine und Klavier

Wolfgang Stähr

Kombinierende Künstler

Was zählt in der Musik? Die Mannschaftsstärke der Besetzung? Das gesellschaftliche Prestige der Aufführung? Weder noch, befand Robert Schumann und erkannte die wahre Meisterschaft vielmehr im Verborgenen, in der heimlichen, häuslichen Sphäre. Hier spielt die Musik! „Im Kammerstil, in den vier Wänden, mit wenigen Instrumenten zeigt sich der Musiker am ersten“, betonte Schumann. „In der Oper, auf der Bühne, wie vieles wird da von der glänzenden Außenseite zugedeckt! Aber Auge gegen Auge, da sieht man die Fetzen alle, die die Blößen verbergen sollen.“ Schumann wollte sich eigentlich in einer Kritik mit dem gerade erschienenen Klaviertrio eines heute vergessenen Zeitgenossen auseinandersetzen, aber dann geriet er rasch ins Grundsätzliche, in eine Philippika gegen den „Italianismus“ und den allgemeinen Niedergang der musikalischen Kultur: „So wollen wir guten deutschen Philister, die noch auf Bach und andere etwas halten, dennoch so lange wie möglich standhalten und wenigstens in der Stube so viel gute Musik machen, als wir sie im Theater nicht zu hören bekommen.“

An Schumanns Werk lässt sich wie an einem historischen Fallbeispiel der Widerspruch studieren, in den die Kammermusik im 19. Jahrhundert geraten war. Dem Namen nach für eine handverlesene Hörerschaft „in der Stube“ bestimmt, öffnete sie sich gleichwohl den Zwecken des imposanten Konzertierens und der virtuosen

Selbstdarstellung – ein Bedeutungswandel, der nicht zwangsläufig im Gegensatz zum elitären Anspruch dieser Kunst stehen musste. Andererseits suchte gerade Schumann ein Leben lang „die Mächte der Massen, im Chor und Orchester“, aber dieser innere Widerstreit sollte sich als höchst produktiv erweisen. Der Komponist und mitteilungsfreudige Essayist liebte es ohnehin, seine künstlerische Identität im Konflikt mit sich selbst zu begründen. Im September 1851 komponierte Schumann, seit einem Jahr als städtischer Musikdirektor in Düsseldorf ansässig, die Violinsonate in a-moll op. 105, seine erste überhaupt: eine Komposition von lodernder Emotionalität und intellektueller Strenge, die nach wenigen Momenten schon keinen Zweifel mehr erlaubt, dass Schumann mit dieser Duo-Sonate die Grenzen der heimlichen Kammermusik durchbrechen wollte und in die Öffentlichkeit, in den Konzertsaal drängte. Und dort ist sie auch bald aufgeführt worden: von Clara Schumann und Ferdinand David, dem Konzertmeister des Leipziger Gewandhausorchesters, der Schumann fast vorwurfsvoll gefragt hatte: „Warum machst Du nichts für Geige und Clavier? es fehlt so sehr an was Gescheidtem Neuen und ich wüßte Niemand der es besser könnte als Du.“

Kontrapunktisches Denken lenkt selbst den „leidenschaftlichen Ausdruck“ im Kopfsatz der überaus gescheiten a-moll-Sonate: die gebändigte Kraft einer Musik, in der nichts zufällig und sprunghaft geschieht, sondern alles thematisch gebunden und beziehungsreich geordnet erscheint, vom ersten bis zum letzten Satz. „Wir wissen wohl von Bach und andern verwickelt kombinierenden Künstlern“, erklärte Schumann, „wie sie auf wenige Takte, oft Noten, ganz wundersam gefügte Stücke gegründet, durch die sich jene Anfangslinien in unzähligen Verschlingungen hindurchziehen, von Künstlern, deren inneres Ohr so bewunderungswürdig fein schuf, daß das äußere die Kunst erst mit Hilfe des Auges gewahr wird. Aber sie waren Meister der ersten Ordnung, denen in Laune gelang, was dem Jünger Schweißtropfen kostet.“ Ob Schumann die Violinsonate im Schweiße seines Angesichts erdachte, sei dahingestellt: Immerhin benötigte er nur fünf Tage zu ihrer Vollendung.

