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Sonate – Etüde – Meditation

Klavierwerke von Schubert, Liszt, Strawinsky und Ligeti

Michael Kube

Noch zu Lebzeiten von Beethoven und Schubert setzte in den 1820er Jahren ein markanter Wechsel in den musikalischen Vorlieben des Publikums ein, das auch im eigenen Salon oder der „guten Stube“ selbst am Klavier musizierte. Nicht länger waren mehrsätzige Kompositionen gefragt (wie etwa Beethovens 32 Klaviersonaten), sondern das kurze Klavierstück romantischer Prägung: vom bloßen „Albumblatt“ über das Nocturne und das Lied ohne Worte bis hin zum Prélude, der Konzert-Etüde und oder dem selbstständigen Scherzo – die Liste der einzelnen Werkbezeichnungen wie auch der mitunter programmatischen Titel ganzer Sammlungen (z.B. Schumanns Waldszenen) lässt sich beliebig erweitern. Im Sommer 1830 berichtet Felix Mendelssohn aus München verwundert an Carl Friedrich Zelter nach Berlin: „Selbst die besten Clavierspieler am Ort wußten kaum, daß Mozart und Haydn auch für das Clavier geschrieben hätten; Beethoven kannten sie nur vom Hörensagen; Kalkbrenner, Field, Hummel nennen sie classische oder gelehrte Musik.“ Und 1839 notiert Robert Schumann mit betrübtem Blick auf die einstmals große Tradition der Sonate: „Das Publikum kauft schwer, der Verleger druckt schwer, und die Komponisten halten allerhand, vielleicht auch innere Gründe ab, dergleichen Altmodisches zu schreiben.“

Vor dem Hintergrund dieses sich langsam vollziehenden ästhetischen Paradigmenwechsels ist es gleichwohl bezeichnend, dass viele der bedeutendsten Komponisten des 19. Jahrhunderts, von Mendelssohn über Chopin und Schumann bis hin zu Brahms und Liszt, sich am Ende weder für noch gegen eine Richtung aussprachen, sondern sowohl große Sonaten wie auch kleiner dimensionierte Klavierstücke schrieben. Und noch im 20. Jahrhundert hat die Klaviersonate – wenn auch oftmals nur mehr als Begriff –eine gewisse Fortsetzung gefunden, so bei Skrjabin, Rachmaninow, Ives, Prokofjew oder Hindemith.

Anders als viele seiner komponierenden Zeitgenossen wurde Igor Strawinsky von der bolschewistischen Revolution nicht überrascht. Schon zuvor hatte er nach seiner Hochzeit mit der in Paris studierenden Zeichnerin Jekaterina Nossenko seinen Wohnsitz in die französische Hauptstadt verlegt, wo er mit Ballettmusiken gleichermaßen Erfolge feierte wie Skandale provozierte. Von Paris aus unternahm Strawinsky 1925, 1935 und 1937 Reisen durch die USA; nach dem Tod seiner Frau und in Folge des Zweiten Weltkriegs übersiedelte er 1940 gänzlich in die Neue Welt, heiratete dort seine langjährige Geliebte Vera Bosse und lebte für knapp 30 Jahre in Los Angeles (und später in New York) – in einem Land, mit dem er anhaltend fremdelte und in dem er zunächst aus alter Verbundenheit einen Freundeskreis exilierter Russen um sich scharte.

Kurios wie singulär sind die Umstände der gewissermaßen drei Uraufführungen seiner im Sommer 1924 in Biarritz und Nizza entstandenen Klaviersonate. Der österreichische Pianist Felix Petyrek spielte sie erstmals öffentlich im Rahmen der Donaueschinger Musiktage am 26. Juli 1925 – was allerdings wegen rechtlicher Bedenken nicht auf dem Programm vermerkt wurde. Zu groß indes war die Neugier auf ein neues, dem Neoklassizismus verpflichtetes Werk aus der Feder Igor Strawinskys, um es dem Publikum vorzuenthalten. Strawinsky selbst hatte die Sonate bereits 1924 im Salon der Princesse de Polignac vorgestellt und führte sie erstmals öffentlich am 8. September 1925 während des Musikfestes der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) in Venedig auf. Stilistisch vereint das Werk die für die 1920er Jahre charakteristische Motorik mit deutlichen Rückbezügen auf die musikalische Sprache Johann

Sebastian Bachs – das zentrale Adagietto erinnert in Gestaltung und Intimität an die „Goldberg-Variationen“.

