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WEST-EASTERN DIVAN ENSEMBLE
Mittwoch 8. Februar 2023 19.30 Uhr
Michael Barenboim Violine, Viola und musikalische Leitung
Mohamed Hiber, David Strongin, Samir Obaido Violine
Miriam Manasherov, Sindy Mohamed Viola
Astrig Siranossian, Assif Binness Violoncello
Jörg Widmann (*1973) aus 24 Duos für Violine und Violoncello (2008)
Capriccio (Heft 2 Nr. 1)
Lamento (Heft 2 Nr. 9)
Valse bavaroise (Heft 2 Nr. 8)
Vier Strophen vom Heimweh (Heft 1 Nr. 13)
Toccatina all’inglese (Heft 2 Nr. 11)
Antonín Dvořák (1841–1904)
Terzetto für zwei Violinen und Viola C-Dur op. 74 (1887)
I. Introduzione. Allegro ma non troppo –
II. Larghetto
III. Scherzo. Vivace – Trio. Poco meno mosso
IV. Tema con variazioni. Poco adagio – Molto allegro –Moderato, quasi recitativo – Moderato e risoluto –Molto allegro
Paul Hindemith (1895–1963)
Trauermusik für Viola und Streicher (1936)
I. Langsam –
II. Ruhig bewegt –
III. Lebhaft –
IV. Choral „Für deinen Thron tret ich hiermit“. Sehr langsam
Pause
George Enescu (1881–1955)
Oktett für Streicher C-Dur op. 7 (1900)
I. Très modéré – Même temps – Plus animé – Tempo I –
II. Très fougueux – Moins vite – Tempo I – Moins vite –Plus vite – Très vite –
III. Lentement – Plus animé – Un peu moins vite –Tempo I – Très animé –
IV. Mouvement de Valse bien rythmée
Virtuosität und Spielfreude
Musik für Streicher vom Duo bis zum Oktett
Anne do Paço
Anlässlich des 20-jährigen Bestehens des West-Eastern Divan Orchestra rief Michael Barenboim, Konzertmeister des Orchesters, 2019 das West-Eastern Divan Ensemble ins Leben – Ziel dabei war es, die Musiker:innen auch im intimeren und exponierteren Format der Kammermusik in all ihrer Meisterschaft und Vielseitigkeit zu präsentieren. Das Programm des heutigen Abends wird diesem Anspruch exemplarisch gerecht mit Kompositionen von Jörg Widmann, Antonín Dvořák, Paul Hindemith und George Enescu, die allesamt große Interpret:innen, ja Virtuos:innen auf ihren Instrumenten fordern und zugleich in ihrem Kern etwas zutiefst Musikantisches bewahren.
Grenzgänge zum erfüllten Augenblick
„Wer der Musik Jörg Widmanns zum ersten Mal begegnet, ist von ihrer Unmittelbarkeit und Intensität überrascht. Die Musik stürzt nicht selten wie ein Katarakt auf den Hörer ein, sie ist maßlos in ihrer überschäumenden Virtuosität oder in ihrer unendlichen Traurigkeit.“ Mit diesen Worten beschrieb der Musikwissenschaftler
Markus Fein im Jahr 2005 eine besondere Qualität, die die Werke des 1973 in München geborenen Komponisten und Klarinettisten auszeichnet. In Widmanns Schaffen zeigt sich nicht nur seine virtuose Beherrschung musikalischer Gattungen, Stile, Satztechniken und Klangvaleurs, sondern zugleich auch der Drang eines Forschers, der voller Lust immer wieder die rein technischen Grenzen des Musizierens auslotet.
Die unter dem Titel 24 Duos vorliegenden Miniaturen für Violine und Violoncello erlebten ihre Uraufführung in Etappen und stellen keinen Zyklus im strengen Sinn dar. Die ersten 13, in Heft I versammelten Stücke wurden von Carolin Widmann, der Schwester des Komponisten, an der Violine und dem Cellisten Jean-Guihen Queyras im August 2008 in Bad Reichenhall uraufgeführt, die elf Duos aus Heft II erklangen erstmals wenige Tage später im französischen Chambéry mit den Brüdern Renaud und Gautier Capuçon. Für das Musikfest Heidelberger Frühling stellte Jörg Widmann später aus beiden Heften fünf Stücke zusammen, die seither als „Heidelberger Fassung“ zur Aufführung kommen und am heutigen Abend zu hören sind.
