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Nathalia Milstein

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Nathalia Milstein

Nathalia Milstein

Klavierwerke von Liszt, Webern, Prokofjew und Chopin

Wolfgang Stähr

Zum Mittelpunkt der Erde

In Italien, „diesem von der Sonne verwöhnten Land“, wurde ihm alles klar. „Die Kunst bot sich meinen Augen in ihrer ganzen Herrlichkeit dar; sie enthüllte sich mir in ihrer Universalität und Einheit. Mit meinem Fühlen und Denken drang ich jeden Tag tiefer in die verborgene Verwandtschaft ein, welche die Werke des Genies verbindet“, bekannte Franz Liszt. „Raffael und Michelangelo ließen mich Mozart und Beethoven besser verstehen“, schrieb er im Oktober 1839 in einem offenen Brief, den die Pariser Revue et Gazette musicale im französischen Original veröffentlichte. „Das Kolosseum und der Campo Santo stehen der Eroica und dem Requiem nicht so fern, wie man denkt. Dante fand seinen bildlichen Ausdruck in Orcagna und Michelangelo; vielleicht findet er eines Tages seinen musikalischen Ausdruck in einem Beethoven der Zukunft.“

Mit diesem Satz erhebt sich der Brief zum Manifest, allerdings auch zu einer Art „self-fulfilling prophecy“, denn „le Beethoven de l’avenir“, den Liszt für künftige Zeiten heraufbeschwört, war kein messianisches Phantom, sondern ein reger und realer Komponist: er selbst. In den Tagen zuvor hatte er ein „fragment dantesque“ für Klavier skizziert, unter dem Eindruck der Lektüre von Dantes Divina Commedia. Noch im Dezember 1839 brachte er das Stück oder „Bruchstück“ bei einem Konzert in Wien zur Aufführung: die Urfassung der „Dante-Sonate“, wie dieses spätere

Werk verkürzt, aber nicht verkehrt genannt wird. Ein work in progress – die Suche nach der Form, dem inneren und äußeren Zusammenhalt und nicht zuletzt nach dem Titel ging noch annähernd zwei Jahrzehnte weiter. Einem Gedicht aus der Feder Victor Hugos „entlieh“ Franz Liszt schließlich die sachliche Überschrift: Après une lecture du Dante. Doch ergänzte er den literarischen Bezug noch um einen musikalischen und schrieb darunter: „Fantasia quasi Sonata“.

„Sonata quasi una Fantasia“ – so hatte Beethoven an der Jahrhundertwende seine Klaviersonaten op. 27 bezeichnet, aber die wechselseitige Attraktion zwischen Sonate und Fantasie blieb für die jüngeren und nachrückenden Komponisten ohnehin ein Problem, eine Versuchung, eine Rechtfertigung und ein Spiel mit dem Feuer. Auch für Franz Liszt, der im Zeichen Dantes und im Namen Beethovens die geprüfte Ordnung der Sonate als Höllenfantasie in Flammen setzte. Er zog die Umrisse eines „Hauptsatzes“ nach, mit Introduktion und Coda, Durchführung und Reprise, und belebte sie mit Themen, trügerischen Themen von teuflischer Verwandlungsfähigkeit. Denn die „Dante-Sonate“ spielt im Inferno, dem zum Mittelpunkt der Erde hinab reichenden Höllentrichter, wie er im ersten Teil der Divina Commedia geschildert wird. Eine schaurige Fanfare, eine abstürzende Folge übermäßiger Quarten – der einstmals verbotene Tritonus, der „diabolus in musica“ – eröffnet die Lisztsche „Dante-Lektüre“ mit dem gebieterischen Ruf des Höllenfürsten an die auf ewig Verdammten. Ein majestätisch sich überhebender Choral setzt ihn abermals in Szene, Luzifer, „die Kreatur, die herrlich war zuvor“, der höchste, der gefallene Engel, der gegen Gott aufbegehrte und in die Hölle verbannt wurde. Wenn Liszt in unwirklich überirdischen Klängen die ferne Musik des Paradieses herübertönen lässt, ist dieser ätherische Gesang nichts anderes als eine entrückte Variante des vordem infernalisch triumphierenden Chorals: ein musikalisch verschlüsselter Hinweis auf Luzifers göttlichen Ursprung und abgrundtiefen Fall. Franz Liszt nahm Après une Lecture du Dante als letztes Werk in den zweiten, 1858 publizierten Band seiner Années de Pèlerinage auf, bei dem es nicht allein um die Spurensuche einer italienischen Reise geht, sondern vor allem um die Idee der „Universalität und Einheit der Kunst“. Malerei, Bildhauerei, Dichtung und Musik sind in diesem Album vereint: Raffael, Michelangelo, Petrarca und Dante, die „Werke des Genies“ in geistiger Verwandtschaft und medialer Ungebundenheit.

