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[New] Balance und Kontrast
Klavierquintette von Dvořák und Schostakowitsch Michael Horst
Vier Streicher plus Klavier: Die Formation des Klavierquintetts darf aus mehrerlei Gründen als optimale Form einer „gemischten“ kammermusikalischen Besetzung gelten. Zum einen kommt sie der idealen Balance zwischen Tasten- und Streichinstrumenten sehr viel näher, als es im Klaviertrio oder auch im Klavierquartett möglich ist. Zum anderen vermag sie aufgrund der Anzahl von fünf Instrumenten eine klangliche Fülle zu entwickeln, die gleichsam orchestrale Züge annimmt. Zum dritten – und gleichermaßen als Kontrast – bietet sie eine Vielfalt möglicher kleinerer Binnenkombinationen, die vom Streichquartett bis zu verschiedensten Duopaarungen mit Klavier reichen.
Insofern nimmt es eigentlich wunder, dass das Klavierquintett erst in der Romantik „entdeckt“ wurde. Während Mozart immerhin der Gattung des Klavierquartetts zwei bedeutende Werke widmete, ignorierte Beethoven auch diese Form – abgesehen von zwei bescheidenen Jugendwerken – völlig. Quintette sucht man bei beiden Komponisten vergeblich; erst Johann Nepomuk Hummel und Franz Schubert nahmen sich der neuen Herausforderung an, allerdings in reiner Streicherbesetzung und mit zwei Violoncelli anstelle der später üblichen zwei Violen.
Doch spätestens mit Robert Schumann war der Bann gebrochen –und eine lange Reihe hochinteressanter Klavierquintette zieht sich durch die Musikgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, über alle nationalen Grenzen hinweg. Im deutsch-österreichischen Raum folgten auf Johannes Brahms und Max Bruch eine Vielzahl von Spätromantikern, die hier ihrem Ideal eines maximal aufgefächerten Klangs und weit ausgreifender Tonalität huldigten: Hans Pfitzner ebenso wie Erich Wolfgang Korngold, Max Reger und Franz Schmidt. Im böhmischen Raum steuerten Antonín Dvořák und sein Schwiegersohn Josef Suk eigene Farben bei, in Russland Sergej Tanejew. In England komponierte Edward Elgar ein opulentes Klavierquintett, in Frankreich schöpften César Franck, Camille Saint-Saëns und Gabriel Fauré die Möglichkeiten des Quintetts auf ihre ganz persönliche Weise aus. Und mit der Amerikanerin Amy Beach, den Ungarn Ernst von Dohnányi und Béla Bartók, dem Schweizer Frank Martin und dem Spanier Enrique Granados endet die Liste keineswegs
Nicht nur einen herausragenden Rang unter den Klavierquintetten, sondern auch im Schaffen des Komponisten selbst nimmt Dvořáks Klavierquintett A-Dur op. 81 ein, das sich nach seiner Uraufführung im Januar 1888 schnell die Konzertpodien in ganz Europa und Amerika eroberte. Das vorangegangene Jahr 1887 hatte für den 46-jährigen Komponisten eine Zeit des bewussten Innehaltens und der Regeneration gebracht: „Ich bin jetzt nach mehr als einjähriger anstrengender Arbeit froh, etwas weniger anzufangen“, schreibt er im Oktober 1886 an einen Freund; die folgende zweimonatige Reise durch England mit ihren vielen Konzerten und Ehrungen verstärkt noch das Missbehagen angesichts der Überlastung. Einer Anfrage aus Birmingham für ein neues Oratorium erteilt der Komponist ebenso eine Absage wie der Bitte des Pilsener Gesangvereins, ihm zum 25-jährigen Bestehen ein Chorwerk zu schreiben. Stattdessen widmet sich Dvořák der Sichtung und Überarbeitung älterer Werke, darunter die Fünfte Symphonie und zwei frühe Streichquartette. In den Fokus gerät auch das frühe Klavierquintett op. 5 aus dem Jahr 1872; den befreundeten Komponisten Jan Ludevít Procházka bittet er um eine alte Abschrift des Manuskripts, da er sein eigenes Exemplar nicht wiederfindet: „Derzeit schaue ich des Öfteren auf meine alten Sünden und würde gerne auch diese [op. 5] nach langer Zeit wiedersehen.“ Doch schnell erkennt Dvořák die allzu großen Hürden für eine Überarbeitung und beschließt kurzerhand, ein komplett neues Quintett in gleicher Tonart zu entwerfen. Die Arbeit kommt bestens voran, und in nur sechs Wochen, zwischen August und Oktober 1887, wird das Werk zu
Papier gebracht. Bereits Ende Oktober kann der Komponist bei einem Besuch in Berlin seinem Verleger Simrock die Stichvorlage über reichen; und noch vor der Drucklegung findet am 6. Januar des folgenden Jahres im Prager Rudolfinum die Uraufführung statt.