Krieg und Frieden

Am 22. Juni 1941 hielt sich Sergej Prokofjew bei hochsommerlicher Hitze im Umland von Moskau auf, in der Künstlerkolonie Kratowo, begleitet von der jungen Literaturstudentin Mira Mendelson, einer Professorentochter aus Kiew. Prokofjew saß am Schreibtisch, völlig versunken in die Arbeit an dem Ballett Cinderella, als er zuerst durch ein Gerücht, bald durch eine furchtbare Nachricht aus seinen weltfernen Gedanken aufgeschreckt wurde. Es herrschte Krieg im Land: Deutsche Truppen marschierten in die Sowjetunion ein, die Grenzen wurden überrollt, die Städte bombardiert. Viele Menschen gerieten in Panik, stürzten sich in Noteinkäufe, belagerten die Sparkassen, um an ihr Geld zu kommen; andere erfasste nur lähmendes Entsetzen. Der Krieg war längst erwartet worden, doch dieser militärische Überfall wirkte wie ein Schock. „Das ganze sowjetische Volk erhob sich zum Schutze der Heimat“, berichtete Prokofjew im Tonfall der offiziellen Geschichtsschreibung. „Ein jeder wollte unverzüglich das Seinige dazu beitragen. Als erste Reaktion der Komponisten auf die Vorgänge entstanden natürlich Lieder und Märsche heroischen Charakters, das heißt solche Musik, die unmittelbar an der Front erklingen konnte. Ich schrieb zwei Lieder und einen Marsch.“

Als Komponist gehörte Prokofjew zu den Privilegierten der sowjetischen Gesellschaft – wenngleich in einem durchaus zwiespältigen Sinne. Der Überwachung und Bevormundung im Frieden stand in den Jahren des Krieges ein geradezu lebensrettender Schutz gegenüber, den der allmächtige Sowjetstaat seinen Künstlern gewährte. Prokofjew wurde einem Evakuierungsplan unterstellt, der auch Dirigenten, Sänger, Tänzer, ja ganze Orchester und Theater auf sicheres, kriegsverschontes Terrain verbrachte – und diese Maßnahmen glichen fast einer Überlebensgarantie. Im August 1941 reiste Prokofjew gemeinsam mit Mira Mendelson nach Naltschik am Rande des Kaukasus; im Dezember wechselten sie für einige Monate in das georgische Tiflis. Nach Aufenthalten in Alma-Ata und in Perm, das damals Molotow hieß, konnte sich Prokofjew im Oktober 1943 wieder in Moskau niederlassen. Während der Dauer des Krieges – für ihn vor allem eine Phase unfreiwilliger Wanderschaft – schrieb er Cinderella, die Fünfte Symphonie, das Zweite Streichquartett mit Themen der kabardinischen Folklore, die er in Naltschik kennengelernt hatte, zwei Klaviersonaten (Nr. 7 und 8), die Symphonische Suite Das Jahr 1941, Filmmusiken, darunter die Partitur für Eisensteins Iwan der Schreckliche, und die Erstfassung seiner Tolstoj-Oper Krieg und Frieden. Eine geradezu überbordende Produktivität, ein schöpferischer Enthusiasmus sondergleichen ergriff Prokofjew, und seine Freunde beobachteten, wie sehr er sich veränderte, offener, sanftmütiger, kollegialer erschien. Keine seiner Kompositionen beweist und belegt diese Wandlung besser als die 1943 entstandene Sonate für Flöte und Klavier op. 94. Da Prokofjew sie auf Wunsch von und gemeinsam mit David Oistrach in eine Fassung für Violine und Klavier übertrug (als op. 94a), wurde die Originalversion niemals so bekannt, wie sie es verdiente. Mit der frühen Symphonie classique und dem Ersten Violinkonzert teilt dieses Werk außer der hellen Tonart D-Dur und der klassizistisch verspielten Schwerelosigkeit die erstaunliche Unberührtheit vom äußeren Geschehen einer denkbar entgegengesetzten, brutalen und hässlichen Realität – damals die Revolution, diesmal der Krieg. Die beängstigende Wirklichkeit vermochte Prokofjew offenbar nicht zu lähmen (der Cellist Mstislaw Rostropowitsch nannte ihn einen „großen Egoisten“), nein, sie beflügelte ihn sogar. In seiner Kunst lebte er wie in einem schützenden Kokon. Oder wie Robert Schumann es formuliert hätte: „Und so spinnen und spinnen wir fort und zuletzt uns selber gar ein.“

