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BOULEZ ENSEMBLE LIII

Samstag 1. Juli 2023 19.00 Uhr

György Ligeti (1923–2006)

Trio für Violine, Horn und Klavier (1982)

I. Andante con tenerezza

II. Vivacissimo molto ritmico

III. Alla marcia – Più mosso – Subito Tempo I

IV. Lamento. Adagio

Michael Barenboim Violine

Ben Goldscheider Horn

Giuseppe Mentuccia Klavier

Kammerkonzert für 13 Instrumente (1969–70)

I. Corrente (Fließend)

II. Calmo, sostenuto –

III. Movimento preciso e meccanico

IV. Presto

François-Xavier Roth Musikalische Leitung

Anne Romeis Flöte, Piccoloflöte

Giorgi Magradze Oboe, Englischhorn

Tibor Reman Klarinette

Nina Janßen-Deinzer Klarinette, Bassklarinette

Ben Goldscheider Horn

André Melo Posaune

Holger Groschopp Cembalo, Harmonium

Giuseppe Mentuccia Klavier, Celesta

Daniel Cho, Mălina Ciobanu Violine

Sindy Mohamed Viola

Assif Binness Violoncello

Otto Tolonen Kontrabass

Pause

György Ligeti

Konzert für Violine und Orchester (1990/92)

I. Praeludium. Vivacissimo luminoso

II. Aria, Hoquetus, Choral. Andante con moto

III. Intermezzo. Presto fluido

IV. Passacaglia. Lento intenso

V. Appassionato. Agitato molto

François-Xavier Roth Musikalische Leitung

Michael Barenboim Violine

Anne Romeis Flöte, Altflöte, Altblockflöte

Leonid Grudin Flöte, Piccoloflöte, Sopranblockflöte

Giorgi Magradze Oboe, Sopran-Okarina

Tibor Reman Klarinette, Sopranino-Okarina

Nina Janßen-Deinzer Klarinette, Bassklarinette, Alt-Okarina

Ronan Whittern Fagott, Sopran-Okarina

Ben Goldscheider, Bar Zemach Horn

Alper Çoker Trompete

André Melo Posaune

Dominic Oelze, Martin Barth, Matthias Marckardt Schlagzeug

Daniel Cho, Mălina Ciobanu, Asaf Levy, Darya Varlamova, Kerem Tunçer Violine

Lydia Bach, Sindy Mohamed, Bella Chich Viola

Assif Binness, Jan Sekaci Violoncello

Otto Tolonen Kontrabass

Das Neueste aus der Endzeit

Drei Kompositionen von György Ligeti

Wolfgang Stähr

Sein Leben sei extrem abwechslungsreich verlaufen, betonte György Ligeti, und deshalb habe er zu allen Zeiten anders und wiederum ganz anders komponiert, als habe nicht ein und derselbe Komponist diese Werke, dieses Lebenswerk geschrieben, sondern viele verschiedene. So war es – und so ist es auch heute Abend, wenn dreimal Ligeti auf dem Programm steht: der Ligeti des Horntrios von 1982, derjenige des Kammerkonzerts von 1970 und derjenige des Violinkonzerts von 1992. Was ist diesen drei Komponisten gemeinsam? „Dass ich stets versucht habe, das, was ich tue, aufrichtig zu tun“, bekannte Ligeti. „Selbstverständlich folgte ich (unbewusst) auch dem Zeitgeist. Doch habe ich meine Haltung von Akribie und Ehrlichkeit nie geändert, wohl aber meine Urteile und Vorurteile, allerdings nicht nach Erfordernissen von außen, sondern stets im besten Glauben und mich oft irrend.“

