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Yulianna Avdeeva

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Yulianna Avdeeva

Yulianna Avdeeva

Zwischen Tradition und Freiheit

Klaviermusik aus drei Jahrhunderten

Antje Reineke

In der Zeit vor 1800 war der musikalische Begriff „Übung“ eine Art Sammelbezeichnung, hinter der sich verschiedene Genres verbergen konnten. Die vier Bände von Johann Sebastian Bachs Clavierübung, veröffentlicht zwischen 1731 und 1741, umfassen sechs Partiten (Suiten), ein „Concerto nach italienischem Gusto“, eine „Ouverture nach französischer Art“ und die „Goldberg-Variationen“ für Cembalo sowie ein Präludium mit Fuge, Choralbearbeitungen und vier Duette für Orgel. Ihr lehrhafter Charakter besteht nicht in der Vermittlung pianistischer Fertigkeiten, sondern in der umfassenden und beispielhaften Zusammenstellung der Instrumententypen, Gattungen, Stile, Formen und Kompositionstechniken. Vom spieltechnischen Anspruch her richteten sich die Werke zum einen an professionelle Musiker. Bach hat sie vermutlich selbst aufgeführt. Die wichtigere Zielgruppe aber bildeten die „Dilettanten“ – der Begriff war damals nicht negativ besetzt – aus Adel und wohlhabendem Bürgertum, die nicht selten das Niveau von Berufsmusikern erreichten. Sie garantierten den wirtschaftlichen Erfolg der Clavierübung, deren erste zwei Bände zu Bachs Lebzeiten zwei bis drei Auflagen erlebten.

Grundidee des 1735 veröffentlichten zweiten Teils ist die Gegenüberstellung der führenden europäischen Musiknationen, Italien und Frankreich, anhand ihrer charakteristischen Gattungen der Orchestermusik. Bach verlangt ausdrücklich ein zweimanualiges Cembalo, um durch dynamische Gegensätze die Gegenüberstellung von Solo und vollem Orchester nachzuahmen.

Überraschen mag die Bezeichnung Ouvertüre für ein Werk, das eine ausgewachsene Suite mit acht Sätzen und einer Spieldauer von einer halben Stunde darstellt. Sie leitet sich aus dem umfangreichen Anfangssatz ab, einer Ouvertüre im engeren Sinne in der seinerzeit vorherrschenden französischen Form aus zwei langsamen, feierlichen Rahmenteilen und einem schnellen Mittelteil. Dieser Mittelteil, typischerweise als Fuge gearbeitet, trägt hier allerdings auch Züge der italienischen Konzertform aus wiederkehrenden Orchesterritornellen und Soloepisoden. Ihren Ursprung hat die Ouvertürensuite in Frankreich, wo sie aus Balletten und Opern zusammengestellt wurde. Entsprechend waren die Satzfolgen relativ frei. Von deutschen Komponisten wie Kusser, Muffat oder Telemann wurde daraus die eigenständige Orchestersuite entwickelt. Zugleich kursierten Bearbeitungen für Tasteninstrumente und schließlich auch originale Klavierwerke im selben Stil.

Dagegen hatte sich für die eigentliche Klaviersuite eine Folge aus drei, später vier Stammtänzen etabliert – Allemande, Courante, Sarabande und Gigue –, die um weitere Tänze („Galanterien“) ergänzt werden konnten. Bachs Französische Ouvertüre mit gleich drei Stammsätzen entspricht also eher dieser Traditionslinie, und die Ausprägung der Stammtänze ist französisch (nicht italienisch): etwa die raffinierte rhythmische Gestaltung der Courante (von courir = laufen) mit ihrem Wechselspiel zwischen Dreihalbe- und Sechsvierteltakt, Synkopen, punktierten Rhythmen und vielfältigen Verzierungen; der durchgehende punktierte Rhythmus der lebhaften Gigue (vom englischen Jig), die an die Canarie, einen ursprünglich spanischen Tanz, angelehnt ist; und die polyphone, an Ensemblemusik erinnernde Satzstruktur der Sarabande, die ursprünglich von der iberischen Halbinsel stammt. Französischen Ursprungs sind Gavotte, Passepied und Bourée. In ihrer paarweisen Anordnung wird der erste Tanz nach dem zweiten wiederholt.

