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HAR ALD NECKELMANN

AB DURCH DIE MITTE! Ein Führer durch Berlins historische Stadtviertel

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © berlin edition im be.bra verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2017 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Lektorat: Marijke Topp, Berlin Umschlag: hawemannundmosch, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von Fotolia/Pixelshop Satzbild: Friedrich, Berlin Schrift: Minion Pro 9/11 pt Druck und Bindung: Westermann Druck, Zwickau ISBN 978-3-8148-0216-9

www.bebraverlag.de

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Inhalt

Einleitung................................................................................................................. 7 Das historische Berlin und seine drei Mauern................................................ 14 Alt-Berlin und Alt-Cölln....................................................................................... 18 Neukölln am Wasser............................................................................................ 48 Friedrichswerder.................................................................................................. 60 Dorotheenstadt.................................................................................................... 74 Friedrichstadt........................................................................................................ 86 Spandauer Vorstadt........................................................................................... 102 Friedrich-Wilhelm-Stadt.................................................................................... 122 Äußere Spandauer Vorstadt............................................................................. 136 Königsstadt und Stralauer Vorstadt............................................................... 156 Luisenstadt.......................................................................................................... 166

Über den Autor....................................................................................................174 Abbildungsnachweis..........................................................................................174

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Drei 6 Spitzen: Nikolaikirche, Rotes Rathaus, Fernsehturm.

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Einleitung Der Fernsehturm steht im Landeanflug auf Tegel zentral, mitten in Mitte, er­ richtet nahe dem Ort, wo vor 780 Jahren aus zwei Siedlungen Berlin entstand. Rund um den Mühlendamm, auf dem Petriplatz, an der Schleuse und Fischer­ insel, im Nikolaiviertel und Lustgarten und weiter die Linden hinunter, Fried­ richstraße, Gendarmenmarkt fragt der Bürger oder Besucher nach der ur­ sprünglichen Stadt. Dabei trifft er nur noch sporadisch auf mittelalterliche Spuren. Wer sich aber Zeit nimmt, findet hier noch verschwunschene Orte, vergessen und übersehen. Überwältigend war das Interesse an den Ausgrabung­ en am Petriplatz, am Schlossplatz und vor dem Roten Rathaus. Die Idee eines archäologischen Besucherzentrums entstand. Berlin hat wie jede Weltstadt viele Zentren. Seinen Anfang jedoch nimmt es an nur einem Ort. Alt-Berlin liegt genau in der Mitte. Berlin, Cölln, Friedrichs­ werder, Dorotheenstadt und Friedrichstadt wurden 1710 zur Königlichen Haupt- und Residenzstadt zusammengefasst. Eine Gemeinde mit 4 100 Häu­ sern und 56 000 Bewohnern bildete sich, dazu gehörten rund 5 000 Mann der Berliner Garnison. In der Stadt gab es 13 Kirchen, ein Kloster und vier Spitäler mit Kapellen. Heute trägt ein ganzer Bezirk den Namen »Mitte«. Dieses Buch zeigt, was an Baudenkmälern noch sichtbar im heutigen Stadt­ bild vorhanden ist, angefangen vom Mittelalter bis zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Es spürt dem einstigen historischen Stadtkern und seiner Entwicklung nach. Berlin und seine Schwesterstadt Cölln waren im Mittelalter und in der frü­ hen Neuzeit von einer gewissen regionalen Bedeutung. Mit Brandenburg/Ha­ vel oder Magdeburg aber war Berlin in seinem städtebaulichen Grundriss wie in seinen prägenden Bauten nicht zu vergleichen. Es gab wohl einige Steinhäu­ ser an der heutigen Rathausstraße. Meist aber lebten die Menschen in Fach­ werkbauten, die spätestens im 17. Jahrhundert aus ästhetischen Gründen und wegen des Feuerschutzes verputzt wurden. Bis in die 1880er-Jahre hinein war die Altstadt Berlins von mittelalterlicher Enge geprägt, mit Häusern, die im Wesentlichen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert errichtet worden waren oder in diesen Jahrzehnten eine neue Fassade erhalten hatten. Schon zwanzig Jahre später sieht man auf Fotografien fast nur noch Gebäude in Neurenaissan­ ce- und Neubarockformen, große Geschäftshäuser, Verwaltungs- und Büro­ bauten. Ein spät einsetzendes enormes Wachstum lässt eine im Mittelalter eher durchschnittliche Residenzstadt zur drittgrößten Stadt der Welt werden. Ein repräsentatives Zentrum musste her, das sich mit dem anderer europäischer Reiche messen konnte. Schon die Stadtväter des 19. Jahrhunderts fanden die Innenstadt schäbig und wollten alles neu. Um 1900 gab es fast keine barocken Häuser mehr, das Bürgertum hatte als Hauseigentümer und -nutzer seine eigene Altstadt fast völ­

