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Wiener Formationen

Wiener Formationen

Vom Duo zum Oktett mit Berg, Wolf und Schubert

Michael Horst

Als Musikmetropole spielte Wien über Jahrhunderte hinweg eine führende Rolle, mit der sich nur wenige Städte messen können. Spätestens durch das Dreigestirn Haydn, Mozart, Beethoven errang sie Weltruhm, der – was die Komponisten betrifft – erst mit dem Zweiten Weltkrieg ein Ende fand. Noch heute lebt die Stadt buchstäblich von Angesicht zu Angesicht mit ihren großen Tonschöpfern, die als Denkmäler an prominenter Stelle die Tradition beschwören. Und wo sonst auf der Welt existierte ein Zentralfriedhof, auf dem, Grabmal an Grabmal, die Unsterblichkeit der Tonkunst gefeiert wird? Nichts dürfte deshalb näher liegen für die Mitglieder der Wiener Philharmoniker, als sich bei ihrem Gastspiel im Pierre Boulez Saal drei Epochen heimischer Musikkultur zu widmen, indem sie dem Oktett in F-Dur von Franz Schubert Kammer musikwerke seiner Nachfolger Hugo Wolf und Alban Berg an die Seite stellen.

Wolfs wie im Rausch entstandene Vertonungen unzähliger Gedichte von Eduard Mörike, Johann Wolfgang von Goethe und Joseph von Eichendorff haben ihm einen festen Platz im Pantheon der großen Liedkomponisten gesichert. Weniger erfolgreich war der glühende Anhänger Wagners und Liszts mit seinen Instrumentalwerken; die Tondichtung Penthesilea (nach Kleists Drama) wurde 1886 in einer sogenannten Novitätenprobe der Wiener Philharmoniker unter Hans Richter mit Gelächter aufgenommen – zu Lebzeiten hat der Komponist sie nie wieder gehört. Und auch seiner einzigen Oper Der Corregidor war kein andauerndes Bühnenleben beschieden.

Allein die Serenade in G-Dur hat sich im festen Repertoire aller Streichquartett-Formationen behauptet. Die Entstehung des überaus charmanten Werks, komponiert innerhalb von drei Tagen Anfang Mai 1887, verweist inhaltlich auf die Gedichte des Romantikers Eichendorff, die Wolf zu jener Zeit intensiv beschäftigten, sowie dessen Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts, deren sonnendurchflutetes, musiktrunkenes Panorama das Italienbild Deutschlands im 19. Jahrhundert entscheidend prägte. Ursprünglich hatte Wolf ein mehrteiliges Werk geplant; Skizzen zu einem zweiten Satz und einer abschließenden Tarantella haben sich erhalten. Doch trotz verschiedener Anläufe blieb es bei dem Einzelsatz, den Wolf 1892 immerhin noch für Kammerorchester bearbeitete. (Den ursprünglich bereits für die Quartettversion verwendeten Titel Italienische Serenade bestimmte er in der Folge ausschließlich für diese Fassung.)

Die Serenaden-Atmosphäre mit Gitarrenklängen und Liebesseufzern ist förmlich mit Händen zu greifen: Die Instrumente stimmen, dann hat der Sänger – sprich: die erste Violine – das Wort. Leichtfüßig springt die Musik von Takt zu Takt, der lockere Plauderton verbirgt geschickt die harmonischen Raffinessen, die der Spätromantiker Wolf auch hier eingebaut hat. Zwischendurch sorgt ein kurzes, expressives Solo des Cellos für aufkeimende Leidenschaft, die von den anderen Instrumenten spöttisch kommentiert wird – doch alle musikalischen Ausflüge kehren immer wieder zum unwiderstehlichen Ausgangsthema zurück. Der Erfolg bei der imagniär adressierten Angebeteten bleibt allerdings aus, und zum Schluss ziehen die Musikanten unverrichteter Dinge ihres Wegs.

