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Christian Simon
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Zwischen Idylle und Metropole
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © berlin edition im be.bra verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2015 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Lektorat: Marijke Topp, Berlin Umschlag: Ansichtssache, Berlin Satz: typegerecht, Berlin Schrift: Documenta 10/13 pt ˇeský Teˇˇsín Druck und Bindung: Finidr, C ISBN 978-3-8148-0210-7 www.bebraverlag.de
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inhalt
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die dörfer in den ersten fünf jahrhunderten Wilmersdorf Schmargendorf Separation
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wilmersdorf in der kaiserzeit Lokomotiven und Lokale Halensee Grunewald Wilmersdorf Schmargendorf
25 39 48 71 94
wilmersdorf in der weimarer republik Mord und Totschlag Das Projekt Groß-Berlin Der Wohnungsbau Das Baugeschehen in Schmargendorf Das Baugeschehen in Wilmersdorf Prominente in Wilmersdorf
102 104 106 107 110 112
wilmersdorf unterm hakenkreuz Die Machtübernahme Erste Verfolgungen Architekturmeile Hohenzollerndamm Die Judenverfolgung Arbeitslager Christen zwischen Anpassung und Widerstand
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Der zivile Widerstand Der milit채rische Widerstand Prominente im NS-Staat Exilanten und Verfolgte Der Zweite Weltkrieg
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nach dem zweiten weltkrieg Kriegsende und Wiederaufbau Die autogerechte Stadt Was wurde aus der Villenkolonie Grunewald? Auf dem diplomatischen Parkett
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anhang Anmerkungen Quellenverzeichnis Abbildungsnachweis
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체ber den autor/dank
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In den letzten Jahren führten mich meine Exkursionen als Stadtführer auch durch Teile von Wilmersdorf und Grunewald. Bei den Vorbereitungen dazu entdeckte ich viele interessante Aspekte, deren weitere Erforschung lohnend war. So entstand die Idee, ein Buch über den Teilbezirk Wilmersdorf zu schreiben. Obwohl ich seit fast einem halben Jahrhundert in Steglitz wohne, bin ich ein gebürtiger Wilmersdorfer. Ich kam 1960 im Albrecht-Achilles-Krankenhaus zur Welt. Die elterliche Wohnung war bis 1966 in Halensee (Carionweg 4). Die Arbeitsstelle meines Vaters (AEG Hohenzollerndamm) und mein Kindergarten befanden sich in Schmargendorf. Sonntags gab es mitunter Ausflüge in den Grunewald. Als Student arbeitete ich in einem Wohnheim in der Rheinbabenallee, also auch in Schmargendorf. Insofern waren die Recherchen zu diesem Buch für mich auch eine Reise in die Vergangenheit. Um dem Leser die Orientierung zu erleichtern, verwende ich – sofern nicht anders angegeben – die heutigen Straßennamen. Unter Wilmersdorf verstehe ich das Gebiet in seinen Grenzen seit dem 1.4.1938. Damals kam es zu einer Änderung der Berliner Bezirksgrenzen. In diesem Zuge ordnete man die Siedlung Eichkamp Charlottenburg zu und große Teile des Grunewaldes fielen an Zehlendorf. Eine Gebietsnase um die Griegstraße und den Wildpfad gehörte früher zu Dahlem und kam nun zu Grunewald. Über Wilmersdorf und seine Ortsteile Grunewald, Halensee und Schmargendorf ist viel publiziert worden. Daher kam es darauf an, neben der bekannten Historie auch neue Aspekte zu untersuchen. Durch eine umfangreiche Korrespondenz – teilweise bis in die Schweiz und nach Österreich – versuchte ich, offen gebliebene Fragen zu klären. Außerdem wurden nicht nur die Adressbücher und zahlreiche Bauakten ausgewertet, sondern auch über 2.000 Erwähnungen von Schmargendorf im Teltower Kreisblatt. Etliche Zitate aus dieser Zeitung spiegeln durch die Wortwahl, die Formulierungen und die Auswahl sowie die
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Präsentation der Themen das Lebensgefühl einer vergangenen Epoche unverfälscht wider. Wilmersdorf zählt zwar nicht zu den touristischen Highlights in Berlin. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – haben sich viele Prominente gerade für Wilmersdorf als Wohnort entschieden. Sie sind aber nicht nur in die Villenkolonie Grunewald gezogen. Der bis 2001 eigenständige Bezirk war schon immer bürgerlich, vielleicht sogar etwas konservativ. Der Typus der selbstgerechten, braun angehauchten »Wilmersdorfer Witwen« (ein Lied aus dem Musical Linie 1) ist zwar absichtlich dramaturgisch überzeichnet. Aber die Figuren stehen durchaus realistisch für den Charakter standesbewusster älterer Berliner Damen, die sich preußischen Tugenden verpflichtet fühlen. Man kann wohl von einer sozialen Schicht der früheren West-Berliner Gesellschaft sprechen, die in Wilmersdorf zu Hause ist und sich dort wohlfühlt. Das sich Nackte im Sommer ungeniert am Halensee räkeln, ist dazu kein Widerspruch. Die kommen meist aus ganz anderen Berliner Kiezen und scheinen sich in ihrer Lebensart in Wilmersdorf genauso wohlzufühlen. Und das ist auch gut so! Christian Simon, im August 2015
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Wilmersdorf und Schmargendorf liegen auf einer von der letzten Eiszeit geprägten Landschaft. Die abfließenden Schmelzwässer hinterließen dabei Einschnitte, die heute als z. T. verlandete Seen und R innen zu erkennen sind. Eine dieser Rinnen war das Große Fenn, auch Schwarzer Graben genannt. Obwohl man den Schöneberger Teil des Grabens 1887 zugeschüttet hat, ist er im Rudolph-Wilde-Park (1908–1910 angelegt) mit dem Ententeich noch zu erkennen. Der Untergrund besteht hier meist aus Moorerde oder Flachmoortorf, Schlick und Sand. Weiter westlich lag der Wilmersdorfer See, der ab 1915 ebenfalls zugeschüttet wurde. Wieder westlich davon ist noch heute der Fennsee zu finden. In einem Teil des Grabens liegt der Volkspark Wilmersdorf. Die Rinne findet weiter westlich ihre Fortsetzung in der Grunewaldseenkette. Östlich der Havel dürfte es während der letzten Vereisung eine Spalte zwischen den