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EXPERTEN-TIPP

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AGRITECHNICA 2022

AGRITECHNICA 2022

Gefährdungsbeurteilung bei selbstfahrenden Arbeitsmaschinen:

Mythen, Fakten und Beispiele

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Von MARKUS TISCHENDORF

Kein anderes Thema der Arbeitssicherheit erhitzt die Gemüter so sehr, wie die gesetzlich geforderte Gefährdungsbeurteilung. Offensichtlich herrscht eine große Unsicherheit bei Betreibern von mobilen Baumaschinen und -geräten, wie und in welchem Umfang die Gefährdungsbeurteilung zu erstellen ist. Die folgenden Ausführungen sollen hierüber Klarheit verschaffen.

Risiko = Wahrscheinlichkeit × Schadensschwere

Die systematische Erfassung und Bewertung von Gefährdungen bei der Arbeit kennzeichnet die Gefährdungsbeurteilung. Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten sind deren Ziele, auch vorhersehbare Betriebsstörungen und Notfallsituationen sind zu berücksichtigen. Aus der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens und der Verletzungsschwere ergibt sich das Unfallrisiko. Je höher das Unfallrisiko bei der Arbeit ist, desto dringlicher werden die Schutzmaßnahmen. Dennoch ist der Rahmen der gesetzlich geforderten Gefährdungsbeurteilung weit gefasst. Für mobile Baumaschinen bedeutet dies, alle Phasen der Verwendung einer Maschine wie z.B. das Montieren, An- und Abschalten, Einstellen, Gebrauchen, Einrichten und Rüsten, Instandhalten, Umbauen, Ändern sowie die Außerbetriebnahme zu betrachten.

Bereits vor der Auswahl und Beschaffung sollte die Gefährdungsbeurteilung erfolgen. Schließlich dürfen den Beschäftigten seitens des Arbeitgebers nur geeignete Maschinen zur Verfügung gestellt werden. Der Maschinenauswahl wird also eine herausragende Bedeutung zuteil. Ansonsten gilt: Spätestens vor dem erstmaligen Gebrauch des Arbeitsmittels ist eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen. Aufgrund der Vielzahl mobiler Arbeitsgeräte können hier nur einige Beispiele betrachtet werden. Die genannten Gefährdungen und Schutzmaßnahmen lassen sich aber ganz oder teilweise auf andere Baumaschinen und Arbeitsverfahren übertragen.

Betriebliche Schutzkonzepte können technischer, organisatorischer oder sonstiger Natur sein. Technische Schutzmaßnahmen sind am Wirksamsten und daher vorrangig auszuwählen. Aber auch organisatorische Maßnahmen (z.B. die Qualifikation des Fahrpersonals) und das Tragen von persönlicher Schutzkleidung dürfen nicht vernachlässigt werden. Für viele mobile Arbeitsgeräte wie Teleskopstapler, Hubarbeitsbühnen, Ladekrane usw. existieren bereits Ausbildungsgrundsätze der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen.

Gefährdungsbeurteilung bei selbstfahrenden Arbeitsmaschinen:

Funkfernsteuerungen erlauben das Arbeiten außerhalb des Gefahrenbereiches. Foto: Hiab

Verantwortung und Pflichtenübertragung

Für die Erledigung der Gefährdungsbeurteilung und die Dokumentation der Ergebnisse ist der Arbeitgeber verantwortlich. Die Beurteilung der Arbeitsbedingungen setzt eine spezielle Fachkunde voraus. Verfügt der Arbeitgeber selbst nicht über die erforderlichen Kenntnisse, kann er die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung auf geeignete Führungskräfte des eigenen Betriebes übertragen. Er sollte sich jedoch von Fachkräften für Arbeitssicherheit und/oder Betriebsärzten beraten lassen, denn die Gesamtverantwortung bleibt bei ihm. Werden Rechtspflichten im Arbeitsschutz vom Arbeitgeber auf betriebliche Führungskräfte übertragen, sollte dies möglichst schriftlich erfolgen. Regelmäßig (z.B. jährlich) ist die Wirksamkeit der getroffenen Schutzmaßnahmen zu kontrollieren. Hierfür ist der Arbeitgeber gleichsam verantwortlich. Im Alltag zeigen sich dabei oft erhebliche Defizite. Eine fehlende oder unvollständige Gefährdungsbeurteilung kann insbesondere bei schweren Arbeitsunfällen zu rechtlichen Problemen führen. Nach Erhebungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) besitzen fast die Hälfe aller Unternehmen keine Gefährdungsbeurteilung, obwohl sie seit dem Jahr 1996 gefordert wird. Bemerkenswert sind die Ursachen, warum eine Gefährdungsbeurteilung im Unternehmen fehlt. Die Mehrheit der Betriebe ohne Gefährdungsbeurteilung geben an, dass keine nennenswerten Gefährdungen vorlägen. Ebenso häufig wird angeführt, dass die Mitarbeiter selbst Sicherheitsdefizite erkennen und beseitigen. Eine Fehleinschätzung, wie einschlägige Unfallanalysen belegen.