Der junge Ligeti, Student am Konservatorium von Cluj und an der Musikakademie von Budapest, hielt sich zunächst an die „neue ungarische Schule“, bewunderte Bartók, erprobte selbst eine „imaginär­folkloristische“, unbegrenzt (und unbestimmt) balkanische Musik, sah aber in dieser längst zum Klischee erstarrten Praxis keine Zukunft mehr: „Bartók hat etwas Wunderbares gemacht, aber es führt nicht weiter.“ Obendrein bedrückte ihn die Beschränktheit der sozialistisch reglementierten Musikkultur. Seine letzten, vor der Flucht aus Ungarn entstandenen Stücke enthielten „selbst für das damalige politische Tauwetter zu viele kleine Sekunden“: Dissonanzen und Chromatik standen unter Generalverdacht einer „volksfeindlichen“ und „kosmopolitischen“ Gesinnung. Gleichwohl begann er noch in Budapest die verpönte Zwölftontechnik in Betracht zu ziehen, um sie freilich später, im Westen, nach näherer Bekanntschaft mit dem Serialismus als eine Mode und einen überlebten Glauben abzutun. Die „chromatische Denkweise“ aber ließ ihn nicht so bald wieder los und führte ihn zum Ausspinnen von „polyphonen Netzgebilden“, von „Musik mit Gewebecharakter“, zu Orchestersätzen wie den Atmosphères, die durch ihre Verwendung in Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey eine unerwartete, den Zirkeln und Ritualen des Konzertlebens entzogene Berühmtheit erlangten (allerdings ohne Zustimmung des Komponisten). Noch in den 1960er Jahren erdachte György Ligeti Stücke „am Rande des Möglichen“, er suchte die äußerste Virtuosität, nicht um der Virtuosität willen, als Sensation und Selbstdarstellung, sondern „um etwas Neues zu machen“, aber – und darauf legte er allergrößten Wert – innerhalb der Musik, nicht um sie herum, nicht auf dem Umweg der Inszenierung oder theatralischen Provokation.

Und dann kam die Krise. Jahrelang konnte Ligeti kaum ein Werk beenden, nur Skizzen ansammeln auf Hunderten von Seiten. Doch zumindest im Rückblick war ihm klar, dass er keine isolierte, keine persönliche Schaffenskrise auszustehen hatte, dass vielmehr eine allgemeine Trockenzeit und Ratlosigkeit vorherrschten, eine Desillusionierung, ein Absturz oder Abbruch des elitären Selbstbewusstseins jener Avantgarde, die Ligeti vor allem mit Darmstadt und den dortigen Internationalen Ferienkursen für Neue Musik identifizierte, zu deren Studenten und Dozenten er zeitweilig zählte. „Darmstadt“ sei eine geschlossene Gesellschaft gewesen, durchaus wie ein Priesterseminar, eine serielle Sekte und ein Schauplatz der Eitelkeiten: „Wir dachten – und ich gehörte irgendwie dazu –, wir sind auf dem richtigen Weg, wir machen die neue Musik. Diesen Glauben habe ich übrigens längst verloren.“ Ligeti hielt es ohnehin für müßig, das Ende der „idealistischen“ und „unbefleckten“ Kunst zu beklagen. Spätestens seit der Mitte der 1970er Jahre habe eine uferlose Kommerzialisierung der Künste begonnen. „In vieler Hinsicht hat die Explosion der technologischen Möglichkeiten, die Flut der nicht notwendigen, doch möglichen Gadgets, das Alltagsleben der Menschen (nicht von allen!) qualitätsmäßig verbessert. Ich hoffe aber, dass es trotz allem ‚event marketing‘ weiter Nischen für Kunst und Kultur, für Bücher aus Papier und für Musik auf akustischen Instrumenten geben wird“, schrieb Ligeti 1997, als er die ergebnislose Zeit der abgebrochenen, aber niemals abgeschlossenen Projekte lange schon überwunden hatte.

Vermengung der Kulturen: Das Horntrio

Und das kam so: „1982 habe ich mich entschlossen, das Spiel um die ‚Krise‘ nicht mehr mitzumachen.“ Dieser Entschluss wurde begünstigt und beflügelt durch einen Kompositionsauftrag für eine ausgefallene und gleichzeitig mit Geschichte gesättigte Besetzung: ein Trio für Violine, Horn und Klavier, als Beitrag zum anstehenden Brahms­Jahr 1983 und als Repertoirezwilling zum gleichbesetzten Trio op. 40 des Jubilars. Also schrieb Ligeti eine Hommage à Johannes Brahms, „dessen Horn­Trio als unvergleichliches Beispiel dieser Kammermusik­Gattung im musikalischen Himmel schwebt. Gleichwohl befinden sich in meinem Stück weder Zitate noch Einflüsse Brahmsscher Musik.“ Oder vielleicht doch, unter Umständen und auf Umwegen? „Brahms­Zeit ist Endzeit, zusammenfassend, retrospektiv, die Vergangenheit fortschreibend, aber auf der Höhe des Augenblicks“, befand der Schriftsteller Martin Gregor­Dellin in besagtem Gedenkjahr 1983. „In Brahms kommt die Musik des 19. Jahrhunderts zum letztenmal zu sich selbst, in ihrem Melos, das alsbald sein gutes Gewissen verliert.“ Dem Ligeti des Horntrios war zwar gewiss nicht an einer Retrospektive gelegen: Er wollte erklärtermaßen „nicht in den alten Avantgarde­Klischees weiterkomponieren“, aber ebenso wenig Ausflüchte zu historisierenden Stilen nehmen –„kein Wiederkäuen der Vergangenheit“. Auf das Melos jedoch, die „durchhörbaren melodischen Gestalten“, kam es ihm sehr wohl an: „Meine Musik sollte sehr viel melodischer werden“, und natürlich ohne jedes schlechte Gewissen.

