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RENAUD CAPUÇON & GUILLAUME BELLOM

Montag 13. März 2023 19.30 Uhr

Renaud Capuçon Violine

Guillaume Bellom Klavier

Marguerite Canal (1890–1978)

Sonate für Violine und Klavier (1922)

I. Andantino con moto

II. Sourd et haletant

III. Adagio expressif

IV. Allegro con bravura

Pascal Dusapin (*1955)

Forma fluens für Violine und Klavier (2018)

Pause

Charlotte Sohy (1887–1955)

Thème varié für Violine und Klavier op. 15 (1921)

Lent – Allegro – Lent

Gabriel Fauré (1845–1924)

Sonate für Violine und Klavier Nr. 1 A-Dur op. 13 (1875/76)

I. Allegro molto

II. Andante

III. Allegro vivo

IV. Allegro quasi presto

Das Erbe der musikalischen Mütter und Väter

Musik aus Frankreich für Violine und Klavier

Antje Reineke

Die Musik von Komponistinnen wiederzuentdecken sei „über die unabdingbare Erinnerungspflicht hinaus […] ganz einfach eine Bereicherung unseres väterlichen musikalischen Erbes durch das Hinzufügen des vergessenen ‚mütterlichen Erbes‘“, erklärt die Musikwissenschaftlerin Florence Launay. Mit ihrem heutigen Programm leisten Renaud Capuçon und Guillaume Bellom hier einen wichtigen Beitrag, indem sie der berühmten Ersten Violinsonate von Gabriel Fauré und dem 2018 eigens für sie komponierten Forma fluens von Pascal Dusapin Werke von Marguerite Canal und Charlotte Sohy gegenüberstellen – zwei Künstlerinnen, bei denen ein eklatantes Missverhältnis zwischen der unbestreitbaren Qualität ihrer Werke und dem Mangel an verlässlichen biographischen Informationen besteht. Wie reich dieses „mütterliche Erbe“ ist und wie weit sein Gattungsspektrum reicht, das nicht nur die oft zitierten Lieder und Klavierstücke, sondern von der Oper über Symphonik bis zum Streichquartett eine Vielzahl von Kompositionen umfasst, hat Launay für das Frankreich des 19. Jahrhunderts gezeigt. Es verbindet sich mit Namen wie Sophie Gail, Loïsa Puget, Louise Farrenc, Clémence de Grandval, Pauline Viardot, Marie Jaëll, Mel Bonis,

Augusta Holmès, Armande de Polignac, Cécile Chaminade, Nadia und Lili Boulanger, um nur einige der prominentesten zu nennen.

Ab 1850 war es Frauen möglich, am Pariser Konservatorium Komposition zu studieren, und die Zahl der Studentinnen wuchs offensichtlich ebenso wie die der nachweislich von Frauen komponierten Werke. Genaue Zahlen existieren nicht, da nicht alle ihr Studium beendeten, einen Anhaltspunkt bieten jedoch die Ergebnisse der „Concours“, der Examen: Eine Frau erhielt erstmals 1861 eine Belobigung, 1876 erstmals einen Preis; 1914 wurden dann sechs Frauen und zehn Männer ausgezeichnet. „In der Tat waren Komponistinnen in Frankreich zunehmend präsent“, stellt Launay fest. Im letzten Viertel des Jahrhunderts hätten die Chefdirigenten aller wichtigen Pariser Orchester Werke von Komponistinnen uraufgeführt, und die Konzerte der 1871 gegründeten Société nationale de musique enthielten in den ersten zwei Jahrzehnten zu 38 Prozent Kompositionen von mindestens einer Frau. „Die Wahl von Mel Bonis in den Kreis der Sekretäre der Société des compositeurs de musique im Jahr 1910 ist ein deutliches Zeichen für diese Entwicklung“, meint Launay.