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Das Rote Rathaus: Mauerreste eines Vorläuferbaus werden Teil einer U-Bahnstation. lig aufgegeben. In den 1920er- und 1930er-Jahren ging es nicht mehr nur um die verkehrsgerechte Modernisierung der Altstadt, sondern um eine radikale City-Bildung der »neuen Weltstadt«. Städtebaulich wurden in der Weimarer Republik die Weichen für den Abriss der Altstadt gestellt, nach 1945 wurde Tabula rasa gemacht. Die Altstadt ersetzte nun das Zentrum der »Stadt von morgen«, das nach der Gründung der DDR die Gestalt eines neuen Zentrums annahm. Es existiert kein einziger profaner bürgerlicher Bau aus dem Mittel­ alter mehr, der an die vormoderne Stadt erinnert. Keine andere europäische Stadt hat sich in den vergangenen 200 Jahren derart oft radikal gehäutet. In Berlin gibt es eine Manie zu zerstören, aufzubauen, wieder zu zerstören. Und zu vergessen. Schuld daran ist aber nicht der Staat, Preußen, das Reich, die SED, auch nicht der Krieg, sondern Berlins eigene Bürger. Wer vom Spittelmarkt über die Gertraudenstraße Richtung Rotes Rathaus geht, durchquert heute einen autogerecht ausgebauten Stadtteil, von Hochhäu­ sern flankiert. Das seitlich liegende Nikolaiviertel wurde in freier Form neo­ mittelalterlich rekonstruiert. Mit den Relikten seiner Vergangenheit hat Berlin meist kurzen Prozess gemacht. Seit dem Beginn der Industrialisierung wies die Berlin-Cöllner Altstadt kein geschlossenes Stadtbild mehr auf. Bauten der mit­ telalterlichen Händlerstadt, der neuzeitlichen Residenz und des sich im Kaiser­ reich herausbildenden kommunalen Verwaltungsviertels trafen hier aufein­ ander. So haben vor allem nicht der Zweite Weltkrieg und die Vision einer

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Das Nikolaiviertel mit dem historisierenden Restaurant »Zum Nussbaum«. »sozialistischen Hauptstadt« Berlins Altstadt ruiniert. Vielmehr begann schon um das Jahr 1910 die massive Unzufriedenheit der damaligen Stadtväter mit dem Kern Berlins. In mehreren Schüben wurden bis in die frühen 1940er-Jah­ re hinein Visionen über den Abriss der alten Häuser entwickelt. Die Zeit der Weimarer Republik stand im Zeichen städtebaulicher Utopien, die totalitären Erneuerungsprojekte des Nationalsozialismus blieben glücklicherweise unvoll­ ständig. Die DDR schuf sich dann im Herzen Berlins ein repräsentatives Staats­ forum. Abgerissen wurde stets, was der Entwicklung der Stadt tatsächlich oder ver­ meintlich im Wege stand. In der Stadt gibt es weit weniger Reste aus der Ver­ gangenheit als in anderen deutschen Städten – selbst als in Orten, die im Krieg ähnlich stark verwüstet wurden. Mittelalter und Berlin? Wer Besuch empfängt, kennt die peinliche Frage: »Hat Berlin eigentlich ein historisches Zentrum?« Von den knapp 1500 Gebäuden im Jahr 1840 steht heute noch ein Dutzend. Zwei Drittel der fehlenden Gebäude wurden zu Friedenszeiten abgerissen. Da­ mals litt man darunter, dass das Gewirr von Straßen und Gassen im Rücken des Schlosses den Ansprüchen einer expandierenden Metropole nicht mehr genügte. Abriss und Neubau, Parzellenzusammenlegungen, Großbauten von Verwaltung und Kommerz waren die Folge. Gerade mit der Wiederherstellung des Stadtschlosses wird vielleicht die Ab­ wesenheit der Altstadt bemerkt. Es wird eine Wiederbebauung des Marx-En­

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Vorübergehender Blick in den Westen: Das Marx-Engels-Denkmal wich dem U-Bahnbau. gels-Forums zwischen Spandauer Straße und der Spree diskutiert. Mit der Re­ konstruktion des historischen Zentrums würde Berlin die Wiederkehr der Bürgerstadt mit ihrer mittelalterlichen Identität zur Vollendung des barocken und klassizistischen Spreeathen beisteuern. Auf der anderen Spreeseite, wo sich der zweite Teil der Doppelstadt befindet, zeigt sich der Petriplatz als trister Ort, an dem der Autoverkehr rauscht. In Cölln dürfte es wohl noch etwas früher eine Siedlung gegeben haben. Neu ge­ baute Wohn- und Geschäftshäuser sollen um den Platz einen »attraktiven öf­ fentlichen Raum« bilden. Zuvor legten Archäologen die Fundamente der Pet­ rikirche und einen darum liegenden Friedhof mit über 3 700 Skeletten frei. Die ältesten dieser Gräber waren schon beim Bau einer spätromanischen Kirche offenbar in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zerstört worden. Zur Brei­ ten Straße hin lag das Cöllnische Rathaus. Man riss es 1899 ab, um für ein Lu­ xuskaufhaus Platz zu schaffen. Vielleicht wird durch die Rekonstruktion des Molkenmarktes und eine Neubildung des Klosterviertels wieder eine Planung des Marienviertels in Angriff genommen. Eine breite Schneise wurde auch hier in den 1960er-Jahren durch das historische Zentrum geschlagen – im Zeichen der autogerechten Stadt. Ziel ist, den Platz vor dem Stadthaus zum Altstadt­ quartier zu machen und nach historischem Vorbild kleinteilig zu bebauen. Die Berliner Altstadt um den Molkenmarkt war ein Ort der kleinen Leute, Hand­ werker und Gewerbetreibenden, mit zwei- oder dreistöckigen Häusern und