Der „Echo“ überschriebene Schlusssatz macht noch einmal effektvoll von der Fähigkeit des zweimanualigen Cembalos zu dynamischen Kontrasten Gebrauch. Auch hier führt die Spur nach Frankreich und speziell zu François Couperin, der als prägend für Bachs Auffassung vom französischen Stil gilt. Charakteristischerweise sind die Echoeffekte nicht „natürlich“, sondern kunstvoll variiert.

Die Dritte Suite des griechischen Komponisten Nikos Skalkottas aus dem Jahr 1941 greift traditionelle Formen und Satzcharaktere auf, ohne dabei die Satzfolge der barocken Suite direkt nachzubilden. Am Anfang steht ein Menuett (wie es zu Bachs Zeit nicht der Fall gewesen wäre). Gleichfalls integraler Bestandteil der Suitentradition ist das Prinzip der Variation: Skalkottas zweiter Satz besteht aus vier sehr knappen Variationen und einer Coda über eine bisher nicht genau identifizierte griechische Volksliedmelodie. Märsche wiederum ähneln Tänzen durch ihre Bestimmung zur physischen Bewegung. Der Typus des Trauermarsches, bei Skalkottas an dritter Stelle stehend, findet sich im Barock etwa bei Purcell, Händel und Lully. In die Klaviermusik fand er Eingang insbesondere durch die Beiträge Beethovens, Mendelssohns und Chopins. Der Schlusssatz, schlicht als Finale bezeichnet, erinnert in seiner fließenden Bewegung und linearen Stimmführung ebenfalls an barocke Satzbilder.

Der formale Traditionsbezug verbindet sich jedoch mit einer kompromisslos modernen Sprache. Skalkottas war Schüler Arnold Schönbergs, dessen Zwölftontechnik er eigenständig weiterentwickelte (was durchaus im Sinne seines Lehrers war). So arbeitete er oft mit mehreren Reihen. Zugleich komponierte er weiter frei atonal wie in der Dritten Klaviersuite und auch tonal. „In der Musik von Skalkottas vereinen sich spätromantische und expressionistische Melodik, die ‚vitalistische‘ Rhythmik von Strawinsky oder Bartók, eine ‚impressionistische‘ Klangdifferenzierung noch innerhalb der Atonalität, […] sowie eine gleichsam bachsche Scheinpolyphonie bei geringstimmigen Werken“, führt der Musikwissenschaftler Markos Tsetsos aus. Die Arbeit mit griechischer Volksmusik, die Skalkottas nicht nur wie hier im zweiten Satz in atonale, sondern sogar in zwölftonale Kontexte einzubinden wusste, gilt als ein weiterer wichtiger Aspekt seines Komponierens – ganz im Unterschied zu Schönberg, der der Verwendung von Volks- in der Kunstmusik kritisch gegenüber stand. Skalkottas’ einzige Komposition, die zu seinen Lebzeiten eine gewisse Bekanntheit erlangte, waren die 36 Griechischen Tänze für Orchester.

Franz Liszts Sonate h-moll und Dmitri Schostakowitschs Erste Klaviersonate verbindet ihre einsätzige Struktur, die durch gliedernde Tempowechsel verschiedene Sätze in sich vereint. Die üblicherweise mehrsätzige Anlage einer Sonate ist eines der Merkmale, welche die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichende, wechselhafte Geschichte der Gattung überdauert haben. Doch bei der sogenannten „Sonatensatzform“ aus Exposition, Durchführung und Reprise handelt es sich letztlich um ein theoretisches Konstrukt des 19. Jahrhunderts, dessen Schematismus an der Realität einer immensen Vielfalt individueller Konzeptionen vorbeigeht. Liszt wandte sich entschieden gegen eingefahrene Traditionen: Die Zukunft der Musik bestehe nicht „in einem endlosen Reproduciren derselben Formen, derselben Konturen und Farben“, schrieb er 1855. An anderer Stelle erklärte er: „Die Freiheit bringt von allen Seiten eine Erweiterung und eine größere Mannigfaltigkeit in die Form, was sicherlich als Fortschritt zu erachten ist.“