Eisströmen gegeben haben. Dorthinein spülten die Schmelzwässer Sande. Vermutlich schob ein vorübergehender Eisvorstoß von der Havel her die Sandhügel noch weiter auf und ließ so die Havelberge mit den höchsten Erhebungen Dachsberg (61 Meter) und Karlsberg (79 Meter) entstehen. Auf dem Karlsberg steht seit 1899 der 55 Meter hohe Grunewaldturm. Mit der allmählichen Erwärmung und Wiederbewaldung (ab ca. 9.600 v. Chr.) verloren auch die Rentiere ihren Lebensraum. Den Teil eines Rentiergeweihs entdeckte man beim Bau der U-Bahnlinie 9 direkt vor dem ehemaligen Bundeshaus in der Bundesallee. Auch die Mammuts starben aus. Einen Backenzahn des elefantenähnlichen Tieres fand man am Bahnhof Grunewald. Neue Techniken bei der Wildjagd kamen auf und auch im Grunewald wurden steinzeitliche Werkzeuge oder Werkzeugteile gefunden. Um 2000 v. Chr. begann in Mitteleuropa die Bronzezeit. Aus dieser Zeit barg man an der Mecklenburgischen Straße 76–84 und in der Umgebung des Flinsberger Platzes Scherben und Werkzeugreste sowie Bronzeschlacke. Vor dem Joachimsthalschen Gymnasium fand man Bronzegegenstände und bei
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Planierungsarbeiten für den Bau der Sigmaringer Straße entdeckte man 1892 bei der Nummer 26 ein Urnengräberfeld. Zahlreiche Scherben, Gefäßreste und Werkzeugteile sind der slawischen Zeit zuzuordnen. Außerdem konnte man 1955 eine Siedlung auf dem Dachsberg nahe Schildhorn aus dem 9. bis 12. Jahrhundert nachweisen. Auf dem aus Steinen zusammengesetzten Herd lagen noch verkohlte Holzreste. Außerdem entdeckte man noch je eine Siedlung am Grunewaldsee und am U-Bahnhof Heidelberger Platz. Ansonsten scheint das Wilmersdorfer Gebiet nur dünn besiedelt gewesen zu sein. Im Zuge der Völkerwanderung hatten fast alle germanischen Semnonen ab dem 3. und 4. Jahrhundert ihre bisherige Heimat an Spree und Havel in Richtung Oberrhein verlassen. In den nur dünn besiedelten Raum rückten im 6./7. Jahrhundert slawische Stämme von Osten her nach. Slawische Aufstände gegen die Ausbreitung der späteren Deutschen, u. a. in der Altmark, ließ der ostfränkische König Heinrich I. 929 niederschlagen. Sein Sohn Otto I. gründete in den eroberten Gebieten die Bistümer Brandenburg und Havelberg. Während des Slawenaufstandes 983 wurden die Bistümer wieder zerstört, die deutsche Expansion kam vorläufig zum Stillstand. Für seine Verdienste bei einem Feldzug gegen Italien 1132/33 erhielt Albrecht der Bär (um 1100–1170) aus dem Hause der Askanier von Kaiser Lothar die Mark Brandenburg als Lehen, die aber zunächst zurückerobert werden musste. Am 11.6.1157 konnte Albrecht der Bär die Burg Brandenburg einnehmen und vertrieb den Slawenfürsten Jaxa (auch Jaczo) von Köpenick. Dieser soll einer Legende zufolge auf der Flucht durch die Havel dem Ertrinken nahe gewesen sein. In seiner Not rief er den Christengott um Hilfe an und erreichte das rettende Ostufer. Er hängte Schild und Horn an einen Baum und bekannte sich zum Christentum. Nach Plänen von Friedrich August Stüler entstand 1845 das Schildhorndenkmal, das 1954 nach der Zerstörung im Krieg neu erstand. Der Name der Halbinsel geht aber vermutlich auf den slawischen Flurnamen »Styte« zurück, der sich von šˇ citž = Schild ableitet, während die Endung »-horn« bei vielen Namen von Ufervorsprüngen an der Havel vorkommt, wie z. B. Kuhhorn, Breitehorn oder Weinmeisterhorn in Spandau. Nachzutragen ist noch, dass Albrecht der Bär am 3.11.1157 Markgraf der Mark Brandenburg wurde. Daher gilt dieses Jahr als Gründungsjahr der Mark Brandenburg, die damit zum römisch-deutschen Reich gehörte.
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Der Grunewaldturm, bis 1948 Wilhelmsturm.
Es macht nur Sinn, Gebiete zu erobern, wenn man sie auch besiedelt, und so ließ Albrecht der Bär umgehend Siedler anwerben. Sie kamen zumeist aus der Altmark, dem Harz, Flandern, Holland und den Rheingebieten. Ein sogenannter Locator verpflichtete sich gegenüber dem Markgrafen, die künftige Dorfflur an die Ansiedler zu vergeben, die er auch anwerben musste. Dafür erhielt er das Schulzenamt (Ortsvorsteher) und ein Zehntel der Gemarkung als abgabefreien Grundbesitz. Die neuen Siedler mussten den Wald roden, Häuser bauen und Äcker kultivieren. Neue Straßen- oder Angerdörfer wurden angelegt, bestehende slawische Siedlungen erweitert und Städte gegründet. Die Stadt Cölln wurde erstmals 1237 urkundlich erwähnt, Berlin 1244. In diese Zeit fallen auch die ersten amtlich belegten Nennungen der umliegenden Dörfer: 1239 Lankwitz, 1242 Buchholz und Zehlendorf, 1247 Lübars und Tempelhof. Um diese Zeit dürften Wilmersdorf und Schmargendorf bereits existiert haben. Wilmersdorf wurde erstmals 12931 in einer Urkunde beiläufig genannt. Die Erwähnung einer Schmargendorfer Kirche 1275 muss sich nicht zwangsläufig auf das Dorf bei Berlin beziehen, denn auch ein Stadtteil
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Das Schildhorndenkmal, 1904.
von Angermünde hieß und heißt so. Aber 1354 ist dann sicher »unser« Schmargendorf gemeint, als der Markgraf Ludwig der Römer dem Berliner Bürger Merkelynus Plate mit einer Urkunde das oberste Gericht, Wagendienst und Abgaben in dem Dorf übertrug. Zeitgleich erhielt er auch in Wilmersdorf einen Hof mit vier Hufen als Lehen. Jeder Bauer erhielt eine Hofstelle als Eigentum, während Weide, Wald und Seen gemeinsamer Besitz waren (Allmende). Nach den Askaniern und den Wittelsbachern kam die Mark Brandenburg unter die Herrschaft der Luxemburger. Aus diesem Haus stammte Kaiser Karl IV., der die Mark 1356 zum Kurfürstentum erhob. Damit wurden aus den Markgrafen Kurfürsten. Den Kurfürsten allein stand das Recht zur Wahl des römisch-deutschen Königs zu. Karls Sohn Sigismund setzte den Burggrafen von Nürnberg aus dem Hause Hohenzollern 1417 als Friedrich I. zum Kurfürsten der Mark Brandenburg ein. Damit begann eine 500-jährige Herrschaft der Hohenzollern in Brandenburg, in Preußen und schließlich im Deutschen Reich, was nicht ohne Auswirkungen auf Wilmersdorf, Schmargendorf und Grunewald bleiben sollte.
