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5 Fabriken der Arbeiter
Fabriken der Arbeiter
Volkseigene Betriebe, 1948–1990
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Ab 1948 enteignete die DDR alle Unternehmen auf ihrem Territorium und machte „Volkseigene Betriebe“ (VEB) aus ihnen. Trotz des wohlklingenden Namens gehörten sie aber nicht den Arbeitern, denn in der Praxis hielt der Staat die Zügel in der Hand.
Nach der Wiedervereinigung 1990 wurden fast alle VEB privatisiert. Hundertjährige Unternehmen, in denen die Zeit für Jahrzehnte stehen geblieben war, wurden plötzlich den Regeln des freien Marktes ausgesetzt. Es war ein hartes Erwachen. Ein VEB nach dem anderen ging pleite. Das zurückgelassene Industrieerbe wurde bestenfalls umfunktioniert, im schlimmsten Fall abgerissen oder jahrelang vernachlässigt.18
Die denkmalgeschützten Reste einer der Auktionshallen sind der Blickfang des Blankensteinparks.
Gemauerte Rinderställe. Die Fronten wurden inzwischen saniert, die dahinter liegenden Gebäude abgerissen.
Schlachthof mit Perspektive
Der Zentralvieh- und Schlachthof an der Storkower Straße ist ein Musterbeispiel einer umfunktionierten VEB-Ruine. Seit dem 16. Jahrhundert wurden hier Schweine, Kühe und Schafe geschlachtet. Das blieb auch zu DDR-Zeiten so. Jedes Kotelett oder Rumpsteak, das in Ost-Berlin gebraten wurde, kam von diesem Schlachthof mit rund 3.000 Mitarbeitern.19
Kurz nach der Privatisierung, knapp ein Jahr nach der Wiedervereinigung, war die Geschichte vom Schlachthof beendet. Er stand mehrere Jahre leer, bis die Stadt Berlin große Pläne dafür entwickelte: Das Vorhaben war, im Jahr 2000 die Olympischen Sommerspiele zu organisieren, damit man der Welt das neue, vereinte Deutschland zeigen konnte. Der Schlachthof sollte das Mediendorf beherbergen. Allerdings setzte sich das australische Sydney mit seiner Bewerbung durch und Berlin ging leer aus. So wurde auf Plan B zurückgegriffen: Das Gelände sollte neu erschlossen werden. Das Gerippe des ehemaligen Viehmarktdaches bedeckt jetzt eine Rasenfläche. In den ehemaligen Kuhställen sind Supermärkte und kleine und mittelgroße Unternehmen untergebracht.
Zentralvieh- und Schlachthof
■ Adresse: Eldenaer Straße ■ Haltestelle: Storkowe Straße (S8, S41, S42 und S85) ■ GPS: 52.52383289°, 13.46455514°
Bierflaschen für Belgien
Auf der Stralauer Landzunge zwischen Spree und Rummelsburger See befand sich ein weiteres Stück Industriekultur, das der Kaufmann Edmund Nathan 1889 bauen ließ: die Stralauer Glasfabrik, von der nur noch Ruinen stehen.
Das Glaswerk Stralau spuckte Weinflaschen für das Rhein-, Saar- und Moselgebiet, Sherryflaschen für Spanien und Portugal, grüne Bordeauxflaschen für Frankreich und Bierflaschen für belgische Brauereien aus. Auch die nahe gelegene Brauerei Engelhardt war ein fester Kunde.20
Das gut gefüllte Kundenportfolio konnte jedoch nicht verhindern, dass es nach der Privatisierung mit dem Glaswerk bergab ging. 1997 fiel der Vorhang und heute steht der Komplex aus Backsteinbauten unter Denkmalschutz und wartet auf eine Wiederverwendung.
Neben dem Glaswerk sieht man die Konturen des „Flaschenturms“, eines Restes der ehemaligen Brauerei Engelhardt, die täglich 300.000 Flaschen Bier abfüllte. Ein Projektentwickler hat diese Ruine zu Wohnungen und Lofts umgebaut.
Glaswerk Stralau
■ Adresse: Glasbläserallee ■ Haltestelle: Ostkreuz (S3, S5, S7,
S8, S9, S41, S42, S75 und S85) ■ GPS: 52.497813°, 13.4683480°
Links die Ruinen des Glaswerks Stralau, rechts der Flaschenturm. Beide Gebäude sind inzwischen saniert worden.
Schornstein der Eisfabrik.
Hundert Jahre Abkühlung
Seit mehr als einem Vierteljahrhundert sehnt sich die Eismanufaktur in der Köpenicker Straße nach einer Umnutzung. Die Straße existiert seit Jahrhunderten und folgt dem Lauf der Spree. Im 19. Jahrhundert war dieser Standort ein Anziehungspunkt für Fabrikanten und Holzhändler. Die Eismanufaktur des berühmten Carl Bolle war daher bei ihrer Gründung im Jahr 1896 ein Sonderling, aber durchaus ein Volltreffer. Kühlschränke in Cafés, Restaurants und Haushalten waren damals noch ein ferner Traum, also begann Bolle mit der Herstellung von Kunsteis. In den folgenden Jahren baute er seine Fabrik systematisch mit Kühlhäusern, einem Kesselhaus und einem Maschinenraum aus.