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Visualisierung des zukünftigen Humboldtforums (Berliner Stadtschloss). verwinkelten Höfen. Es geht um kritische Rekonstruktion und die Interpreta­ tion der Geschichte durch die Moderne. Eine Besonderheit des Viertels war der im Mittelalter entstandene Große Jüdenhof. Er soll wieder aufgebaut werden, genauso wie der Französische Hof und ein neues Gymnasium zum Alten Klos­ ter. Zwischen der St. Marienkirche und dem Roten Rathaus breitet sich eine na­ menlose Brache aus. Das Areal wird gewöhnlich dem Alexanderplatz zuge­ schlagen, schon weil hier der Fernsehturm steht. In Wirklichkeit trägt der Platz aber gar keinen Namen. Der gotische Kirchenbau steht auf groteske Weise ein­ sam, schräg, weil mittelalterlich geostet, nicht mehr im Zentrum. Beim Verlas­ sen der Kirche erwartet man dichtes Markttreiben und lebensfrohe Straßen – sie muss eigentlich umbaut sein. Mitten in der ehemaligen Altstadt, die aus etwa 140 Grundstücken bestand, erhebt sich heute der Fernsehturm. Die um den Platz stehenden Bauten liegen am Rand, bilden einen Stadtrand, nicht eine Stadtmitte. Unter dem großen Platz am Roten Rathaus ist ein Drittel von Alt-Berlin, der größte Teil des Marienviertels verschwunden. Spät, Anfang der 1970er Jahre, liquidierten die DDR-Planer der Staatsachse Straßen und Gasse. Ein Repräsentationsbau von der Statur des Roten Rathauses benötigt ein Vor­ feld, aber hier herrscht ringsum gähnende Leere.

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12 Schleuse am MĂźhlendamm.

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Das historische Berlin und seine drei Mauern

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Das Brandenburger Tor von 1735 bis 1788, Darstellung von Daniel Chodowiecki (1764). Die Doppelstadt Berlin-Cölln war im Mittelalter von einer Stadtmauer umge­ ben. Sie entstand um 1250 und ergänzte die Wälle, Palisadenzäune und Grä­ ben, mit denen sich die beiden Städte zunächst schützten. Um die zwei Meter hohe Stadtmauer aus Feldsteinen wurden im 15. Jahrhundert zwei Gräben mit einem Wall dazwischen angelegt. Nach 1650 begann ihr Abriss und die Stadtmauer wurde durch eine Festung mit sechs Toren und 13 Bastionen ersetzt. Die Festung umfasste mit den Stadt­ teilen Alt-Berlin, Alt-Cölln, Neukölln am Wasser und Friedrichswerder ein er­ weitertes Stadtgebiet außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer. Der Plan zum Festungsbau entstand unter dem unmittelbaren Eindruck des Dreißigjäh­ rigen Krieges (1618–1648). Auf der Berliner Seite gingen die Arbeiten zwischen 1658 und 1662 zügig voran, auf der Cöllner Seite dauerten sie wegen des sump­ figen Untergrunds am Werder bis 1683 an. Im Jahr 1689 begann der Abbruch der mittelalterlichen Stadtmauer. Ihre vier Tore (Spandauer, Stralauer, Köpeni­ cker und Neues Thor) wurden vor die Wallanlage verlegt und behielten auch neu errichtet ihren Namen. Auch die beiden anderen Tore wurden neu gebaut, in diesem Zuge wurde aus dem Oderberger das Georgenthor und aus dem Ger­ trauden- das Leipziger Thor. Bereits bei Baubeginn war die Festung allerdings militärisch überholt, sie wurde ab 1734 geschleift. Um 1740 fing man an, die aufgeschütteten Wälle einzuebnen. Ihre Beseitigung dauerte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.

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Das Brandenburger Tor heute, von 1789 bis 1793 von Carl Gotthard Langhans errichtet. Das rasant wachsende Berlin machte den Bau einer Zoll- und Akzisemauer mit 18 Toren notwendig, die von 1734 bis 1736 entstand. Die neue Mauer sollte auch die Desertion von Soldaten der Berliner Garnison verhindern. Sie bestand zunächst überwiegend aus Holzpalisaden, erst um 1800 war sie vollständig ge­ mauert. Die Zollmauer umfasste anfangs nicht nur Berlin und seine Vorstädte, sondern vor allem im Osten und Süden auch noch große unbebaute und land­ wirtschaftlich genutzte Flächen. Vor allem ab Mitte des 19. Jahrhunderts ent­ standen außerhalb der Akzisemauer neue Vorstädte. An den Zufahrtsstraßen zu Berlin wurden teilweise weit vor den Stadttoren Zollhäuser errichtet. Von 1865 bis 1869 fand deshalb der Abriss der Akzisemauer und fast aller ihrer Tore statt. Nur das Brandenburger Tor steht noch.