Doch muss das Trio keineswegs nach Brahms klingen, um eine „endzeitliche“ Abschiedsstimmung zu verbreiten: Der Fortschritt zeigt sich als Fortgang, als ein Fortgehen. Jedenfalls bleibt es auffallend und eigensinnig genug, dass Ligeti sein Comeback buchstäblich mit einem Lebewohl feierte. Denn er zitiert am Beginn seines Horntrios die Anfangstakte der Klaviersonate „Les Adieux“ von Beethoven, die mit eben diesem Scheidegruß überschrieben sind, „Le­be wohl!“, und obendrein das zweistimmige Spiel eines Naturhornduos nachahmen – genauer gesagt eine charakteristische

Intervallfolge, ein abstraktes Signum der Naturtöne: die sogenannten Hornquinten, die unweigerlich Assoziationen an Fernweh, Abreise, Natur und Romantik wachrufen. Wenn sie ganz am Schluss des Trios zurückkehren, wie eine Erinnerung zweiten Grades, die Reminiszenz einer Reminiszenz, erscheinen sie nur noch, wie Ligeti sagt, als „Foto einer Landschaft, die inzwischen im Nichts aufging“. Ligeti­Zeit ist Endzeit.

Oder doch nicht? Der Komponist verstand sein Horntrio zwar als ein „provokant ‚konservatives‘“ und „oppositionelles“ Stück. Die „traditionellen Formschemata aller vier Sätze“ habe er „aus einer Art Aufmüpfigkeit gegen die etablierten Konventionen der Avantgarde“ gewählt: eine dreiteilige Reprisenform für die „sehr ferne, zarte und melancholische Musik“ des Andantino con tenerezza; ein angefachtes, abgehetztes Ostinato im zweiten Satz; ein Scherzo mit Trio nach dem Modell des Vivace alla Marcia aus Beethovens Klaviersonate A­Dur op. 101; und schließlich eine Passacaglia über ein chromatisch fallendes, pseudobarockes Lamentothema (das sich als erweiterte Variante der anfänglichen Hornquinten erweist). Und vieles tönt wie eine Elegie auf die vergangene, unvergängliche Wiener Moderne, bis zur Selbstaufgabe der letzten Takte, „morendo al niente“.