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die dörfer in den ersten fünf jahrhunderten Wilmersdorf Das Dorf Wilmersdorf wurde vermutlich um 1200 nördlich eines Sees angelegt. Achse der Ansiedlung war die heute noch bestehende west-östlich verlaufende Wilhelmsaue (Dorfaue), ursprünglich zu beiden Seiten eine Sackgasse. Die Straße von Schöneberg Richtung Grunewald und Lützow (Grunewald-/Badensche Straße, Berliner und Brandenburgische Straße) führte nördlich am Dorf vorbei. Die heutige Mecklenburgische Straße war die Verbindung nach Schmargendorf. Auf der Dorfaue standen steinerne Backöfen, in denen Brot gebacken wurde, denn in den Holzhäusern war die Feuergefahr zu groß. Später kam noch das Spritzenhaus auf der Dorfaue hinzu. Am Ostund Westende des Dorfes standen je zwei Kossätenhöfe, auf denen Familien mit wenig oder gar keinem Land lebten und die sich als Tagelöhner durchschlagen mussten. Die Höfe der Landwirte lagen mit ihren Wohnhäusern beiderseits der Aue, dahinter die Ställe und Scheunen, hinter denen sich die Obstund Gemüsegärten erstreckten. Im Süden reichten die Gehöfte bis an den See, im Norden bis zur Berliner Straße. Daher gab es auf der südlichen Seite der Berliner Straße zunächst keine Häuser, weil hier die Rückseite der Höfe lag. Wie der Ort zu dem Namen des Adelsgeschlechtes derer von Wilmestorff kam, ist unbekannt. Erst seit 1375 sind zwei Brüder der Familie als Inhaber ritterlicher Hufen nachweisbar. Die Linie der Adelsfamilie lässt sich mit dem Ritter Ludolph von Wilmestorff bis 1147 zurückverfolgen. Um 1590 gehörte das halbe Dorf dem Kurfürsten, die andere Hälfte den Brüdern Jürgen und Asmus von Wilmersdorf. Im gesamten Dorf lebten zu der Zeit fünf Vollbauern und fünf Kossäten. Während des Dreißigjährigen Krieges, 1637, kamen Dorf und Gut in den alleinigen Besitz des brandenburgischen Kurfürsten. Diesen Krieg überlebten in Wilmersdorf nur fünf Bauern, sodass es Neuzuzüge u. a. aus Lankwitz und sogar aus Sachsen gab.
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Der Kurfürst ließ seine Wilmersdorfer Besitzung vom Amt Mühlenhof verwalten. Nach häufigen Besitzerwechseln erwarb es 1870 schließlich der Bankier und Grundstücksspekulant Johann Anton Wilhelm Carstenn. Doch so weit sind wir noch nicht. Der um 1600 amtierende Wilmersdorfer Pfarrer Gabriel Engel »[h]at ein Pfarrhaus, einen Garten dabey«, wie einer seiner Nachfolger 1833 schrieb.2 Durch Plünderungen und Verwüstungen während des Dreißigjährigen Krieges, aber auch durch Brände 1735 und 1766 sind viele schriftliche Überlieferungen vernichtet worden. Wir wissen aber, dass der jeweilige Wilmersdorfer Pfarrer auch das Dorf Lützow (später Charlottenburg) seit mindestens 1373 seelsorgerisch zu betreuen hatte. So musste der arme Pfarrer dorthin über den »Priesterweg« laufen, der heute noch in dem Straßenzug Brandenburgische, Konstanzer und Leibnizstraße vorhanden ist. Pfarrer Gottfried Gerlach (Amtszeit 1665– 1713) reichte am 24.9.1708 das Gesuch ein, ihn von den Pflichten in Lützow zu entbinden. Diesem Wunsch wurde zwar entsprochen, doch nun kamen Schmargendorf und Dahlem für genau zwei Jahrhunderte (also bis 1908) als Filialen neu hinzu. Das war auch notwendig, denn von einer Dorf-Pfarrstelle konnte kein Geistlicher leben oder gar eine Familie ernähren. Die Pfarrer wurden pro Amtshandlung bezahlt. So brachte ihm eine Kindstaufe im 18. Jahrhundert zehn Pfennige. Das an den Pfarrer zu entrichtende Getreide-Deputat wurde in Wilmersdorf erst 1833 in einen Geldbetrag umgewandelt. In Wilmersdorf brannte es oft. 1672 ging ein Teil des Dorfes in Flammen auf (Rittergut, fünf Bauernhöfe und Pfarrhof). Alkoholisierte Männer aus Berlin, auf dem Rückweg aus dem Grunewald, lösten den Brand versehentlich oder fahrlässig beim Rauchen aus. Auch Pfarrer Gerlach wurde obdachlos. Er kam vermutlich bei seinen Schwiegereltern in Berlin unter, wo seine Frau und sein Sohn starben. Auch seinem Nachfolger Johann Christian Balde (Amtszeit 1713– 1741) erging es nicht besser. Er notierte im Kirchenbuch: »Den 22ten Maji 1735 ist das Wilmersdorfsche Pfarrhaus bis auf den Grund abgebrannt. Gott bewahre dieses Haus vor dergleichen Unglück jetz und hinführo in Gnaden.«3 Verarmt und verbittert bat Balde um Versetzung und wurde Pfarrer in Krenzlin. Doch die guten Wünsche des Pfarrers für das Wilmersdorfer Pfarrhaus erfüllten sich nicht. 1766 brannte es erneut ab und ein weiteres Mal 1838, während Pfarrer Ritter in der
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Kirche die Osterpredigt hielt. 1742 wurde Samuel Gottlieb Fuhrmann Pfarrer in Wilmersdorf. Doch auch ihm und seiner Gemeinde war wenig Glück beschieden. Während des Siebenjährigen Krieges (1756– 1763) plünderten 1757 Russen und Österreicher die Wilmersdorfer Kirche und russische Truppen im Oktober 1760 die Schmargendorfer Kirchenkasse, die in Dahlem aufbewahrt wurde. Man kann davon ausgehen, dass sich die Soldaten auf den Bauernhöfen das zusammenraubten, was sie tragen konnten. Was sie nicht mitnehmen konnten, wurde in Brand gesteckt oder verwüstet. Aber für Wilmersdorf kam es noch ärger: »Im Jahre 17664 , den 22sten Junius, Nachts 12 Uhr, brach, kurz vor der Ärndte Feuer im Dorfe aus, welches die ganze südliche Seite des Dorfs, am See entlang, alle Gebäude, auch Kirche und Pfarre verzehret, 2 kleine Tagelöhnerhäuser und das Haus des Banquier Friebe ausgenommen«.5