Anfahrunfälle vermeiden

Während Gefährdungen zu Unfällen führen können, tragen Belastungen bei der Arbeit zu berufsbedingten Erkrankungen wie zum Beispiel Lärmschwerhörigkeit oder Wirbelsäulenschäden durch Ganzkörperschwingungen bei. Besonders mechanische Gefährdungen sind beim Einsatz von mobilen Arbeitsmaschinen zu erwarten, wie das Anfahren, Überfahren oder Quetschen von Personen aufgrund von Fahrbewegungen. Können die Verkehrswege für selbstfahrende Arbeitsgeräte und Fußgänger nicht durch technische Einrichtungen wie Schutzzäune, Leitplanken usw. getrennt werden, sollte eine Begrenzung der Fahrgeschwindigkeiten in Betracht gezogen werden. Innovative Fahrer-Assistenzsysteme wie Laserscanner oder RFID-Erkennungssysteme ermöglichen bereits heute, in den Bordcomputer von Fahrzeugen aktiv einzugreifen, um die Geschwindigkeit in gefährlichen Bereichen (z.B. viel befahrene Kreuzungen, enge Kurven) anzupassen. Akustische und optische Warneinrichtungen können zudem in die Systeme integriert werden. Zusätzliche Spiegel und eine bessere Ausleuchtung der Arbeitsbereiche erhöhen ebenfalls die Sicherheit. Blendfreie LED-Scheinwerfer lassen sich leicht nachrüsten und verbessern die Sicht des Fahrpersonals auf das Arbeitsumfeld. Geeignet sind auch Kamera-Monitor-Systeme und 360-Grad-Kamera-Systeme, die zwar einen etwas höheren Mehraufwand bedeuten, dafür aber dem Fahrer eine große Hilfe im Berufsalltag sind.

Folgen von Kollisionen reduzieren

Sind Kollisionen nicht vollständig vermeidbar, kann zumindest die Schadensschwere durch Systeme zur Energieaufnahme bei einem Aufprall – etwa Stoßfänger, Puffer oder Knautschzonen – reduziert werden. Durch Rückhaltesysteme, Gurtstraffer, Airbags und gepolsterte Oberflächen sind mitfahrende Bediener vor schweren Verletzungen weitestgehend geschützt. Nicht vollständig zu vermeiden ist neben dem Aufprall das Herausfallen bzw. das Herausgeschleudert werden von Personen aus dem Arbeitsgerät. Gabelstapler müssen deshalb mit einer geschlossenen Fahrerkabine oder gleichwertigen Rückhalteeinrichtungen

wie zum Beispiel Bügel- oder Klapptüren ausgerüstet sein. Bei Ausleger-Hubarbeitsbühnen droht der Peitscheneffekt, wenn das Fahrwerk schweren Erschütterungen oder abrupten Schlägen ausgesetzt ist. Um das Herausschleudern des Bedieners aus dem Korb zu verhindern, muss er durch einen Auffanggurt gesichert sein. Der Anschlagpunkt für die persönliche Schutzausrüstung benötigt eine Festigkeit von mindestens drei kN (Kilonewton).