„Wir kommen zu unsern Lieblingen, den Sonaten von Franz Schubert, den Viele nur als Liedercomponisten, bei Weitem die Meisten kaum dem Namen nach kennen.“ So eröffnet Robert Schumann 1835 seine um mehrere Jahre verspätete Rezension jener drei Klaviersonaten, die als einzige Schuberts zu seinen Lebzeiten im Druck erschienen waren: diejenigen in a-moll (D 845), D-Dur (D 850) und G-Dur (D 894). Ohnehin wurden Schuberts Instrumentalkompositionen erst spät veröffentlicht – von den insgesamt 23, teilweise Fragment gebliebenen Klaviersonaten enthält die zwischen 1888 und 1897 erschienene sogenannte „Alte Gesamtausgabe“ nur knapp ein Drittel. Die Reinschrift seiner letzten Sonaten (D 958–960) vollendete Schubert am 26. September 1828, wenige Wochen vor seinem plötzlichen Tod, und bot die Trias bereits eine Woche später dem Leipziger Verleger Heinrich

Albert

Probst an: „Ich habe unter anderen 3 Sonaten für’s Pianoforte allein componirt, welche ich [Johann Nepomuk] Hummel dediciren möchte.“ Erschienen sind diese Werke allerdings erst 1839 bei Diabelli in Wien und nicht mit der ursprünglich vorgesehenen Zueignung (Hummel war bereits 1837 gestorben), sondern mit einer möglicherweise von Schuberts älterem Bruder Ferdinand angeregten Widmung an „Robert Schumann in Leipzig“ und dem fraglos verkaufsfördernden, jedoch unrichtigen Zusatz „Franz Schubert’s allerletzte Composition.“

Musikalisch bezieht sich die c-moll-Klaviersonate D 958 indes auf den 1827 verstorbenen Ludwig van Beethoven (Schubert gehörte zu den 36 Fackelträgern des Leichenzuges, Hummel zu den Sargträgern). Die kompositorische Nähe bzw. Reverenz tritt dabei nicht allein in der Wahl der zugrunde liegenden Tonart zutage, sondern auch im Beginn des Kopfsatzes mit seinem für c-moll so charakteristischen, pathetischen Tonfall. Selbst die begleitenden Triolenfiguren in der Durchführung scheinen eine Anspielung zu sein. Schubert stellte diesen Passagen mit dem als Ländler gestalteten Seitenthema nicht nur einen Kontrast, sondern auch eine ganz andere Klangwelt gegenüber – eine Klangwelt, die sich hier allerdings nicht durchzusetzen vermag. Auch im folgenden Adagio ist

Beethovens Geist präsent; der Verweis auf den langsamen Satz der Klaviersonate c-moll op. 10 Nr. 1 ist gleichsam mit Händen zu greifen. Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass Schubert nach dem Menuett in dem mit 717 Takten großflächig angelegten Finalrondo in einer der Episoden es-moll berührt – jene Tonart, die Christian Friedrich Daniel Schubart in seiner Ästhetik der Tonkunst von 1806 mit diesen Worten beschreibt: „Empfindungen der Bangigkeit des aller tiefsten Seelendrangs; der hinbrütenden Verzweiflung; der schwärzesten Schwermut, der düsteren Seelenverfassung.“

„Um eine saubere Technik zu bekommen, muss man mit dem Üben noch vor dem Eintritt in die Pubertät beginnen. Diesen Zeitpunkt habe ich aber hoffnungslos verpasst.“ Trotz dieses Versäumnisses wandte sich György Ligeti in späteren Jahren dem Klavier zu und erkundete die gestalterischen wie klanglichen Möglichkeiten des Instruments in seinen Études. Zwischen 1985 und 2001 entstanden, in drei Heften zusammengefasst und insgesamt 18 Kompositionen zählend, durchmessen diese Werke einen ganz eigenen Ideenkosmos. Sie „gehen stets von einem sehr einfachen Kerngedanken aus und führen vom Einfachen ins Hochkomplexe: Sie verhalten sich wie wachsende Organismen.“ Zugleich lässt sich erkennen, wie sich Ligeti in den Études auf bestimmte Aspekte und Parameter konzentriert: In Arc-en-ciel (Regenbogen) sind es etwa die Farben des hohen Registers, die sich am Ende noch weiterdenken ließen. Fanfares ist bestimmt durch polyrhythmische Verschiebungen über einem durchgängigen Achtel-Ostinato einerseits und dynamischen Kontrasten zwischen den beiden Händen andererseits, die hier auf die Spitze getrieben werden.