„Meine Melodien wird noch einmal der Briefträger pfeifen!“ sagte – nicht etwa Franz Schubert, dem ein jeder dieses Zitat zutrauen würde, oder Giuseppe Verdi, auch nicht Franz Lehár, sondern (wer hätte das gedacht) Anton Webern. Seinen späten Schüler, den Komponisten Karl Amadeus Hartmann, überraschte Webern eines Tages mit dieser überaus optimistischen Prognose. „Ich glaube zwar eher, daß der Briefträger auf seine Melodien pfeifen wird“, schrieb Hartmann in einem Brief an seine Frau. „Zumindest wird der Briefträger ihm die Post der Bewunderer aus aller Welt zu bringen haben, was immer er auch dabei pfeift.“ Karl Amadeus Hartmann war im Kriegsjahr 1942 in das österreichische Maria Enzersdorf gereist, unweit von Wien, um dort den völlig isolierten und vereinsamten „Zwölftöner“ zu treffen und Privatlektionen zu erbitten. Aber naturgemäß suchte er in Weberns Musik nicht Melodien für Millionen, ihm ging es um eine denkbar andere Art von Pfiff. Gemeinsam analysierten sie Weberns Klaviervariationen op. 27. „Ein Klangwunder sind diese Variationen, von höchster Konstruktion“, begeisterte sich Hartmann. „Er legt den drei Sätzen eine Zwölftonreihe mit ihren vier Grundformen und den 12 Transpositionen zugrunde. Dadurch erhält das Werk einen konstruktiven Zusammenhalt, in dem jede Note ein wohlkalkuliertes Glied innerhalb der Kanons und Variationen bildet. Könnte ich doch über den Aufbau dieser Zopfgeflechte hinaus erfahren, wie er es anstellt und worauf es beruht, daß seine Musik göttlichen Hauch enthält!“

Weberns Opus 27, komponiert in der Zeit von Oktober 1935 bis September 1936, eine Sonatine oder, wie der Komponist sagte, eine Suite in drei Sätzen, bezieht sich mit dem Titel auf den letzten Satz, die eigentliche Variationenfolge, der ein dreiteiliger Kopfsatz (Webern verglich ihn mit den späten Brahmsschen Intermezzi) und ein knappes scherzoartiges Mittelstück vorangehen. „Was bedeutet das alles? – Das Bestreben höchster Zusammenfassung. Es ist alles aus Einem abgeleitet“, lehrte Webern in einer Vortragsreihe über den Weg zur Neuen Musik. Aber Webern blickte nicht von Bergeshöhen auf seine Vorgänger herab, ein solcher Hochmut hätte seinem Naturell widersprochen, aber auch seinem Weltbild, in dem alles mit allem zusammenhing und gegenwärtig war. „Also das wollen wir festhalten: über die Formen der Klassiker sind wir nicht hinaus“, schärfte Webern seinen Zuhörern ein.

„Was später gekommen ist, war nur Veränderung, Erweiterung, Verkürzung.“ Mit einem Wort: Variation.

Nur Flüchtigkeiten

Zur selben ominösen Zeit, im Jahr 1936, als Anton Webern seine Zwölftonvariationen flocht, komponierte sein russischer Kollege Sergej Prokofjew eine bombastische Kantate „zum zwanzigsten Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“. Prokofjew war gerade erst aus dem Exil zurückgekehrt in die Sowjetunion und übte sich sogleich in Lobgesängen und Jubelhymnen. Und auch die gelangen ihm, wie ihm überhaupt alles gelang, was er begann, wenn schon nicht im Leben, so doch in der Kunst, und selbst als Propagandist ließ er sich von keinem übertrumpfen. Bald 20 Jahre zuvor allerdings, als die besagte Revolution über die Weltbühne gegangen war, stand Prokofjew mitnichten im Zentrum des Geschehens, sondern abseits, sogar weit abseits, im idyllischen kaukasischen Kurort Kislowodsk. Und dort, in einem nahezu menschenleeren Kursaal, spielte er zum ersten Mal alle seine Visions fugitives für Klavier, von denen er einzelne früher bereits als Zugaben in seinen Konzerten vorgestellt hatte. „Flüchtige Erscheinungen“ – es mag durchaus nicht seine Absicht gewesen sein, aber diese pianistischen Miniaturen kommen einer subtilen bis subversiven Absage an die Große Geschichte gleich, an das Weltanschauungstheater, an die eine, einzige Wahrheit der Ideologen. Insofern wiegen die frühen, „flüchtigen“ Visionen schwerer als die sowjetische Kantate mit ihrem Pathos der Eindeutigkeit.

