Detlef Bluhm
DIE ARCHITEKTUR DER FÜNFZIGERJAHRE Ein fotografischer Streifzug durch Berlin
THE ARCHITECTURE OF THE 1950S A photographic journey across Berlin
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © be.bra verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2020 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Lektorat: Matthias Zimmermann, Berlin Übersetzung: Penny Croucher, London Umschlag und Satz: typegerecht berlin Schrift: Bliss 9,5/13 pt Druck und Bindung: Finidr, Český Těšín ISBN 978 -3 -89809 -175 -6 www.bebraverlag.de
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Inhalt
Contents
Vorwort
Foreword
15
Bauten der Kultur
Cultural Buildings
51
Büro- und Geschäftshäuser
Office and Commercial Buildings
73
Hotels und Gaststätten
Hotel and Restaurant Buildings
83
Schulen und Hochschulen
Schools and Academies
97
Verwaltungsbauten
Administrative Buildings
107
Industrie- und Messebauten
Industrial and Trade Fair Buildings
117
Wohnhäuser
Residential Buildings
145
Kirchliche Bauten
Church Buildings
161
Kunst im Stadtraum
Urban Art
167
Bilderläuterungen
Explanatory notes
190
Architektenverzeichnis
List of Architects
191
Literaturverzeichnis
Bibliography
192
Der Fotograf
The Photographer
7
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Vorwort
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Die Fünfzigerjahre stehen in keinem guten Ruf. Wie viele Gleichaltrige und etwas früher Geborene erinnere ich mich mit einer gewissen Irritation an diesen Cocktail aus Nierentisch und Hawaii-Toast, Drehaschenbecher und Negerfiguren aus schwarzem Draht mit Baströckchen, die Behälter für Salzstangen trugen oder auf einem Karren Schnapsgläser geladen hatten. Vor unseren Fenstern standen bizarre Blumenständer aus Bambus und am Sonntag wurden der Messerschmidt-Kabinenroller, die Isetta oder der VW-Käfer mit Wasser aus der Pumpe gewaschen. Auf Kinderpartys übten wir uns in Hula-Hoop-Wettbewerben, während die etwas älteren Mädchen in rosafarbigen Petticoats auf Pfennigabsätzen zwischen uns und den vom Zigarettenrauch geschwängerten Räumen der Erwachsenen hin- und herstolperten. Um unsere zeitgemäße musikalische Geschmacksbildung kümmerte sich Fred Ignor, der zwischen 1954 und 1968 jeden Montag die Schlager der Woche präsentierte, in der vom RIAS Berlin ausgestrahlten ersten deutschen Hitparadensendung. Überhaupt, die Musik. Ende der Fünfzigerjahre platzierte sich Dalida mit Am Tag, als der Regen kam auf den Hitlisten, Billy Vaughn schnulzte La Paloma und Freddy Quinn führte die Charts 16 Wochen lang als Nummer eins mit dem Sehnsuchtsohrwurm Die Gitarre und das Meer an. Doch in meiner Erinnerung an die Fünfzigerjahre tauchen auch einige Gebäude auf: Das AEG-Hochhaus am Ernst-Reuter-Platz, in dem eine Schwester meiner Mutter arbeitete, die Deutsche Oper in der Bismarckstraße und das Schiller-Theater, in denen sie mit ihrem Mann häufig Vorstellungen besuchte. Das waren zu dieser Zeit hochmoderne Bauwerke, die ich als Kind nur von außen betrachten konnte, die in meiner
The 1950s do not enjoy a good reputation. Like many of my peers and those slightly older than me, I recall with some irritation the cocktail of kidney-shaped tables, Hawaii Toast, rotating ashtrays and negro figures made from black wire wearing short grass skirts and holding receptacles for pretzel sticks or standing on a trolley charged with shot glasses. In front of our windows stood strange bamboo plant stands and on Sundays we took out the garden hose to wash our Messerschmidt or Isetta bubble cars or our VW beetles. At children’s parties we took part in Hula Hoop competitions whilst the elder girls in flared pink petticoats and stiletto heels tottered back and forth among us and the adults sitting in smoke-filled rooms. It fell to Fred Ignor, the presenter of the Schlager der Woche (Hits of the Week) the first German hit parade programme which was broadcast from RIAS Berlin every Monday between 1954 and 1968, to look after the education of our contemporary musical tastes. And then there was the music. At the end of the 1950s, Dalida had a big hit with Am Tag, als der Regen kam, Billy Vaughn released his tearjerker La Paloma and Freddy Quinn topped the charts for 16 weeks with his catchy nostalgic tune Die Gitarre und das Meer. But in my memory of the 1950s, some of the buildings also loom large: the AEG tower block on Ernst-Reuter Platz where my mother’s sister worked, the Deutsche Oper on Bismarckstraße and the Schiller-Theater where she often went to performances with her husband. At the time, these were ultra-modern buildings that as a child I could only view from the outside and were therefore in my perception elevated to places of longing. But there were also buildings with which I had closer contact: once or twice a year I was