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Eine Handschwengelpumpe mit Tränkstein für durstige »Viecher« im Nikolaiviertel.

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Reste der um 1250 errichteten Stadtmauer, die Berlin-Cölln umgab, in der Littenstraße. Die Berliner Ursprungsstadt Alt-Berlin liegt zwischen der Spree und der Stadtbahn. Für die Bahntrasse wurde der ehemalige Festungsgraben in den 1880er-Jahren zugeschüttet. Sie zeigt die mittelalterliche Stadtgrenze an, denn im 17. Jahrhundert entstand die Festung vor der Stadtmauer. Im Spätmittelalter wuchs Alt-Berlin mit der benachbarten Stadt Cölln auf dem Südufer der Spree, verbunden durch den Mühlendamm, zu einer Doppelstadt zusammen. Der Mühlendamm lag an einem Fernhandelsweg zwischen dem Teltow (von Halle und Wittenberg her) und dem Barnim (Richtung Oderberg und Stettin). An dieser schmalen und flachen Stelle kreuzte der Weg die Spree. Ende des 12. Jahrhunderts entstand der neue Übergang über den Fluss neben den bishe­ rigen in Spandau und Köpenick. Die zunächst gebaute Brücke wurde zu einem Damm verfüllt. So konnte das Wasser zum Antrieb von Mühlen gestaut wer­ den. Diese neue Furt führte zur Gründung der Orte Berlin und Cölln. Aus Berlin-Cölln, dem Kern der historischen Stadtmitte, entwickelte sich das heutige Berlin. Einen Ortsteil oder ein bestimmtes Stadtgebiet mit dem of­ fiziellen Namen Alt-Berlin gab es nicht. Sein Stadtbild ist nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und dem Wiederaufbau der Innenstadt als Hauptstadt der DDR fast völlig verschwunden. Zwei breite Verkehrsachsen (Karl-Lieb­ knecht-Straße und Grunerstraße) durchschneiden das Stadtgebiet. Das mittel­ alterliche Berlin sollte aber schon seit den 1880er-Jahren für den Verkehr er­ schlossen werden.

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Eine Gedenktafel an der Berliner Stadtmauer. Zunächst schützten sich die Städte Berlin und Cölln nach außen durch einen Wall und einen Graben. Um 1250, stellenweise erst nach 1270, kam eine Stadtmauer an Stelle eines Palisadenzauns hinzu. Alt-Berlin nahm innerhalb der Stadtmauer zunächst die Straßenzüge um die Nikolaikirche als erste Sied­ lung und ein paar Jahrzehnte später auch das Gebiet um die Marienkirche als erste mittelalterliche Stadterweiterung ein. Es existieren vier historische Stadt­ viertel: das Nikolaiviertel mit der wiederaufgebauten Nikolaikirche (ab 1230), das noch am besten erhaltene Klosterviertel mit dem Molkenmarkt und der Ruine der Klosterkirche (ab 1260), das Marienviertel mit der Marienkirche (ab 1270) und das Heilig-Geist-Viertel mit der Kapelle des Heilig-Geist-Hospitals (ab 1270). Das heutige Nikolaiviertel wurde erst in den 1980er-Jahren wieder aufgebaut (siehe weiter unten). Nikolaus, nach dem das Viertel benannt wurde, ist der Schutzheilige der Kaufleute. Cölln lag auf einer Spreeinsel. Das angerartige Stadtzentrum mit Fisch­ markt, Rathaus und Petrikirche rahmten die Gertrauden- und Scharrenstraße ein. Die Kirche, im Zweiten Weltkrieg beschädigt, wurde 1964 abgetragen, das Rathaus bereits 1899 abgerissen. Namensgebend war vermutlich das rheinische Köln, woher die ersten Siedler, meist Kaufleute, stammten. Sie bildeten in Cölln die wichtigste Bevölkerungsgruppe, besaßen Häuser in der Breiten Straße. Am Spreeufer legten sie ihre Schiffe an. Der dort älteste archäologische Beleg, ein Kellerholzbalken, hat ein Dendrodatum von »um 1170«. Im Süden der Spree­

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Die Gertraudenstraße als wichtige Magistrale verbindet den Spittelmarkt mit der Spreeinsel. insel lag der Fischerkiez. In einem der ältesten Berliner Viertel wohnten Fi­ scher- und Schifferfamilien. Von der City-Bildung weitgehend unberührt und im Krieg kaum zerstört, wurde das Viertel auf der Fischerinsel mit 30 Bau­ denkmalen trotzdem zwischen 1965 und 1972 abgerissen. Heute stehen dort Wohnhochhäuser. Die Stadt Cölln wurde 1237 erstmals urkundlich notiert, 1244 folgte die Er­ wähnung Berlins. Beide Städte bekamen 1307 einen Magistrat und nach zwei Jahren ein Rathaus auf der Langen Brücke (die heutige Rathausbrücke). 1432 schlossen sie sich zu einer gemeinsamen Stadt zusammen. Zehn Jahre später (1442) wurde die gemeinsame Stadtverwaltung durch Kurfürst Friedrich II. wieder aufgehoben. Cölln wurde gezwungen, dem Kurfürsten einen Platz für die Errichtung einer Burg abzutreten. Aus ihr entstand das Berliner Stadt­ schloss, das seit Ende des 15. Jahrhunderts den Kurfürsten von Brandenburg als Residenz diente. Es bestand fast fünf Jahrhunderte, auch als Residenz der preußischen Könige und der deutschen Kaiser, bevor es 1950 kriegszerstört ge­ sprengt wurde. Im Norden des Schlossplatzes entstand auf der Spreeinsel im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Museumsinsel. Die vornehme Breite Straße, an der inzwischen hohe Hofbeamte in Palais wohnten, vermittelte zwischen der Bürgerstadt und dem Schlossbereich. Aus den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges wurde unter Kurfürst Friedrich Wilhelm von 1658 bis 1683 ein mächtiges, die Doppelstadt Ber­

