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Gesten und Variationen
Werke von Ysaÿe, Messiaen, Berio und Strauss
Kerstin Schüssler-Bach
Eugène Ysaÿe Poème élégiaque
Wer sich für die Violine interessiert, kommt an Eugène Ysaÿe nicht vorbei. Der belgische Geiger war einer der größten Virtuosen der vorletzten Jahrhundertwende, und seine sechs Sonaten für Violine solo zählen noch heute zu den Prüfsteinen für Instrument wie Interpret:innen.
Geboren in Lüttich, studierte Ysaÿe bei dem nicht minder berühmten Violinisten Henri Vieuxtemps in Paris. Wie sein Lehrer strebte er eine parallele Karriere als Komponist an, doch Vieuxtemps’ übermächtiges Vorbild ließ ihn zunächst vor dem Schreiben großformatiger Solokonzerte zurückschrecken. Während seines Engagements als Konzertmeister der Bilseschen Kapelle – der Vorläuferinstitution der Berliner Philharmoniker – komponierte Ysaÿe kleine kammermusikalische Werke. Tourneen prägten die folgenden Jahre, bis er schließlich nach Paris zurückkehrte. Dort brachte er César Francks A-Dur-Sonate, die ihm als Hochzeitsgeschenk überreicht wurde, zur Aufführung, und Francks Vorbild prägt unverkennbar auch Ysaÿes Poème élégiaque. Gewidmet ist das Werk aber Gabriel Fauré, der sich nachdrücklich für eine Vitalisierung der französischen Kammermusik eingesetzt hatte.
Eine Frühfassung dieses atmosphärischen Stücks führte Ysaÿe erstmals 1889 in Venedig auf. Drei Jahre später legte er die Druckversion beim Verlag Breitkopf & Härtel vor. Für seinen kompositorischen Weg war das Poème élégiaque auch deshalb ein Meilenstein, weil sich Ysaÿe hier von den kleinen Formen der virtuosen Charakterstücke abwandte. Wie der Titel schon verrät, handelt es sich um eine freiere, eher fantasiehafte Struktur mit elegischem Tonfall. 1904 – Ysaÿe hatte sich mittlerweile als auch in den USA kultisch verehrter „King of the Violin“ fest etabliert – brachte er außerdem eine eigenständige Orchesterfassung heraus. Für seine zahlreichen Schüler wurde das Poème geradezu ein Pflichtstück, denn es bezaubert nicht nur durch einschmeichelnde Melodik, sondern stellt auch beträchtliche technische Anforderungen.
Als klangfarblichen Zusatzeffekt verwendet Ysaÿe die sogenannte Skordatur, bei der eine oder mehrere Saiten anders gestimmt werden als im üblichen Quintabstand. Hier ist es die tiefste, die G-Saite, die um einen Ganzton nach unten auf f gestimmt wird. So klingt die tiefe Lage noch sonorer, und das Werk macht davon vor allem im zweiten, langsamen Abschnitt Gebrauch: In dieser „Scène funèbre“ (Trauerszene) stellt die Violine zu glockenartigen Akkorden des Klaviers eine lange, schlichte Melodie vor, die ausschließlich auf der umgestimmten G-Saite zu spielen ist.
Sanft geschwungene Figuren, dann aber auch passionierte Ausbrüche charakterisieren den rhapsodisch schwingenden Stil des Stücks. Zunehmend virtuose Läufe, Doppelgriffe und knifflige, chromatische Oktavpassagen lassen jedoch schnell erkennen, dass dieses Poème in seinem Anspruch weit über einen „Salongebrauch“ hinausragt. Zum Schluss kehrt die Eingangsmelodie in hoher Lage zurück, und eine zarte Trillerpassage führt zum nachdenklichen Ausklang.
Olivier Messiaen Thème et variations
So wie Eugène Ysaÿe die Sonate von César Franck als Hochzeitsgabe erhielt, so machte auch Olivier Messiaen klingende Geschenke – in diesem Fall war es seine eigene Braut, die Geigerin Claire Delbos, der er eine Komposition zur Trauung widmete. Das junge Paar musizierte die Uraufführung von Thème et variations im November 1932.