„Ich setzte mich ans Klavier und beschloss, einige kleine, aphoristische Stücke zu schreiben“, vermerkte Prokofjew im Juni 1915 in seinem Tagebuch. „Sie nahmen unglaublich leicht Gestalt an, ich mochte sie sehr, und sie waren rasch in tadellosem Zustand.“ Fünf der später so genannten Visions fugitives brachte Prokofjew gleich zu Papier, danach „verfiel das neugeborene Opus vorübergehend in Schweigen“. Im Folgejahr erdachte und erprobte er sechs weitere „Visionen“; 1917 konnte er die Sammlung mit am Ende zwanzig Stücken beschließen. Den russischen Titel Mimolëtnosti, der mit Drucklegung von der französischen Variante Visions fugitives ersetzt wurde, entnahm Prokofjew einem Gedicht seines Landsmanns und Zeitgenossen Konstantin Balmont, den er aus dem Petersburger Künstlerlokal „Zum streunenden Hund“ kannte, einem Treffpunkt der Symbolisten, Futuristen und Akmeisten. Balmonts Poem beginnt mit den Zeilen: „Ich habe keine Weisheit, die für andre taugt, / Nur Flüchtigkeiten bringe ich in meinen Vers, / In jeder Flüchtigkeit sehe ich Welten, / Erfüllt vom Wechselspiel des Regenbogens.“ Darin liegt auch ein Motto für Prokofjews 20 Klavierstücke, die ebenso irrational, flüchtig, unfassbar und fragil sind, schillernd in allen Farben des Regenbogens – ein Augenblick, ein Widerschein, ein Aufflackern aus surrealen Gegenwelten, ohne Botschaft und Bekenntnis. Prokofjew behauptete zwar später, die vorletzte „Vision“ unter dem Eindruck der Februarrevolution von 1917, dem Aufstand in Petrograd, dem Straßenkampf, der Schießerei geschrieben zu haben, aber das war eine nachgetragene Erklärung, vielleicht sogar ein Fall von sozialistischer Legendenbildung.

Obgleich unter Prokofjews „Flüchtigkeiten“ auch einzelne Sätze von stahlharter physischer Attacke und brutaler pianistischer „Pranke“ zu hören sind, mit Assoziationen an die „Maschinenmusik“, bleiben die meisten der Stücke doch lyrisch, delikat, zwielichtig, impressionistisch – wie die Nummer 7 mit ihren Reminiszenzen an die Äolsharfe und von fern herüberwehende Glockenschläge. Einige pflegen einen linear ausgesparten Satz, sie gleichen Inventionen; andere ähneln stilisierten Tänzen aus barocken Suiten oder einer Ballettszene en miniature oder einer Chopinschen Mazurka. Prokofjew erfindet freche, mokante, karnevaleske, provokante Stücke; wieder andere verfremdet er mit sonderbar entlegenen und verzogenen Melodien, mysteriösen, undefinierbaren Akkorden, grotesken Vorschlagnoten oder monotonen Rhythmen. Vor allem und in allem aber herrscht ein Klima der Uneindeutigkeit, der Verschwiegenheit, der Verheimlichung, der Ungewissheit. Prokofjew sollte später Werke komponieren, die seine Anfänge fortschrieben, und Werke, die seine Anfänge verleugneten. Auch im Leben dieses Emigranten, der Russland 1918 verließ, um 1936 reumütig in die Sowjetunion zurückzukehren, herrschte niemals Eindeutigkeit.

