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Die Musik hinter den Worten

Die Musik hinter den Worten

Kinan Azmehs Songs for Days to Come

Shirley Apthorp

In Syrien, sagt Kinan Azmeh, bekommt man kein Schulabschlusszeugnis, wenn man den Unterricht in arabischer Literatur nicht erfolgreich besucht hat. In jedem anderen Fach darf man versagen. Aber wenn man seine Gedichte nicht kann, fällt man durch. Jeder normale Mensch auf der Straße kann lange Gedichte auswendig aufsagen; die Poesie, sagt Azmeh, war in Damaskus, wo er aufgewachsen ist, die einzige Kunstform, die ein Stadion füllen konnte. „Das ist schon sehr, sehr lange so. Die Stadt Ukaz in der Nähe von Mekka war in vor-islamischen Zeiten bekannt für ihren Markt, auf dem öffentlich Gedichte vorgetragen wurden. In der arabischen Welt war die Dichtkunst schon immer unglaublich präsent.“

Vielleicht weil sie so allgegenwärtig war, interessierte sich Azmeh als Kind nicht besonders für Poesie. Er lernte in der Schule Gedichte auswendig, doch seine wahre Leidenschaft galt der Mathematik und Physik. Als er als Teenager in einer Rockband spielte, begann er sich für den Klang und die Struktur von Liedern zu interessieren, aber selbst dann, sagt er, schien ihm der Text nicht so wichtig zu sein. „Wir haben Coversongs gemacht, und unser Leadsänger hat sie phonetisch richtig ausgesprochen. Ich glaube aber nicht, dass er sie besser verstanden hat als ich, und sie ergaben nur für andere Menschen Sinn, die die Worte ebenso wenig verstanden.“

Erst nach dem syrischen Aufstand von 2011 begann Azmeh, sich mit der Dichtung seiner Landsleute auseinanderzusetzen: „Ich spürte, dass die Syrer plötzlich über Dinge schrieben, die von größerer Bedeutung waren. Die Menschen trauten sich eher, ihre Gedanken zu Themen aufzuschreiben, die vorher als tabu galten. Es gab Gedichte, die sich mit Politik, dem Menschsein, Religionsfreiheit – sogar mit Gott oder der Nicht-Existenz eines Gottes – beschäftigten, mit Dingen, über die bis dahin im öffentlichen Leben nicht gesprochen worden war. Mich interessierte, worüber diese Künstler schrieben, und das führte mich zu Gedichten, die teilweise schon vor 2011 entstanden waren.“

Im Jahr 2013 schrieb Azmeh zum ersten Mal ein Stück Vokalmusik, die Ibn Arabi Suite für Gesang, Klarinette und Symphonieorchester, für die er Texte des gleichnamigen Dichters verwendete, eines Sufimystikers und Gelehrten, der im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert wirkte. Als die Pianistin und Konzertveranstalterin Lenore Davis Azmeh 2014 einlud, ein Kammermusikwerk für ihre St. Urban- Konzertreihe in New York zu schreiben, spürte Azmeh, dass es an der Zeit war, seine Aufmerksamkeit auf die zeitgenössische Dichtung seines Heimatlandes zu richten.

„Unter meinen Freunden gibt es viele Dichter“, sagt er, „also bat ich sie, mir ihre Arbeiten zu schicken, und begab mich auf eine unglaubliche Reise, indem ich Gedichte von Leuten las, die ich kannte – auch weil ich mir den Luxus erlauben wollte, mit den Autoren über die Texte zu sprechen.“ So entstanden in den Jahren 2015 und 2017 zwei etwa 20-minütige Liederzyklen für Klavier, Gesang, Cello und Klarinette, die auf Werken von jeweils fünf Dichtern basieren. Ein dritter Zyklus, der vier weitere Dichter vorstellt, wurde ebenfalls von Lenore Davis in Auftrag gegeben und erlebt im heutigen Konzert im Pierre Boulez Saal seine Uraufführung.

„Der Titel des gesamten Projekts ist Songs for Days to Come [Lieder für kommende Tage]“, sagt Azmeh, „denn ich glaube, dass diese Gedichte ein Fenster öffnen, durch das man wunderbar sehen kann, wie ein Umdenken stattgefunden hat. Und ich wollte zeigen, wie diese Themen zu Themen von Liedern werden, für viele, viele zukünftige Tage.“ Die musikalischen Teile werden ergänzt durch Lesungen von Dichtern. Azmeh ist davon überzeugt, dass das Erleben von Poesie, ihres Klangs in der Originalsprache, eine wesentliche Hörerfahrung ist, so wie er die Lieder seiner Teenagerband – und übrigens auch der Beatles, wie er hinzufügt – schätzte, ohne wirklich zu verstehen, was ihre Texte bedeuten. „Man hört subtile, ganz minimale Veränderungen im Tonfall, die ich sehr interessant finde“, sagt er. „Selbst wenn man die Worte nicht versteht, ist da ein musikalisches Element, an dem man sich festhalten kann.“