Zu diesem Zeitpunkt war Messiaen erst 23 Jahre alt, wirkte aber bereits als Organist an der Pariser Kirche Sainte-Trinité – eine Position, der er über 60 Jahre lang treu bleiben sollte, obwohl ihm als Professor und international wirkendem Komponisten höchste Anerkennung zuteil wurde. Der tiefgläubige Katholik sah seine Musik stets als spirituellen Weg zu Gott, aber auch als Dienst an der Gemeinschaft. Seinen unverwechselbaren Stil, der durch farbige Akkordik, komplizierte rhythmische Muster und Musikalisierung von Vogelrufen gekennzeichnet ist, prägte er erst etwas später aus. Das Frühwerk Thème et variations klingt noch nicht nach „typischem“ Messiaen. Durch das sublime kurze Stück schimmert das Vorbild Debussys, dessen Oper Pelléas et Mélisande der Komponist als „vielleicht entscheidendsten Einfluss auf mich“ bezeichnete. In fünf Variationen wird das ausdrucksvoll-gesangliche Thema beleuchtet. Die erste legt die melodische Bewegung zunächst ganz in das Klavier, der rhythmische Fluss belebt sich in Achtelnoten. Eine noch bewegtere staccato-Variation schließt sich an. Enge motivische Interaktionen zwischen Violine und Klavier charakterisieren die dicht gearbeitete dritte Variation. In der vierten, „schnell und leidenschaftlich” zu spielen, leitet eine furiose Steigerung vom tiefsten ins höchste Violin-Register über zur finalen Variation. Diese bringt das Thema zurück, diesmal mit eminenter geigerischer Strahlkraft, gestützt von gleichmäßigen chromatischen Akkorden des Klaviers. In diesem hymnischen Glanz ist am ehesten jener ekstatische, visionäre Tonfall zu erkennen, der Messiaens späteres Œuvre durchleuchtet. Doch bereits dieses Werk des jungen Komponisten war eindrucksvoll genug, um später den jungen Pierre Boulez zu begeistern. Als er Messiaens Thème et variations eher zufällig hörte, war Boulez sogleich gefesselt: „Das reichte aus, um in mir den sofortigen Wunsch zu wecken, bei ihm zu studieren. Ich spürte die Energie seiner Anziehungskraft sofort, wie ich sage, beim ersten Hören.“
Luciano Berio Sequenza VIII
In seinen Miniaturen mit dem Titel Sequenza (Folge, Reihe) untersuchte Luciano Berio die Sprachhaftigkeit rein instrumentaler Musik. Von 1958 bis 2002 spannt sich die Entstehung dieses Zyklus des italienischen Komponisten, der verschiedene Soloinstrumente von der Flöte bis zum Akkordeon (und in einem Fall auch die weibliche Stimme) mit etwa viertelstündigen Monologen bedenkt. Berios Sequenze bieten in ihrer Intimität Überraschungen hinter jeder Note und stellen gewohnte Perspektiven der Wahrnehmung in Frage. So haben sie sich allesamt fest in das Solorepertoire des jeweiligen Instruments eingeschrieben.
Sequenza VIII für Violine entstand 1976 für den italienischen Geiger Carlo Chiarappa, der keinesfalls auf Neue Musik spezialisiert war, sondern sich auch intensiv mit dem Barockrepertoire auseinandersetzte. Das entsprach Berios Verständnis als Komponist, schöpfte er doch aus einer Fülle kultureller Reservoirs. Berio wollte nach eigenem Bekunden „unser Bewusstsein dafür schärfen, dass wir es immer selbst sind, die eine erzählte Geschichte zu unserer eigenen Wahrheit zusammensetzen.“ So zeichnet seine Musik ein theatralisch aufgeladener Stilpluralismus aus, der mit Zitatsplittern, Collagierungen oder – wie in der Sequenza für Violine – mit Gesten und Assoziationen arbeitet. Dabei filterte er nur solche Ausdrucksweisen und Techniken aus dem historischen Material heraus, „die es mir erlauben, einige Schritte weiterzugehen, auf der Suche nach einer untergründigen Einheit musikalischer Welten, die sich offensichtlich fremd gegenüberstehen.“
Berio verstand die Sequenza für Violine als „eine Entwicklung von instrumentalen Gesten“. Und diese Entwicklung nimmt ihren Ausgang bei einem großen Vorbild, „dem musikalischen Höhepunkt“, so Berio, „in dem – historisch gesehen – vergangene, gegenwärtige und zukünftige Violintechniken nebeneinander bestehen“: der Chaconne aus Johann Sebastian Bachs Partita in d-moll. Beginnt diese mit einem Akkord, der die Quinte a fortführt, so nimmt Berios Sequenza ihren Ausgang von dem Einzelton a. Er erklingt sowohl gegriffen wie auch als leere Saite und wird allmählich von dissonanten Halb- und Ganztönen umspielt. Das h, also die obere Sekunde zum a, schält sich als zweiter Zentralton heraus. Diese beiden Töne sollen schließlich laut Berio „wie in einer Chaconne“ als „Kompass in der recht abwechslungsreichen und ausgefeilten Route des Werks agieren, in der Polyphonie nicht mehr virtuell, sondern real ist, und wo der Solist dem Zuhörer beständig die Geschichte hinter jeder instrumentalen Geste bewusst machen muss“.
Weitere Anknüpfungspunkte sind an neobarockes Vokabular erinnernde Punktierungen und rasante, spielerische Läufe, die die Grenzen der Virtuosität – wie ehedem Bachs Chaconne – verschieben. Am Schluss steht ein langer, leiser Doppelgriff, der die Töne a und h kombiniert. Seltsamerweise wirken sie nach der zurückliegenden Tour de force nicht mehr als peinvolle Dissonanz, sondern als entspannte Auflösung. Berio verstand die Sequenza VIII auch als „eine persönliche Schuld gegenüber der Violine, die für mich eines der subtilsten und komplexesten Instrumente ist.“
Immer hat er eine „starke Anziehung durch dieses Instrument“ empfunden, die allerdings mit „eher gequälten Gefühlen“ gemischt sei: Denn mit dem Geigenunterricht begann er im Alter von 13 Jahren, oder, wie er lakonisch feststellte, „viel zu spät“.