Im erwähnten zweiten Satz, dem Vivacissimo molto ritmico, arbeitet Ligeti mit den komplexen Aksak­Rhythmen des türkischen „Hinketanzes“, die freilich auch als Samba oder Rumba gehört werden könnten: „Ich bin ein Freund der Vermengung der Kulturen“, sagte er. Aber mit „Weltmusik“ wollte er nichts zu tun haben, das sei „ein kommerzieller Ausdruck für Schallplattenabteilungen“. Vermengung der Kulturen, geographisch wie historisch: Egal ob die Violine in Doppelgriffen das „Les Adieux“­Zitat am Beginn oder das Lamento zum Finale intoniert, es klingt allzeit „schief“. Doch nicht im Sinne der Verfremdung oder schräger neoklassizistischer „Falschismen“, sondern als Ausreizung und Bereicherung der Harmonik – in Richtung einer „nicht­diatonischen Diatonik“, wie Ligeti es nannte, oder modaler, folkloristischer Tonleitern; selbst Zwölftonreihen geistern durch die Binnensätze, wenngleich ohne jeden seriellen Rigorismus. Doch Ligeti treibt die „Endzeit“ der Dur­Moll­Tonalität noch weiter, auf frappierende Art zurück zur Natur. „Des temperierten Stimmungssystems überdrüssig“, legt er die Schichten der zunehmend normierten Musikgeschichte übereinander. Im Trio trifft das „wohltemperierte“ Klavier mit Geige und Horn zusammen, bis nichts mehr stimmt und alles richtig falsch klingt. „Die in reinen Quinten gestimmte Violine weicht, wie immer bei Kammermusik für Streicher und Klavier, von der temperierten Stimmung erheblich ab“, erklärt Ligeti. Das Horn aber bot ihm noch ganz andere Perspektiven. Bis zur Erfindung der Ventilsysteme im 19. Jahrhundert stand auf dem Instrument nur die begrenzte Zahl und Auswahl der Naturtöne zur Verfügung. Auf dem modernen Horn dagegen lassen sich buchstäblich durch Knopfdruck weitere Naturtonskalen zuschalten, die Natur wird überlistet, und der Meister muss sich nicht länger in der Beschränkung zeigen. Ligeti schreibt für das Trio zwar ein Ventilhorn in F/B vor, denkt dabei aber praktisch an eine Sammlung von Naturhörnern. Er komponiert in Naturhornstimmungen: „So erklingen hauptsächlich untemperierte Obertöne, die dann den Violinisten in seinen Griffen verwirren. Das ist Absicht.“

Wahnsinn und Methode: Das Kammerkonzert

Noch vor der Krise, in den Jahren 1969/70, schuf Ligeti für das Wiener Ensemble Die Reihe und dessen Dirigenten Friedrich Cerha ein Werk, das durch den noblen Titel „Kammerkonzert“, die überkommene Viersätzigkeit und eine gemischte Besetzung wie in den barocken „Concerts avec plusieurs instruments“ (inklusive der dezidiert unbarocken Tasteninstrumente Celesta und Hammondorgel) auf den ersten Blick ebenfalls traditionell, konservativ und oppositionell erscheinen mag. Aber davon kann keine Rede sein.

Ligetis Kammerkonzert für 13 Instrumente gehört einerseits noch als Nachzügler in die Epoche der „Musik mit Gewebecharakter“, andererseits in die Schaffensphase der experimentellen Virtuosität. Namentlich das Finale inszenierte er als ein „wahnwitzig­virtuoses Presto“, mit „wie verrückt“ zu spielenden Solo­Auftritten für Kontrabass und Klavier, mitunter hart am Happening und doch zweifellos „innerhalb der erklingenden Musik“. Aber obgleich Ligeti betont, dass alle 13 Instrumentalist:innen gleichberechtigte Solist:innen seien, die nicht nur ihre eigene Stimme spielen, sondern zeitweilig auch ihr eigenes Tempo („ohne Rücksicht auf den Taktschlag des Dirigenten“) oder „prestissimo possibile“ in jähen, entfesselten, gegen den Taktstrich gebürsteten Kadenzen die metrische Orientierung verwirren („Jedes Instrument spielt die Töne, in der schnellstmöglichen Abfolge, für sich und hört individuell auf“), schlägt gleichwohl die beschworene Individualität in Anonymität und die Freiheit in Zwang um. Die solistischen Stimmen werden gerade in ihrer Eigenart unpersönlich, sie schlingen sich umeinander und durcheinander, verschwimmen, verfließen, verschwinden in Schraffuren, Pulsationen, Klanggittern oder Klangwolken. Sie gehen in wechselnden Aggregatzuständen und stofflichen Beschaffenheiten auf (oder unter) und werden im dritten Satz, dem Movimento preciso e meccanico, in ein Ticken und Tacken, Scheppern und Schlagen sinn­ und seelenloser Maschinengeräusche eingespannt. Auch Ligetis Kammerkonzert handelt von der „Explosion der technologischen Möglichkeiten“ – und wirft ein grelles Licht auf deren Abgründe, Kehrseiten und Absurditäten. Das Gleichnis einer Welt, in der man nicht leben wollte. Aber wie lange schon lebt.

