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Essay: „Chaos statt Musik“

„Chaos statt Musik“

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„Wir sind gute Revolutionäre, aber wir fühlen uns verpflichtet zu beweisen, daß wir auf ‚der Höhe zeitgenössischer Kultur‘ stehen. Ich habe den Mut, mich als ‚Barbar‘ zu zeigen. Ich kann die Werke des Expressionismus, Futurismus, Kubismus und anderer Ismen nicht als höchste Offenbarungen des künstlerischen Genies preisen. Ich verstehe sie nicht. Ich habe keine Freude an ihnen. … Man soll Schönes erhalten, zum Muster nehmen, daran anknüpfen, auch wenn es ‚alt‘ ist. … Warum das Neue als Gott anbeten, dem man gehorchen soll, nur weil es ‚das Neue‘ ist?“1

Diese Worte Wladimir Lenins, die von Clara Zetkin in ihren Erinnerungen an Lenin überliefert wurden, stellen eine Essenz des späteren Sozialistischen Realismus dar, des idealisierten Kunststils, der die moderne Abstraktion zugunsten des „Realistischen“ – das heißt des „Realistischen“, wie es vom sowjetischen Staat gutgeheißen wurde – verwarf. Lenins Worte legen dem Traditionalismus das Gewand der Revolution an, und die Durchsetzung dieser ästhetischen Philosophie mithilfe eines Apparats totalitärer Überwachung und Propaganda hat die Biografie des meistaufgeführten Komponisten der Sowjetunion, Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch, geformt und geprägt.

Für diesen einzigen Komponisten der Sowjetunion, der zu Lebzeiten international eine unumstritten führende Position in der Musik einnahm,2 begannen die Schwierigkeiten mit den sowjetischen Behörden, nachdem Joseph Stalin und seine Gefolgsleute 1936 bei einem Festival sowjetischer Musik in Moskau eine Aufführung seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk gesehen hatten. Die Oper beruht auf einer Novelle von Nikolai Leskow aus dem 19. Jahrhundert und stellt die Protagonistin der Handlung als emanzipierte Heldin der sowjetischen Gesellschaft dar. Stalin sah das anders.

Vielleicht empfand er einige sexuelle Inhalte der Oper als skandalös oder missgönnte Schostakowitsch seinen internationalen Erfolg, jedenfalls wurde die Oper umgehend in der Prawda, der offiziellen Zeitung der Kommunistischen Partei, in einem Artikel mit dem Titel „Chaos statt Musik“ angeprangert: „Die Musik krächzt und heult und schnauft und keucht, um Liebesszenen so natürlich wie möglich darzustellen, und die ganze Oper ist mit ‚Liebe‘ in ihrer vulgärsten Form überzogen … Das linke Abweichlertum in der Oper erwächst aus derselben Quelle wie das linke Abweichlertum in der Malerei, in der Poesie, in der Pädagogik, in der Wissenschaft …“3

Insbesondere der Ausdruck „linkes Abweichlertum“ lässt einen erschauern. Stalin begann 1936 mit der Großen Säuberung – die zur Hinrichtung von womöglich bis zu 1,2 Millionen Opfern führte –, und „linkes Abweichlertum“ ist genau der Begriff, mit dem man diejenigen verurteilte, die als politische Gegner angesehen wurden. Schostakowitsch, der damit rechnete, verhaftet und inhaftiert zu werden, packte einen Koffer und bereitete sich auf das Schlimmste vor.4 Aufgrund verschiedener Launen des Schicksals wurde der Komponist zwar nie verhaftet, lebte aber den größten Teil seines Lebens stigmatisiert von der Bedrohung, die das „linke Abweichlertum“ mit sich brachte.

Sieben Jahre nach Stalins Tod wurde Schostakowitsch dazu gedrängt, der Kommunistischen Partei beizutreten. Der Komponist war nach Dresden gegangen und arbeitete zusammen mit Leo Arnshtam an dem Film Fünf Tage – fünf Nächte über die britischen und amerikanischen Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg, die die Stadt dem Erdboden gleich machten. Dort komponierte Schostakowitsch in einem dreitägigen Kreativitätsrausch sein Streichquartett Nr. 8 op. 110 und versah das Stück mit der Widmung: „Zum Gedenken an die Opfer von Faschismus und Krieg“.