Die Textauswahl war ein völlig subjektiver Prozess. „Ich wollte unbedingt mit Gedichten arbeiten, die mir gefielen – so einfach war das. Das führte dazu, dass im ersten Zyklus zwei Gedichte vorkommen, in denen es um Gott geht, und zwei, die sich in abstrakter Weise mit dem Begriff der Freiheit beschäftigen. Im zweiten Zyklus wird dieses Thema noch vertieft. Aber letztlich bin ich einfach den Worten des Dichters gefolgt.“ Der Rhythmus des gesprochenen Wortes ist der Ausgangspunkt für jedes der Stücke. Altarabische Dichtung, erklärt Azmeh, wurde um eine Reihe von vorgeschriebenen Metren herum gestaltet, ganz ähnlich den altgriechischen Metren. Zeitgenössische Poesie ist eher frei von metrischen Vorgaben, besitzt aber trotzdem einen spezifischen, eigenen Rhythmus.

„Ich glaube, jede Sprache kann vertont werden, wenn man versteht, wie diese Sprache funktioniert“, sagt der Komponist und Klarinettist. „Deshalb habe ich die Gedichte zunächst aufgegliedert und rhythmisch analysiert. Ich wollte sehen, was für einen Pulsschlag sie haben. Aber wenn ich anfange zu komponieren, vergesse ich das alles häufig und merke nur, dass die ersten paar Worte eines Gedichts eine enorm große Welt eröffnen können, aus der dann eine melodische Idee entsteht.“ Azmeh schreibt ganz altmodisch mit Bleistift auf Papier und trägt ein Skizzenbuch bei sich, das er mit musikalischen Gedanken füllt, die ihm oft in den unpassendsten Momenten einfallen.

„Die Gedichte haben einen unterschiedlichen Charakter, daher habe ich sie danach geordnet, was musikalisch aus ihnen entstanden ist. Der ganze Prozess des Komponierens ist ziemlich chaotisch – ich habe tausende Versionen meiner Skizzen, und oft gehe ich nach dem Prinzip von ‚Trial and Error‘ vor. Für diese Liederzyklen habe ich die Gedichte immer wieder gelesen, einfach um mich mit ihrem Klang vertraut zu machen. Und wenn man das tut, kommt man auf viele neue Ideen.“

Die Wahl von Klavier, Cello und Klarinette sei zufällig erfolgt, sagt Azmeh. „Zuallererst komponiere ich für Menschen, nicht für bestimmte Instrumente. Und ich wollte etwas für Dima Orsho schreiben, mit der ich schon seit vielen Jahren zusammenarbeite. Sie und ich haben bereits in den späten 90er-Jahren im Syrischen Symphonieorchester Klarinette gespielt, deshalb sind wir sehr gut befreundet. Irgendwann hörte sie mit der Klarinette auf und konzentrierte sich nur noch aufs Singen. Sie ist klassisch ausgebildet, bewegt sich aber virtuos zwischen verschiedenen musikalischen Stilen und ist außerdem eine wunderbare Improvisationskünstlerin.“

Zur Besetzung mit Cello und Klavier erklärt Azmeh: „Ich wollte keine Instrumente verwenden, die eine Aufführung dieser Stücke durch nicht arabischsprachige Musiker einschränken würden. Ich wollte nicht, dass das Stück zu einer Art ethnologischer Demonstration arabischer Musik wird – es sollte wirklich ein Liederzyklus sein, der mit jedem anderen Liederzyklus in ähnlicher Besetzung kombiniert werden kann.“

Improvisation, die in den Auftritten Azmehs eine grundlegende Rolle spielt, findet sich in den beiden ersten Zyklen nicht, sie ist aber Teil des dritten. „Immer wenn ich etwas für mich selbst schreibe“, erklärt er, „setze ich es als selbstverständlich voraus, dass ich improvisieren werde. Vor Kurzem habe ich ein neues Konzert abgeschlossen und mit der Seattle Symphony uraufgeführt. Zum ersten Mal wollte ich ein Stück schreiben, das über mein eigenes Spiel hinausgeht, das ich anderen Klarinettisten geben kann und das ihnen beim ersten Blick auf die Partitur vollkommen verständlich ist. Ich hatte meinen Part wirklich intensiv geübt, aber am Tag der Premiere habe ich plötzlich wieder improvisiert, weil ich das einfach gerne tue. Und das brachte mich auf den Gedanken, dass der dritte Zyklus diese kleinen Momente der Improvisation enthalten sollte, in denen die Musiker das tun können, was ihnen in dem Augenblick gefällt. Er hat viele offen gestaltete Durchführungsabschnitte, eine Art flexible Form, sodass die Grenze zwischen dem Improvisierten und dem Komponierten verschwimmt. Man soll nicht sicher sein, ob der Musiker improvisiert oder aus den Noten spielt. Ich bin fest davon überzeugt“, fügt er hinzu, „dass einige der besten komponierten musikalischen Werke so spontan klingen, als wären sie improvisiert, und einige der besten Improvisationen so strukturiert, als wären sie mit einer starken motivischen Durchführungsidee auskomponiert worden.“