In der Tat wirkt das A-Dur-Quintett wie aus einem Guss komponiert. Eingängige Melodik paart sich mit überlegener Strukturierung der vier Sätze, die klangliche Bandbreite des Quintetts bewegt sich in bewundernswertem Gleichgewicht zwischen quasiorchestraler Vollstimmigkeit und kammermusikalischen Abschnitten. Dabei verbirgt sich das Raffinement der Komposition hinter einer wie selbstverständlich wirkenden musikantischen Energie und Noblesse. Von Schubert und dessen Klavierkammermusik scheint Dvořák den Kunstgriff übernommen zu haben, den Klavierpart oft im Unisono beider Hände laufen zu lassen – was für zusätzliche klangliche Transparenz des gesamten Werkes sorgt.
Das eröffnende Allegro lebt von dem weit ausschwingenden ersten Thema, das vom Cello vorgestellt und dann – zwei Oktaven höher – von der ersten Geige weitergetragen wird. Die Viola (in der Reprise das Cello) übernimmt das kontrastrierende Mollthema; die böhmische Note bleibt eher unauffällig, viel deutlicher sind die harmonischen Rückungen, mit denen der Komponist sich in der Durchführung weit von der Ausgangstonart A-Dur entfernt. Für den langsamen Satz wählt Dvořák einen kunstvollen Wechsel aus ruhigen und auch schnellen Abschnitten. Hier ist wiederum dem herben Klang der Viola die Präsentation des melancholischen Themas zugedacht, das den Rahmen des Satzes vorgibt, während die erste Violine mit einem überschwänglichen Triolenthema in Dur den schnellen Teil dominiert. Zwei weitere Einschübe sorgen für lebhafte Kontraste, während die Musik des einleitenden Moll-Abschnitts von Dvořák mit immer wieder neuen rhythmischen Begleitmustern unterfüttert wird. Erwähnenswert ist, dass der Komponist ursprünglich die neutralen Satztitel Tempo di Marcia und Andante gewählt hatte; die slawisch gefärbte Bezeichnung Dumka wurde erst nachträglich eingefügt.
Dies gilt auch für das Scherzo, das später zum Furiant umdeklariert wurde, obgleich es den für diesen Tanztypus charakteristischen metrischen Wechsel zwischen Zweier- und Dreiertakt gänzlich vermissen lässt. Möglicherweise sind diese slawischen Titel eher als Reverenz an den Widmungsträger zu sehen, einen gewissen Bohdan Neurutter, der sich als Mäzen vielfältig für die junge tschechische Kulturszene einsetzte – ein damals hochaktuelles Thema in Ab- grenzung von der zentralistischen Regierung in Wien. Unwiderstehlich ist die ansteckende Rasanz, mit der dieses Scherzo vorbeizieht. Dabei werden die einzelnen Stimmen immer wieder unterschiedlich kombiniert, während das Klavier teilweise thematisch einbezogen wird, bisweilen die Streicher aber auch nur wie eine bloße Klangfolie einhüllt. Diese Hinwendung zu geradezu impressionistischen Farben im Mittelteil wirkt als starker Kontrast zum Scherzo-Rahmen. Auch im Finale setzt der Komponist auf ungetrübte Spielfreude und böhmische Polka-Rhythmen. Dabei zeigt die Partitur hier noch einmal eine überbordende Fülle an melodischen Einfällen, die in meisterlicher Manier miteinander verbunden und sogar in einer kurzen Fuge im hohen kontrapunktischen Stil beleuchtet werden, bevor das Werk in strahlendem A-Dur zum Abschluss kommt.
