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Der Fortschrittliche und sein Nachfolger

Der Fortschrittliche und sein Nachfolger

Klavierwerke von Brahms und Schönberg

Michael Horst

Johannes Brahms und Arnold Schönberg – die Kombination dieser beiden Komponisten in einem Programm ist nur auf den ersten Blick überraschend. Bedenkt man, dass der Jüngere über seinen Vorgänger nicht nur voll Hochachtung gesprochen, sondern auch den vielbeachteten Aufsatz Brahms, der Fortschrittliche publiziert hat, lässt sich unschwer erkennen, dass die musikalischen Bande weit über die Wiener Wahlverwandtschaft hinausgingen. Hält man sich darüber hinaus vor Augen, dass Schönberg diesen Aufsatz zwar schon 1933 anlässlich von Brahms’ 100. Geburtstag als Vortrag entworfen, ihn aber 1947 im amerikanischen Exil – dann zum 50. Todestag – noch einmal grundlegend überarbeitet hat, so wird die Konstante Brahms im Schaffen Schönbergs nur noch umso offensichtlicher.

An einer Vielzahl von Beispielen, vor allem aus dem Bereich des Liedes und der Kammermusik, weist Schönberg in seiner Untersuchung besonders auf die asymmetrischen Phrasen hin, mit denen sich Brahms deutlich von seinen Zeitgenossen abgesetzt und den Weg in die Moderne bereitet habe, in der völlig neue Ordnungsprinzipien wie Klang oder Tempo in den Vordergrund getreten seien. Besonders ausführlich beschäftigt er sich mit dem Lied O Tod, wie bitter bist du aus den Vier ernsten Gesängen, in dem das Intervall der Terz zum melodiestiftenden Element wird. Schönbergs Urteil spiegelt seine große Sympathie für Brahms: „Der Sinn für Logik und Ökonomie und die Erfindungskraft, die zusammen so natürlich fließende Melodien bilden, verdienen die Bewunderung jedes Musikliebhabers, der von der Musik mehr als Süße und Schönheit erwartet.“

Mehr als Süße und Schönheit bergen in jedem Fall auch die Drei Intermezzi op. 117. Mit knapp 60 Jahren wandte sich Brahms 1892/93 nach längerer Pause noch einmal dem Klavier zu, das ihm einst, mit den Klaviersonaten op. 1, 2 und 5, zu seinem stürmisch-selbstbewussten Entrée in die Musikwelt verholfen hatte. Das Ergebnis seiner produktiven Sommeraufenthalte in Bad Ischl ist imponierend genug: vier Gruppen von Klavierstücken, op. 116 bis 119, die sein pianistisches Testament darstellen und dabei noch einmal einen durchaus neuen Tonfall in das Schaffen des Komponisten für dieses Instrument bringen. Statt jugendlicher Überfülle herrscht altersweise Beschränkung, an die Stelle ehrgeiziger Auseinandersetzung mit der traditionellen Sonate tritt die Konzentration auf die kleine Form. Ballade, Rhapsodie, Intermezzo – so lauten jetzt die ebenso poetischen wie schlichten Titel der einzelnen Kompositionen. Die Intermezzi op. 117 entstanden, nahezu zeitgleich mit den Sieben Klavierstücken op. 116, im Sommer 1892. Bereits Ende Juli fragte Brahms bei seinem alten Freund, dem Dirigenten und Pianisten Hans von Bülow in Bezug auf die Einweihung des Bechstein-Saals in Berlin an, ob jener nicht „im neuen Saale auch neue Stückchen“ spielen wolle. Bülows positive Antwort blieb nicht aus; er habe schon gehört, dass Brahms „neuerdings Couperin posthume Concurrenz“ gemacht habe. Allerdings verzichtete er in seinem Konzert dann doch auf die Novitäten. Statt dessen spielte Brahms selbst einige davon mit großem Erfolg im Haus seines Berliner Verlegers Simrock. Und da sich auch Clara Schumann, die kritische Freundin, „entzückt“ über die Intermezzi zeigte – „das erste und dritte spiele ich immer, wie wunderbar beide, jedes in seiner Weise“ –, stand einer Veröffentlichung nichts mehr im Wege.

Zur Inspirationsquelle des ersten Stück in Es-Dur hat Brahms selbst die Fährte gelegt, indem er den Noten den Anfang eines schottischen Liedes, übernommen aus Herders Lieder der Völker, voranstellte: „Schlaf sanft, mein Kind, schlaf sanft und schön! / Mich dauert’s sehr, dich weinen sehn.“ Getragen von einem wiegenden Sechsachteltakt, schmiegt sich die Melodie in der Mittelstimme um die begleitenden Akkorde. Der im Tempo zurückgenommene Moll-Mittelabschnitt tastet sich in kleinteiligen Phrasen vorwärts, während die Wiederholung des Dur-Teils mit einer kunstvollen Auffächerung des Klangbildes überrascht. Geradezu impressionistisch gleiten im zweiten Intermezzo b-moll die arpeggierten Akkorde über die gesamte Klaviatur. Eine Vielzahl von Nebenstimmen sorgt für die Verschleierung der Tonalität. Der lyrische Grundton steigert sich erst gegen Ende zu einem strahlenden Höhepunkt, um sich danach wieder in b-moll zu verlieren. „Brahms, der Fortschrittliche“ ist dann im letzten Intermezzo cis-moll zu erleben: Eine konsequent durchgehaltene, ungrade fünftaktige Periodik, überreiche Chromatik und unerwartete Verschiebungen der Taktschwerpunkte machen das Stück zu einem vielschichtigen Meisterwerk auf kleinstem Raum.