Was Musik nur bieten kann

Schweigen wir von César Franck. Als der französische Komponist, Organist und Katholik Olivier Messiaen auf den französischen Komponisten, Organisten und Katholiken César Franck angesprochen wurde, reagierte er auffallend knapp und verächtlich. Bei einer Podiumsdiskussion im Jahr 1968 rief ihm ein Zuhörer aus dem Publikum die Frage zu: „Gibt es eine Beziehung zwischen Messiaen und César Franck?“ Messiaen antwortete ihm „lachend“, so vermerkt es das Protokoll: „Überhaupt keine. Er ist tot.“ Dieses Phänomen der gezielten Ignoranz begegnet einem immer wieder in der Musikgeschichte. Selbst Joseph Haydn, der innovativste Komponist des 18. Jahrhunderts, wurde von späteren Generationen für tot erklärt und als langweilig abgetan, „ein gewohnter Hausfreund“, wie Schumann befand, der „für die Jetztzeit“ kein „tieferes Interesse“ mehr besitze. Wenn spätere Komponisten die Denkmäler ihrer Vorgänger vom Sockel stürzten, konnte die Auflehnung aus guten Gründen geschehen, etwa aus künstlerischem Freiheitsdrang und Widerspruch; freilich lassen sich auch weniger noble Motive denken: Der Vorwurf des Akademismus und Klassizismus, der insbesondere Franck ereilte, könnte von heimlicher Bewunderung für die hohe, formbewusste und intellektuelle Souveränität seiner Kunst sprechen und somit von einem schlechten Gewissen zeugen. Dagegen hilft bekanntlich nur Verdrängung und Totschweigen. César Franck – wer soll das sein?

Zumindest seine Sonate für Violine und Klavier dürften die meisten schon einmal und immer wieder gehört haben, ein unvergesslicher Eindruck. Und dann rückt die Frage, wer dieser César Franck gewesen sei, gleich in ein milderes Licht. Er war ein Wahl-Franzose aus Liège, geboren am 10. Dezember 1822, Sohn eines Börsenmaklers, der ihn jahrelang als klavierspielendes Wunderkind vermarktete. Nachdem er jedoch nicht länger bereit war, den Ambitionen und Karriereplanungen seines Vaters zu gehorchen, kam es zum folgenschweren Bruch. Franck senior hätte den Sohn beinahe wirtschaftlich ruiniert, als er ihm zur Strafe sämtliche Auslagen und Aufwendungen in Rechnung stellte, die das Klavierstudium und die Tourneen verlangt hatten. 1848 vollzog César Franck die unwiderrufliche Abkehr vom sensationsgierigen Virtuosendasein – gewiss nicht zufällig im selben Jahr wie sein Idol und Mentor Franz Liszt, der ihn auch für die Lehren des katholischen Priesters Félicité Robert de Lamennais begeisterte: für ein schwärmerisches, freisinniges Christentum, das offen gegen Herrschaft und Kirche opponiert und namentlich dem Künstler die Mission eines Predigers und Trösters auferlegt. Radikale Schlussfolgerungen lagen César Franck allerdings fern, er trat als pflichtbewusster Organist in den Dienst der Kirche und suchte keineswegs den Konflikt mit der von Lamennais attackierten Institution. Dennoch bewahrte er sich seine geistige Unabhängigkeit und neigte zu einem gefühlsbetonten, undogmatischen Katholizismus.