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Die Friedrichsgracht: Der Eingang zum Pfarrhaus St. Petri; Hochhäuser auf der Fischerinsel. lin-Cölln umschließendes Befestigungswerk errichtet. Johann Gregor Mem­ hardt leitete den Bau, der weitgehend entlang der mittelalterlichen Stadtmauer verlief. Er umschloss die Stadt wie ein gezackter, von einem Wassergraben um­ gebener Ring und wurde abgetragen. Durch ihn führten sechs Brückentore ins Umland. Aber auch die Fortifikation zeigte sich schon wenige Jahrzehnte spä­ ter, bedingt durch den enormen Bevölkerungszuwachs und die damit notwen­ digen Stadterweiterungen, hinderlich für die weitere Entwicklung. König Friedrich I. vereinigte die fünf Städte Berlin, Cölln, Friedrichswerder, Doro­ theenstadt und Friedrichstadt 1709 zur königlichen Haupt- und Residenzstadt Berlin. Die Festungsmauern wurden ab 1734 geschleift. Die Bastionen hatten ausgedient, die Kriegstechnik sich gewandelt und Berlin konnte mit seinen Vorstädten zusammenwachsen. Sie erhielten nur eine Palisadenumwehrung, die nicht mehr dem militärischen Schutz diente, sondern die Desertion von Soldaten verhindern sollte. An den Toren wurden Verbrauchssteuer (Akzise) und Zoll erhoben. Ab 1789 ließ König Friedrich Wilhelm II. die Palisaden durch eine die Stadt und sämtliche Vorstädte umfassende Mauer ersetzen. Der Abriss auch dieser Anlagen begann ab den 1860er-Jahren. An deren Verlauf erinnern heute noch die Namen von Straßen und Plätzen, vor allem nach ehe­ maligen Stadttoren. Bei der Bildung von Groß-Berlin 1920 wurden Alt-Berlin und Alt-Cölln in den neugebildeten Bezirk Mitte eingegliedert. Die Einheitsgemeinde unter der

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Das Restaurant »Zum Paddenwirt« im Nikolaiviertel. zentralen Leitung eines Magistrats enthielt 20 Bezirke (bis dahin existierten 94 Ortsteile: acht Städte, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke). Nach schwe­ ren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wurden Alt-Berlin und Alt-Cölln völ­ lig umgestaltet. Das Gebiet erhielt unter weitgehender Aufgabe des histori­ schen Stadtgrundrisses und nach dem Abriss der verbliebenen Bausubstanz (Stadtschloss) in den 1960er- und 1970er-Jahren ein völlig neues Aussehen. Neben Wohn- und Geschäftshäusern wurde der Berliner Fernsehturm und der Palast der Republik errichtet, in den 1980er-Jahren das Nikolaiviertel. Außer dem Roten Rathaus und der St. Marienkirche erinnert im zentralen Bereich Alt-Berlins nichts mehr daran, dass hier der historische Stadtkern lag. In den Randbereichen sind nur einzelne historische Gebäude, wie die Hei­ lig-Geist-Kapelle, die Ruine der Franziskanerklosterkirche und die barocke Parochialkirche erhalten. Ein Rest der alten Stadtmauer steht noch in der Lit­ tenstraße. Der historische Ortsteil Cölln ist heute nicht mehr erkennbar. Nur noch einige wenige Wohn- und Geschäftshäuser in der Scharren- und Brüder­ straße blieben erhalten. Auch der Name Cölln wird allgemein nicht mehr ver­ wendet. Das Nikolaiviertel ist eine Art Freilichtmuseum des zerstörten Alt-Berlins. In der Mitte des kleinen, von zahlreichen Cafés und Restaurants durchzogenen Quartiers steht die Nikolaikirche. Vor allem Handwerker wohnten und arbei­ teten in den engen, winkligen Gassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das