Das Schoeler-Schlösschen Das Haus des Banquiers Friebe (Eigentümer von 1828 bis 1868) steht noch heute an der Wilhelmsaue 126. Das älteste noch bestehende Gebäude in Wilmersdorf geht auf Pfarrer Fuhrmann († 1769) zurück, der sich um 1753 auf einem wüsten Hof ein eingeschossiges Fachwerkhaus errichten ließ. Es umfasste zwei Stuben, vier Kammern, eine Küche und eine Gesindestube. Aus unbekannten Gründen verkaufte er das Haus schon 1758 wieder. Seither hatte es häufig wechselnde Eigentümer des Berliner Großbürgertums. Um 1765/66 erfolgte der Umbau zum Landhaus, es wurde ein Stockwerk aufgesetzt und es entstanden Nebengebäude. Dass das Haus dem Großbrand von 1766 nicht zum Opfer fiel, mag mit ausreichendem Abstand zu den brennenden Nachbargebäuden zu tun gehabt haben. Das Grundstück war ursprünglich wesentlich größer (heute Wilhelmsaue 124–128): Die Durchlegung der Wilhelmsaue zur Blissestraße erfolgte erst viel später durch den großen Garten. Der letzte private Eigentümer war der Geheime Medizinalrat Prof. Dr. Heinrich Schoeler, ein international gesuchter Augenarzt. Als gebürtiger Balte sprach er auch russisch und so konsultierten ihn viele Patienten aus dem Zarenreich. 1893 kauft Schoeler das Anwesen für 575.000 Goldmark. Seither spricht man vom Schoeler-Schlösschen. Ergänzend kamen ein Pferde- und Hühnerstall, zwei Gewächshäu-
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ser und je ein Kegel- und Maschinenhaus hinzu. Schoeler starb am 24.11.1918. Über Zwischenbesitzer gelangten Grundstück und Gebäude 1929 in den Besitz der heutigen GSW. Sie wollte hier dringend benötigten Wohnraum schaffen – das Schlösschen sollte weg. Der Bezirk wollte das Haus und einen kleinen Teil des Parks aber erhalten. Man fand eine Lösung: Der Bezirk erhielt die Immobilie und so bekam die GSW im Tausch andere Grundstücke und durfte das Restgrundstück bebauen. Nach den Entwürfen des Architekten Fritz Buck entstanden 1930/31 rund 300 1 ½ bis 3-Zimmer-Wohnungen in fünfgeschossigen Gebäuden rund um den Schoelerpark. Das alte Haus wurde 1934 von der Hitler-Jugend übernommen und 1935 aufgestockt. Dies führte allerdings zu einer völligen Verschandelung des architektonischen Kleinods. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte eine Kindertagesstätte das Haus bis zu einem Brand 2003. Ab 2006 restaurierte die Stiftung Denkmalschutz Berlin das Objekt und ließ das dritte Geschoss 2009 wieder abtragen. Somit hat der Bau sein barockes Aussehen wieder zurück gewonnen. Die endgültige Entscheidung über die zukünftige Nutzung steht noch aus. Doch zurück zum Beginn des 19. Jahrhunderts. 1806 rückten die Truppen Napoleons auf Wilmersdorf vor. Pfarrer Joachim Friedrich Kutzbach († 1807), seit 1790 im Amt, beherrschte die französische Sprache. Er ging den Soldaten des Korps Davoust entgegen, um das Schlimmste für das Dorf zu verhindern. Das hätte er jedoch besser nicht tun sollen: »Die wilde Horde plünderte nicht nur sein Haus, aus welchem er nichts in Sicherheit gebracht hatte, sondern mißhandelte auch ihn und die Seinigen körperlich, so daß er endlich mit ihnen die Flucht ergreifen mußte. Bey dieser Plünderung der Pfarre wurden alle seine Bücher zerrissen und zerstreut, auch die Pfarracten gingen verloren …«6 Lediglich fünf Kirchenbücher blieben erhalten. Der 87-jährige Andreas Thöns starb am Weihnachtstag 1806 an seinen Misshandlungen. Im November 1813 quartierten sich 13 italienische und ein französischer Offizier im Pfarrhaus ein und ließen sich dort von Pfarrer Ritter verköstigen, der seit 37 Jahren im Amt war. Die Freiheitskriege, mit denen die napoleonische Vorherrschaft beendet wurde, kosteten sieben Wilmersdorfern, zwei Schmargendorfern und einem Dahlemer das Leben. Der bauliche Zustand der Pfarrgehöfte – meist ausgemauertes Fachwerk – muss noch im 19. Jahrhundert sehr mangelhaft gewesen sein,
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Ehemalige Wilmersdorfer Dorfkirche von 1772 und altes Pfarrgehöft (1838 abgebrannt), Gemälde, um 1834.
wenn man den Klagen der Dorfgeistlichen Glauben schenkt. Nach dem Neubau 1772 waren sie schon 13 Jahre später »wieder so sehr schadhaft, daß sie einer neuen Reparatur bedürfen«.7 1812 beklagte sich der Pfarrer über die Baufälligkeit von Scheune und Stall; sinkende Decken mussten durch Balken gestützt werden. Am 21.2.1849 schrieb Pfarrer Schulz dann an das Ministerium für geistliche Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten: »Da das Wohnhaus sich nach einer Seite gesenkt hat, so schließen die Thüren nicht mehr, ein Noth-Balken durch Stube und Kammer gezogen ist wurmstichig und lebensgefährlich. … Die Bodendichtung ist durch eindringenden Regen verfault …«8 Pfarrer Michaelis klagte am 28.5.1858 über »unbeschreiblich große Kälte in meinem Arbeitszimmer«9 und Pfarrer Eger ließ die Königliche Regierung am 5.10.1866 wissen: »Der auf dem Hof befindliche Brunnen liefert schon seit Jahr und Tag nicht mehr das geringste Wasser. Letzteres muß von den Nachbargehöften mühsam herbeigetragen werden …«10 Es war damals wirklich kein Pläsier, Dorfpfarrer zu sein.