Oberflächlich betrachtet könnte man diese Widmung als Würdigung der Stadt lesen, in der das Werk komponiert wurde. Da Schostakowitsch jedoch das Tonkryptogramm seines Namens DSCH (wobei der Ton Es für den Buchstaben S steht) in das Quartett hineinkomponiert hat,5 wird die Komposition ganz klar dem Bereich der subjektiven Psychologie zugeordnet. DSCH taucht im gesamten Stück immer wieder auf, und es enthält auch Selbstzitate aus früheren Kompositionen wie der Zehnten Symphonie, der Ersten Symphonie, dem Klaviertrio Nr. 2, dem Cellokonzert Nr. 1 und Lady Macbeth von Mzensk, und so ist es nicht verwunderlich, dass Alex Ross

das Quartett als „eines der außergewöhnlichsten autobiografischen Stücke der Musikgeschichte“ beschreibt.6 Schostakowitschs Selbstzitate stehen neben weiteren Zitaten in dem Quartett: kurzen Momenten aus Tschaikowskys „Pathétique“, Siegfrieds Trauermarsch aus Wagners Götterdämmerung und dem Revolutionslied Zamuchen tyazholoy nevolyey („Gequält von schwerer Gefangenschaft“) aus dem 19. Jahrhundert. Schostakowitsch positionierte sich als Teil eines musikalisch-politischen Kanons und gedachte in den grüblerischen und düsteren Tönen des Achten Quartetts seiner selbst. In einem Brief an Isaak Glikman beschrieb der Komponist seine Gedanken zu dem Quartett: „Ich dachte darüber nach, daß, sollte ich irgendwann einmal sterben, kaum jemand ein Werk schreiben wird, das meinem Andenken gewidmet ist. Deshalb habe ich beschlossen, selbst etwas Derartiges zu schreiben. Man könnte auf seinen Einband auch schreiben: ‚Gewidmet dem Andenken des Komponisten dieses Quartetts.‘“7

Sofia Gubaidulina lernte Schostakowitsch ein Jahr, bevor er sein Streichquartett Nr. 8 schrieb, kennen und wurde schon früh von dem älteren Komponisten ermutigt, ihren „eigenen, falschen Weg“ fortzusetzen.8 Diese Worte sind eine Anspielung auf die Schdanowschtschina, die Kulturpolitik, die von Andrei Schdanow, dem mächtigsten Politiker des Sowjetreichs nach Stalin, verordnet wurde. Unter der Schdanowschtschina führte die Sowjetunion wieder eine strenge staatliche Kunstzensur ein, die während des Zweiten Weltkriegs gelockert worden war; „falsche Kunst“ ist Kunst, die als konterrevolutionär gilt, Kunst, die nicht den Interessen des Volkes dient, Kunst, die als „formalistisch“ bezeichnet wird – eine Chiffre für den nach Schdanows Doktrin streng verbotenen elitären Modernismus.

Gubaidulina nahm sich Schostakowitschs Ratschlag zu Herzen und sagte später: „Ich bin mein ganzes Leben dankbar für diese wunderbaren Worte. Sie haben mich bestärkt und waren genau das, was eine junge Komponistin von einem älteren hören sollte. Sie gaben mir den Mut, meinen eigenen Weg zu gehen.“9

Und sie ging ihren eigenen Weg, indem sie sich gegen die gewaltsame staatliche Abschreckungspraxis wappnete. 1973 griff ein Mann, mutmaßlich ein KGB-Agent, Gubaidulina im Aufzug ihres Wohnblocks in Moskau an und versuchte, sie zu erwürgen. 1979 wurde sie zusammen mit sechs anderen Komponistinnen und Komponisten10 von Tichon Chrennikow, dem Generalsekretär des Verbandes der sowjetischen Komponisten, auf dem Sechsten

Kongress des Komponistenverbandes wegen der Teilnahme an Musikfestivals außerhalb der Sowjetunion öffentlich angeprangert. Er bezeichnete die Musik der Geächteten als „sinnloses Zeug … lärmender Dreck statt echter musikalischer Innovation“.

Gubaidulinas Gefühl für Innovationen kommt in ihrem wegweisenden Werk Vivente – non nivente („Lebendig – Nicht lebendig“), das im Moskauer Experimentalstudio für elektronische Musik entstand, voll zur Geltung. Vivente – non vivente wurde für ANSSynthesizer komponiert, ein von Evgeny Murzin erfundenes fotoelektronisches Instrument. Da es weltweit nur noch einen ANSSynthesizer gibt (im Russischen Nationalen Musikmuseum Glinka in Moskau), sind Aufführungen des Stücks heute selten (dies ist die erste in Berlin) und darauf angewiesen, das Instrument mithilfe digitaler Patches neu zu erschaffen. Obwohl 1970 komponiert, ist Vivente – non vivente inzwischen überholt, ein Artefakt, das nur durch eine Art historische Aufführungspraxis elektronischer Musik realisiert werden kann.