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Wahrnehmung aber gerade deshalb den Rang von Sehnsuchtsorten einnahmen. Aber es gab auch Gebäude, mit denen ich näher in Kontakt kam: Ein- oder zweimal im Jahr durfte ich mit ins Café Kranzler, im Zoo-Palast sah ich Der Schatz im Silbersee, an der Verkehrskanzel am Kurfürstendamm bewunderte ich die Polizisten, die von dort den Kreuzungsverkehr regelten, in der Amerika Gedenkbibliothek lieh ich Bücher aus, später zog ich mit anderen Demonstranten zum Amerika-Haus und im Haus Hardenberg begann ich schließlich meine buchhändlerische Laufbahn bei Kiepert. Soweit ein paar meiner persönlichen Erinnerungen. Zu einer intensiven Beschäftigung mit der Architektur der Fünfzigerjahre kam ich erst sehr viel später. Nicht zuletzt mit dem Auge des Fotografen lernte ich die Besonderheiten und die Modernität der damals errichteten Bauten kennen und schätzen und begann mich mit den Voraussetzungen ihrer Entstehung zu beschäftigen. In den späten Vierzigerjahren wurden in Deutschland noch einige wenige Neubauten errichtet, die sich nach wie vor überdeutlich auf die Ästhetik des NS-Regimes bezogen. So weihte man 1949 in Köln den neuen Mittelbau der Gerling-Konzernzentrale ein, den der einstige NS-Architekt Kurt Groote geplant hatte. In der Stadt sprach man daher mit nicht geringem Entsetzen von einer Neuen Reichskanzlei. Die ästhetische Debatte dieser Zeit bestimmten aber Vertreter des Bauhaus-Stils, der Neuen Sachlichkeit oder auch des International Style – wie immer man die Apologeten des Bauens im Stil der Zwanzigerjahre bezeichnen mag. Fast allen Planungen der Nachkriegsjahre lag eine damals kaum kritisch betrachtete Grundidee zugrunde: Die autogerechte Stadt. In allen Großstädten der Republik wurden teils brachial Verkehrsschneisen durch die Trümmerlandschaften geschlagen, oft ohne Rücksicht auf frühere Stadtstrukturen. Spätestens seit dem Buch Die gemordete Stadt von Wolf Jobst Siedler aus dem Jahr 1964 wissen wir, dass im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende mehr historische Bausubstanz vernichtet wurde als durch die Bombardements in den Kriegsjahren. Während man sich nach Kriegsende in München und anderen Städten dazu entschied, den baulichen Vorkriegszustand zum ästhetischen Leitbild des Wiederaufbaus zu erheben, plädierte man in Berlin für einen radikalen städtebaulichen und architektonischen Neuanfang. Der von
allowed into Café Kranzler, I saw Der Schatz am Silbersee in the Zoo-Palast cinema, I admired the policemen directing the traffic from the control point on the Kurfürstendamm, I borrowed books from the American Memorial Library, later I joined other demonstrators and marched to Amerika-Haus and finally I began my career as a bookseller at Kiepert’s book store. Those are a few of my personal memories. I didn’t start to study the architecture of the 1950s more closely until many years later. It was not least with a photographer’s eye that I grew to know and appreciate the special features and the modernism of the buildings constructed during that time and began to address the conditions in which they were created. In the late 1940s Germany there were still a few new buildings being erected that blatantly drew their inspiration from the aesthetics of the Nazi regime – for example the new central part of the Gerling corporate headquarters, opened in Cologne in 1949, which had been designed by the former Nazi architect Kurt Groote. As a consequence, the people of Cologne referred to it with some horror as a Neue Reichskanzlei (New Reich Chancellery). But the aesthetic debate of the time was