„Als Alban Berg im Jahre 1904 zu mir kam, war er ein hoch aufgeschossener und äußerst schüchterner Junge. Aber als ich seine Kompositionen durchsah, die er mir vorlegte – Lieder in einem zwischen Hugo Wolf und Brahms schwankenden Stil –, erkannte ich sofort, dass er eine echte Begabung hatte.“ So erinnerte sich Arnold Schönberg an seine erste Begegnung mit Berg. Schon bald sollte der hoffnungsvolle junge Komponist unter dem Einfluss des Lehrers ganz neue Wege jenseits von Brahms und Wolf einschlagen, und Zeit seines Lebens blieb Schönberg sein hochverehrtes Vorbild. Der penibel arbeitende Berg war überaus selbstkritisch, der Entstehungsprozess seiner Werke meist langwierig. Entsprechend schmal ist sein kompositorisches Œuvre. Die als Opus 1 veröffentlichte Klaviersonate datiert von 1907/08, während die Vier Stücke für Klarinette und Klavier op. 5 im Frühjahr 1913 entstanden – fast zehn Jahre nach der ersten Begegnung und vier Jahre nach Beendigung des Unterrichts bei Schönberg. Ihre Uraufführung erlebten sie erst nach dem Ersten Weltkrieg, am 17. Oktober 1919 in einem Konzert des „Vereins für musi kalische Privataufführungen“, dem das Werk – zusammen mit „seinem Gründer und Präsi denten Arnold Schönberg“ – zugeeignet ist.

Form, Inhalt und zeitliche Ver knappung sind programma tische Ansage: weg von der groß-symphonischen Form (wie sie auch Schönberg noch in seinen Gurre-Liedern gepflegt hatte), hin zu einer komprimierten, extrem verdichteten Ausdrucksweise, bei der jede einzelne Note Gewicht hat. Ob man die Vier Stücke als verkappte Sonate begreifen möchte oder nicht: innerhalb von nur acht Minuten Spieldauer hat Berg eine Fülle musikalischer Gedanken und Stimmungen zusammengefügt, in denen sich rhythmische Komplexität mit einem dynamischen Spektrum vom vierfachen Pianissimo bis zum dreifachen Fortissimo verbindet. Die Wahl langsamer Tempi gibt dem Komponisten Gelegenheit, ein Höchstmaß an Detail genauigkeit zu realisieren, das durch minutiöse Bezeichnungen („expressiv“, „mehr begleitend“, „schwungvoll“, „Echoton“) und genauestens differenzierte Tempoangaben unterstrichen wird. Harmonisch bewegt sich Berg noch an der Grenze zur Tonalität; überraschend ist dabei seine Vorliebe für Terzwiederholungen – wie zu Beginn und Ende des zweiten Satzes. Bereits 1904 bemerkte Schönberg: „Schon aus Bergs frühesten Kompositionen, so ungeschickt sie auch gewesen sein mögen, konnte man zweierlei entnehmen: erstens, dass Musik ihm eine Sprache war und dass er sich in dieser Sprache tatsächlich ausdrückte; und zweitens: überströmende Wärme des Fühlens.“ Beides lässt sich auch in diesen Werken erkennen.

Ebenfalls dem verehrten Freund und Lehrer gewidmet ist Alban Bergs Kammerkonzert für Geige, Klavier und 13 Bläser – als Gabe zu dessen 50. Geburtstag am 13. September 1924. Allerdings nahm sich der Komponist sehr viel Zeit bei der Arbeit, so dass das Werk erst mit fast einjähriger Verspätung, im Juli 1925 in Partiturreinschrift vorlag. Bedenkt man die Komplexität des Werkes, vor allem hinsichtlich seiner formalen Gestaltung, überrascht die verspätete Übergabe keineswegs. „Aller guten Dinge…“ schreibt Berg als Motto über die Partitur – und ersetzt die fehlenden Worte „…sind drei“ durch drei Motive, die den Anfang der Komposition bilden und von den Instrumenten Klavier, Geige und Horn einzeln vorgestellt werden.