Wunderbare neue Harmonien: Das Violinkonzert

Nicht vier, sondern erst drei, schließlich fünf Sätze umfasst das Violinkonzert, das Ligeti 1990 schrieb und 1992 grundlegend neu komponierte und umgestaltete. Ohnehin betrachtete er die klassische Konzertform als eine „Hülle“, in die er dann „ganz andere Musik hineinzuschütten“ unternahm. Er befüllte aber auch die „Hüllen“ der Aria, des Hoquetus (das mittelalterliche „Zerschneiden der Stimme“, der pausendurchsetze Wechselgesang, bei dem die eine Stimme aussetzt, sobald die andere einsetzt), des Chorals und der Passacaglia mit eigensinnig verdrehten und unwohl verstimmten Spielaktionen, Klangereignissen und kalkulierten Katastrophen –andererseits aber auch mit altgewordener, archaischer, lebenssatter, todtrauriger Musik, spröde, sperrig und streng. Ligeti erzählte, er habe zwischen der ersten und der endgültigen Fassung des Violinkonzerts (bei einem Krankenhausaufenthalt) die späten Streichquartette Joseph Haydns studiert und dabei die Kunst der Aussparung und Notwendigkeit gelernt: nicht eine Note mehr verwenden als unbedingt erforderlich: „Ich wandte dieses Prinzip, unnötige Komplexität zu vermeiden, in der zweiten Version des Violinkonzerts an und stellte fest, dass ich meiner Idealvorstellung näher gekommen war.“

Ohne die Vorgeschichte des Horntrios gäbe es kein Violinkonzert, jedenfalls nicht dieses, verriet Ligeti: Viele Ideen zum späteren Konzert seien ihm während und nach der Komposition des Trios in den Sinn gekommen: „Im Orchester bezog ich neben den ‚normalen‘ Orchesterinstrumenten jeweils Violine und Viola mit Skordatur [Umstimmung der Saiten] sowie viele Instrumente mit ungenauen

Tonhöhen wie Okarinen, eine Blockflöte und Lotosflöten ein. Ich habe auch bezeichnet, wo ich Naturhorn und Naturposaune wollte oder wo die Holzbläser kleine Tonhöhenabweichungen spielen sollten.“ Ligeti suchte nach einem „schmutzigen Klang“, einem „schillernden Effekt“, einer „aleatorischen Intonation“, der „totalen Verfremdung“, aber auch nach „wunderbaren neuen Harmonien“, einer „Alternative zum temperierten System“.

Doch jedem Anfang wohnt die Krise inne. „Ich bin kein Mitglied, weder einer Ideologie noch einer Religion oder Partei. Ich will immer Abstand“, bekannte der Komponist. Die wechselnden Epochen und stilistischen Kehrtwendungen in seiner Musik seien Ausdruck tiefer Skepsis: „Ich habe immer wieder selbstzweiflerische Krisen, es tauge nichts, was ich gemacht habe“, gestand er. „Ich bin bestimmt nicht der Mensch, der die neue Musik entdecken wird.“ Auch die Versuche, im Violinkonzert neue Wege zu finden, führten nur in Sackgassen und sonst nirgendwohin. „Ich habe in Budapest einmal im Jux gesagt: Wenn ich sterbe und ihr unbedingt irgendetwas nach mir benennen wollt, nennt es ‚György­Ligeti­Irrweg‘. So fühle ich mich.“ Aber frei nach dem Nietzsche­Wort, ohne Musik sei das Leben ein Irrtum, ließe sich einwenden: Ligetis Irrtümer sind das Leben der Musik. Den avantgardistischen Anspruch unfehlbarer Zukunftsprophetie hatte er früh schon bezweifelt. Neuanfänge lassen sich nicht beschließen, Endzeiten nicht verleugnen. Nur –welcher Komponist hinterließ ein Werk, das es an Neugierde, Erfindungsreichtum, Hintersinn, Umschwung, Überfluss, fröhlicher Wissenschaft und exzentrischer Praxis mit seinem aufnehmen könnte?

Wolfgang Stähr, geboren 1964 in Berlin, schreibt über Musik und Literatur. Er verfasste Buchbeiträge zur Bach­ und Beethoven­Rezeption sowie über Haydn, Schubert, Bruckner und Mahler und publizierte Essays und Werkkommentare für die Festspiele in Salzburg, Grafenegg, Luzern, Würzburg und Dresden, Orchester wie die Berliner und die Münchner Philharmoniker, für Rundfunkanstalten, Schallplattengesellschaften, Konzert­ und Opernhäuser.

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