Sehr viel ambivalenter präsentiert sich das Klavierquintett g-moll op. 57, das Dmitri Schostakowitsch 1940 zu Papier brachte –kaum verwunderlich angesichts der Lebensumstände, unter denen der sowjetische Komponist zu leiden hatte, auch wenn die späten 1930er Jahre, nach den Jahren der Stigmatisierung und Bedrohung durch den brutalen stalinistischen Kulturapparat, eine gewisse Entspannung seiner Lebenssituation brachten: Hatte er sich lange Zeit hauptsächlich mit der Komposition von Filmpartituren über Wasser gehalten, erhielt er nun, im Jahr 1939, eine Professur am Konservatorium in Moskau. Zwar fand seine Sechste Symphonie, uraufgeführt im selben Jahr, mit ihrer unerwarteten Mischung aus Tragik und grellem Humor ein zwiespältiges Echo; dafür weckte die Neuorchestrierung von Mussorgskys Oper Boris Godunow, die das Werk von den Retuschen Rimski-Korsakows befreite, neue Schaffensimpulse in Schostakowitsch. Insofern verwundert es nicht, dass er ohne großes Zögern einer Anfrage des bedeutenden Moskauer Beethoven-Quartetts nach einem neuen Kammermusikwerk nachkam. In seinen Erinnerungen hielt Dmitri Zyganow, der Primarius des Ensembles, fest: „Nach dem Erfolg mit dem Quartett Nr. 1 baten wir Schostakowitsch um die Komposition eines Klavierquintetts. Seine Antwort hat uns sehr erfreut: ‚Mit Sicherheit werde ich ein Quintett scheiben und es mit Euch spielen ...‘“
Die technische Meisterschaft Schostakowitschs in der Kombination der vier Streicher mit dem Klavier ist staunenswert. Nur selten nutzt er den geballten Klang aller fünf Instrumente, sehr viel öfter fächert er ihn in subtilen Facetten auf. Dabei fällt seine Vorliebe für ein anderes Extrem auf: Nicht nur die Bässe des Klaviers sinken bis in allertiefste Lagen hinab, auch die erste Violine ist in allerhöchsten Regionen gefordert. Andererseits erstaunt das Quintett durch einen Tonfall, der weit entfernt ist von der angestrengten Lustigkeit der Sechsten Symphonie und dem volkstümlichen Charakter des Boris Godunow. Stattdessen durchzieht eine an Bach gemahnende Kontrapunktik das gesamte Werk: Sie verleiht ihm gleichermaßen die Strenge linearer Stimmführung wie auch die Durchsichtigkeit des Klangs.
Dies ist, nach der quasi-barocken langsamen Einleitung, nicht nur im bewegten Teil des ersten Satzes, sondern vor allem in der anschließenden Fuge schlaglichtartig erkennbar. Die formale Anlage des gesamten Werkes ist dabei – wie so oft bei Schostakowitsch –von ungewöhnlicher Originalität. Äußerlich in fünf Sätze gegliedert, präsentiert sich das Quintett tatsächlich in drei Abschnitten. Der erste (Präludium) und zweite Satz (Fuge) bilden, nach bestem Bach’schen Vorbild, den ersten Block, während die Sätze Nr. 4 (Intermezzo) und 5 (Finale) zum dritten Block zusammengezogen sind. In der Mitte steht ein grell auffahrendes Scherzo.