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Um 1800 gab es in Wilmersdorf neben dem Amtsvorwerk sieben Bauern und zwei Kossäten. Daneben lebten hier noch sieben Büdner und 36 Einlieger, die wohl auf den Höfen beschäftigt waren. Die Schulpflicht wurde in Preußen zwar 1717 eingeführt, aber bis zu ihrer Um- und Durchsetzung war es ein langer Weg. Es gab kaum Schulgebäude auf dem Land und nur wenig qualifizierte Lehrer. Hinzu kam der Widerstand in der bäuerlichen Bevölkerung, die ihre Kinder als Hilfskräfte bei der Arbeit brauchte. Noch ein Jahrhundert später hatte sich das nicht geändert. Pfarrer Ritter berichtete 1812 aus Wilmersdorf: »… bis zu Ende Mai besuchten die Kinder die Schule noch ziemlich regelmäßig, so bald aber gelinde Witterung eintrat, Feld- und Gartenbau begannen, finden sie sich … immer sparsamer ein und endlich hat es mit dem Schulunterricht ganz ein Ende.«11 Außerdem kostete der Schulbesuch Geld und dem Lehrer musste man Naturalien liefern. Anfangs wurde der Unterricht meist von Küstern übernommen, da diese lesen und schreiben konnten. Daher unterstand das Schulwesen zunächst den Kirchen. Auf Beschluss des Preußischen Landtages wurde das Schulwesen 1872 unter staatliche Aufsicht gestellt. In Wilmersdorf war bereits 1751 ein Andreas Grunow als Küster und Lehrer tätig. Ein Lehrer brauchte einen zweiten Beruf, da er seine Familie mit dem knappen Gehalt nicht ernähren konnte. Beschwerden da rüber bügelte das preußisch-sparsame Ministerium mit der Bemerkung ab, »daß Sie bei Ihren geringen Leistungen Ursache haben zufrieden zu sein«.12 Auch die räumlichen Arbeitsbedingungen waren eine Zumutung. In einer zeitgenössischen Beschreibung vom 26.10.1810 heißt es: »Das Schulzimmer ist zugleich Wohnstube, Kochstube und Schlafstube. Durch den Raum, den ein paar Bettstellen, eine Wiege, der Küchentisch und das Hausgeräth einnahmen, war die Stube so verengt, daß kaum 15–20 Kinder darin Platz haben konnten. Die Frau des Schulmeisters lag krank im Bette, und es gab für die Kranke im ganzen Hause keine andere Stätte, als die in der Schulstube.«13 1812 wurde der Schule ein mangelhaft ausgeführter Anbau für ca. 60 Kinder angefügt. Erst 1864 entstand an der Wilhelmsaue 23 ein neues Schulhaus, ein zweites Schulhaus kam 1875 rückwärtig (Berliner Straße 136) dazu. Um 1850 war die alte Dorfstraße nach Westen um vier Gehöfte verlängert worden. Auch an der Nordseite der Berliner und an der Bran-
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denburgischen Straße entstanden kleine Kolonisten- und Arbeiterhäuser. Hier wohnten Handwerker oder Hirten, die die Hütung der großen Kuh- und Schafherden übernahmen. Um 1850 gab es in Wilmersdorf rund 1.000 Schafe. Nach Aufhebung des Mühlenzwangs war ca. 1714 eine Windmühle gebaut worden. Sie stand bis 1898 in der Paretzer Straße gegenüber dem 1930 eröffneten St.-Gertrauden-Krankenhaus.
Schmargendorf Die alte Dorflage erstreckte sich entlang der Breiten Straße. Der ehemalige Dorfanger ist nur noch als Mittelstreifen erkennbar. Der Untergrund besteht aus Geschiebelehm, Geschiebemergel (Ton, Schluff, Sand, Kies, Steine, Findlinge) und ist teilweise von Sand überlagert. Südlich des Dorfes, zur Dahlemer Gemarkungsgrenze hin, steigt das Gelände an. Noch heute gibt es vom Platz am Wilden Eber bis zur Breiten Straße einen Höhenunterschied von rund acht Metern, der auf dem Friedhof und den dortigen Straßen augenfällig wird. Schmargendorf (ursprünglich Marggrevendorp) befand sich 1354 noch im Besitz des Markgrafen Ludwig, es war also »des Markgrafen Dorf«. Daraus entstand umgangssprachlich »’s Markgrafendorf«, was sich auch in den schriftlichen Quellen niederschlug: 1515 Smarggrapfendorff, 1540 Smarckendorff und seit 1775 Schmargendorf. Der Familie derer von Wilmersdorf gehörten bereits 1375 Teile des Dorfes. Nach vielen Eigentümerwechseln kam es 161014 ganz in ihren Besitz. Der Gerichtsrat und Diplomat Hans von Wilmersdorf, der am 5.11.1635 auf dem Amt Mühlenhof starb, wurde nach einer Trauerfeier in der Berliner Nikolaikirche am 10.12.1635 in der Dorfkirche beigesetzt. 1936 entdeckte man zufällig das vergessene Familiengrab. Sein Sohn Georg Friedrich starb 1638 im Alter von acht Jahren und seine Frau Eva 1644. Goldene Eheringe mit entsprechender Gravur bewiesen, dass es sich hier um die sterblichen Überreste der Adelsfamilie handelte. Sie liegen heute wieder in Eichensärgen unter dem Mittelgang der Kirche im Lehmboden. Die Ringe gingen 1945 verloren.15 Die Familie von Wilmersdorf starb also innerhalb von nur neun Jahren während des Dreißigjährigen Krieges, der überall große Verheerungen anrichtete. Einzelheiten über die Morde und Schäden sind
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Alt-Schmargendorf nach einem alten Plan.