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Vor der Nikolaikirche steht die Skulptur von Klio, der Muse der Geschichtsschreibung. Viertel zerstört. Die Überreste wurden beseitigt, auch einige weniger zerstörte Gebäude abgerissen. Zur 750-Jahr-Feier Berlins im Jahr 1987 aber zeigte sich die Stadtverwaltung interessiert an der Historie. Auf der Brache sollte ein attraktives und touristisch interessantes Stadtviertel entstehen. Das älteste Wohngebiet Berlins wurde von 1981 bis 1987 unter der Leitung von Günter Stahn nach mittelalterlichen Stadtstrukturen mit maßstäblich angepassten Neubauten wiedererrichtet. Zahlreiche historische Häuser aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, die hier überhaupt nicht standen, wurden rekonstruiert: das Ephraim-Palais, die Gerichtslaube oder der Gasthof Zum Nussbaum, 1507 er­ baut, der an das Original in der Fischergasse 21 im Fischerkiez erinnert. Am Nikolaikirchplatz steht das Wohnhaus von Gotthold Ephraim Lessing aus dem 17. Jahrhundert. Es wurden moderne, drei- bis fünfgeschossige Häuser, teils mit historisierenden Fassaden, teils in angepasster industrieller Plattenbauwei­ se mit Giebeln, Ornamenten und schmiedeeisernem Zierrat, mit 780 Wohnun­ gen, 33 Geschäften und 22 Gaststätten errichtet. Die Straßen und Gassen des Viertels folgen den überlieferten Grundrissen. An historischer Bausubstanz blieben neben der stark zerstörten Nikolaikirche nur das Knoblauchhaus sowie fünf Wohn- und Geschäftshäuser in der Poststraße erhalten. Nikolaikirchplatz. Die Nikolaikirche ist in ihrem Ursprung so alt wie Ber­ lin. Von einer romanischen Feldsteinbasilika (um 1230) blieb ein dreigeschos­ siger Turmunterbau aus Granitquadern erhalten, das älteste Gebäude der Stadt.

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Das Knoblauchhaus im Nikolaiviertel (li.), das Ephraim-Palais (re.). Um 1300 ersetzte eine dreischiffige frühgotische Hallenkirche das Langhaus. Die heutige spätgotische Kirche aus Backstein mit Umgangschor und Kapellen­ kranz stammt aus der Zeit von um 1380 bis um 1470. Die Liebfrauenkapelle an der Südwestecke wurde angefügt. Vom Ende des 15. Jahrhunderts stammt die Chornordkapelle für Sakristei und Bibliothek. Bis ins späte 19. Jahrhundert enthielt die Nikolaikirche eine unsymmetrische Einturmfassade. Hermann Blankenstein schuf von 1876 bis 1878 den neogotischen Backsteinaufsatz mit der Doppelturmfassade. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Kirche bis auf die Grundmauern zerstört. Der Turmstumpf und die Umfassungsmauern standen einige Jahrzehnte nahezu allein auf einer abgeräumten Freifläche. 1982 wurde der Wiederaufbau der Nikolaikirche begonnen. Sie zeigt heute eine Aus­ stellung über ihre Geschichte und lädt zu Konzerten. Die Kirche im Rücken führt der Weg links die Poststraße entlang. An der linken Seite steht das Knoblauchhaus, Poststraße 23. Das Bürgerhaus stammt von 1761. Bauherr des Wohn- und Geschäftshauses war der Nadlermeister Johann Christian Knoblauch. Ursprünglich im Rokokostil errichtet, zeigt sich das Haus nach Umbau und Renovierung 1806 und 1835 frühklassizistisch. Knoblauch wohnte hier und produzierte Nähnadeln, Strick- und Schuster­ nadeln, aber auch Siebe und Fenstergitter. Er stellte vor allem für das Militär Haken, Ösen und Ketten her. Später fertigte seine Familie Seidenbänder. An­ ders als die meisten Gebäude im Nikolaiviertel überstand das Knoblauchhaus

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Molkenmarkt 3, das Adelspalais ist heute Sitz des Deutsch-Französischen Jugendwerks. den Zweiten Weltkrieg. Die rekonstruierten Wohnräume zeigen heute das Le­ ben der Bürgerfamilie. Am Ende der Straße sehen wir rechts das Ephraim-Palais, Poststraße 16. Das Bürgerhaus im Rokoko-Stil baute von 1762 bis 1766 Friedrich Wilhelm Diterichs, indem er ein Gebäude aus dem 17. Jahrhundert mit einbezog. Der Architekt entwarf auch die Bethlehemskirche oder das Prinzessinnenpalais. Der Eckbau entstand für den Münzpächter König Friedrich II., Veitel Heine Ephraim. Der König befahl ihm, bei der Herstellung der Silbermünzen zu schummeln, weshalb die Bürger spotteten: »Außen Silber, innen Zinn/außen Friedrich, innen Ephraim«. Diese minderwertigen Münzen wurden Ephraimi­ ten genannt. Der Münzpächter verdiente auch als Hofjuwelier, Bankier und Händler ein Vermögen. Um zu repräsentieren, kaufte er das Stadthaus und ließ es umbauen. Ephraim arbeitete aber auch im Palais, im Hof befand sich eine Silberscheideanstalt. Das Erdgeschoss mit seinen Läden hatte er vermietet. Das Palais wurde 1935/36 abgetragen, um den Mühlendamm zu verbreitern. Die Zier- und Bauelemente wurden eingelagert. Erst von 1985 bis 1987 wurde mit ihnen das Gebäude um zwölf Meter versetzt wieder aufgebaut. Im Ephraim-­ Palais zeigt das Stadtmuseum heute Wechselausstellungen. Wer auf die andere Seite des Mühlendamms schaut, erblickt ein Adelspalais. Wir laufen bis zur Fußgängerampel und überqueren nach rechts die Kreu­ zung. Molkenmarkt 3. Das barocke Adelspalais ist vermutlich 1704 errichtet