Richard Strauss
Sonate für Violine und Klavier
Mit geradezu triumphalen Akkorden und einer schwungvollen Triolenbewegung eröffnet das Klavier die Violinsonate von Richard Strauss, und die Geige nimmt diese Energie sogleich auf. Voller
Verve überträgt der junge Komponist, gerade zum Kapellmeister in München bestellt, seinen neuentwickelten orchestralen Stil auf die Kammermusik, und es scheint, als würden ihm die drei Notensysteme dieser Sonate schon zu eng für seinen Expansionsdrang.
Kein Wunder, dass Strauss das Genre der Kammermusik bald verlassen sollte, als sich die ersten spektakulären Erfolge mit seinen Symphonischen Dichtungen ankündigten. Tatsächlich ist die Violinsonate das letzte Werk innerhalb seines ohnehin schmalen kammermusikalischen Œuvres, das ausschließlich in den frühen Jahren entstand. Als er die Partitur im November 1887 vollendete, arbeitete der 23-jährige Strauss bereits an Macbeth, seiner ersten Symphonischen Dichtung. Mit Macbeth sollte er nach eigener Einschätzung „einen ganz neuen Weg betreten“, und es frappiert, wieviel von seinem individuellen Stil sich auch in der Violinsonate bereits zeigt. Da ist der selbstbewusste Aplomb der Themen und Motive, der kraftstrotzende Vorwärtsdrang, da sind aber auch die feinziselierten Ornamente und Schmuckranken der silbrigen Sechzehntelfiguren –und nicht zuletzt ein berückender lyrischer Aufschwung, wie er sich zu höchster Blüte in den „schönen Stellen“ seiner Opern und Lieder entfaltet.
Nach dem üppigen, mit drei kontrastierenden Themen aufwartenden ersten Satz gibt sich das Andante cantabile zunächst als bescheidenes „Lied ohne Worte“. Doch verdunkelt sich die idyllische Szenerie mit nervösen Tonrepetitionen im Klavier, bevor sich das Gewitter dann wieder verzieht und das Tasteninstrument die träumerisch-stimmungsvolle Linie der Geige mit graziösen Figurationen umspielt.
Nach einer düsteren Einleitung im Klavier, die um einen Quartsprung kreist, stürmt das Finale los: Aus der verhaltenen Quarte wird ein energisches Thema gewonnen, das die Triolenfigur aus dem Hauptthema des Kopfsatzes wieder aufgreift. Dieser rhythmische Elan von Triole und Punktierung, nebst der himmelsstürmenden Aufwärtsbewegung, kennzeichnet auch den Beginn von Strauss’ Don Juan, der ihm den kompositorischen Durchbruch brachte und im Werkverzeichnis nur zwei Opusnummern hinter der Violinsonate steht. Der Klavierpart nimmt orchestrale Opulenz an, während die Violine mit gebundenen Sechzehntelfiguren zunächst wie atemlos folgt. Doch bald fällt ihr ein herrliches Thema in blühendem Optimismus zu, und in schmelzenden lyrischen Passagen vereinen sich die beiden Instrumente zur Fülle des Wohllauts.
Während Strauss seinem kammermusikalisches Frühwerk in späteren Jahren keine besondere Wertschätzung zukommen ließ, scheint er die Violinsonate in Gnaden aufgenommen zu haben. Uraufgeführt wurde das dem Cousin Robert Pschorr gewidmete
Stück im Oktober 1887 mit dem in Köln wirkenden Geiger Robert Heckmann und dem Pianisten Julius Buths in dessen Wirkungsstätte Elberfeld. Wenige Tage später saß Strauss, der ein exzellenter Pianist war, bei einer Aufführung in München selbst am Klavier. Manchmal begleitete er berühmte Solisten, etwa 1932 die ungarische Geigerin Stefi Geyer. Und noch 1949, bei einem Festkonzert in Garmisch zu seinem 85. Geburtstag, stand die Sonate auf dem Programm, mit dem jungen Georg Solti als Pianist. Am heutigen Abend soll außerdem nicht unerwähnt bleiben, dass auch Eugène Ysaÿe die Strauss’sche Violinsonate zehn Jahre nach der Uraufführung in sein Repertoire aufnahm.
Dr. Kerstin Schüssler-Bach arbeitete als Opern- und Konzertdramaturgin in Köln, Essen und Hamburg und hatte Lehraufträge an der Musikhochschule Hamburg und der Universität Köln inne. Beim Musikverlag Boosey & Hawkes in Berlin ist sie als Head of Composer Management tätig. Sie schreibt regelmäßig für die Berliner Philharmoniker, die Elbphilharmonie Hamburg, das Lucerne Festival und das Gewandhausorchester Leipzig. 2022 erschien ihre Monografie über die Dirigentin Simone Young.