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Eine gro\u00DFartige Friedensbitte
An keinem seiner Werke hat Ludwig van Beethoven so lange gearbeitet wie an der Missa solemnis. Das Auftragswerk sprengte schließlich einen kirchlich-liturgischen Rahmen. Die Gründe dafür wird Kirill Petrenko mit dem Bayerischen Staatsorchester hörbar machen. Das „gröste Werk, welches ich bisher geschrieben“ – so bezeichnete Beethoven seine Missa solemnis noch vor ihrer Vollendung. Dieser Superlativ ist berechtigt, und er hat viele Facetten. An Umfang sprengt das Werk jede damals geläufige Norm. Vielfalt und Reichtum der in ihm versammelten Musikstile und Ausdruckscharaktere sind einzigartig, und an keinem anderen seiner Werke hat Beethoven so lange gearbeitet wie an der Missa solemnis. Anfangs war das gar nicht abzusehen gewesen. Im Frühjahr 1819 stand fest, dass der habsburgische Erzherzog Rudolph – Beethovens einziger Kompositionsschüler und wichtiger Gönner – im März des folgenden Jahres zum Erzbischof von Olmütz ernannt werden würde. Dass er sich für den feierlichen Amtsantritt eine Messe von Beethoven wünschte, war so selbstverständlich wie die Tatsache, dass Beethoven diesen Auftrag annahm. Ein Jahr hatte er dafür Zeit. Das überschritt sogar den Zeitrahmen, den er 1807 für seine erste Messe hatte, die Messe in C-Dur op. 86, die er im Auftrag des Fürsten Nikolaus Esterházy geschrieben hatte. Doch es kam anders. Ein Jahr war zu kurz, und am Verlauf der Musik ist das hörend nachzuvollziehen. Der erste Satz, das Kyrie, hält sich noch halbwegs innerhalb der vertrauten Dimensionen, und für seine Form war das überschaubare dreiteilige Strukturmuster durch die dreifache Anrufung („Kyrie eleison / Christe eleison / Kyrie eleison“) traditionell vorgegeben. Spätestens im Gloria aber drohten die Dimensionen und damit auch der Zeitplan außer Kontrolle zu geraten. Während Beethoven dem Erzherzog noch vor Weihnachten 1819 die pünktliche Fertigstellung der Messe versprach, musste er Anfang 1820 zugeben, dass er noch nicht über die Mitte des ins Riesige angewachsenen Werks hinausgekommen war. Rudolph musste sich für seine Inthronisationsfeier im März 1820 anderweitig behelfen. Das Widmungsexemplar der großen Messe seines berühmten Kompositionslehrers hielt er erst im Frühjahr 1823 in Händen.
Was war geschehen? Vor allem war wohl Beethovens eigener Anspruch an die Komposition einer Messe seit der C-Dur-Messe von 1807 immens gestiegen, was ihm selbst aber offenbar erst im Verlauf der Arbeit deutlich wurde. Zu den vielen Details der anstrengenden Arbeit gehört, dass sich Beethoven, der das Lateinische nur notdürftig beherrschte, mühevoll eine eigene deutsche Übersetzung des Messetextes anfertigte, in der er jede Nuance neu ausleuchten wollte. Es lohnt sich, beim Hören auf die musikalischen Konsequenzen zu achten. Viele Eigentümlichkeiten der Missa, die zugleich charakteristische Merkmale von Beethovens Spätstil sind, hängen mit seiner hochdifferenzierten Textauslegung zusammen: so etwa die schroffen Kontraste, durch die im Gloria die beiden Zeilen „Gloria in excelsis Deo“ (strahlend und laut) und „et in terra pax“ (dunkel und leise) unvermittelt aufeinanderprallen, oder im Credo die Worte „vivos et mortuos“. Manchmal setzt Beethoven auch archaisierende Stilmittel ein, wie beispielsweise in der geheimnisvoll kirchentonhaften Färbung des „et incarnatus est“. Daneben gibt es Abschnitte wie das Benedictus mit seiner schier endlosen Kantilene der Solo-Violine, die man in ihrem Liebreiz und ihrer Innigkeit spontan ins Herz schließen kann. Eine besondere Herausforderung stellte für Beethoven der schließende Satz, das Agnus Dei, dar. Auch hier hätte, analog zum eröffnenden Kyrie, ein traditioneller dreiteiliger Aufbau nahegelegen, denn die Anrufung des Lamms Gottes erfolgt im Messetext dreimal: zweimal mit dem Zusatz „miserere nobis“, beim letzten Mal mit der Friedensbitte „dona nobis pacem“. Aber das genügte dem Komponisten vier Jahre nach dem Beginn des Werks als Strukturmodell offenbar nicht mehr. Seine schöpferische Lösung besteht darin, dass er diese Friedensbitte zu einem großen und dramatischen Finale ausgebildet hat. Pauken und Trompeten als buchstäblich von außen hereinbrechende Kriegsmusik machen dabei die Inständigkeit der „Bitte um innern und äußern Frieden“ (so Beethovens eigene Überschrift) plausibel.