Gefährdungen ergeben sich außerdem durch unbeabsichtigtes Betätigen von Steuerelementen, oft verletzt sich der Bediener dadurch sogar selbst. Stellteile mit einer Zustimmungs- oder Panikfunktion schützen wirksam vor derartigen Unfallgefahren. Der Dreistellungs-Joystick mit Panikfunktion einer Hubarbeitsbühne bewirkt beispielsweise den Not-Halt oder eine Reversierbewegung beim Überschreiten des „normalen“ Stellbereichs – ein Einklemmen von Personen wird verhindert. Funkfernsteuerungen von Lkw-Ladekranen besitzen aus demselben Grund einen umlaufenden Schutzbügel und Taster mit Kragen, die unbeabsichtigte Steuerbefehle verhindern sollen. Dennoch empfiehlt es sich, den Not-HaltTaster der Kransteuerung bei Rüst- und Nebentätigkeiten zu betätigen, sodass gefährliche Situationen durch unkontrollierte Lastbewegungen vermieden werden.

Kippgefährdete und rollende Güter

Die richtige Ladungssicherung ist ebenfalls bedeutsam, wenn Baumaterialien mit Teleskopstaplern, Ladekranen, Anhängern und dergleichen zu befördern sind. Die Gefahr des Herabfallens der Ladung ist groß, wenn sie nicht ordnungsgemäß gesichert ist. Einrichtungen zum Blockieren der Ladung und Befestigungspunkte zum Verzurren der Ladung sind daher unverzichtbar. Gerade bei Be- und Entladevorgängen ereignen sich die meisten Transportunfälle. Besonders gefährlich sind kippgefährdete und rollende Güter, die sich beim Lösen der Befestigungsmittel plötzlich und unkontrolliert bewegen können. Reflexartiges Handeln, vereinzelt sogar schwerste Ladegüter per Hand aufhalten zu wollen, führt oft zu schlimmen Verletzungen der Beschäftigten. Mithilfe von stufenweise zu öffnenden Zurrmitteln und solchen, die einen anstehenden Ladedruck erkennen lassen, können Situationen wie diese vermieden werden.

Auch Lärm, Vibrationen, Gefahrstoffe (z.B. Öle, Kraftstoffe) und Gefährdungen durch Abgase sind bei der Beurteilung der Arbeits- und Umgebungsbedingungen zu berücksichtigen. Foto: Haulotte

Das Typenschild mit CE-Zeichen einer selbstfahrenden Arbeitsmaschine entbindet den Betreiber nicht davon, eine Gefährdungsbeurteilung zu erstellen. Foto: Tischendorf

Standsicherheit gewährleisten

Mobile Arbeitsmaschinen benötigen einen sicheren Stand. Um diesen zu gewährleisten, sind einige mit Abstützeinrichtungen ausgestattet. Am Fahrwerk angebrachte hydraulische Stützzylinder ermöglichen eine stabile Abstützung, sofern sie bestimmungsgemäß verwendet werden. Ältere Stützeinrichtungen müssen nach wie vor mechanisch, d.h. manuell verbolzt und gesichert werden. Die Sicherungsbolzen müssen verlustsicher an der Maschine angebracht und mit einem Federstecker gesichert sein. Bei neueren Maschinen sorgen Sperr- und Rückschlagventile in der Ölhydraulik für die notwendige Betriebssicherheit. Hydraulik-Schlauchleitungen unterliegen jedoch einer natürlichen Alterung und sind nach den Herstellerangaben, spätestens aber nach sechs Jahren auszutauschen. Wirkungslos ist darüber hinaus die beste Abstützung, wenn der Boden am Aufstellort nicht tragfähig ist. Schließlich muss der Untergrund oft große Lasten und Kräfte aufnehmen, ohne dabei nachzugeben. Kleine Veränderungen am Aufstellgrund führen bereits zu erheblichen Lageveränderungen des Auslegers einer Baumaschine – sogar ein Umkippen des Gerätes ist möglich. Zu Beginn der Tätigkeiten ist daher der Boden am Aufstellort zu beurteilen, die Stützen sorgsam mit lastverteilenden Unterlagen (z.B. schweren Holzbohlen) zu unterbauen. Allein dieses Beispiel verdeutlicht, dass eine sichere Technik allein nicht ausreicht. Im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung sind außerdem das Umfeld, die Arbeitsaufgabe selbst sowie die Qualifikation der Beschäftigten zu betrachten. Eine ordnungsgemäße Instandhaltung (z.B. Wartung, Prüfung und Reparatur der Gerätschaften) sowie das Tragen der persönlichen Schutzausrüstung vervollständigen das betriebliche Schutzkonzept.

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