nicht bekannt. Aber nach dem Bericht des kurfürstlichen Landreiters Michael Klinitz von 1652 hatte nur der Bauer und Schulze Liborius Pahne (damals 49 Jahre alt) den Krieg in Schmargendorf überstanden. Drei Familien siedelten nach Steglitz und Teltow über, drei weitere zogen aus Wilmersdorf (Hanß Schroeder), dem Oberbarnim (Georg Riechenow) und sogar aus der Steiermark (Leonhardt Drechßeler) zu. Aber noch 1707 lagen von vier Kossätenstellen zwei wüst. 1680 verlegte Cuno Johann von Willmerstorff den Familiensitz von Schmargendorf nach Dahlem. Noch heute hängt sein Wappen an der Hoffassade des Herrensitzes, den wir als Domäne Dahlem kennen. Am 16.7.1799 verkaufte Leopold Heinrich von Wilmersdorf16 das Dorf mit gut 70 Einwohnern für 60.000 Reichstaler an den Landrat Graf Friedrich Heinrich von Podewils. Der besaß auch Dahlem und hatte nun große Pläne: Die zwei Bauern und drei Kossäten in Dahlem sollten 1803 nach Schmargendorf umgesiedelt werden. Die betroffenen Landwirte waren wohl einverstanden, denn sie bekamen im Nachbardorf nagelneue Häuser und Gartenland geschenkt und mussten dem Gutsherrn weniger Dienste leisten. Die Schmargendorfer Bauern
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Dorfkirche mit Schule und Kaiser-Wilhelm-Denkmal, das 1896 hier aufgestellt wurde.
mussten auch nichts abgeben, denn das Ackerland für die Zuzügler re krutierte sich aus dem Land eines unbesetzten Hofes, den gutsherrlichen Ritterhufen und dem Pfarrland. Alle dürften zufrieden gewesen sein. So wurde aus Dahlem ein reines Gutsdorf und aus Schmargendorf ein reines Bauerndorf. Kaum war die Umsiedlung abgeschlossen, starb von Podewils 58-jährig am 28.5.1804. Beide Dörfer erwarb nun der Kabinettsrat Carl Friedrich von Beyme für 80.000 Reichstaler. Er hatte schon 1801 das angrenzende Steglitz gekauft und sich dort ein neues Gutshaus errichten lassen. Als er 1838 starb, verkaufte seine Tochter den Besitz am 20.6.1841 für 220.000 Taler an den Domänenfiskus, der den Bauern ihre Höfe zu freiem Eigentum überließ. In Schmargendorf mühte sich um 1800 der Lehrer Gropp († 1847), die Kinder zu unterrichten. Das Schulhaus muss eine unvorstellbare Bruchbude gewesen sein: Das strohgedeckte Gebäude aus Lehm bestand aus einem Raum, der gleichzeitig Klassenzimmer und Wohnraum war. Um 1840/50 gab es in diesem Hause einen so starken Rattenbefall, dass die Nager während des Unterrichts am Boden und an
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den Wänden entlangliefen und die Vorräte des Lehrers vertilgten. Erweiterungen der Schule aus den Jahren 1853 und 1870 erwiesen sich schon bei ihrer Fertigstellung als zu klein. Der Lehrer Braune musste mit seinen über 100 Schülern zeitweilig in die benachbarte Dorfkirche umziehen. Nach Beseitigung des Altbaus konnte im November 1885 an gleicher Stelle endlich ein Neubau mit zwei Stockwerken eröffnet werden. Inzwischen gab es 140 Schüler, sodass 1886 ein zweiter Lehrer eingestellt werden musste. Als die Zahl der Schüler 1889 auf 223 gestiegen war, setzte man ein weiteres Stockwerk auf den Neubau und engagierte einen dritten Lehrer. 1897 kam eine Baracke mit zwei Klassenräumen hinzu. Abhilfe schuf erst das am 15.4.1901 eingeweihte Schulhaus in der Friedrichshaller Straße 13 mit zwölf Klassenräumen (heute Judith-Kerr-Grundschule). Die alte Schule diente noch lange als Armenhaus und dann bis in die 1950er-Jahre als Obdachlosenasyl. Zu der Zeit waren die Toiletten noch immer auf dem Hof. Eine seelisch kranke Frau stand oft »am Fenster ihres Zimmers und hielt temperamentvolle Ansprachen an die Toten auf dem angrenzenden Friedhof«.17
Separation An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert waren die Dörfer von ländlicher Romantik weit entfernt. Die Bauern mussten dem adligen Grundherrn Abgaben liefern und waren zu Dienstleistungen verpflichtet. Das bedeutete in der Praxis, dass zuerst der Acker des Gutsherrn bearbeitet bzw. seine Ernte eingebracht werden musste. Wenn dann noch Zeit blieb und das eigene Getreide noch nicht verfault war, konnte man sich um den eigenen Hof kümmern. Aber auch hier war man nicht frei: Alle Landwirte besaßen nur schmale Feldstreifen in einer sogenannten Gemengelage. Da es zwischen den Streifen keine Wege gab, konnte die Feldarbeit nur gemeinsam ausgeführt werden (Flurzwang). Entsprechend der damals üblichen Dreifelderwirtschaft (Sommergetreide, Wintergetreide, Brache) gab es für alle Bauern meist drei große Felder und zusätzlich gemeinsames Weideland. Hinzu kamen Abgaben an den Prediger, den Küster/Lehrer, die Hirten, den Nachtwächter, an die Feuerkassen und auch die Instandhaltung der Pfarr-, Schul- und Hirtengebäude kostete Geld. Im Laufe der Jahrhunderte war es zudem zu einem völligen Durcheinander von
