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[New] Der Instinkt zu singen

Ein Gespräch mit Thomas Hampson und Susan Zarrabi

Herr Hampson, vor fünf Jahren haben wir uns über das erste Schubert-Wochenende im Pierre Boulez Saal unterhalten. Inzwischen liegen mehrere Schubert-Wochen hinter uns, und das Repertoire hat sich dabei kontinuierlich erweitert auf die Jahrzehnte unmittelbar vor und nach Schubert. In dieser Saison reicht die Perspektive aber zum ersten Mal bis weit ins 19. und 20. Jahrhundert hinein. Wie kam diese Programmgestaltung zustande?

Thomas Hampson Schubert ist unsere Leitfigur, unsere Muse, das ist überhaupt keine Frage. Seine Musik ist der Inbegriff dessen, was Lied und insbesondere das deutsche Kunstlied ausmacht, und ich glaube, wir haben hier in den letzten fünf Jahren viel entdeckt. Ich möchte aber auch vermeiden, dass diese Woche zu einer Art „Schubert-Club“ wird. Natürlich wäre es eine Möglichkeit, jedes Jahr einen anderen Aspekt seines Liedschaffens in den Mittelpunkt zu stellen – Repertoire gibt es genug. Von dort aus könnte man sich langsam an Schumann herantasten, an Brahms, und irgendwann käme Liszt dazu... Das haben wir in den letzten Jahren ja teilweise schon getan. Ich glaube auch nicht, dass es so wichtig ist, wirklich alle 600 Schubert-Lieder auf die Bühne zu bringen. Mir geht es viel eher darum zu zeigen, was die künstlerische Essenz eines Liedes ausmacht. Musik braucht keinen Text und Text braucht keine Musik, aber wenn beides zusammenkommt, entsteht eine neue Kunstform – das sage ich immer wieder. Lied ist Zeugnis und Tagebuch menschlichen Daseins, es ist nicht dazu da, die Leute zu unterhalten. Es beginnt mit einem Gedanken oder einem Gefühl, einer Metapher, einem außermusikalischen Kontext, der in Worte gefasst ist und einen Komponisten oder eine Komponistin zu einer musikalischen Umsetzung inspiriert. All das, was wir in dieser Musik hören, ob das ein rauschender Strom ist, ein galoppierendes Pferd oder ein Spinnrad, bringt uns nur tiefer in das menschliche Geschehen, in die Psychologie des Moments hinein. Das ist für mich der Kern eines Kunstlieds. Aus all diesen Überlegungen heraus haben wir uns entschlossen, das Repertoire dieses Jahr musikhistorisch weiter zu fassen, bis zum Bruch mit der Tonalität in der Zeit direkt vor dem Ersten Weltkrieg und sogar darüber hinaus. Wir werden sehen, in welche Richtungen wir in den kommenden Jahren gehen können. Aber Schubert bleibt unser Spiritus rector, schon allein deshalb, weil alle ihn bewundert und vergöttert haben, von Mahler bis Schönberg. Jede Veranstaltung in dieser Woche hat einen engen Bezug zu ihm. Es sind übrigens auch drei reine Schubert-Programme dabei.

Ihren eigenen Abend beginnen Sie mit Liedern von Carl Loewe und den HeineVertonungen aus Schuberts Schwanengesang. Die zweite Konzerthälfte steht dann unter dem Motto „Freiheit“, mit Werken ganz unterschiedlicher Komponisten.

TH Loewe ist mir ein echtes Anliegen. Ich finde seine Lieder unglaublich ansprechend, und die Verbindung mit Goethe und Heine ist mir besonders wichtig. Schuberts Heine-Vertonungen sind vielleicht die stilistisch fortschrittlichsten Lieder, die er geschrieben hat. Wenn man sie hört und studiert, denkt man unwillkürlich: Mein Gott, was wäre, wenn er nur fünf Jahre länger gelebt hätte … Und Gedichte wie Goethes Über allen Gipfeln ist Ruh’ oder Ich denke dein gehören einfach zu den schönsten in der deutschen Sprache. Das sind Momente, in denen die Zeit stillsteht und man es genießt, Mensch zu sein. Sie bilden für mich das Sprungbrett zum zweiten Teil des Programms, der diesen intimen Rahmen sprengt und eine Art Weltanschauungsperspektive eröffnet. Ich habe in den letzten Jahren mehrmals Liedprogramme unter der Überschrift „Freiheit“ gesungen. Dabei schwingt natürlich eine gewisse Zweideutigkeit mit: Um welche Freiheit geht es? Was bedeutet Freiheit, wenn sie die Freiheit eines anderen einschränkt? Das bezieht sich nicht nur auf den Krieg, um den es in vielen dieser Werke geht. Freiheit in diesem Sinne ist eigentlich das Recht auf Selbstbestimmung des Individuums, das in diesen Liedern in der einen oder anderen Form in Frage steht: als Opfer wie bei Zemlinsky, als Getriebener wie in Mahlers Revelge, als Verlorener bei Hindemith. Deshalb ende ich mit diesem gewaltigen Stück von Walt Whitman und Leonard Bernstein, To What You Said. In diesem Text betrachtet Whitman eigentlich sein ganzes Leben und das, was Freiheit ausmacht – nicht nur in Bezug auf sexuelle Selbstbestimmung, sondern überhaupt darauf, was es bedeutet, sich selbst zu erkennen und in der Welt frei zu agieren. Um eine ganz ähnliche psychologische Selbsterkenntnis geht es auch in den Heine-Liedern von Schubert. Ich glaube ohnehin, dass zwischen Heine und Whitman durchaus Parallelen bestehen, aber das ist ein anderes Thema