Wie er im Vorwort zur Partitur erklärt, hatte Widmann zunächst nur an einige wenige Duos gedacht und wurde selbst davon überrascht, welchen „freudigen Schreib-Exzess“ die kleine Form bei ihm während eines Aufenthaltes in Dubai im Jahr 2008 auslöste. Die Ferne von der Heimat in dieser „so künstlichen Stadt, die nur für den Westen gemacht ist“ (Widmann), schlug sich auf seine Arbeit nieder. Dem Respekt, den er „lange Zeit vor der Ungeschütztheit und Reduziertheit der Duo-Konstellation“ hegte, begegnete der Komponist mit einer Art Flucht nach vorn, indem er auf beiden Instrumenten alle erdenklichen Spieltechniken, Klangschattierungen, aber auch Manipulationen einsetzt und den traditionell melodiebasierten Charakter der Streicher durch den Einsatz von raffinierten Doppelgriffen in eine latente Mehrstimmigkeit weitet. Das eröffnende Capriccio ist ein launenhafter Satz voller extremer dynamischer Kontraste und geprägt von permanentem Wechsel zwischen gestrichenen und Pizzicato-Tönen, der in eine äußerst charmante Erinnerung an einen Walzer mündet. Im Lamento versieht Widmann eine mikrotonale Harmonik, deren VierteltonSchwebungen „con dolore“, mit Schmerz, auszukosten sind, mit einer archaischen Alte-Musik-Aura: „Das ganze Stück quasi barockrenaissancehaft spielen (quasi Gamben-Consort), Vibrato möglichst vermeiden, dafür rechts mit dem Bogen umso mehr ‚espressivo‘“, lautet die Spielanweisung. In der Valse bavaroise kommt ein Walzer nicht nur volkstümlicher daher als in Wien, es erscheint in dieser Miniatur mit ironischer Distanz, aber doch auch mit liebevollem Ohr alles versammelt, was einen Walzer ausmacht: das Schwungholen und wohlige Aussetzen des Herzschlags in den typischen Verzögerungen des Dreivierteltakts, das Hanswurstig-Derbe und zugleich Sublime. Wie schon im Capriccio kommt es auch hier zu einer Überkreuzung der Register, wenn schließlich das sentimentale Walzerthema nicht in der Violine, der die Pizzicato-Begleitung bleibt, sondern in den höchsten Höhen des Cellos erklingt.
„Von weit“ sind die zarten Vier Strophen vom Heimweh zu spielen –irreal entrückt im Klang durch die Verwendung eines metallenen Übedämpfers. Unter einer Toccata versteht man vor allem im Barock ein frei gestaltetes Klavier- oder Orgelstück, das aus Wechselspielen meist sehr virtuoser Figuren in beiden Händen des Instrumentalisten besteht – eine Struktur, die Jörg Widmann in seiner Toccatina all’Inglese auf die beiden Streicher überträgt, die sich Dreiklangs- und Tonleiterkaskaden wie Bälle zuwerfen, garniert
„nach englischer Art“ mit dem Zitat eines gar nicht alten Motivs: der aufsteigenden Blechbläserfigur aus dem Titelthema zum JamesBond-Film Dr. No, seit 1962 akustisches Markenzeichen des berühmtesten aller Geheimagenten. In der Verbindung von Altem und Neuen, Eigenem und Fremden findet Widmann in seinen Duos zu einer musikalischen Gegenwart, die letztlich immer auf einen der Kernpunkte der so flüchtigen Tonkunst zielt: den erfüllten Augenblick.
Auch Antonín Dvořák komponierte seine Werke oft in verblüffend kurzer Zeit und konzentrierten Schaffensschüben. Das Problem von Schreibblockaden oder dem Mangel an Einfällen war ihm eher fremd. „Der Kerl hat mehr Ideen als wir alle. Aus seinen Abfällen könnte sich jeder andere die Hauptthemen zusammenklauben“, urteilte bereits Johannes Brahms über den damals noch unbekannten Komponisten. Mit den Slawischen Tänzen wurde Dvořák 1878 dann quasi über Nacht weltberühmt und zum Hauptvertreter einer Musik, die auf kongeniale Weise böhmische und mährische Volksmelodien und Tänze mit seiner eigenen Tonsprache zu einer hochromantischen Kunstmusik verschränkte – fortan in großdimensionierten Werken ebenso wie in kammermusikalischen Miniaturen.