Hinter den drei Motiven verbergen sich keine geringeren als die Protagonisten der Wiener Schule, die Berg hier verewigt hat, indem er aus den Namen ArnolD SCHönBErg, Anton wEBErn und AlBAn BErg diejenigen Buchstaben herausfilterte, die zu einer musikalischen Umschrift taugen. Diese Notenreihen nutzte der Komponist als Grundlage für ein überaus komplexes, durchgehend kontrapunktisch geordnetes Gefüge, in dessen Harmonik sich, so Berg, „neben den weiten Strecken völlig aufgelöster Tonalität, ebenso einzelne kleine Partien tonalen Einschlags finden, wie solche, die den von Dir [Schönberg] aufgestellten Gesetzen der ,Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen‘ entsprechen.“

Die Drei ist die magische Zahl, die Alban Berg, wahrhaft besessen von Zahlensymbolik und Buchstaben-Chiffren, auch zur alles beherrschenden Grundlage des Werks machte. Er selbst hat in einem offenen Brief vom 9. Februar 1925 (seinem eigenen 40. Geburtstag), der an Schönberg gerichtet war, die vielen Zahlenbezüge offengelegt. So hatte sich der Komponist unter anderem für den ersten Satz „ein dreiteiliges Variationsthema von dreißig Takten“ überlegt, während der zweite Satz als „dreiteiliges Lied“ konzipiert ist. Fast überflüssig zu erwähnen, dass auch die Zahl der Takte jedes einzelnen Satzes wie der gesamten Komposition durch drei teilbar ist, und dass als Hommage an die gemeinsame Geburtsstadt nicht zuletzt der Dreiertakt – der Wiener Walzer – deutliche Spuren hinterlassen hat. Unabhängig von allen anderen zahlenbezogenen Überlegungen Bergs erschließt sich diese Tatsache schon beim ersten Hören unmittelbar.

Zehn Jahre nach der Komposition, in seinem Todesjahr 1935, hat Berg das Adagio des Kammerkonzerts auf eine Trio-Fassung reduziert. Dabei kam ihm die Tatsache zugute, dass in der Originalversion der langsame Satz der Violine als Soloinstrument vorbehalten ist, so dass das Klavier in der neuen Fassung zusätzliche Bläserstimmen übernehmen konnte, während der Klarinette auch die ursprünglichen Soli von Horn oder Trompete zugeteilt wurden. Ansonsten blieb die Faktur des Satzes unangetastet. Der Adagio-Charakter wird innerhalb der deutlich markierten fünf Tempobezeichnungen auf verschiedenste Art und Weise modifiziert; „sehr langsam“ steht neben „schleppend“ und „leidenschaftlich bewegt“. Unangefochten bleibt die Dominanz der Violine, die nach einem hochintensiven Parcours den Satz mit einer absteigenden reinen C-Dur-Linie verklingen lässt. Die ungeheure Ausdruckskraft dieser Musik macht Bergs Versicherung, die er in seinem offenen Brief an Schönberg geäußert hatte, direkt nachvollziehbar: „Ich sage Dir, liebster Freund, wüsste man, was ich gerade in diese drei Sätze von Freundschaft, Liebe und Welt an menschlich-seelischen Beziehungen hineingeheimnist habe, die Anhänger der Programm-Musik hätten ihre helle Freude daran.“