Susan, auch Ihr Programm schlägt stilistisch einen weiten Bogen, von Loewe und Schubert über Wolf und Strauss bis zu Kurt Weill. Thematisch ist es aber enger begrenzt. Welcher Gedanke steckt dahinter?

Susan Zarrabi Mir ist es immer sehr wichtig, dass ein Liederabend einen dramaturgischen roten Faden hat – das muss gar nicht so sehr musikalisch oder harmonisch sein, sondern vor allem, was die

Gedichte betrifft. Salopp gesagt könnte man diesem Programm die Überschrift „Das Weib“ geben. Ich wollte verschiedene Frauenfiguren beleuchten, sozusagen von der Heiligen bis zur Hure. Meine erste Idee war, alle Schubert-Lieder zusammenzustellen, deren Titel nur aus einem Frauennamen besteht, aber das hätte ein sehr einseitiges Bild ergeben, deshalb habe ich es kombiniert mit anderen Komponisten und einer Komponistin, Emilie Mayer. In ihrem Lied Das Schlüsselloch im Herzen geht es darum, dass die Liebe doch einen Weg ins Herz hinein findet. Es passt inhaltlich sehr schön zwischen Schuberts Die junge Nonne und Die Kleine von Hugo Wolf, die beide mit Zweifeln und Begierden und Sehnsüchten zu tun haben. Ich eröffne das Programm mit Frauenliebe von Loewe –dort haben wir die Mutterfigur, die einem Kind weise Worte mitgeben möchte, damit wollte ich beginnen. So wird das Programm zu einer Art Lebensgeschichte: Wo kann ein Lebensfaden hinführen? Welche Abzweigungen wählt man? Wo findet man Halt? Das Ganze endet mit Weills Abschiedsbrief und der Kleptomanin von Friedrich Hollaender. Ein bisschen Augenzwinkern muss auch sein!

Die Schubert-Woche hat von Anfang an in Zusammenarbeit mit der Liedakademie des Heidelberger Frühling stattgefunden. Susan, im Pierre Boulez Saal waren Sie beim ersten Workshop im Januar 2018 dabei, drei Jahre später dann im Rahmen der Young Singers-Reihe. Thomas Hampson haben Sie aber schon 2016 in Heidelberg kennengelernt …

SZ Ich weiß es noch sehr genau, denn es war das erste Mal, dass ich wirklich aus der Hochschule herausgekommen bin und ein bisschen über den Tellerrand geschaut habe. Es war mein allererster Meisterkurs und ich war schwer beeindruckt.

TH Du kamst mit dieser schönen Stimme und einem sehr charismatischen Zugang zum Singen. Das ist eine Gabe, das kann man niemandem beibringen. Aber ich glaube, du hast dich damals selbst noch gar nicht richtig wahrgenommen. Ich erinnere mich, das erste Stück, an dem wir gearbeitet haben, war Rheinlegendchen von Mahler, und als wir anfingen, etwas ins Detail zu gehen, war deine Reaktion: Wow, das ist viel mehr Arbeit, als ich dachte! (lacht)

SZ (lacht) Ich würde sagen, ich habe viel gelernt! Allein diese Atmosphäre zu spüren, mit den Kollegen zusammen, diesen ganz bestimmten Spirit, der dort herrschte, das war für mich wirklich unbeschreiblich. Genauso ist es hier im Pierre Boulez Saal. Es geht nie darum, die Ellenbogen auszufahren, wie es in diesem Beruf ja leider oft auch sein kann. Es ist immer ein Austausch. Man sieht sich oft, die Branche ist so klein, und es ist sehr schön, das zu verfolgen. Viele von denen, die ich damals in Heidelberg kennengelernt habe, leben hier in Berlin, und man unterstützt sich, geht gegenseitig in Konzerte und wird zu einer Community. Ich finde das sehr wichtig.