Zu letzteren zählt das Terzetto C-Dur op. 74, im Januar 1887 in nur einer Woche als Ausgleich zu dem umfangreichen, groß besetzten Oratorium Die heilige Ludmilla entstanden. Die Instrumentation des Trios, dem Dvořák den Titel „Terzetto“ – eigentlich die Bezeichnung für ein dreistimmiges Gesangssstück – gab, ist ungewöhnlich: zwei Violinen und eine Viola verleihen der Komposition über weite Strecken einen schwebenden, ohne das stützende Fundament eines Basses äußerst zerbrechlichen Charakter. Mit anspruchsvollen Doppelgriffen erweitert er aber immer wieder das Klangvolumen und die Anzahl der Stimmen. Entstanden ist eine viersätzige Komposition, die vor allem im Hinblick auf häusliches Musizieren gedacht war, dabei aber all den Klangreichtum, die Ideenfülle und das unverwechselbare Musikantentum, für die Dvořáks Name steht, integriert – auch mit Blick auf gewichtige Vorgänger: „Hat [sic] Beethoven und Schumann auch nicht einmal mit ganz kleinen Mitteln geschrieben – und wie?“, fragte der Komponist.
Mit der Introduzione im gemäßigten Allegro-Tempo verzichtet Dvořák auf einen elaborierten Sonatensatz zugunsten einer charmanten Hinleitung auf das Larghetto, dem er so besonderes Gewicht verleiht. Das volkstümlich-tänzerische Scherzo ist ein Furiant mit einem Ländler als Trio. Als Pendant zur schlichten Eröffnung präsentiert sich auch das Finale nicht als großdimensionierter Schlusssatz, sondern als Konzentration auf die Essenz musikalischer Variation.
Für einen verstorbenen König
Manche Werke sind im wahren Sinne des Wortes „ein Wurf“. So auch die Trauermusik für Viola und Streicher, die Paul Hindemith innerhalb von nur sechs Stunden komponierte – aus gegebenem Anlass: Der englische König George V. war am 20. Januar 1936 verstorben. Hindemith befand sich in den Proben zu einem Konzert des BBC Symphony Orchestra unter der Leitung von Adrian Boult, in dem er als Solist die britische Erstaufführung seines Violakonzerts Der Schwanendreher spielen sollte, als der Todesfall alle Pläne durcheinanderbrachte. „Der Schwan konnte wegen eines toten Königs nicht gebraten werden“, schrieb er an seinen Verleger und nahm die Herausforderung an, die Boult und der Produzent der BBC an ihn herantrugen, als die Live-Sendung des Konzerts durch ein musikali- sches Gedenkprogramm ersetzt werden musste: Hindemith sollte ein Werk beisteuern – und da sich in seinem vorhandenen Œuvre nichts Passendes fand, entschied er sich spontan zu einer Neukomposition. Am nächsten Tag stellte ihm die BBC ein Zimmer sowie eine ausreichende Anzahl an Kopisten zur Erstellung des Notenmaterials zur Verfügung, und bereits am folgenden Abend, dem 22. Januar 1936, fand die Live-Übertragung der Trauermusik mit Hindemith als Solist im britischen Rundfunk statt.
In dem viersätzigen, etwa achtminütigen Werk zitiert Hindemith zum einen Material aus eigenen Kompositionen: neben dem Schwanendreher-Konzert auch aus der bereits kurz nach der Berliner Uraufführung 1934 durch die Nationalsozialisten verbotenen Symphonie Mathis der Maler. Stilistisch erweist er zugleich aber auch Großbritannien und dem verstorbenen König seine Reverenz. So greift der erste Satz den Duktus einer Pavane auf – jenes alten Tanzes, der sich mit seinem gravitätischen Charakter zur Zeit des Barock nicht nur großer Beliebtheit bei Feierlichkeiten am Hofe erfreute, sondern sich vor allem in England zu einer Musik für Traueranlässe entwickelte. Das Finale entwirft mit dem Zitat des Chorals Für deinen Thron tret ich hiermit das endzeitliche Bild eines Menschen in Konfrontation mit dem Tod, gleichzeitig aber getragen von der Hoffnung auf ein Jenseits – raffiniert durchbrochen mit der solistischen Bratschenstimme. Hindemith war die aus dem sogenannten „Genfer Psalter“ stammende Choralmelodie durch Bachs Orgelbearbeitung
(BWV 327) bekannt – dass sie in England unter der Bezeichnung Old 100th mit dem Text „All people that on earth do dwell“ große Popularität genoss, fand er allerdings erst später heraus.