Nie eine Oper komponiert

Was steht am Anfang? Das fieberhafte Warten auf die Geliebte? Der glückliche Moment des Wiedersehens? Oder ein beschauliches Bild aus der Natur, ein sanftes Wogen, ein ruhiges Fluten? Es sind denkbar widersprüchliche Assoziationen, die Frédéric Chopins C-Dur-Prélude wachgerufen hat, wie ohnehin der ganze 24-teilige Zyklus seit jeher die Phantasie der Interpreten zu den ausgefallensten Vorstellungen reizte. Was gibt es da nicht alles zu hören in Chopins Opus 28: das Meer, zerstäubende Feuerwerkskörper, eine polnische Tänzerin, spielende Najaden, ein Duell, einen Erstickungsanfall, Verzweiflung und Selbstmord, Sturm und Schnee und natürlich – Regentropfen. Chopin selbst allerdings wurde, wie seine Lebensgefährtin George Sand verriet, höchst ärgerlich, wenn von Tonmalerei die Rede war, und er „verwahrte sich heftig und mit Recht gegen solche einfältigen musikalischen Nachahmungen“. Das änderte aber nichts daran, dass gerade in den Préludes wie in einem klingenden Tagebuch geblättert wurde, wusste man doch, dass Chopin diese Werkreihe in jenem „Winter auf Mallorca“ geschrieben hatte, in den Wochen, die er 1838/39 gemeinsam mit George Sand in der Einsamkeit des Klosters Valldemossa verbrachte. Liebesglück und Todesnähe, Lebensgier und Fieberschübe, ist das der Stoff, aus dem die Préludes geschaffen sind? Leere Klostergänge und schaurige Friedhöfe, sind dies die Bilder, die Chopins Musik evoziert, hallt sie wider von Totenglocken und Chorälen, Vogelrufen und Sturmesbrausen? Wie anders dachte doch der greise Abt von Montecassino, den André Gide einmal besuchte und der ihm gestand, in schweren Stunden, auf dem Krankenlager, zu seiner Erbauung in Notenheften zu lesen. „Und was glauben Sie wohl, was ich mir da bringen lasse?“, fragte er seinen Gast. „Keineswegs Bach, nicht einmal Mozart – sondern Chopin. Das ist die reinste Musik.“

Die reinste Musik, frei von allen Bildern, Programmen und romanhaften Zutaten. Der Stoff der 24 Préludes, deren Komposition Chopin auf Mallorca abschloss – ihre Entstehungszeit reicht jedoch zurück bis in das Jahr 1831 –, sind die Tonarten, die er nach der Ordnung des Quintenzirkels durchmisst, charakterisiert und porträtiert: C-Dur und die parallele Molltonart a-moll, G-Dur und e-moll bis F-Dur und d-moll. Bereits Johann Nepomuk Hummel war in seinen Préludes dans tous les 24 tons majeurs et mineurs diesem Aufbauprinzip gefolgt, abweichend von Bachs Wohltemperiertem Klavier, dessen Präludien chromatisch voranschreiten und die gleichnamigen Tonarten nebeneinanderstellen: C-Dur, c-moll, Cis-Dur, cis-moll etc. Freilich befand sich das Wohltemperierte Klavier in Chopins mallorquinischem Reisegepäck, und barockisierende Momente lassen sich in seinen Préludes durchaus erkennen, in manchen figurativen, linearen und kontrapunktischen Eigenarten dieser Werke. Ihr erstaunlicher Formenreichtum – sie geben sich als Impromptu, Nocturne oder Tarantella, Etüde oder Perpetuum mobile, Lied ohne Worte oder Rezitativ – erschließt sich nur bei einer zyklischen Aufführung, wie sie erst lange nach Chopins Tod der Liszt-Schüler Arthur Friedheim und später auch Ferruccio Busoni unternahmen. Aber für jeden, der sie spielt, der sie hört, der ihnen nachsinnt, bleiben die Préludes ein unerschöpflicher musikalischer Kosmos, verstörend in ihren harmonischen Kühnheiten, unauslotbar in ihrer seelischen Tiefe. „Wer je bestimmte Präludien / von ihm hörte“, sagt Gottfried Benn in einem Gedicht über Chopin, „sei es in Landhäusern oder / in einem Höhengelände / oder aus offenen Terrassentüren / beispielsweise aus einem Sanatorium, / wird es schwer vergessen. // Nie eine Oper komponiert, / keine Symphonie, / nur diese tragischen Progressionen / aus artistischer Überzeugung / und mit einer kleinen Hand.“

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