Man kann sich fragen, ob das riesige Werk überhaupt in den Rahmen einer kirchlich-liturgischen Handlung gehört. Die ersten Aufführungen legen eine andere Bestimmung nahe. Die früheste Gesamtaufführung fand im April 1824 auf Initiative des Beethoven-Enthusiasten Nikolaus Graf Galitzin in St. Petersburg statt, im weltlichen Rahmen eines Pensionsfonds-Konzerts der Petersburger Philharmonischen Gesellschaft. Die kurz darauf angesetzte Wiener Erstaufführung erfolgte am 7. Mai 1824 im Theater am Kärntnertor. Außerhalb der Kirche durften kirchliche Werke in Wien nur unter der tarnenden Überschrift „Hymnen“ erklingen. Beethoven präsentierte seine Missa dem Wiener Publikum deshalb in ausgewählten Ausschnitten (Kyrie, Gloria und Agnus Dei) und in Kombination mit der Uraufführung des anderen großen Spätwerks, der Neunten Symphonie. Es liegt auf der Hand, dass diese Verbindung zweier symphonisch strukturierter Vokalwerke in einem Aufführungsrahmen, der Kirche, Konzertsaal und Theater umfasst, eine besondere Botschaft birgt. Merkwürdig sinnreich ist der Zufall, dass die drei Schlüsselbegriffe dieser Botschaft – Freude, Frieden und Freiheit – eine Alliteration bilden. Zudem klingen sie in dieser Kombination wie eine Einheit. Der „Freude“-Jubel der Neunten Symphonie und die großartige Friedensbitte der Missa solemnis formulieren so etwas wie ein utopisches, humanistisches und damit implizit auch politisches Programm, das sich in einem Dritten – der nicht genannten, aber deutlich mit anklingenden Freiheit – aufheben lässt. Denn zum Frieden, der Freude und Freiheit erst hervorzubringen vermag, finden die Menschen nur durch konsequente moralisch-politische Praxis. Das wusste nach der langen Phase der napoleonischen Kriege nicht nur Beethoven selbst. Jedenfalls ist 1824 die Missa solemnis kein dogmatisch katholisches, sondern ein im besten Sinne überkonfessionelles Werk, das seinen eigentlichen Siegeszug denn auch von Anfang an den Konzertsälen und den vielen im frühen 19. Jahrhundert entstandenen bürgerlichen Chorvereinen verdankt. Beethoven selbst, der sich lebenslang für die Moralphilosophie der Aufklärung ebenso interessierte wie für die Gottesvorstellungen des Hinduismus, hat 1824 einem Freund gegenüber erklärt, es sei seine „Hauptabsicht“ gewesen, mit dem Werk „sowohl bey den Singenden als bey den Zuhörenden, Religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen“. Dies bezeichnet aber keine strenge Gläubigkeit im Sinne kirchlicher Orthodoxie, sondern vielmehr eine ästhetisch begründete Gefühls- und Vernunftreligion, eine humanistisch gefärbte Spiritualität im Geiste des schönen Mottos, das Beethoven an den Beginn des Autographs gesetzt hatte: „Von Herzen – Möge es wieder – zu Herzen gehn!“
Text: Hans-Joachim Hinrichsen