determined by the exponents of the Bauhaus style, of the New Objectivity or of the International Style – however one wants to describe the apologists of the architectural style of the 1920s. Underlying nearly all the town planning of the post-war years was a basic premise which hardly attracted any criticism at the time: the car-friendly town. In every city of the Federal Republic traffic lanes were slapped across the ruined landscapes, sometimes with brutal force and often with no regard for former urban structures. Since 1964 at the latest, when Wolf Jobst Siedler’s book, Die gemordete Stadt (The Murdered City) was published, we have known that in the first decade after the end of war, more historic buildings were destroyed than during the bombing of the war years. After the end of the war, whilst Munich and other cities decided to make the pre-war state of their architecture the guiding principle for reconstruction, in Berlin there was a demand for a radical new beginning in urban planning and architecture. In 1946, Hans Scharoun, who had been appointed Director of Urban Planning by the Soviets, formulated
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den Sowjets eingesetzte Stadtbaurat Hans Scharoun formulierte die Grundlage seiner Planungen 1946 so: »Wir bauen eine neue Gesellschaft, aber diese Gesellschaft darf nicht in die Gehäuse der alten kriechen. Wir müssen ihr neue Gehäuse schaffen.« Eine gewaltige Aufgabe lag vor den Planern und Architekten, denn in der ehemaligen Reichshauptstadt breitete sich nach Kriegsende das größte zusammenhängende Ruinengebiet Europas aus. Aus heutiger Sicht wundert es nicht, dass sich dieser architektonische Neubeginn in den beiden Stadthälften unterschiedlich entwickelt hat. Obwohl – in den späten Vierzigerjahren konzipierte Hans Scharoun noch im Ostteil der Stadt die Wohnzelle Friedrichshain. Zwar wurde diese Planung nur teilweise und in abgeänderter Form umgesetzt, aber immerhin entstanden von 1949 bis1951 an der Stalinallee, der späteren Karl-MarxAllee, zwei langgestreckte Laubenganghäuser, die sich auf das Bauen im Stil der Neuen Sachlichkeit der Zwanzigerjahre bezogen. Ähnliche Wohnhäuser entstanden südlich der Stalinallee in der Graudenzer und Gubener Straße. Doch diese Bauten gerieten schnell in die Kritik der politisch Verantwortlichen. Im Frühjahr 1950 besuchten die wichtigsten Architekten und Stadtplaner der jungen DDR die Sowjetunion, um die von Stalin präferierte Architektur zu studieren. Nach ihrer Rückkehr formulierte Kurt Liebknecht als Präsident der in der DDR gegründeten Deutschen Bauakademie die Grundlagen und Ziele des Bauens in der Sozialistischen Republik. Im Kampf um eine neue deutsche Architektur heißt ein Artikel, den er im Frühjahr 1951 im Neuen Deutschland veröffentlichte. Über die Scharoun’schen Laubenhäuser in der Stalinallee schrieb er dort: »Die von der Baubetreuung Berlin erstellten Wohnhäuser in der Stalinallee sind ein typisches Beispiel für den ›Baukastenstil‹, wie er für unsere Werktätigen nicht mehr in Frage kommen darf.« Denn »Funktionalismus, Konstruktivismus, die Neue Sachlichkeit oder auch Bauhausstil genannt hat nichts mit wirklicher Kunst zu tun«. Sein Ideal sah so aus: »Die letzte Architekturperiode in Deutschland, deren Bauwerke eine starke künstlerische Idee und die zur gleichen Zeit ihren Zweck erfüllten, war der Klassizismus.« Die Verwirklichung dieses Bauideals sei in Moskau zu sehen. Die Bildunterschrift zu einem in diesem Artikel abgebildeten Wohnpalast in
the basis for his planning in the following words: “We are not building a new society, but this society mustn’t be allowed to crouch in the dwellings of the old one. We must create new homes for it.” A huge task lay ahead for the planners and architects because after the end of war, across the former capital of the German Reich sprawled the largest area of ruins in Europe. When we look back today, it isn’t surprising that this architectural new beginning developed in different directions in the two halves of the city, although in the late 1940s Hans Scharoun designed the Wohnzelle Friedrichshain in the eastern part of city. These plans were admittedly only realised in part and in an altered