Insofern ist es bezeichnend, dass die Gliederung der h-moll-Sonate (vollendet am 2. Februar 1853) im Sinne des Sonatensatzes ebensowenig eindeutig ist wie die Frage, wie weit die Einbeziehung des Satzzyklus eigentlich geht. Keine zwei Analysen kommen hier zu demselben Ergebnis – und diese Mehrdeutigkeit dürfte gewollt sein. Sie spricht für den fantasievollen, flexiblen Umgang des Komponisten mit den Möglichkeiten der Form und unterstreicht das kreative Spannungsfeld zwischen Tradition und künstlerischer Freiheit. „Ein Mosaik von rätselhafter Schönheit“, nennt der amerikanische Liszt-Spezialist Ben Arnold die Sonate. Erprobt hatte Liszt das Konzept der Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit zuvor bereits in Symphonischen Dichtungen wie Les Préludes und Tasso. Auch in seiner Klaviermusik findet es sich schon in Après une lecture du Dante aus den Années de pèlerinage, welches den Untertitel „Fantasia quasi sonata“ trägt (in Anspielung auf Beethovens „Sonata quasi una fantasia“).

Mit einer Spieldauer von etwa einer halben Stunde ist die h-moll-Sonate so lang wie ein mehrsätziges Werk. Liszt beginnt mit einer langsamen Einleitung, deren absteigende Skalen im Satzverlauf mehrfach abgewandelt wiederkehren und auch sein Ende markieren. Das anschließende Hauptthema, Allegro energico, besteht nach dem Vorbild Beethovens aus zwei unterschiedlichen Teilen und wird relativ lang ausgearbeitet, bevor über repetierten Akkorden das „grandioso“ überschriebene, zunächst kontinuierlich ansteigende Seitenthema einsetzt. Betont wird vielfach das Prinzip der Thementransformation, durch das alle musikalischen Gestalten des gewaltigen Satzes miteinander verwandt sind. Manches davon erschließt sich erst nach genauerer Beschäftigung, während beim unbefangenen Hören der Eindruck des Neuen und Vielgestaltigen überwiegt. Gut nachvollziehbar aber ist zum Beispiel, wie schon kurz nach Beginn des Grandioso-Themas nacheinander die beiden Teile des Hauptthemas zurückkehren, nun leise, sanft und gesanglich. Entscheidend für die Einbindung des Satzzyklus ist ein weiterer thematisch zunächst neu wirkender Teil, der nach nicht ganz der Hälfte der Sonate erstmals erscheint. „Andante sonstenuto“, dann „Quasi Adagio“ überschrieben, vertritt er den langsamen Satz. Schwieriger zu beantworten ist dagegen die Frage, ob der folgende fugenartige Teil, der das Hauptthema zurückbringt, ein Scherzo andeutet oder bereits den Reprisenbeginn markiert. Die vorausgehenden Takte reflektieren sogar die langsame Einleitung. Doch die Tonart ist hier b-moll, nicht h-moll. Alternativ wäre die Reprise wenig später anzusetzen, wo nicht nur im Fortissimo h-moll erreicht, sondern auch eine längere Passage der Exposition notengetreu wiederholt wird. Die zwei eigenständigen Teile des Themas erschienen dort übereinandergelegt. Mehrere Temposteigerungen verleihen schließlich dem Schlussabschnitt den Charakter eines Finales.

Liszt widmete die Sonate Robert Schumann, der ihm seinerseits 1839 die Fantasie op. 17 zugeeignet hatte. Das ist bezeichnend nicht nur für ihre gegenseitige Wertschätzung, sondern auch für das geteilte Ideal einer poetischen Musik. Die öffentliche Uraufführung der h-moll-Sonate spielte im Übrigen nicht Liszt selbst, sondern 1857 Hans von Bülow.