Dies ist die Situation, in der Charlotte Durey – die als „Ch. Sohy“ oder nach ihrem Großvater „Charles Sohy“ firmierte – und Marguerite Canal 1903 ihr Studium aufnahmen: die 13-jährige Canal aus Toulouse am Pariser Konservatorium, die 16-jährige Pariserin Sohy an der noch neuen Schola Cantorum. Dort studierte sie Orgel bei Alexandre Guilmant und Louis Vierne sowie Satzlehre und Komposition bei Vincent d’Indy. 1909 heiratete Sohy ihren Kommilitonen Marcel Labey, einen Dirigenten und heute ebenfalls vergessenen Komponisten, mit dem sie sieben Kinder hatte. Die familiäre Situation scheint sie jedoch nicht als Einschränkung ihrer künstlerischen Arbeit empfunden zu haben, zumal die Familie sich Personal leisten konnte. Komponieren sei für Sohy „eine inneres Bedürfnis“ gewesen, erklärte ihr Enkel François-Henri Labey in einem 2021 veröffentlichten Interview. Sie habe nicht mit Einnahmen aus Konzerten oder dem Verkauf von Partituren gerechnet.

„Charlotte war sich ihres künstlerischen Werts unabhängig von ihrem Geschlecht bewusst.“ Seit ihrer Kindheit habe sie Frauen gekannt, die komponierten, namentlich die gleichaltrige Nadia Boulanger und Mel Bonis, die sie auf die Schola Cantorum vorbereitete. Das Verhältnis zu ihrem komponierenden Ehemann war von partnerschaftlichem Respekt geprägt. Marcel Labey soll seine Frau unumwunden als das Genie der Familie bezeichnet und ihre

Werke aufgeführt haben. Zu Beginn des Jahrhunderts seien beide Teil der kulturellen Elite gewesen und hätten in denselben Salons verkehrt wie Dukas, Ravel und Fauré, berichtet ihr Enkel. Zwischen 1910 und 1913 führte die Société nationale Sohys Klaviersonate, die Trois chants nostalgiques für Mezzosopran, Streichquartett und Klavier sowie Poème für Soli, Chor und Orchester auf. Sohy schrieb zudem Theaterstücke und einen Roman.

Ihr Thème varié für Violine und Klavier (alternativ auch Orchester) datiert von 1921 und ist ihrer Jugendfreundin Nadia Boulanger gewidmet. Dem langsamen, weit gespannten, gesanglichen Thema in d-moll folgen vier im Tempo gegeneinander abgesetzte Abschnitte, die meist nur Teile des Themas abwandeln. So stellt sich das Werk als Ganzes als eine große Variation dar.

Das Interesse an Sohys Musik begann jedoch bald zu schwinden –ihr expressiver spätromantischer Stil war nicht mehr zeitgemäß. Die Oper L’Esclave couronnée (1917–21) auf ein eigenes Libretto kam erst 1947 in Mulhouse auf die Bühne, ein anderes ihrer Hauptwerke, die Symphonie cis-moll (1914–17), erlebte seine Uraufführung sogar erst 2019. Hinzu kommt, dass die Bedingungen für Komponistinnen Florence Launay zufolge im 20. Jahrhundert eher schwieriger wurden. Angesichts ihrer Erfolge galten Musikerinnen ihren männlichen Kollegen nicht mehr als bewunderte oder belächelte Ausnahmeerscheinungen, sondern als bedrohliche Konkurrentinnen, und das zu einer Zeit, in der die Aufführungsmöglichkeiten insgesamt abnahmen: zum einen, weil die Salons von Adel und Großbürgertum, bisher Zentren des kulturellen Lebens, nicht mehr existierten, zum anderen weil langfristig immer weniger zeitgenössische Musik gespielt wurde.