Das einleitende Präludium ist in sich dreigeteilt: der gewichtigpathetischen Einleitung folgt ein tänzerischer, neoklassizistisch anmutender Mittelteil im Sechsachteltakt, der unvermittelt wieder zur Wucht des Anfangs zurückkehrt, wobei Oktavverdoppelungen in den Streichern wie im Klavier dem Klang eine gläserne Härte verleihen. Ohne Pause folgt der Übergang zur ausgedehnten Fuge, die im Pianissimo, mit gedämpften Streichern und dazu noch im Adagio-Tempo wie eine introvertierte Reflexion ihren Lauf nimmt – ein Meisterwerk der kontrapunktischen Aufsplitterung der sechs Stimmen. Der mittlere Abschnitt bringt eine rhetorische Zuspitzung und ein Innehalten im Fortissimo, bevor der Epilog zur introvertierten Stimmung zurückkehrt und im schlichten G-Dur erstirbt.
Wer, wie die zeitgenössische sowjetische Kritik, in dem folgenden Scherzo „stürmische Lebensfreude“ gespürt hatte, dürfte nur allzu flüchtig hingehört haben. Denn der martialisch ausgespielte DreierTakt wird zuerst von wilden Klavierkaskaden umspielt, dann folgt eine schrille Geigenmelodie, bevor stampfende Doppelgriffe dem Satz die letzte heitere Note austreiben. In diesem Scherzo ist nichts lustig; Schostakowitsch scheint hier erstmals ausprobiert zu haben, was er in späteren symphonischen Scherzo-Sätzen zu noch größerer Drastik ausweiten sollte.
Dagegen nimmt das Intermezzo die Stimmung der Fuge wieder auf; auch hier ziehen die Stimmen mehr oder weniger einzeln am Ohr der Hörenden vorbei. Den Pizzicato-Bässen im Violoncello (die später vom Klavier übernommen werden) stehen lange Melodiebögen der ersten Violine gegenüber, die sich in höchste Höhen der viergestrichenen Oktave aufschwingen. Einigermaßen unbeschwert, wenn auch mit allerlei rhythmischen und harmonischen Widerhaken, klingt das Quintett aus. Zumindest der Mittelteil des Finales verfällt noch einmal in eine insistierende Ungemütlichkeit, die durch penetrante Tonrepetitionen hervorgerufen wird. Doch Schostakowitsch entscheidet sich für ein versöhnliches Ende, konterkariert dabei allerdings auf ironische Weise allzu naive Erwartungen –durch chromatisch „kriechende“, mit Dämpfer gespielte Bewegungen der Streicher, einen pseudo-volkstümlichen Tanz und befremdend banale Schlusstakte, die nach 40 Minuten hochintensiver Musik wie eine läppische Fußnote wirken.
Der Jubel bei der Uraufführung des Werks im November 1940, wie vorgesehen mit dem Komponisten am Klavier, war groß. Einzig Sergej Prokofjew kritisierte die angebliche Neigung Schostakowitschs, „jede Note abzuwägen“, als unpassend für einen Künstler von Mitte 30; immerhin, so sein bescheidenes Lob, sei die Fuge brillant gelungen und enthalte im Hinblick auf das übermächtige Vorbild Bach „unglaublich viel Neues“. Im März 1941 wurde Schostakowitsch für sein Werk der Stalin-Preis Erster Klasse inklusive 100.000 Rubel zuerkannt (die er an bedürftige Freunde und Bekannte verschenkte). Doch die Hochstimmung sollte nicht lange anhalten: Drei Monate später begann mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht das tragischste Kapitel der sowjetischen Geschichte, und auch Schostakowitschs Kampf mit Stalins Kulturschergen flammte nur wenige Jahre später erneut und um so heftiger wieder auf.
Der Berliner Musikjournalist Michael Horst arbeitet als Autor und Kritiker für Zeitungen, Radio und Fachmagazine. Außerdem gibt er Konzerteinführungen. Er publizierte Opernführer über Puccinis Tosca und Turandot und übersetzte Bücher von Riccardo Muti und Riccardo Chailly aus dem Italienischen.