Kammermusik in monumentalen Dimensionen
„Er lauschte der Musik, die man ihm vortrug – der Musik hinter den Worten, hinter den Gesten; und wenn er lauschte, so machte er Musik aus allem, was er hörte: Angst, Liebe, Schicksal – Mächte, die sich unserer Kontrolle entziehen.“ Yehudi Menuhin äußerte sich so über die Faszination, die von seinem Lehrer George Enescu ausging. Der 1881 in Rumänien geborene Komponist und Violinvirtuose bezog seine Energie aus den Volksmusiktraditionen des Balkans und der orthodoxen Kirchenmusik, aber auch aus seinen Erfahrungen mit der Wiener Spätromantik und den Ideen des Pariser Fin de siècle. Bereits als Siebenjähriger war er am Wiener Konservatorium aufge- nommen worden, wo er bei dem berühmten Konzertmeister Joseph Hellmesberger (dem Jüngeren) Geige studierte und Theorieunterricht bei Robert Fuchs nahm. 1895 ging er nach Paris, um bei Gabriel Fauré und Jules Massenet sein Kompositionshandwerk zu verfeinern. Fünf Jahre später gelang ihm mit dem Streichoktett C-Dur ein jugendlicher Geniestreich. Das seinem Professor André Gedalge, dem gefürchteten „Fugenpapst“ des Pariser Conservatoire, gewidmete Werk lässt bereits ahnen, dass der 19-Jährige bald schon zu den originellsten Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählen sollte. Einer, der dies früh erkannte, war Gustav Mahler, der 1911 Enescus Orchestersuite Nr. 1 mit dem New York Philharmonic zur Aufführung brachte.
An die Komposition des Oktetts ging Enescu mit „der Nervosität eines Ingenieurs“ heran, der an seiner „ersten Hängebrücke über einen Fluss arbeitete“, und fand mit diesen Worten eine treffende Metapher für ein Komponieren auf dem Grat der Jahrhundertwende – zurückblickend auf das Zeitalter der Romantik und zugleich große Schritte auf neuen Wegen wagend. Für eine kammermusikalische Besetzung konzipiert, sprengt das Oktett mit seiner monumentalen Architektur und einer Spieldauer von fast 45 Minuten zugleich deren übliche Dimensionen und präsentiert sich damit auch als Ausdruck des Kräftemessens mit der Pariser Symphonik eines César Franck oder Camille Saint-Saëns.
Die vier Abschnitte des Werks bilden keine in sich abgeschlossenen Satzcharaktere, sondern werden durch fließende Übergänge, wie sie für die französische Musik des Fin de siècle so typisch sind, nahtlos zu einem großen Ganzen verbunden. Zu Beginn präsentiert Enescu über einem insistierend pulsierenden Tremolo im zweiten Violoncello ein weit ausholendes Thema, das von einem charakteristischen Sextsprung geprägt ist. Von den übrigen sieben Stimmen voller Emphase im Unisono vorgetragen, ist es mehr als nur das Hauptthema eines Sonatensatzes: Wie eine Idée fixe prägt es alle vier Teile und schaltet sich immer wieder in das musikalische Geschehen ein. Neben diesem gewichtigen Hauptthema stellt Enescu bereits im Kopfsatz sechs weitere thematische Gebilde vor, zu denen er im weiteren Verlauf noch drei hinzufügt – Material, das ihm zum „Garn“ eines komplexen polythematischen Gewebes wird, in dem es nicht mehr um Entwicklung im Sinne der klassischen Sonatenform geht, sondern um ein Spiel mit Bausteinen, die fragmentiert und in immer neuen Varianten zusammengesetzt werden. Das knappe Scherzo steht mit seinem äußerst aggressiven Charakter und seiner harschen Chromatik dem rhapsodisch gehaltenen langsamen Satz gegenüber. Nach einer spannungsgeladenen Überleitung mündet die Komposition in einen von den Impulsen des Beginns angetriebenen Walzer, dessen wienerische Dreivierteltakt-Seligkeit sich in Enescus unerbittlicher, teils verzerrter Rhythmik und dissonanter Harmonik 20 Jahre vor Maurice Ravels La Valse in ein grotesk-phantastisches Delirium verwandelt.
Anne do Paço studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Germanistik in Berlin. Nach Engagements am Staatstheater Mainz und der Deutschen Oper am Rhein ist sie seit September 2020 Chefdramaturgin des Wiener Staatsballetts. Sie veröffentlichte Aufsätze zur Musik- und Tanzgeschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts und war als Autorin u. a. für die Kammerphilharmonie Bremen, das Wiener Konzerthaus und die Opéra National de Paris tätig.