Franz Liszts Bénédiction de Dieu dans la solitude (Gottes Segen in der Einsamkeit) bildet mit etwa 18 Minuten Spieldauer die längste und sowohl technisch wie gestalterisch anspruchsvollste Komposition der 1853 gedruckten zehnteiligen Sammlung Harmonies poétiques et religieuses. Nicht nur der Titel, sondern auch einige der enthaltenen Stücke beziehen sich auf den für die französische Romantik so wichtigen, 1830 veröffentlichten gleichnamigen Gedichtband von Alphonse de Lamartine, dessen sozialpolitische, ästhetische und religiöse Ideen Liszt beeinflussten (beide begegneten sich mehrfach).

Lamartines religiöse Schwärmerei drückt sich vor allem in der Bénédiction aus, die Liszt musikalisch interpretierte und überhöhte. Entsprechend sind einigen Nummern der Sammlung auch Teile der jeweiligen Textvorlage vorangestellt, in Fall der Bénédiction der Beginn der knapp 200 Verse zählenden Dichtung:

Woher kommt mir, o Gott, dieser Friede, der mich überflutet? Woher kommt dieser Glaube, von dem mein Herz überströmt ist?

Zu mir, der ich eben noch unsicher und ruhelos war, Und auf den Wogen des Zweifels umhergetrieben, In den Träumen der Weisen das Gute, das Wahre suchte, Und Frieden in Herzen, die von Stürmen widerhallten?

Kaum sind ein paar Tage auf meine Stirn geglitten, Es scheint mir, als sei ein Jahrhundert und eine Welt vergangen, Und dass, von ihnen durch einen riesigen Abgrund getrennt, Ein neuer Mensch wird in mir wiedergeboren und beginnt von neuem.

Sowohl innerhalb der Sonatengattung wie auch in der schöpferischen Biographie ihres Autors stellt Liszts 1854 im Druck erschienene Sonate h-moll einen unübersehbaren Markstein dar. Gemeinsam mit anderen Werken, unter ihnen auch die Études d’exécution transcendante von 1851, wirkt sie wie ein kompositorisches Echo auf die bereits 1847 aufgegebene Virtuosenlaufbahn, das bald auch selbst verhallen sollte, wie Liszt in einem Brief vom Frühjahr 1854 an den Klavierpädagogen und Musikschriftsteller Louis Köhler ankündigte: „Für heute erlaube ich mir Ihnen meine Sonate […] zu übersenden. Nächstens erhalten Sie ein ziemlich langes Stück ‚Scherzo und Marsch‘, und im Laufe des Sommers erscheinen […] bei Schott meine ‚Années de Pèlerinage‘ […], zwei Jahrgänge –Schweiz und Italien. Mit diesen Sachen will ich einstweilen mit dem Clavier abschliessen, um mich ausschliesslich mit OrchesterCompositionen zu beschäftigen und auf diesem Gebiet mehreres zu versuchen, was mir schon seit längerer Zeit eine innerliche Nothwendigkeit geworden.“

Schon seit 1848 hatte sich Liszt, der als „außerordentlicher Kapellmeister“ in Weimar einen neuen Wirkungskreis entfaltete, intensiv mit der programmatisch bestimmten, formal aber vergleichsweise frei gehaltenen Gattung der Konzertouvertüre auseinandergesetzt, für die er allerdings erst im Februar 1854 bei einer Aufführung von Les Préludes den bleibenden Terminus „Symphonische Dichtung“ verwendete. In diesen für Orchester bestimmten Werken zeigt sich Liszts Bestreben nach innerer Verdichtung wie auch äußerer Verschränkung des musikalischen Verlaufs. Gleiches gilt für die h-moll-Sonate – nur dass in diesem Fall über das eigentliche Werk hinaus auch Fragen der Gattung und ihrer Konventionen in entscheidendem Maße berührt wurden. Dies betrifft weniger die aus einheitlichem Material entwickelten Themen, ihre Varianten und Metamorphosen, als vielmehr die komplexe, keineswegs eindeutige Anlage der Form, in der die Abschnitte eines Sonatensatzes (Exposition, Durchführung, Reprise und Coda) mit den Satzcharakteren einer mehrteiligen Komposition (Introduktion und Kopfsatz, langsamer Satz, Scherzo und Finale) zu einem einsätzigen, in sich geschlossenen Verlauf kombiniert werden – eine zukunftsweisende Idee, an die später unter anderen auch Richard Strauss (in Don Juan und Ein Heldenleben) sowie Arnold Schönberg (in Pelleas und Melisande, dem Streichquartett d-moll op. 7 und der Kammersymphonie op. 9) anknüpften.