TH Vor allem ist es ein stetiger Prozess. You can’t become a singer unless you sing. Für mich als Pädagoge und Mentor besteht die größte Herausforderung darin, diese unterstützende Arbeit zu leisten, denn alles, was wir im Unterricht tun, muss dann auch zur Entfaltung kommen. Ich freue mich sehr, an deiner Entwicklung Anteil zu haben, aber zusammensetzen musst du es letztlich selbst, und ich bin sehr stolz darauf, wie du das gemacht hast. Unsere Aufgabe ist es, euch jungen Kolleginnen und Kollegen eine Plattform zu geben und euch zu ermöglichen zu singen. Und das Schönste und Gesündeste für eine junge Sängerin sind nun mal Lieder, denn Gedanke und Ton stehen hier sehr dicht nebeneinander.

SZ Es gibt diesen berühmten Ausspruch, an den ich immer denken muss: Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers. Und das ist für mich Thomas Hampson. Du brennst wirklich dafür, und für mich persönlich hat es einfach unglaublich gut funktioniert, diese Leidenschaft für Liedgesang zu wecken und sie über die Jahre auch wachsen zu lassen, so dass man sich immer wieder gerne damit auseinandersetzt. Es gibt so unendlich viele Möglichkeiten, die unterschiedlichsten Facetten herauszuarbeiten, gerade auch im Vergleich zur Oper, wo ich inzwischen die meiste Zeit verbringe. Die Chance zu haben, das alles nicht nur auszuprobieren, sondern es dann auch erfahren zu dürfen an einem Ort wie dem Pierre Boulez Saal, ist ein sehr großes Geschenk.

Dem Publikum hier in Berlin ist diese enge Zusammenarbeit mit dem Heidelberger Frühling, wo es seit 2016 auch ein eigenes Liedzentrum gibt, womöglich gar nicht bewusst. Wie kam es eigentlich dazu?

TH Ich bin seit 2011 künstlerischer Leiter der Liedakademie des Heidelberger Frühling und arbeite dort eng mit dem Intendanten Thorsten Schmidt und seinem Team zusammen. Als Daniel Barenboim einige Jahre später und kurz vor der Eröffnung des Pierre Boulez Saals die Idee hatte, hier ein langfristiges Liedprojekt zu beginnen und mich fragte, ob ich mir vorstellen könnte, zu singen und zu unterrichten, war mein erster Gedanke, die beiden Institutionen irgendwie zu verbinden. Ich freue mich sehr darüber, wie sich diese Partnerschaft entwickelt hat.

Man kann sich das Ganze in etwa wie eine aufsteigende Spirale vorstellen: Jedes Jahr gibt es einen Bewerbungsprozess, in dem wir etwa 40 oder 45 junge Leute auswählen, die wir im Herbst zu einem Vorsingen nach Heidelberg einladen. Nach einer Vorauswahl arbeite ich dann mit einigen von ihnen etwas intensiver, und am Ende bleiben acht bis zehn Sängerinnen und Sänger und drei oder vier Pianisten bzw. Pianistinnen übrig, die gleich im Anschluss einen ersten Workshop absolvieren – wir nennen sie Stipendiaten. Die nächste Phase ist dann die Woche hier im Pierre Boulez Saal, bei der das Repertoire zu 95 Prozent aus Schubert besteht. Im April kommen wir noch einmal für drei Tage in Heidelberg zusammen, und im Juni enden wir dort mit einer Arbeitsphase beim Heidelberger Frühling Liedfestival, die teilweise öffentlich ist. Das ergibt ein sehr intensives Jahr. Aus dieser Gruppe von Stipendiaten, die das Programm durchlaufen haben oder gelegentlich auch ein zweites Mal dabei sind, kommen dann die Fellows, die in Berlin als Teil der Young Singers-Konzerte ein halbes Liederabendprogramm singen. Die Idee dabei ist nicht, dass es kein ganzes Konzert sein darf, sondern dass wir so eine größere Vielfalt an unterschiedlichen Stimmen präsentieren können. Das Schöne ist, dass die jungen Kolleginnen und Kollegen dadurch die Möglichkeit bekommen, mit Spitzenpianisten zu arbeiten, wie in diesem Jahr Malcolm Martineau und Graham Johnson. Ich vergleiche es gern damit, dass wir ihnen den Schlüssel zum Rolls-Royce geben und sagen: Hier, fahr übers Wochenende damit durch die Gegend. Das ist einfach eine unbezahlbare Erfahrung.