Unter den Lehrern Marguerite Canals ist nur Paul Vidal (Komposition) namentlich bekannt. Ihr Examen legte sie in den Fächern Harmonielehre und Fuge sowie in Klavierbegleitung und Orgel ab. Da ihr eine Karriere als Sängerin empfohlen wurde, dürfte sie zudem eine Gesangsausbildung erhalten haben. Im Frühjahr

1917/18 leitete Canal in Paris eine Reihe von Wohltätigkeitskonzerten, einige davon mit einem reinen Frauenorchester. (Als Dirigentin war sie zu ihrer Zeit eine bedeutende Ausnahme, aber nicht die erste Frau in einer solchen Position. Später gab sie diese Tätigkeit weitgehend auf.) Ab 1919 unterrichtete Canal am Konservatorium Solfège für Sänger:innen. Im selben Jahr gewann sie im Wettbewerb um den Prix de Rome eine Auszeichnung, dann 1920 als zweite Frau nach Lili Boulanger den ersten Preis, ungewöhnlicherweise mit einem einstimmigen Votum der Jury. Vier Jahre verbrachte sie im Anschluss als Stipendiatin in der Villa Medici in Rom, wo 1922 ihre Violinsonate entstand.

In ihrem intimen, gesanglichen Charakter scheint sie den Sonaten von Fauré und Franck verwandt. Doch Canal hat ihre eigene, faszinierende und farbige, tonale Klangsprache, die mitunter auch an Debussy anzuknüpfen scheint. Die kontrastreiche Satzfolge nimmt die Hörenden mit auf eine emotional vielschichtige Reise: poetisch und zart, erregt (die Vortragsbezeichnung „sourd et haletant“ bedeutet soviel wie „ton- und atemlos“) und leidenschaftlich. Musik lasse sich nicht immer erklären, war Fauré überzeugt: „Man muss zuhören und hinsehen und sich von den undefinierbaren Emotionen überwältigen lassen.“

1920 hatte Canal den Cellisten Maxime Jamin geheiratet, der als Verleger ihrer Werke fungierte. Die Ehe wurde später geschieden. Ab 1932 unterrichtete sie erneut am Konservatorium in Paris, zudem war sie als Klavierbegleiterin aktiv und trat unter anderem zusammen mit der Sängerin Ninon Vallin auf. Doch Lehrverpflichtungen und Konzerte raubten ihr Zeit und Ruhe zur Komposition. Canal hinterließ an die hundert Lieder, Kammermusik und Klavierwerke sowie drei Orchesterstücke. Eine Oper und ein Requiem blieben unvollendet.

Die Gründung der Société nationale de musique im Februar 1871 hatte großen Anteil am Aufblühen der französischen Instrumentalmusik. Unter dem Motto „Ars Gallica“ führte sie vorwiegend neue Werke von anfangs ausschließlich französische Komponist:innen auf. Zu den Mitgliedern der ersten Stunde zählten Saint-Saëns, sein Schüler Fauré, Massenet, Franck, Duparc und Dubois. Anders als manchmal behauptet, hatte es in Frankreich im privaten wie im öffentlichen Rahmen immer eine lebendige Kammermusikpraxis gegeben. Wer weiß z.B., dass Gounod Streichquartette komponiert hat? Wichtiger sind Namen wie George Onslow, Adolphe Blanc und (nicht nur in unserem Kontext) Louise Farrenc. Doch die Aufführungsmöglichkeiten waren begrenzt, Konzertprogramme eher konservativ mit einem Schwerpunkt auf den Wiener Klassikern. Insofern verbanden sich in der Société nationale praktische Interessen mit wachsenden nationalen Tendenzen, die sich durch den verlorenen Krieg gegen Deutschland verstärkt hatten – Paris war gerade vier Monate lang belagert worden.