form, but from 1949 to 1951 two elongated ‘Laubenganghäuser’ (‘deck access residential buildings’) were built on Stalinallee (later re-named Karl-Marx-Allee) which refrerred to the New Objectivity architectural style of the 1920s. Similar residential buildings were constructed to the south of Stalinallee on Graudenzer and Gubener Straße. However, these buildings soon attracted the criticism of the political establishment in East Berlin. In the spring of 1950 the most important architects and urban planners in the young GDR visited the Soviet Union in order to study the architecture favoured by Stalin. When they returned, as President of the German Academy of Architecture founded in the GDR, Kurt Liebknecht laid down the basic rules and the aims of construction in the Socialist Republic. An article he published in Spring 1951 in Neues Deutschland was called “Im Kampf um eine neue deutsche Architektur” (In the struggle for a new German architecture). In it he refers to Scharoun’s Laubenhäuser in the Stalinallee as follows: “The residential buildings erected on Stalinallee by the construction management are a typical example of the ‘building block style’ which is now out of the question for our working people.” The reason being: “What is called Functionalism, Constructivism, New Objectivity or even Bauhaus Style has nothing to do with real art.” His ideal looked like this: “The architectural period in Germany whose buildings simultaneously fulfilled a strong artistic idea as well as its purpose was Classicism.” The realisation of this architectural ideal may be seen in Moscow. In Liebknecht’s article the caption under one of the photographs of a Moscow residential palace reads: “One of the many residential buildings which
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Moskau lautet: »Eines der vielen Wohnhäuser, die an den Hauptstraßen in Moskau in den letzten fünfzehn Jahren errichtet wurden und die nicht nur der Erfüllung ihres Zweckes dienen, sondern auch dem Schönheitsempfinden des Volkes Rechnung tragen.« Spätestens damit war das anfängliche Nebeneinander von stalinistischer Wohnpalastarchitektur und Bauen im Stil der Neuen Sachlichkeit im Ostteil der Stadt beendet. Vor die Laubenganghäuser der Stalinallee pflanzte man Pappeln, um den Blick auf sie zu verstellen. Die Stalinallee sollte den Sozialismus von seiner palastartigen Seite zeigen und wurde zu einer Via Triumphalis des Sozialismus ausgebaut. Ende der Fünfzigerjahre ebbte der Trend zu neoklassizistischen Neubauten ab. Die Entstalinisierung und finanzielle Engpässe beendeten diese Bauphase. In der DDR kehrte man zurück zu rationalistischen Neubauten. Später trat die Platte ihren Siegeszug an. Die Altbausanierung kam, jedenfalls bei den Wohnbauten, nur schleppend voran. An der nun Karl-Marx-Allee benannten Magistrale entstanden in dieser Zeit aber auch mit den Kinos Kosmos und International sowie dem Café Moskau Bauten, die für den architektonischen Aufbruch der Fünfzigerjahre stehen.
have been erected on the main streets of Moscow in recent years and which do not only serve to fulfil their purpose, but also take into account the people’s sense of beauty.” It was about then at the latest, that the initial juxtaposition of Stalinist residential palace architecture and architecture in the style of New Objectivity came to end. Poplar trees were planted in front of the Laubenhäuser on Stalinallee in order to obscure their view. Stalinallee was supposed to demonstrate the palatial side of socialism and it was extended to become a Via Triumphalis of socialism. At the end of the 1950s the trend towards neo-classicism receded. De-Stalinisation and financial shortages put an end to this phase of construction and in the GDR there was a return to rationalist architecture. Later, the Platte (prefabricated construction) style began its triumphal advance and the renovation of old buildings made slow progress, at least in residential buildings. However, during this period buildings were constructed along East Berlin’s main street – now called Karl-Marx-Allee – which reflected the architectural awakening of the 1950s. They included the Kosmos and International cinemas and Café Moskau.