Zwischen den beiden ungarischen Komponisten György Kurtág und György Ligeti besteht ein wesentlicher biografischer Unterschied: Ligeti verließ Ungarn nach der blutigen Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstands durch die Sowjetunion 1956 endgültig, zog zunächst nach Wien und ließ sich dann in Köln nieder; Kurtág studierte nach dem Volksaufstand in Paris, kehrte aber 1958 nach Budapest zurück. Wie Sofia Gubaidulina, die bis zu deren Auflösung 1991 in der Sowjetunion blieb, lebte und arbeitete Kurtág bis in die 90er Jahre in Ungarn und hatte bis 1993 eine Professur an der Franz-Liszt-Musikakademie inne.

Während Ligeti nach seiner Emigration im Westen weithin Anerkennung genoss, fand Kurtág 1968 in Darmstadt mit der Aufführung von Die Sprüche des Péter Bornemisza erste internationale Beachtung. Der Erfolg seiner Musik stellte sich erst nach und nach ein. Zunächst wurde die Pariser Uraufführung von Botschaften des verstorbenen Fräuleins R. V. Trussova für Sopran und Kammerensemble 1981 mit Beifall aufgenommen, und Kurtágs bahnbrechendes Orchesterwerk Stele, das er während seiner Zeit als Artist in Residence bei den Berliner Philharmonikern komponierte und das 1994 uraufgeführt wurde, brachte dann den Durchbruch.

Man kann diese biografischen Unterschiede fast an der jeweiligen Musik der beiden Komponisten ablesen; Ligeti, ein brillanter Meister des Individualismus, der Innovation und der Neuerfindung, fasst mithilfe seiner Fähigkeit, die Stile um ihn herum zu synthetisieren und nachzubilden, klanglich das 20. Jahrhundert zusammen. Er ist weltläufig, ein Nutznießer des westlichen Systems der Kulturförderung, das während des Kalten Krieges aufgebaut wurde, um ideologische Grenzen zu ziehen, und er ist durchdrungen von der Bartók’schen Tradition der Transkription, Interpolation und Sublimierung des Volkslieds in seiner eigenen musikalischen Sprache. Kurtág dagegen erarbeitet seine Partituren mit beeindruckender Effizienz, fast so als wäre die musikalische Notation eine kostbare Ressource, die nicht vergeudet werden darf. Es scheint ein einzigartiges musikalisches Projekt zu geben, das sein gesamtes kompositorisches Schaffen bestimmt: wie man mit so wenig wie möglich so viel wie möglich sagen kann.

Es dürfte nicht überraschen, dass zwei von Kurtágs künstlerischen Leitsternen, Samuel Beckett und Johann Sebastian Bach, Autoritäten auf dem Gebiet der Sparsamkeit im Hinblick auf künstlerisches Material sind. Während die Begeisterung für Beckett Kurtág seine erste Oper Fin de partie (uraufgeführt 2018 an der Scala) bescherte, sind aus der Begeisterung für Bach mehrere Bearbeitungen für vierhändiges Klavier und für zwei Klaviere hervorgegangen, von denen einige im Jahr 1997 von Kurtág und seiner Frau Márta für eine ECM-Aufnahme mit liebevoller Hingabe eingespielt wurden. Die Bearbeitungen erweisen sich als sehr persönlich und machen das Werk Bachs dadurch doch in gewisser Weise umso leichter verständlich. Durch die Entscheidung, Bachs Kantatenchoräle und Arien, seine Orgelwerke und weitere Stücke zu bearbeiten, die besondere Instrumente oder Kenntnisse der Aufführungspraxis erfordern, gelingt es Kurtág, Ehrfurchtgebietendes zugänglich zu machen. Die Stücke können mit eindrucksvoller Verve vorgetragen werden, eignen sich aber durch ihr Schwelgen in musikalischer Alltagsintimität eher für das Klavierspiel zu Hause – wie in den YouTube-Videos von György und Márta Kurtág zu sehen ist.11

Abgesehen davon, dass er damit neue Zugänge eröffnet, ist Kurtág bei seinem Streichquartett op. 1 konsequent und kompromisslos er selbst. Das Stück, das er mit Anfang 30 komponierte, ist von einer stilistischen Konsistenz, die Kurtág während seiner gesamten Karriere beibehalten sollte. In sechs Sätzen von insgesamt etwa 14 Minuten Spieldauer steht Kurtág mit seiner Fähigkeit, die

lyrische Essenz aus traditionellen kompositorischen Formen zu destillieren, Webern in nichts nach. Ligetis Sonate für Violoncello solo, ebenfalls ein Werk, dessen Komponist knapp über 30 war, schlägt einen völlig anderen Ton an und ist von den Einflüssen Zoltán Kodálys und Béla Bartóks durchdrungen. Als Ligeti das Stück dem von der Kommunistischen Partei kontrollierten Komponistenverband zur Überprüfung vorlegte, wurde es als zu „modern“ beanstandet – ein erstaunliches Urteil. Das Stück ist in einer zugänglichen, an Ligetis ungarische Vorgänger erinnernden Tonsprache komponiert und besteht aus einem lyrischen ersten Satz sowie einem frenetisch temporeichen, aber dennoch durchaus tonalen zweiten Satz – es endet mit einem G-Dur-Dreiklang. Der Beschluss des Komponistenverbands ließ das Stück 26 Jahre lang in der Versenkung verschwinden; die erste öffentliche Aufführung der Sonate für Violoncello solo erfolgte 1979.