Susan, wie haben Sie diesen Prozess über die Jahre erlebt?

SZ Es war von Anfang an wahnsinnig intensiv, vor allem, als ich 2018 zum ersten Mal im Pierre Boulez Saal dabei war. Wir saßen alle zusammen und es war wie in einem Labor – sehr inspirierend und auf eine gewisse positive Art auch überwältigend. Ich war danach völlig erschöpft. Man bekommt so viel Input und versucht, alles mitzunehmen und für künftige Dinge zu nutzen. Das ist beim Singen ja oft so: Man erarbeitet etwas und die Früchte erntet man erst Monate später.

Inwiefern unterscheidet sich eine Meisterkurssituation von dem, was an der Musikhochschule passiert?

SZ Es liegen Welten dazwischen, es ist ein komplett anderer Kosmos. Hier haben wir die Chance, zusammenzukommen, um uns mit den schönen Dingen des Lebens zu beschäftigen und sie zu erforschen. Das ist eine Form von Selbstfindung, die für mich als Künstlerin sehr wichtig ist. Woher will man eine Interpretation nehmen, wenn man nicht sagen kann: Das ist meine Meinung zu diesem Thema. Sonst ist es ein Nachsingen, ein bloßes Kopieren. Es geht darum, das Handwerk bis zu einem gewissen Grad zu beherrschen, um damit der höheren Idee gerecht zu werden oder es zumindest zu versuchen. Aber wenn man es schafft, an diesen Punkt zu kommen, an dem man merkt, ich kann den Text und die Noten sicher, ich habe einen Interpretationsgedanken und einen Interpretationswillen – sich dann auf dieser Ebene zu begegnen und mit jemandem wie Thomas zu arbeiten, ist unvorstellbar bereichernd. Das gilt nicht nur aktiv praktizierend, sondern auch passiv im Meisterkurs beim Zuhören, wenn es z.B. um ein Lied geht, das man selbst gesungen hat und bei dem man vielleicht denkt, das hätte ich ganz anders gemacht …

TH Das ist ein wichtiger Aspekt – es sind zwei ganz unterschiedliche Situationen. Ich sage immer wieder: Ich bin nicht euer Gesangslehrer. Wenn es um heiklere Punkte geht, stimmlich oder technisch, kommt es darauf an, das Ganze in Relation zu sehen dazu, was der- oder diejenige im Unterricht macht. Dann frage ich auch manchmal: Wie weit ist das entfernt von dem, was du von zuhause gewohnt bist? Hat dich schon mal jemand darauf aufmerksam gemacht? Gesangspädagogik hat viel mit Semantik und persönlicher Perspektive zu tun. Aber auch wenn wir Dinge unterschiedlich verstehen oder sie anders ausdrücken, bleibt unser Ziel dasselbe. Vor allem ist es ein lebendiger Prozess und ich genieße diese Zusammenarbeit sehr. In jeder Unterrichtssituation, aber besonders im Gesang, geht es ja nie darum, vom Parnass herunterzusteigen und zu sagen: So funktioniert es. Jede Stimme, jede Persönlichkeit ist einzigartig. Ich glaube nicht an eine Gesangsmethode. Ich glaube daran, wie unser Körper anatomisch gebaut ist. Und diesen Körper müssen wir so effizient und so ehrlich wie möglich mit dem Gesang in Einklang bringen. Den Instinkt zu singen haben wir alle, die wir diesen Beruf ergreifen. Das lässt sich nicht lehren. Ich kann nur helfen, eine Stimme, die schon da ist, zum Leuchten zu bringen – ein bisschen wie ein Diamantenschleifer. Das ist eine Herausforderung, aber ich tue es schon viele Jahre und werde auch so bald nicht aufhören. Es macht mir unglaublich viel Spaß. Und ab und zu einen echten Aha-Moment mitzuerleben – das ist einfach sehr erfüllend.

Die Fragen stellte Philipp Brieler.

Philipp Brieler ist leitender Dramaturg am Pierre Boulez Saal. Nach einem Studium der Musikwissenschaft arbeitete er am Thalia Theater in Hamburg, bei den Salzburger Festspielen und für Thomas Hampsons Hampsong Foundation. Von 2007 bis 2016 war er Managing Editor an der Metropolitan Opera in New York.

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