1857 wurde Franck als „maître de chapelle“ an die im selben Jahr geweihte Pariser Kirche Sainte-Clotilde berufen, zwei Jahre später zum Hauptorganisten an der neuen Orgel bestimmt, einem Instrument aus der Werkstatt des Pariser Orgelbauers Aristide Cavaillé-Coll. Und als „organiste titulaire“ genoss er bald schon einen sagenhaften Ruf, als auserwählter Musiker in höheren Sphären waltend. Obgleich Franck 1872 eine Professur für Orgel am Pariser Conservatoire übernahm, blieb er der Kirche treu bis an sein Lebensende. Nachdem er 1890 gestorben, aber noch lange nicht tot war, wurde auf Initiative seiner Schüler Ernest Chausson und Vincent d’Indy vor der Basilika Sainte-Clotilde ein Denkmal errichtet, das Franck an der Orgel zeigt, in sich gekehrt, mit verschränkten Armen, während sich ein Engel über ihn beugt – ein Sendbote der göttlichen Inspiration? Noch in seinen irdischen Tagen war Franck mit dem Ehrentitel eines „Pater Seraphicus“ bedacht und zum musikalischen Mittler zwischen Himmel und Erde verklärt worden, im vertrauten Zwiegespräch mit den Seraphim vor dem Throne Gottes. Hundertdreißig Jahre später lässt sich allerdings kaum verkennen, dass diese wohlmeinenden Heiligenlegenden dem „père Franck“ mehr geschadet als genutzt haben, und durchaus nicht erst auf längere Sicht. Schon 1903 verriet Claude Debussy seinen Zwiespalt der Gefühle, als er in diskret ironischem Ton bemerkte: „César Franck steht in immerwährender Andacht vor der Musik, daran ist nicht zu rütteln. Keine Macht der Welt könnte ihn dazu bewegen, eine musikalische Periode abzubrechen, die er für richtig und notwendig hält; man muss sie durchstehen, so lang sie auch sei.“ Da lag der Vorwurf des langweiligen Akademismus bereits zum Greifen nahe.

Und gerade mit diesem Vorurteil erweist man Franck das größte Unrecht. Denn der vermeintlich ahistorisch entrückte „Pater Seraphicus“ schwang sich im Alter noch einmal zum wahren Pionier auf, als er im traditionell opern- und theaterversessenen Frankreich ein Spätwerk lupenreiner, fundamental durchdachter und philosophisch tiefsinniger Instrumentalmusik schuf – das Klavierquintett, die Variations symphoniques, die d-moll-Symphonie, das Streichquartett – und die besagte Sonate für Violine und Klavier, die Franck im August und September 1886 komponierte und als erlesenes Hochzeitsgeschenk dem belgischen Geiger Eugène Ysaÿe verehrte. Keiner der Sätze gleicht dem andern: Auf den traumwandlerisch präludierenden ersten folgt das leidenschaftliche Furioso des anschließenden Allegro; der dritte Satz, „Recitativo-Fantasia“ überschrieben, bewegt sich frei zwischen augenblickhaften Eingebungen, Violinkadenzen und weitgespannten melodischen Aufschwüngen, ehe das Finalrondo mit einem lieblichen Kanon anhebt, einem Zwiegesang der Instrumente, der wie ein altes, ewig junges Volkslied anmutet.

Und doch sind sie einander ähnlich, diese vier Sätze, „ganz wundersam gefügte Stücke“. Schon das Hauptthema im Kopfsatz, vom Geiger vorgetragen (das zweite bleibt der Pianistin vorbehalten), eine elegante, schweifende Melodie mit charakteristischen Terzschritten, strahlt aus auf den ganzen Sonatenzyklus und stiftet einen Beziehungsreichtum, den man nicht immer und unfehlbar bemerken wird, auch wenn die geheimnisvolle Logik dieser Musik, das „Folgerichtige“, von Anfang an zu spüren ist. Mit den ersten Takten: einer Klaviermeditation, aus deren suchendem Beginnen, rätselhaft und einzig möglich, das zyklische Thema ersteht. Diese Musik umfasst alles, was Musik nur bieten kann für Hirn, Herz und Sinne: formale Logik und klare Architektur, Passion, Eleganz, betörende melodische Schönheit und erlesenen Klangreiz. Totgesagte leben länger. Von César Franck jedenfalls gäbe es noch viel zu sagen.

Wolfgang Stähr, geboren 1964 in Berlin, schreibt über Musik und Literatur für Tageszeitungen, Rundfunkanstalten, die Festspiele in Salzburg, Luzern und Dresden, Orchester wie die Berliner und die Münchner Philharmoniker, Schallplattengesellschaften und Opernhäuser. Er verfasste mehrere Buchbeiträge zur Bach- und Beethoven-Rezeption, über Haydn, Schubert, Bruckner und Mahler.

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