Als Kurtág 2007 den Ordre Pour le Mérite erhielt, nutzte er die Gelegenheit, um an seinen Freund Ligeti zu erinnern, der ein Jahr zuvor verstorben war: „Ständig möchte ich ihm etwas erzählen; auch davon, was ich nach Jahrzehnten von seinen Werken endlich verstanden habe. Vielleicht gibt es ja Zusammenhänge, die nur ich jetzt entdecke. So viele Fragen würde ich ihm stellen. Manchmal geben die nachfolgenden Arbeiten darauf eine Antwort, ein andermal mag es hoffnungslos sein, nun, da er sich selbst nicht mehr äussern kann, eine Erklärung zu finden.“12

Prof. Dr. Mena Mark Hanna

1 Zetkin, Clara: Erinnerungen an Lenin, Dietz-Verlag, Berlin 1975, S. 16–17. 2 Taruskin, Richard: The Oxford History of Western Music, Bd. 4: Music in the Early

Twentieh Century, Oxford University Press, Oxford 2005, S. 780. 3 „Sumbur wmesto musyki“ („Chaos statt Musik“), in Prawda, 28. Januar 1936. 4 Die Große Säuberung betraf viele dem Komponisten nahestehende Personen, darunter seinen politischen Förderer Michail Tuchatschewski (1937 erschossen); seinen Schwager, den Physiker Wsewolod Frederiks (inhaftiert, starb 1937 auf dem

Weg nach Hause); seine Schwiegermutter, die Astronomin Sofia Michailowna

Warzar (in Karaganda inhaftiert); seinen Freund, der Dichter Boris Kornilow (1938 erschossen); seinen Freund und Mitstreiter, den Dramaturgen Adrian Piotrowski (1937 erschossen), und seine Freundin Galina Serebrjakowa, eine Schriftstellerin (überlebte die Gefangenschaft im Gulag und wurde 1955 entlassen). 5 Er folgt damit einer Tradition des kryptografischen „Buchstabierens“ von Namen in der Notation, die wahrscheinlich mit Bach begann. 6 Ross, Alex: The Rest is Noise. Listening to the Twentieth Century, Picador, New York 2007, S. 475. 7 Schostakowitsch, Dmitri und Isaak Glikman: Chaos statt Musik? Briefe an einen

Freund, hrsg. und kommentiert von Isaak Dawydowitsch Glikman, aus dem Russ. von Thomas Klein und Reimar Westendorf, dt. Ausg. hrsg. und mit Anm. vers. von Reimar Westendorf, Argon, Berlin 1995, S. 173. 8 Jeffries, Stuart: „Sofia Gubaidulina. Unchained Melodies“, in The Guardian, 31. Oktober 2013, https://www.theguardian.com/music/2013/oct/31/sofiagubaidulina-unchained-melodies (zuletzt abgerufen am 16. September 2021). 9 Ebd. 10 Die sechs anderen Komponistinnen und Komponisten, die auf dem Sechsten

Kongress des Komponistenverbands von dessen Generalsekretär Tichon

Chrennikow öffentlich angeprangert wurden, waren Elena Firsowa, Dmitri

Smirnow, Alexander Knaifel, Viktor Suslin, Wjatscheslaw Artjomow und Edison

Denisow. 11 Videoaufnahmen von György und Márta Kurtág bei der Darbietung der

Bach-Bearbeitungen sind zu einer unerwarteten YouTube-Sensation geworden.

Die meisten Videos der beiden wurden ein paar Jahre vor Márta Kurtágs Tod im Jahr 2019 hochgeladen und zeigen, wie die beiden eng aneinandergedrängt an einem Klavier sitzen und spielen. Ein Video verzeichnet fast 280.000 Aufrufe – für neue klassische Musik eine unerhörte Zahl: https://www.youtube.com/ watch?v=Z8lTh58jhA8 12 Kurtág, György: „Kylwyria – KálváriaAppendix“, veröffentlicht in NZZ, 4. August 2007, https://www.nzz.ch/kylwyria__kalvariaappendix-1.536303 (zuletzt abgerufen am 16. September 2021).

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