Ein Blick in die Geschichte der Klaviermusik zeigt darüber hinaus, dass die avancierte Anlage von Liszts Sonate auch als Fortsetzung älterer Versuche einer motivischen wie zyklischen Vereinheitlichung zu verstehen ist – nur dass diese Werke mit Rücksicht auf die überschrittenen Konventionen nicht als Sonaten, sondern gattungsästhetisch weit weniger gebunden als Fantasien bezeichnet wurden. Zu nennen ist vor allem Schuberts „Wandererfantasie“ aus dem Jahr 1822, von der Liszt 1851 eine symphonische Bearbeitung für Klavier und Orchester angefertigt hatte, aber auch Schumanns Fantasie op. 17 von 1839, die Liszt gewidmet ist. Es mag dieser geschichtlichen Konstellation geschuldet sein, dass Liszt seine anhaltende Wertschätzung gegenüber Schumann als Mensch und Künstler wie auch gegenüber dessen Œuvre in der Widmung seiner eigenen h-mollSonate („An Robert Schumann“) zum Ausdruck brachte – zu einer Zeit allerdings, zu der sich Schumann bereits abseits seiner Familie in der Endenicher Heil- und Pflegeanstalt befand. Auf diese Umstände ging Liszt bei der Übersendung eines Druckexemplars am 21. Mai 1854 ein: „Schon lange ist es mir angelegen meine wahrhafte und getreue Verehrung für Robert Schumann durch die Widmung eines Werkes auszusprechen. Wenn dies auch erst jetzt geschieht in so trüben und peinlichen Tagen für Sie; so hoffe ich doch daß Sie meine freundschaftliche Intention freundschaftlich aufnehmen.“ Das avancierte Werk rief jedoch nur Unverständnis hervor, wie ein Tagebucheintrag von Clara Schumann belegt, die (in privaten Mitteilungen) Liszt ohnehin sehr reserviert gegenüberstand:

,,25. Mai [1854]. Liszt sandte heute eine an Robert dedizierte Sonate und einige andre Sachen mit einem freundlichen Schreiben an mich. Die Sachen sind aber schaurig! Brahms spielte sie mir, ich wurde aber ganz elend. […] Das ist nur noch blinder Lärm – kein gesunder Gedanke mehr, alles verwirrt, eine klare Harmoniefolge ist da nicht mehr herauszufinden! Und da muß ich mich nun noch bedanken – es ist wirklich schrecklich.“

Gespalten fielen auch die zeitgenössischen Reaktionen auf das Werk aus. Louis Köhler etwa erkannte in seiner ausführlichen Besprechung die musikgeschichtliche Bedeutung des Werkes („Wir stehen hier vor einer der bedeutendsten Erscheinungen auf dem Gebiete der neueren Claviermusik, einer Erscheinung, die selbst mit den besten Erzeugnissen gleichen Genres aus allen Zeit-Epochen einen Vergleich bestehen kann“). Brahms hingegen schrieb an Clara, dass dieser überschwängliche Kommentar wohl nur „durch magnetische Experimente hervorgerufen“ worden sein könne

PD Dr. Michael Kube ist Mitglied der Editionsleitung der Neuen Schubert-Ausgabe, Herausgeber zahlreicher Urtext-Ausgaben und Mitarbeiter des auf klassische Musik spezialisierten Berliner Streaming-Dienstes Idagio. Seit 2015 konzipiert er die Familienkonzerte der Dresdner Philharmoniker. Er ist Juror beim Preis der Deutschen Schallplattenkritik und lehrt an der Musikhochschule Stuttgart sowie an der Universität in Würzburg.

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