»In der Nachkriegszeit war Berlin die Hauptstadt der Moderne. Nirgendwo sonst in Deutschland wurde sie so konsequent als Konzept begriffen … und in keiner anderen Stadt entstand ein derartiger Reichtum an funktionalen und ästhetischen Ideen.« Mit diesen Worten charakterisierten Andreas Butter und Ulrich Hartung in ihrem Buch Ostmoderne – Architektur in Berlin 1945 –1965 den Geist dieser Zeit. Ein anderer Autor, der inzwischen verstorbene Architekturkritiker der FAZ, Dieter Bartetzko, würdigte und analysierte diesen Zeitgeist rückblickend wie folgt: »Es ist hoch an der Zeit, dass wir sie [die Bauten der Fünfzigerjahre], oder zumindest einen Gutteil von ihnen, als Meisterwerke erkennen, die einerseits von Verdrängung und Selbsthass, andererseits aber vom Willen der damaligen deutschen Gesellschaft sprechen, zurück auf den Weg der Menschenwürde, der Freiheit und Demokratie zu finden.« Tatsächlich gaben sich in den Fünfzigerjahren die Verdrängung der NS-Zeit und der Wunsch nach einem architektonischen Neuanfang die Hand. Und die Charakterisierung Berlins als Hauptstadt der Moderne ist keine Übertreibung. In keine andere Stadt der kriegszerstörten Republik
“In the post-war period, Berlin was the capital of Modernism. Nowhere else in German was it grasped so systematically as a concept … and in no other city emerged such a wealth of functional and aesthetic ideas.” These were the words used to describe the spirit of that era by Andreas Butter and Ulrich Harting in their book Ostmoderne – Architektur in Berlin 1945 –1965. Another author, the late architecture critic of the Frankfurter Allgemeine Zeitung, Dieter Bartezko, retrospectively acknowledged and analysed the zeitgeist as follows: “It is high time that we recognised them [the buildings of the 1950s], or at least a great many of them, as masterpieces which on the one hand speak of suppression and self-hatred and on the other of the will of German society at that time to find a way back to human dignity, freedom and democracy.” During the 1950s it really was the case that the suppression of the Nazi era went hand in hand with the desire for a new beginning in architecture and the characterisation of Berlin as the capital city of Modernism was no exaggeration. More money flowed into Berlin to set in motion a new architectural beginning than into any other city or repub-
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floss so viel Geld, um einen architektonischen Neubeginn in Gang zu setzen. Dieses Geld kam weitgehend aus dem Westen und wurde folgerichtig auch in dem Teil der Stadt verbaut, der den westlichen Alliierten unterstand. Mit dem Hansaviertel im Tiergarten, dem Westberliner Zentrum in Charlottenburg und den Bauten der Freien Universität in Zehlendorf sind drei Zentren erkennbar, in denen ein Großteil der Bauten entstand, die heute exemplarisch für die moderne Architektur der Fünfzigerjahre stehen. Fast die Hälfte der in diesem Buch abgebildeten Bauwerke befindet sich in diesen weitläufigen Arealen. Der schon erwähnte Architekturkritiker Dieter Bartetzko sah einen Zusammenhang zwischen der vielfältigen Formensprache der Architektur und der Mode des New Look, die, 1947 von Christian Dior in Paris kreiert, vor allem in den Fünfzigerjahren in Europa und Amerika beherrschend war. »Nun schwangen auch hier in verschwenderischer Stofffülle die Röcke und Petticoats, beulten sich plissierte Blusenärmel über Wespentaillen, wehten Schals und stöckelten zerbrechlich hohe Bleistiftabsätze auf den frisch gepflasterten Bürgersteigen. Mit den Damen schwangen die Bauten, blähten sich Segeldächer, federten rasant schräg geknickte Stützen unter gebogenen Obergeschossen, […] segelten Baldachine über Portalen und kreiselten Balkons mit gelochten Brüstungen vor schräg ein- und auswärts geneigten Fassaden.« Neben den so charakterisierten Bauten, von denen die frühere Kongresshalle (heute Haus der Kulturen der Welt), das Palais am Funkturm und das Schuhhaus Stiller beispielhaft genannt werden können, stehen aber auch Ensembles wie das Studentenwerk Schlachtensee oder Häuser der Interbau 57, die weniger verspielt eine eher sachliche Schönheit ausstrahlen. Die Architektur der Fünfzigerjahre gibt es nicht. Vielmehr muss diese Zeit des Aufbruchs als ein riesiges Experimentierfeld der Anwendung von zahllosen neuen Formen und Materialien begriffen werden. Und es ist von einem architektonischen Mut, manchmal sogar Übermut, zu reden, der bis in unsere Tage kein Äquivalent gefunden hat. Schaut man sich heute die Bebauung um den Hauptbahnhof an, die ein Kritiker als »architektonischen Suizid« bezeichnet hat, sehnt man sich in eine Zeit zurück, in der Architekten mehr wagen konnten.