Wie eine Toccata von Bach? „Bach ist ein großartiges Beispiel dafür, wie spontan Musik klingen kann, wenn sie so unglaublich gut geschrieben ist!“, sagt Azmeh. Improvisation, die bei Musikern etwa zu der Zeit aus der Mode kam, als Komponisten begannen, Kadenzen auszuschreiben, erfährt für ihn zurzeit ein eindrucksvolles Comeback; die meisten Musiker, mit denen er in Damaskus und im den USA Musik studierte, improvisieren ebenfalls. Für Azmeh ist Improvisation ein wesentliches Element seiner Arbeit: „Sie macht es unglaublich aufregend, auf die Bühne zu gehen. Es gibt zwar eine Partitur, aber es gibt auch eine Tür, die man noch nie geöffnet hat. Man öffnet diese Tür erst, wenn man tatsächlich auf die Bühne geht, und dann sieht man, was passiert. Das ist sehr aufregend! Für mich bringt es eine gewisse Eindringlichkeit in die Aufführung. Sie erhält dadurch eine Fragilität, die sich meiner Meinung nach überträgt. In dem Augenblick, in dem man improvisiert“, erklärt er, „hat das Auswirkungen darauf, wie man geschriebene Musik spielt, und umgekehrt. Wenn man komponiert, verbringt man Stunden damit zu entscheiden, welche Note man an einer bestimmten Stelle spielen möchte. Wenn man improvisiert, hat man nur einen Sekundenbruchteil Zeit für diese Entscheidung. Aber trotzdem trifft man sie. Und wenn man merkt, dass man in beiden Fällen eine unbegrenzte Auswahl hat, ist alles möglich, oder?“

Ebenso wie sich in Azmehs Werk die Grenzen zwischen improvisierter und komponierter Musik verflüssigen, verschmelzen darin westliche und arabische Musiksprache. Die mannigfaltigen mikro tonalen Maqams, auf denen die arabische Musik basiert, sind hochkomplex, und über die Frage, wie man sie mit westlichen Instrumenten verbinden kann, insbesondere solchen mit einer festen Stimmung wie dem Klavier, zerbricht man sich in vielen musikalischen Institutionen immer wieder den Kopf.

Für Azmeh ist das Zusammenführen der verschiedenen Welten ein intuitiver Prozess. „Natürlich ist das Ohr der oberste Richter“, räumt er ein, „aber man muss wirklich wissen, wie beide Welten funktionieren. Wenn ich spiele oder komponiere, sage ich mir nicht: lass mich hier ein bisschen arabisches Vokabular einfügen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass eine Phrase eine bestimmte Wendung braucht, manchmal nicht – und es gibt immer eine Möglichkeit, sie zu realisieren. Man kann ein Klavier als Schlaginstrument benutzen. Man kann verschiedene Kunstgriffe anwenden, um ein bestimmtes Vokabular unterzubringen. Das ist eigentlich eine der spannendsten Herausforderungen – trotz des Instruments zu erreichen, dass alles funktioniert. Für mich stehen die Instrumente nicht im Vordergrund. Es geht um das, was man mit dem Spielen des Instruments sagen will. Deshalb habe ich mich schon immer für Umwege interessiert: Wie funktioniert der Klavierpart? Die Standardmethode ist, alle Töne, die nicht hineinpassen, einfach zu vermeiden. Aber ich ziehe eine etwas farbigere Lösung vor, bei der das Ergebnis mehr ist als die Summe seiner Teile.“

Als Jugendlicher in Damaskus studierte Azmeh westliche klassische Musik, hörte aber im Alltag eine Menge arabische, armenische und kurdische Musik. Heute fühlt er sich im Jazz und in der Rockmusik ebenso zu Hause wie in der symphonischen und Kammermusik. Und dann gibt es noch die Welt der elektronischen Musik. Der erste Teil von Songs for Days to Come kommt ohne elektronische Elemente aus, doch im zweiten Teil werden Ausschnitte aus dem ersten in vorab aufgezeichneten Tracks zur Livemusik zugespielt. Die Einflüsse, die er verarbeitet, sind vielfältig, erklärt Azmeh – sie reichen von Schubert und Schumann über die von indischen Tablaspielern verwendeten Rhythmen und die Volksmusik Rumäniens bis hin zu den rhythmischen Mustern gesprochener Sprachen. „Manche Leute sehen darin eine Mischung aus West und Ost“, sagt er. „Ich denke überhaupt nicht in solchen Kategorien. Im Gegenteil – für mich ist Musik ein Kontinuum, und all das unterschiedliche Vokabular ist Teil desselben Ganzen.“

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