Genau ein Jahrhundert zurück in der Musikgeschichte geht der Sprung zu Franz Schuberts großem Oktett, das mit seiner etwa 50-minütigen Spieldauer die gewichtige zweite Hälfte des heutigen Konzertabends bildet. Geschrieben hat es der 27-jährige Komponist Ende Februar 1824 – in fieberhafter Anspannung, wie der Maler-Freund Moritz von Schwind zu berichten weiß: „Schubert ist unmenschlich fleißig. Ein neues Quartett wird Sonntags bei Zupanzik [der Geiger Ignaz Schuppanzigh] aufgeführt, der ganz begeistert ist und besonders fleißig einstudiert haben soll. Jetzt schreibt er schon lang an einem Octett mit größtem Eifer. Wenn man unter Tags zu ihm kommt, sagt er grüß dich Gott, wie geht’s? – gut, und schreibt weiter, worauf man sich entfernt.“ Nicht eindeutig nachgewiesen ist in der Forschung bis heute, ob Schubert mit diesem Oktett tatsächlich dem Auftrag eines passionierten Hobby-Klarinettisten, des Obersthofmeister Ferdinand Graf Troyer, nachkam. Arnold Feil, Mitherausgeber der Neuen Schubert-Gesamtausgabe, verweist hingegen auf den persönlichen Ehrgeiz des Komponisten, dem übermächtigen Vorbild Beethoven mit diesem Kammermusikwerk etwas Gleichwertiges entgegensetzen zu wollen.

Tatsächlich lässt sich Schuberts Oktett ohne Beethovens Septett Es-Dur op. 20 von 1799 überhaupt nicht denken. Vor allem in seiner sechssätzigen Anlage – mit zwei langsamen und zwei Tanzsätzen im Zentrum – scheint das Vorbild des älteren Komponisten deutlich durch. Doch über dessen unbeschwerten Serenaden-Charakter geht das F-Dur- Oktett hörbar hinaus; hier weitet sich der kammermusikalische Anspruch zu symphonischer Fülle und Größe. Bezeichnend dafür sind die beiden langsamen Einleitungen der Außensätze, die das gesamte Werk in einen dramatischen Rahmen einpassen. Nicht zufällig hat Schubert auch die Besetzung mit drei Bläsern und vier Streichern gegenüber Beethoven um eine weitere Violine (wie im Streichquartett) erweitert, um so dem Ganzen größeres klangliches Gewicht zu geben.

Wie in vielen seiner bedeutendsten Kammermusikwerke verbindet Schubert auch im Oktett üppige Melodienfreude mit sehr bewusster architektonischer Gestaltung und harmonischem Reichtum. Eine der rhythmischen Konstanten in der abwechslungsreichen Gestaltung der sechs Sätze ist ein punktiertes Motiv, mal auf dem betonten, dann auf dem unbetonten Taktteil, das schon die erste Einleitung prägt und auch im folgenden Allegro-Satz stets präsent ist. Klarinette und erste Violine geben als primäre Melodiestimmen im gesamten Werk den Ton an, doch Schubert gelingt es, auch alle anderen Instrumente nachdrücklich einzubinden: Sogar dem Kontrabass, über weite Strecken allein zur Verstärkung des Cellos im Einsatz, wird in der Durchführung des ersten Satzes eine Solo-Passage zuteil.

Besondere Intensität strahlt das Adagio aus, dessen weitgespanntes Klarinettensolo zu Beginn noch wenig von den harmonischen Wanderungen und atmosphärischen Abgründen ahnen lässt, die sich in den Pianissimo-Passagen des zweiten Teils unerwartet auftun. Dem robusten Scherzo mit seinem Frage-Antwort-Spiel in Moll und Dur lässt Schubert einen Variationensatz folgen, dessen Thema er seiner Oper Die Freunde von Salamanka entnommen hat. Auch hier steht das liebliche Thema in C-Dur nur am Anfang einer fortlaufenden Steigerung, die mit kleineren Notenwerten beginnt (Variation Nr. 1), mit Punktierungen verstärkt (Nr. 2) und schließlich durch die Verlagerung der Melodielinie in die tiefere Cellolage noch einmal verdichtet wird (Nr. 4). Variation 5 bringt die obligatorische Moll-Variante, während Nr. 6 unvermittelt ins entfernte As-Dur führt und dabei ganz auf Licht und Wärme setzt. Variation 7 schließlich schlägt den Bogen zurück zum C-Dur-Thema, bevor eine geheimnisvoll pochende Coda den Satz beschließt. Das Menuett wiederum ist unverfälschter Schubert im Ländler-

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