lic destroyed by war. This money mainly came from the West and was subsequently mainly put into buildings in the part of the city under the control of the Western Allies. Three identifiable centres – the Hansaviertel in the Tiergarten, the centre of West Berlin in Charlottenburg and the buildings of the Free University in Zehlendorf – contain most of the buildings considered today to be the best examples of 1950s modern architecture. Almost half the buildings included in this book can be found in these extensive areas. Dieter Bartezko, the architecture critic already mentioned, saw a link between the diverse design language in architecture and the New Look in fashion, created in 1947 by Christian Dior in Paris, which swept across in Europe and America in the 1950s. “Full skirts and petticoats boasted a wasteful abundance of material, pleated sleeves bulged over cinched waists. Along the freshly paved sidewalks there was a fluttering of scarves and a tottering of fragile stiletto heels. The buildings swayed with the ladies, sail roofs billowed out, diagonally-inclined supports rapidly sprouted under curved upper floors, […] canopies sailed above portals and gyrated around balconies with perforated balustrades in front of façades that slanted inwards and outwards.” Alongside such buildings – the best examples being the former Kongresshalle (today the Haus der Kulturen der Welt/House of World Cultures), the Palais am Funkturm (Radio Tower Palace) and the Schuhhaus Stiller (Stiller shoe store) – there are also ensembles like the Studentenwerk Schlachtensee (Student Village in Schlachtensee) or the buildings of the Interbau 57 competition that are less playful and radiate a more sober beauty. There is no such a thing as the architecture of the 1950s. This era should rather be understood as a huge testing ground for the use of countless new designs and materials. It was a time of architectural boldness, even recklessness, which has yet to be equalled. If we look at the new construction around the Hauptbahnhof, which one critic has described as “architectural suicide”, we long to return to the time when architects could be more daring. It wasn’t only in Berlin that both the Protestant and the Catholic Church played a significant role in the fresh start in architecture. During the post-war period up to 1960, there were about 8,000 new constructions
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Nicht nur in Berlin spielten die Evangelische und Katholische Kirche beim Neustart der Architektur eine bedeutende Rolle. In ganz Deutschland entstanden in der Nachkriegszeit bis 1960 immerhin etwa 8000 sakrale Neu-, Um- und Wiederaufbauten. Allein in Berlin errichtete man in der genannten Zeit 40 neue Sakralbauten. In der Katholischen Kirche wurde das Baugeschehen maßgeblich durch die Enzyklika Mediatior Dei von Papst Pius XII. beeinflusst. Darin befürwortete er nicht nur die selbstständige Entwicklung der Kunst, sondern auch neue Formen der Kirchenarchitektur. Alle Stilelemente der Fünfzigerjahre-Architektur konnten nun auch auf den Kirchenbau angewendet werden. Für die Evangelische Kirche war eine derartige »Erlaubnis« nicht notwendig. Der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger resümierte 1990 allgemein über das Baugeschehen in den Fünfzigerjahren: »In keiner anderen Zeit wurde derart unbekümmert mit neuen Materialien wie Plastik, Eternit oder Plexiglas experimentiert, wurden alle Materialien miteinander kombiniert und kontrastiert.« Vor allem im Kirchenbau wurden den Architekten Freiräume zugestanden, die auch die sakrale Architektur zu einem Experimentierfeld der Nachkriegsmoderne werden ließ. Dieses Buch versucht, einen repräsentativen Überblick über die Architektur der Fünfzigerjahre in Berlin zu geben – aber es ist kein Architekturführer und sein Autor kein Architekturhistoriker. Ich habe mich vielmehr auf dem Weg gemacht als jemand, den die Bauten der Fünfzigerjahre von frühester Kindheit an begleitet haben und als Fotograf, der in ihnen herausragende Beispiele modernen Bauens und faszinierende Motive sieht. Wie eingangs schon gesagt: Die Fünfzigerjahre stehen in keinem guten Ruf. Zumindest in Bezug auf die Architektur tut man ihnen damit aber Unrecht. Dieses Buch möchte dazu beitragen, die Bauwerke dieser Zeit neu zu sehen oder überhaupt zu entdecken.