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Rechten und Besitzverhältnissen gekommen. Nach der Niederlage gegen Napoleon 1806 war deutlich geworden, dass das gesellschaftspolitische System Frankreichs (Französische Revolution) dem System Preußens offenbar weit überlegen war. Auch in Preußen sollten nun aus Untertanen Bürger werden. Die Reformen mussten von oben kommen, bevor das Volk revoltierte. Freiherr vom Stein wurde 1807 vom König beauftragt, die Bauernbefreiung, die Städteordnung und die Verwaltungsreform umzusetzen. Freiherr von Hardenberg führte die Reformen fort. 1810 wurde die Erbuntertänigkeit der Bauern beendet, 1811 wurden dann die Dreifelderwirtschaft und damit der Flurzwang abgeschafft. Durch die Separationsverhandlungen von 1839 bis etwa 1856 löste man die Streifenparzellen zugunsten zusammenhängender Ackerflächen auf. Der Schmargendorfer Bauer Balz erhielt z. B. Land an der Grenze zu Lietzow und Dahlem, zuvor hatte sein Besitz aus 43 Teilen bestanden. Dass man dem Grundherrn nun keine Abgaben und Dienste mehr leisten musste, war freilich nicht umsonst. Die Bauern mussten sich durch einmalige hohe Geldsummen freikaufen oder dem Gutsherrn Land abtreten. In Schmargendorf ging ein Drittel der Ländereien an das Rittergut, für lebendes und bewegliches Inventar mussten pro Hof je 563 Taler gezahlt werden. Zum Vergleich: Um 1850 betrugen die Wochenkosten eines Fünf-Personen-Haushaltes 3½ Taler.18 Viele kleine Bauern verschuldeten sich hoch oder hatten nun so wenig Ackerfläche, dass sie die Landwirtschaft aufgeben mussten. Viele verarmte Landwirte gingen in die Städte, um dort nach Arbeit zu suchen. Das war die Basis für die Industrialisierung, die eine ausreichende Zahl von Arbeitskräften voraussetzte. Die Bauern, die die Reformen ökonomisch überstanden hatten, waren nun frei in ihren betriebswirtschaftlichen Entscheidungen. Hof und Land wurden in Wilmersdorf 1844 Eigentum der Landwirte, das sie vererben oder verkaufen konnten. Manche Bauern wurden später vermögend, als ihre Felder begehrtes Bauland wurden. Dies sollte für Wilmersdorf und Schmargendorf noch von immenser Bedeutung sein. Geschäftstüchtig waren die Bauern offensichtlich. So klagte Superintendent Mühlmann im November 1864 über Wilmersdorf: »Die Gemeinde gehört zu den verkommensten meiner Diöcese. Alles ist aufs Materielle gerichtet. Verdienen, und verdienen heißt die Losung des Tages. Fürs Geistige und höhere keinen Sinn.«19
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Lokomotiven und Lokale Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war es beschwerlich, von Schmargendorf oder Wilmersdorf nach Berlin zu kommen. Nicht jeder hatte Pferde oder ein Fuhrwerk zur Verfügung. Die meisten mussten einen mehrstündigen Fußmarsch auf sich nehmen. Am 15.11.1877 wurde der westliche Teil der Ringbahn eröffnet. (Der östliche Teilring Moabit – Schöneberg war bereits 1871 in Betrieb genommen worden.) Die Strecke verlief etwa zwischen Wilmersdorf und Schmargendorf von Nordwest nach Südost und kreuzte den Verbindungsweg zwischen beiden Dörfern, der seit 1888 Mecklenburgische Straße heißt. Doch auch, wenn man nun eine Bahntrasse in der Nähe hatte, lagen die beiden neuen Bahnhöfe noch weit entfernt. Etwas südlich vom heutigen S-Bahnhof Halensee lag der Bahnhof Grunewald. Mit dem Ausbau des Kurfürstendamms wurde diese Station geschlossen und am 20.5.1884 etwas weiter nördlich als Bahnhof Halensee neu eröffnet. Für die 1871 gegründete Villenkolonie Friedenau eröffnete am 22.12.1877 auf einem Bahndamm der Bahnhof Wilmersdorf-Friedenau. Leicht versetzt entstand 1892 ein neuer Bahnhof gleichen Namens. 1993 erhielt die Station den Namen »Bundesplatz« und wurde abermals um gut 100 Meter nach Westen verschoben, um eine günstige Umsteigemöglichkeit zur U-Bahnlinie 9 zu schaffen. Erst am 15.12.1883 eröffnete der Bahnhof Schmargendorf in Höhe der Mecklenburgischen Straße (seit 1993 Heidelberger Platz). Nun konnten Wilmersdorfer und Schmargendorfer den Bahnhof in wenigen Minuten erreichen. Über eine Spitzkehre in Schöneberg fuhren die Ringbahnzüge bis zum Bahnhof Potsdamer Platz. So war man schnell in der Berliner Innenstadt. Bald erreichten auch die ersten Straßenbahnlinien das südwestliche Umland Berlins. Mit dem Ausbau des Kurfürstendamms zischte, fauchte und stampfte seit dem 5.5.1886 eine Dampfstraßenbahn vom
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Bahnhof Halensee, Blick vom Henriettenplatz, Ecke Seesener Straße (links).
Zoologischen Garten über den neuen Boulevard nach Halensee. Sie war von der Kurfürstendamm-Gesellschaft gebaut und zuerst von der Firma Davy, Donath & Co. betrieben worden. Damit war für viele Berliner der Grunewald schnell erreichbar geworden. Die Linie wurde am 10.9.1887 nach Schmargendorf bis kurz vor das Schützenhaus an der Hundekehle-, Ecke Ruhlaer Straße verlängert. Am 18.5.1888 nahm die Wilmersdorf-Schmargendorfer Dampfstraßenbahn (Reymer & Masch) den Betrieb auf. Sie fuhr von der Schöneberger Zwölf-Apostel-Kirche über Goltz-, Grunewald- und Berliner Straße nach Wilmersdorf, durch die Wilhelmsaue und die Mecklenburgische Straße nach Schmargendorf (Breite Straße). Dennoch gab es Anlass zur Kritik: Die Fahrgäste bemängelten die Unpünktlichkeit der Züge und dass diese bei viel Schnee stecken blieben, sie mäkelten über die schmutzigen Wagen und die Haltestellen ohne Witterungsschutz. Schließlich beschwerten sie sich über zu häufige Entgleisungen wegen des unzureichenden Unterbaus usw. Die Strecken wurden ab 1888/89 vom Berliner DampfstraßenbahnConsortium betrieben und verlängert. Nachdem die Westliche Berliner
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Bahnhof Wilmersdorf-Friedenau mit Blick auf den Varziner Platz.
Vorortbahn das Consortium am 1.10.1898 übernommen hatte, stellte man bis 1901 sämtliche Dampf- und Pferdestraßenbahnlinien nach und nach auf den elektrischen Betrieb um.