Da die Eisfabrik nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR lag, wurde sie vom Staat übernommen. Die Fortsetzung nach der Wende lässt sich erahnen: 1995 schloss der damalige VEB Kühlhaus Süd-Ost seine Tore. Jahrelang fiel der Komplex dem Treiben von Hausbesetzern, Partylöwen, Vandalen und Projektentwicklern zum Opfer und die Feuerwehr musste bis zum Überdruss Brände löschen. Doch heute ist das ganze denkmalgeschützte Gebäude eingerüstet: Die Eismanufaktur bekommt ein zweites Leben. Der ebenfalls denkmalgeschützte Schornstein und das Kesselhaus werden in das neue Wohnviertel Eiswerk integriert.21
Eisfabrik
■ Adresse: Köpenicker Straße 40–41 ■ Haltestelle: Heinrich-
Heine-Straße (U8) ■ GPS: 52.509549°, 13.426416° ■ Internet: eiswerk-berlin.com
Uralte Werkstätten
Das Reichsbahnausbesserungswerk, kurz RAW, dürfte die älteste Industriestätte der Stadt sein. 1867 öffnete die Königlich Preußische Eisenbahn-Werkstatt ihre Tore zur Reparatur von Lokomotiven und Waggons.
Nach der deutschen Teilung lag das RAW-Gelände in Ost-Berlin und wurde anlässlich seines 100-jährigen Bestehens in Werkstatt „Frans Stenzer“ umbenannt, eine Würdigung des bayerischen Kommunisten, der 1933 von den Nazis ermordet wurde.22
Seit die Werkstatt 1995 geschlossen wurde, zog sie schnell einen Schwarm von Künstlern an, gefolgt von Nachtclubs, Sportvereinen, Zirkuskompanien, Theatern und Bars. Die Ankunft der neuen Bewohner ging mit Belästigungen einher. Tag und Nacht wurden Drogen gehandelt und unachtsame Besucher angegriffen, während sich Nachbarn über den Lärm beschwerten. Das RAWGelände verwandelte sich von einer Touristenattraktion in einen Ort, den man besser meiden sollte.
Werkstattgrube
Kameras und Sicherheitsfirmen konnten die Probleme einigermaßen lösen, und so gewann dieser Ort wieder an Anziehungskraft.23 2017 wurde eine der ältesten Hallen für das „Haus der Musik“ saniert, weitere Projekte könnten dem RAW-Gelände weiterhelfen.24
RAW-Gelände
■ Adresse: Revaler Straße 10 ■ Haltestelle: Warschauer Straße (S3,
S5, S7, S9, S75, S85, U1 und U3) ■ GPS: 52.5079796°, 13.4511478° ■ Internet: houseofmusic.berlin
Lokschuppen
Renoviertes Brauereigebäude.
Jugendheim für die DDR-Jugend
Clubs, Büros, ein DDR-Museum, ein Kino und ein Theater: Die ehemalige VEB Schultheiss-Brauerei Schönhauser Allee beherbergt heute alles außer einer Brauerei. Dem Bierbrauen wurde schon zu DDR-Zeiten ein Ende gesetzt. 1967 ging der Volksbetrieb, einst die größte Brauerei der Stadt, bankrott. Die Regierung beschloss, hier ein Möbelhaus und den „Jugendklub Erich Franz“ unterzubringen.
In dem nach einem ostdeutschen Schauspieler benannten Jugendclub standen jedes Wochenende Bluesbands und DDR-Gruppen vor Hunderten von DDR-Fans auf der Bühne. Ein väterliches Schulterklopfen für diejenigen, die auf dem richtigen Weg geblieben waren. Mit Sicherheitsnadeln durchstochenen Punks oder Jugendlichen, die auf andere Weise aus der Reihe tanzten, blieb der Zutritt zum Jugendzentrum verwehrt.25
Das konnte aber nicht verhindern, dass die subversive Jugendkultur hier Eingang fand. Mehr als einmal gab es subtile Kritik am Regime. Doch weder die DDR noch der Mauerfall konnten den Verein zu Fall bringen. Nach einer vorübergehenden Schließung wegen finanzieller Probleme erholte sich der „Franzz Club“ 2004 wieder, diesmal mit zwei Z am Ende.26
An der Ecke Sredzki- und Knaackstraße lockt der kecke Turm des Industriekomplexes, wo sich das Kesselhaus, die Abfüllanlage und der Maschinenraum befanden. Alles Gebäude, die in den 1990er-Jahren aufgefrischt wurden und heute zusammen die KulturBrauerei bilden, das kulturelle Herz des Bezirks Friedrichshain.
So wurde die Anlage, hundert Jahre nachdem hier Schultheissbier gebraut wurde, zu einem der besterhaltensten Beispiele der Industriearchitektur vom Ende des 19. Jahrhunderts. Es ist ein wahres Kleinod, das wir dem Architekten Franz Schwechten zu verdanken haben. Er hat Berlin nicht nur mit der Brauerei, sondern auch mit der Gestaltung des Anhalter Bahnhofs und der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche geprägt.
KulturBrauerei
■ Adresse: Schönhauser Allee 36 ■ Haltestelle: Eberswalder Straße (U2) oder Schönhauser Allee (S8, S41, S42 und S85) ■ GPS: 52.5385741°, 13.4122125° ■ Internet: www.kulturbrauerei.de