„Tatsache ist, dass ich vor 1870 nicht daran gedacht hätte, eine Sonate oder ein Quartett zu komponieren. Für einen jungen Musiker gab es damals keine Möglichkeit, ein solches Werk aufführen zu lassen“, erklärte Fauré, der 1875/76 mit der Violinsonate op. 13 sein erstes Kammermusikwerk vorlegte und damit einen Schwerpunkt seines Schaffens fand. Er selbst war Pianist und Organist, Rat in spieltechnischen und stilistischen Fragen erhielt er von dem belgischen Geiger Hubert Léonard. Gewidmet ist die Sonate allerdings dessen Schüler und Faurés Freund Paul Viardot, dem Sohn der Sängerin und Komponistin Pauline Viardot. Der Erfolg der Uraufführung am 27. Januar 1877 durch Fauré und die Geigerin Marie Tayau war außergewöhnlich. Bereits am Vorabend hatte der 19-jährige Viardot sie gemeinsam mit Fauré in privatem Rahmen vorgestellt; in den folgenden Tagen war das Stück in mehreren Pariser Salons zu hören und, was selten vorkam, im selben Jahr noch zweimal in Konzerten der Société nationale.

Saint-Saëns schwärmte von „den neuen Formen, erlesenen Modulationen, ungewöhnlichen Klangfarben“ und „unerwarteten Rhythmen“ der Sonate sowie dem „Zauber, der das ganze Werk einhüllt“. Nuancenreichtum und Verzicht auf starke Kontraste gelten als grundlegende Merkmale von Faurés Stil. So bildet etwa das Seitenthema des einleitenden Sonatensatzes keinen Gegensatz zum gesanglichen Hauptthema, sondern dessen gesteigerte Ableitung, während das zweite Thema des barkaroleartigen Andante Rhythmus und Bewegungsrichtung des ersten umkehrt. Damit einher gehen eine Vorliebe für zurückhaltende Dynamik und die Vortragsanweisungen „dolce“ (sanft) und „espressivo“ sowie ein Verzicht auf ausgeprägt virtuose Elemente, was leidenschaftliche allerdings Steigerungen nicht ausschließt.

Mit Pascal Dusapin kommt am heutigen Abend schließlich ein prominenter Komponist der Gegenwart zu Wort. Forma fluens wurde am 16. Juni 2018 in der Opéra Royal im Schloss von Versailles von Renaud Capuçon und Guillaume Bellom uraufgeführt. Das Stück ist laut Dusapin eine Hommage an Capuçon, der 2013 sein Violinkonzert Aufgang aus der Taufe gehoben hatte, und dezidiert auf sein Spiel zugeschnitten. Inhaltlich wurde es durch eine Passage aus der Histoire de la littérature récente seines langjährigen Freundes Olivier Cadiot angeregt, in der es unter anderem heißt: „Eine Seite genügt, und wenn das Buch geschlossen ist, schwimmt etwas: forma fluens, wie man im Mittelalter sagte: diese verborgene Eigenschaft, die geduldig darauf wartet, von einem Kunstwerk oder der schönen Bewegung von irgendjemandem ans Licht gebracht zu werden.“

Dusapin erläutert den Titel folgendermaßen: „Es handelt sich um einen Begriff aus dem Mittelalter, die Vorstellung einer Wolke, die ruhende Dinge umgibt.“ Entsprechend arbeitet er mit zwei Ebenen, zwei Affekten, die sich überlagern: der eine „düster, unklar und zuletzt stürmisch“, der andere fast kindlich. „Das Klavier ist sehr, sehr ruhig, wie ein Kinderlied.“ Man könne den Part „fast mit zwei Fingern spielen“. Schließlich wird das Instrument aber doch in diese dunkle, dramatische Sphäre hineingezogen. „Paris, c’est la nuit, il neige … / 7 février 2013“, notierte Dusapin am Ende der Partitur, ein Bild für den beschriebenen Dualismus: das Dunkel der Nacht gegen die Reinheit des frischen Schnees.

Antje Reineke studierte Historische Musikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg und promovierte dort mit einer Arbeit über Benjamin Brittens Liederzyklen. Sie lebt als freie Autorin und Lektorin in Hamburg.

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