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Waisenstraße: Haus Nr. 2, Reste der Stadtmauer, Gemälde von Hans Baluschek, 1927. worden. 1698 kaufte es der preußische Staatsminister Otto von Schwerin und ließ es durch Jean de Bodt umbauen. Der Architekt vollendete auch das Zeug­ haus und begann den Turmbau der Parochialkirche. Nachdem der Graf starb, diente das Palais ab 1765 als königliche Tabakadministration. 1794 zog das Kri­ minalgericht und später für fast hundert Jahre ein Gefängnis ein. 1937/38 wur­ de das Palais bis auf die Fassade für die Erweiterung der Reichsmünze abgebro­ chen. Zusammen mit einem Neubau nebenan wurde das Palais überformt und um zwei Seitenbauten im Barockstil erweitert. Im Innenhof befand sich die eigentliche Fabrikationsstätte. Seit 2006 produziert die Staatliche Münze in Berlin-Reinickendorf. Heute ist das Palais Schwerin Sitz des Deutsch-Franzö­ sischen Jugendwerks. Wir laufen die Stralauer Straße entlang und gehen die dritte Straße nach links. Waisenstraße 2. Das Mietshaus wurde durch Umbauten stark verändert. Aber es ist das einzige Gebäude an der Innenseite der ehemaligen Stadtmauer, von dem die historische Bausubstanz noch teilweise erhalten ist. Es geht die Waisenstraße hinunter, der Blick bleibt auf der rechten Seite. Waisenstraße, Reste der Stadtmauer. Ihre Innenseite wurde von »Weichhäu­ sern«, die Ende des 17. Jahrhunderts dort standen, als hintere Wand genutzt (s. Waisenstraße 14–16). Kostenbewusste Bauherren sparten sich ein Funda­ ment und lehnten ihre neuen Heime einfach an den starken Wall aus groben Feld- und Backsteinen. Die noch bestehenden Mauerreste wurden so vor einem

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Die Gaststätte »Zur letzten Instanz« erstreckt sich über drei Häuser. Abbruch bewahrt. Sie traten nach dem Abriss der im Zweiten Weltkrieg zer­ störten Häuser wieder hervor und wurden 1948 rekonstruiert. Mit der Mauer, die als neue Befestigung seit etwa 1247 die Doppelstadt Berlin-Cölln umgab, wurde der Palisadenzaun ersetzt. Sie verlief entlang der Waisenstraße, weiter parallel zur Stadtbahntrasse bis zur Anna-Louisa-Karsch-Straße (früher Burgstraße). Von der Fischerinsel ging es über die Friedrichsgracht bis zur Schleusenbrücke. Eine Lücke stellte die von der Spree markierte Grenze dar. Die Stadtmauer bestand im unteren Bereich aus Feldsteinen und war etwa ei­ nen bis anderthalb Meter breit. Ab 1300 wurde sie mit Ziegeln auf drei bis fünf Meter erhöht. Im 15. Jahrhundert kam noch ein siebeneinhalb bis zehn Meter breiter Erdwall zwischen zwei etwa 15 Meter breiten Gräben hinzu. Stets mehr vernachlässigt, wurde die Stadtmauer im 17. Jahrhundert größtenteils beseitigt und durch eine Festungsanlage ersetzt. Zugleich wurde vor der Mauer der Doppelgraben auf der Berliner Seite zugeschüttet. Nördlich des Stralauer Tores an der heutigen Kreuzung von Stralauer Straße und Littenstraße blieb die Stadtmauer erhalten. Zwischen ihr und den neuen Festungswällen wurde eine Straße angelegt, die parallel zur Waisenstraße verlaufende Littenstraße (früher Neue Friedrichstraße). Sie entstand weitgehend, nachdem der Wall um 1746 abgetragen wurde. Die Littenstraße umschloss Alt-Berlin mit dem parallel da­ hinter fließenden ehemaligen Festungsgraben. In einem Bogen führte sie von der nicht mehr vorhandenen Waisenbrücke bis zur heutigen Friedrichsbrücke.