and reconstructions of sacred buildings across Germany. In Berlin alone, 40 new churches were constructed. In the Catholic Church the construction process was significantly influenced by the encyclical Mediatior Dei of Pope Pius XII. Here he endorses not only the independent development of art, but also the new designs in church architecture. For the Protestant Church such “permission” was not necessary. In 1990, art historian Winfried Nerdinger gave this summary of the architecture of the 1950s: “In no other era was there such carefree experimentation with new materials like plastic, Eternit or Plexiglas.” For church buildings, in particular, architects were given freedoms that made even sacred architecture a testing ground for post-war Modernism. This book tries to give a representative overview of the architecture of Berlin in the 1950s – but it is not an architectural guide and nor its author is architecture historian. I set off rather as someone who since early childhood has been accompanied by the buildings of the 1950s and who as a photographer sees in them superb examples of modern construction and fascinating motifs. As I said at the beginning: the 1950s do not enjoy a good reputation. But with respect to architecture at least, this statement is unjust. This book hopes to contribute towards seeing the buildings of this era in a new light – or even discovering them for the first time. Detlef Bluhm February 2020
Detlef Bluhm, im Februar 2020
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Mosaik von Fritz Winter am U-Bahnhof Hansaplatz, 1958  Mosaik von Fritz Winter am U-Bahnhof Hansaplatz, 1958  13
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BAUTEN DER KULTUR CULTURAL BUILDINGS
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1 Bar im Foyer
Bar in the foyer 2 Außenansicht
Exterior view 3 Kasse
Box office
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16 Zoo-Palast Cinema Zoo-Palast
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3
Zoo-Palast Cinema Zoo-Palast 17
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1 Foyer im Obergeschoss
Foyer on the first floor 2 Bar im Obergeschoss
Bar on the first floor 3 Kinosaal
Cinema auditorium 4 Außenansicht
Exterior view
1
2
3
18 Kino International Cinema Kino International
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Kino International  Cinema Kino International  19
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20  Kino International  Cinema Kino International
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5 Foyer im Erdgeschoss
Foyer on the ground floor 6 Kristallleuchter im Obergeschoss
Chandeliers on the first floor
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Kino International  Cinema Kino International  21
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Columbia Theater Columbia Theater 23
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24 Astor Filmlounge Astor Filmlounge
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1 – 2 Foyer Foyer
Astor Filmlounge Astor Filmlounge 25
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26 Konzertsaal der UdK Concert Hall of the University of the Arts
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1 Außenansicht
Exterior view 2 Konzertsaal
Concert hall 3 Foyer im Obergeschoss
Foyer on the first floor 4 Bartresen im Obergeschoss
Bar counter on the first floor
2
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Konzertsaal der UdK Concert Hall of the University of the Arts 27
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5 Messingplastik Concerto von
Hans Uhlmann Brass sculpture Concerto by Hans Uhlmann 6 Wandgemälde von Theodor Werner
Wall painting by Theodor Werner
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28 Konzertsaal der UdK Concert Hall of the University of the Arts
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Konzertsaal der UdK Concert Hall of the University of the Arts 29
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30  Schillertheater  Schillertheater
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