Ausflugslokale In der Zeit der Errichtung des Schildhorn-Denkmals 1845 bauten sich Holzfäller dort an der Havel Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Daraus entstand um 1870 das Wirtshaus Schildhorn, das damit zu den ältesten Berliner Ausflugslokalen gehört. Die Häuser der Straße am Schildhorn 2 und 3 stammen aus der Zeit um 1868,20 die beiden Saalbauten (Nr. 4a, 4b) von 1894 und 1881. Da die Gebäude äußerlich fast unverändert geblieben sind, stehen sie seit 1985 unter Denkmalschutz. Bis 1900 entstanden hier zwei weitere Ausflugslokale: Das Lokal Schröder (Nr. 1), hernach Bruno, dessen Tanzsaal später abbrannte. Daneben entstand im Laufe der Jahre ein Yachthafen. Das Lokal von Hans Ritzhaupt (Nr. 5) wurde 1965 abgerissen. Die Industriegewerkschaft Bau Steine Erde (BSE) – heute Bauen Agrar Umwelt (BAU) – ließ auf
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Rechts der Eingang zum Lunapark mit der großen Treppenanlage, unten der Halensee, oben der Kronprinzendamm.
dem Gelände ein Ferienheim für Bauarbeiter errichten, das im Februar 1967 eröffnet wurde. Im Laufe der Jahre wurde es in das Drei-SterneHaus Seehotel Grunewald umgewandelt.21 Am Halensee entwickelte sich aus einer Baubude von 1874 das Etablissement Wildbad, das aber wohl nur kurze Zeit existierte. Von 1879 datieren neue Pläne für ein »Project zu einem Restaurationsgebäude am Halen-See«.22 1880 wurde das Wirtshaus am Kurfürstendamm 123–125 eröffnet und ein Jahr später kamen Pferdeställe, Wagen-Remise, Kutscher-Wohnung und etwas abseits eine Latrinen-Anlage hinzu. Den in der Literatur mitunter genannten Betriebsbeginn 1882 bestätigen die damaligen Bauunterlagen nicht. Baden konnte man auch; es gab »Umkleidezellen« und abgezäunte Bereiche für Schwimmer und Nichtschwimmer. Mit der Eröffnung der Dampfstraßenbahn über den Kurfürstendamm 1886 nahm das Lokal einen ungeheuren Aufschwung. Es wurde ein großer Rummelplatz samt Wasserrutschbahn eingerichtet und um 1890 erheblich erweitert. Schließlich erwartete man zusätzlich Gäste aus der gerade gegründeten Villenkolonie Grunewald.
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Das Wellenbad im Lunapark.
Die Berliner kamen mit der Dampfstraßen- und der Ringbahn (Halensee) in solchen Scharen, dass 1890 gleich neben dem Wirtshaus am Halensee noch zwei weitere große Ausflugslokale entstanden: Der Kurfürstenpark (Kurfürstendamm 119/120) und der Kaiser-WilhelmGarten (Nr. 121/122). Das Teltower Kreisblatt meldete am 30.4.1891 auf Seite 2: »Der Weg vor den drei großen Etablissements wird, um künftighin den lästigen Staub zu vermeiden, mit Wiener Pflaster versehen werden. Im Kurfürstenpark werden wöchentlich mehrmals große Konzerte bei freiem Entree stattfinden, auch soll daselbst mit Beginn warmer Witterung ein Sommertheater eröffnet werden.« Der Gastronom Aschinger zog die Sache noch größer auf: Am Pfingstsonntag, dem 22.5.1904, eröffnete er die Terrassen am Halensee. Die Anlage wurde 1909 nach der damals populären Operette Frau Luna (Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft) in Lunapark umbenannt. Das Areal lässt sich durch die Straßen Trabener Straße–Kronprinzendamm–Bornimer Straße eingrenzen. Der Zugang erfolgte über ein monumentales Eingangsportal am Kurfürstendamm 12 4a. Die
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Einrichtung avancierte zum damals größten Vergnügungspark Europas. Attraktionen waren eine Wasserrutschbahn, eine Gebirgsbahn und ein Bayern-Dorf. Das Wellenbad, im Volksmund als »Nuttenaquarium« diskreditiert, lag an der Bornimer Straße 11–15. Restaurants boten 16.000 Gästen Platz und für Unterhaltung sorgten Feuerwerke, Ausstellungen, Theater, Revuen, Musik, Kabarett, Tanzturniere und Boxkämpfe. Hier gewann Max Schmeling am 24.8.1926 die Deutsche Meisterschaft im Halbschwergewicht gegen Max Dieckman durch K.o. in der ersten Runde. Der Niedergang des Lunaparks begann schon während des Ersten Weltkrieges, als auf dem Gelände ein Lazarett eingerichtet wurde. Die wirtschaftlich schwierige Lage und die Hyperinflation in der Nachkriegszeit sorgten für drastische Einbrüche bei den Besucherzahlen. Ein versuchter Neustart 1929 misslang. Der Park war nicht mehr rentabel. Er wurde im Oktober 1933 endgültig geschlossen und 1935 abgerissen. Über sein Gelände führte man die Halenseestraße. Die meisten weinten der inzwischen heruntergekommenen Anlage keine Träne nach und die Grunewalder Villenbewohner atmeten auf, fühlten sie sich doch allzu oft durch den Lärm, der aus dem Park kam, in ihrer Ruhe gestört. Und was wurde aus den drei großen Ausflugslokalen an der Kurfürstendammbrücke? Das Wirtshaus am Halensee mit dem großen Gartenlokal hatte Aschinger gekauft. Er ließ auf dem Gelände 1903/04 drei hochherrschaftliche Mietshäuser errichten, von denen nur das Haus Kurfürstendamm 123, Ecke Bornimer Straße erhalten ist. Den Kurfürstenpark und den Kaiser-Wilhelm-Garten nutzte man später bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg als Kino. Auf dem Gelände des Kurfürstenparks steht seit 1993 das von dem New Yorker Stararchitekten Helmut Jahn entworfene Büro- und Geschäftshaus.
Gaststätten in Wilmersdorf In Wilmersdorf gab es schon den Herzsprungschen Dorfkrug an der Wilhelmsaue 112/113, der von alters her das Vorrecht (Gerechtsame) der Herberge besaß. Das zweite Lokal, seit mindestens 1856 von Carl Meyer betrieben, hieß Zum Goldenen Lamm und stand an der Wilhelmsaue 109, Ecke Blissestraße 12–14. Das kleine eingeschossige Haus mit Dachgeschoss musste etwa 1911 einem großen Mietshaus der Architekten J. Liskow und F. Korte weichen.
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