In Russland griffen um die Wende zum 20. Jahrhundert eine Reihe von Komponisten die einsätzige Sonate auf: Rachmaninow, dessen zweite Klaviersonate von 1913 an Liszt orientiert ist; Skrjabin mit sechs seiner zehn Sonaten; und Prokofjew mit seiner Ersten und Dritten Sonate. Das ist der Hintergrund, vor dem der junge Schostakowitsch 1926, kurz nach Ende seines Studiums, die erste von zwei Klaviersonaten komponierte: ein experimentelles Werk, mit dem er sich von dem klassizistischen Stil der Ersten Symphonie – seiner gefeierten Abschlussarbeit am Leningrader Konservatorium – abwandte und den Anschluss an die zeitgenössische Avantgarde suchte. Denn Leningrad war in den 20er Jahren durchaus noch ein Zentrum der Neuen Musik, wo Komponisten von Prokofjew, Strawinsky und Bartók über Schönberg, Berg, Krenek und Hindemith bis zur Groupe des Six regelmäßig gespielt wurden. Erst in den 30er Jahren verschwanden sie unter dem Gebot des Sozialistischen Realismus von den Konzertprogrammen.

Als mögliches Vorbild gilt vor allem Prokofjews Dritte Sonate, auf deren Hauptthema Schostakowitsch zu Beginn musikalisch anspielt. Doch Schostakowitsch, der zu dieser Zeit noch eine Solokarriere als Pianist anstrebte, hatte auch Liszts Werke einschließlich der h-moll-Sonate im Repertoire. Mit einer Spieldauer von einer knappen Viertelstunde ist Schostakowitschs Sonate wesentlich kompakter als Liszts, aber ebenfalls hoch virtuos. Stilistisch geht dies mit der zeittypischen Abkehr vom gesanglichen Klavierton zugunsten einer Verwendung des Klaviers quasi als Schlag instrument einher. Dies verbindet sich mit einer linearen Stimmführung, für die auf Hindemith und Krenek als Vorbilder verwiesen wird, und einer Harmonik, die in Teilen zur Atonalität tendiert, andererseits aber auch vielfach traditionell mit Dreiklängen arbeitet. Das Hauptthema zum Beispiel beginnt in einem engen zweistimmigen Kontrapunkt in der Mitte der Tastatur – ausgehend von dem kleinstmöglichen Intervall, einer kleinen Sekunde. Sowohl die Melodie der rechten Hand als auch besonders die Gegenstimme der linken sind stark von der chromatischen Skala beherrscht. Allein der erste Takt umfasst zehn verschiedene Töne. Die formbildende Rolle der harmonischen Ebene, die für den klassischen und romantischen Sonatensatz wesentlich ist, wird in diesem Rahmen nicht aufgehoben, aber doch stark eingeschränkt.

Eine wichtige gliedernde Funktion kommt den Tempowechseln zu. Die Sonate umfasst drei Themen: das zweite aus raschen abwärts gerichteten Skalen und schwerfälligen, non legato zu spielenden Passagen in tiefer Lage, das dritte als einziges im piano, „semplice“ (einfach) und mit der Melodie in der Oberstimme. Beide werden durch ihr langsameres Tempo gegen das Hauptthema abgesetzt. Die Exposition endet in tiefer Lage im Adagio mit den Vortragsbezeichnungen „morendo“ (ersterbend) und „tenebroso“ (finster). Durchführung und Reprise nehmen einen analogen Verlauf einer allmählichen Verlangsamung, ordnen die Themen aber gegebenenfalls anderen Tempobereichen zu. So steht am Beginn der Reprise eine rhythmisch verbreiterte Variante des lyrischen Themas aus dem Allegro. Die Gegenstimme erscheint hier in den Notenwerten verkürzt und dadurch beschleunigt, was diesem Abschnitt zusammen mit einem Steigerungsverlauf den Charakter eines Finalsatzes verleiht. Unmittelbar voraus geht wie bei Liszt ein ruhiger, eigenständig wirkender Teil – tatsächlich ist er aus den ersten beiden Themen abgeleitet –, der den langsamen Satz vertritt.

Schostakowitsch selbst führte die Sonate am 12. Dezember 1926 in Leningrad erstmals auf. Dort spielte er sie wohl 1935 auch zuletzt öffentlich. Später distanzierte er sich von dem „formalistischen Experiment“. Der Zeitpunkt dürfte kein Zufall gewesen sein: Anfang 1936 kam es zu dem berüchtigten Eklat um die Oper Lady Macbeth von Mzensk. Sie hatte Stalin so missfallen, dass er vorzeitig das Theater verließ. Schostakowitsch fiel zum ersten und nicht zum letzten Mal in seinem Leben in Ungnade.

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