Nur 17 Jahre später – der Beginn des 20. Jahrhunderts hatte eine neue Zeit eingeläutet, Brahms war inzwischen gestorben – beschreitet Arnold Schönberg selbstbewusst neue Wege. Das Klavierstück ist ihm dabei ein willkommenes Gefäß, in das er seine bahnbrechenden Ideen gießen kann. Dabei treffen zwei Phänomene aufeinander: Einerseits bleibt – zumindest in den Drei Klavierstücken op. 11 – in der Weitgriffigkeit des Satzes wie in der Dichte der kontrapunktischen Linien die Erinnerung an die Tradition, vor allem der Brahms-Intermezzi, lebendig. Andererseits emanzipiert Schönberg das Klavierstück von seiner Rolle als Spiegel komplexerer Gattungen, seien es Lied oder Chorsatz, Orchester oder Kammermusik. Die Klänge, die Schönberg dem Instrument entlockt, wollen autark und vieldeutig sein – und sie öffnen sich ohne jeden Vorbehalt der Dissonanz. Eduard Steuermann, Freund des Komponisten und vielgefragter Uraufführungspianist, gab den Interpreten gar den Rat, das erste Stück aus op. 11 „wie ein Impromptu von Schubert“ zu spielen: unbefangen gegenüber der Dominanz der Dissonanz.

Was Schönberg ebenfalls als konstitutives Element beibehält, ist die klare Struktur – nicht nur im ersten Stück, in dem die vorherrschenden Intervalle von Terz plus Sekunde aus dem Beginn heraus in vielfältiger Weise abgewandelt werden und damit Schönbergs Prinzip der „entwickelnden Variation“ prägnant widerspiegeln. Im bewegteren Mittelteil erscheinen die Terzen dagegen in vertikaler Form als Akkorde aufeinander geschichtet. Als harmonischen Kontrast bringt der Komponist außerdem die Dissonanz der kleinen None ins Spiel; auch sie tritt mit geradezu inflationärer Häufigkeit auf – als Intervall oder Teil eines Akkords, in tiefer wie hoher Lage. Schönbergs op. 11 ist als erste atonale Komposition in die Musikgeschichte eingegangen. Dabei hält die Partitur noch weitere Neuerungen parat, etwa den Verzicht auf jegliche Angaben zum Pedalgebrauch, wie er spätestens seit Chopin zum Inbegriff ausdrucksvoller Klaviermusik geworden war. Außerdem vermeidet Schönberg traditionelle Vortragsbezeichnungen (in italienischer oder deutscher Sprache) und begnügt sich stattdessen mit nüchternen Tempo-Angaben wie „Mäßige Viertel“. Andere neue Regeln betreffen die Notation, wie etwa die häufige Verwendung von Auflösungszeichen auch dort, wo sie eigentlich entbehrlich wären. Die Idee ist klar: Jeder Ton definiert sich aus sich selbst.

Diese Umorientierung fällt insbesondere im mittleren Stück aus op. 11 ins Auge, das gleichzeitig eine Vielzahl „traditioneller“ Formelemente aufgreift, was das Erfassen der Struktur erleichtert. Dazu zählt die im Terzabstand wie ein Ostinato mäandernde Bassbewegung ebenso wie die prägnante Figur aus vier Akkorden im vierten Takt, aus denen Schönberg konsequent alle weiteren Motive ableitet. Leise Töne bis hin zum vierfachen Pianissimo herrschen vor, ein Ausbruch mit mächtigen Trillerketten in gleichsam bester pianistischer Manier zeigt jedoch, dass die spätromantische Attitüde noch nicht vollständig abgelegt ist. Einen unüberhörbaren Schritt weiter geht Schönberg dann im letzten Stück von op. 11, das trotz seiner nur zweiminütigen Spieldauer ein Maximum an motivischen Fragmenten, an Dynamik und Ausdrucksformen zusammenzwingt.

Zwei Jahre später wendet sich der Komponist erneut dem Klavier zu – und vollzieht in den Sechs kleinen Klavierstücken op. 19 eine demonstrative Kehrtwendung. Auch wenn die Dissonanz als Grundprinzip nunmehr zur Regel wird: Jede expressive Äußerlichkeit kehrt sich bewusst nach innen, Reduktion und Konzentration sorgen dafür, dass der Umfang der sechs Miniaturen zwischen gerade einmal neun und 17 Takten liegt. Und dennoch ist das Klangspektrum erstaunlich groß. „Psychogramme des Unbewussten“ hat der Berliner Kritiker und Schönberg-Biograph Hans Heinz Stuckenschmidt diese Kompositionen zurecht genannt.

Erinnert das erste (und umfangreichste) der sechs Stücke im Duktus noch am ehesten an op. 11, ist das zweite – kaum weniger konsequent als bei Brahms – ganz allein auf das Terz-Intervall konzentriert. Nummer 3 spielt mit dem Gegensatz zwischen ForteAkkorden in der rechten und Pianissimo-Oktaven in der linken Hand. Das vierte Stück überrascht durch die schroffe Konfrontation von zartem Beginn und „Martellato“-Attacken in den letzten Takten. In Nummer 5 wird die zarte Stimmung bis zum Ende durchgehalten. Einen Sonderstatus nimmt das mehrere Monate nach den übrigen entstandene Schlussstück ein, das in der Aneinanderreihung leisester Akkorde an den Grenzen zur akustischen Auflösung steht. Den biographischen Hintergrund dazu bildet der Tod Gustav Mahlers im Juni 1911, dem Schönberg hier ein fast klangloses Epitaph widmete. Die Uraufführung von op. 19 fand in Berlin statt: Am 4. Februar 1912 erklang das Werk erstmals im Harmonium-Saal im Stadtteil Tiergarten, zusammen mit den Orchesterstücken op. 16 in einer Fassung für zwei Klaviere.

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