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Die Gaststätte »Zur letzten Instanz« mit Außenbereich an einem rekonstruierten Stück Stadtmauer. Hinter den Resten der Stadtmauer tauchen Wohnhäuser auf. Waisenstraße 14–16, Wohnhäuser, vor 1700, Umbau vor 1750, verändert wiederhergestellt von 1961 bis 1963, Gaststätte »Zur letzten Instanz«. Die drei klassizistischen Häuser erinnern an die ehemals geschlossene Bebauung mit dreigeschossigen schlichten Traufenhäusern. Sie waren ohne eine große Grundstückstiefe oder einen Hof direkt an die Stadtmauer gebaut. Die Vorgängerbauten waren im Kern offenbar noch spätmittelalterlich, stammten aber überwiegend vom Ende des 17. Jahrhunderts. Die Fassaden wurden vermutlich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erneuert. Nach dem Wiederaufbau wurde eine Altberliner Gaststätte in den drei untereinander verbundenen Häusern eingerichtet. Dabei gingen die mittelalterliche Substanz sowie die historische Raumaufteilung ver­ loren. Zum ersten Mal wird das Gebäude 1561 urkundlich erwähnt. Damals hieß die Waisenstraße noch Bullenwinkel. In der hintersten Ecke der Altstadt wurden die Tiere zusammengetrieben, um sie besser schlachten zu können. 1621 gründete ein ausgedienter Reitknecht des damaligen Kurfürsten eine Branntweinstube. Das daraus hervorgegangene Restaurant änderte mehrfach seinen Namen. »Zur letzten Instanz« heißt es seit 1924 nach dem Bau des Ge­ richtsgebäudes in der rücklings verlaufenden Littenstraße. Der Abschnitt der Stadtmauer hinter dem Restaurant ist nur nachempfunden. Auf der anderen Straßenseite treffen wir auf die Waisenstraße 28. Der Ba­ rockbau wurde bereits 1708 errichtet und diente als Gemeindehaus und seit

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Das frühere Gemeinde- und Armenhaus der Parochialkirche. 1769 als Hospital (Armenhaus) der Parochialkirche. Etwa 30 Arme erhielten hier freien Wohnraum. Auf unserem Weg haben wir linkerhand bereits die Parochialkirche pas­ siert. Es geht zurück in die Parochialstraße und von dort zur Klosterstraße 66/67. Die Parochialkirche, erbaut von 1695 bis 1705, gehört zur Evangelischen Kirchengemeinde Marien. Der Barockbau wurde von Martin Grünberg nach Plänen von Johann Arnold Nering errichtet. Er wählte als Zentralform ein Quadrat, das an den Seiten vier halbrunde Apsiden aufweist. Als Nering noch 1695 starb, vereinfachte Grünberg nach einem Gewölbeeinsturz den Plan und errichtete einen Vorbau, auf den 1713/14 ein obeliskartiger, hoher Turm nach einem Entwurf Jean de Bodts aufgesetzt wurde. König Friedrich I. schenkte der Parochialkirche ein Glockenspiel mit 37 Glocken. Die Melodien waren sehr variabel und erklangen stündlich. Am Ende jedes Spiels brüllten die Löwen, die den Turm schmückten. Die von den Berlinern sogenannte »Singuhr« war bald in ganz Europa bekannt. Im Krieg brannte der Turm aus und stürzte in das Kirchenschiff. Heute dient die Kirche neben Gottesdiensten zu besonderen An­ lässen vor allem Kunstaktionen. Die Turmspitze und das Glockenspiel wurden durch Spenden seit 2015 wieder aufgebaut. Besonders und selten ist die größte deutsche Gruft im Keller der Parochial­ kirche. Zwischen 1703 und 1878 wurden in den 30 Gewölben 560 Personen bei­ gesetzt. Die Belüftung über Fenster und Öffnungen zwischen den Kammern

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Parochialkirche mit erneuertem Turmaufsatz und der größten deutschen Gruft. sorgte dafür, dass die meisten Körper nicht verwesten. Heute ruhen unter der Kirche noch etwa 90 Mumien. Die Mitglieder der reformierten Gemeinde ka­ men meist als Glaubensflüchtlinge nach Berlin. Schnell stiegen sie zu Amtsträ­ gern am Königshof auf: Vom Hofbäcker bis zum Wirklich Geheimen Rat liegt hier alles, was dem Regenten diente. Jahrelang war es relativ einfach, in die dunklen Räume hinabzusteigen. Leichenfledderer suchten Schmuck und an­ dere Grabbeigaben, Medizinstudenten rissen 25 Toten den Schädel ab. Einige zeigten Reue, setzten aber bei der Rückgabe den Kopf auf die falschen Schul­ tern. Die Gemeinde hat Anfang der 1970er-Jahre alle Mumien in einer Grab­ kammer gestapelt und die Gruft zugemauert. In den 1990er-Jahren gab es Plä­ ne, die Gruft zugunsten einer Weinstube bzw. von Toiletten und Garderoben zu räumen. Danach begannen Wissenschaftler in Spezialanzug und Gum­ mihandschuhen, die rund 120 Särge zu untersuchen. Die 31 noch geschlosse­ nen Kisten waren tabu. In einigen bereits geöffneten lagen inzwischen bis zu sieben Körper beisammen. Nur 52 Mumien konnten noch als mehr oder min­ der komplett gelten. Unter einem Sargdeckel lag eine Katze, die irgendwann ihre letzte Zuflucht bei einem 1715 verstorbenen Münzkommissar nahm, auch sie mumifiziert. Dem Publikum ist die Gruft nur selten zugänglich. Vor der keimhaltigen, gesundheitsgefährdenden Raumluft wird vor Betreten gewarnt. Wo sind aber die restlichen Särge geblieben? Die hohe Belegungszahl erklärt sich durch die Praxis der Kirche, trotz Ewigkeitsklausel Kammern und ein­

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