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Die verleugnete Tradition
Ein kurzer Rückblick auf die Epoche des Großen Schauspielhauses
Als die Nationalsozialisten 1934 das Theater des Volkes eröffneten, war nicht einmal der Name ihre eigene Erfindung. Das Haus, das sie okkupierten, war von anderen als großes, preiswertes Volkstheater geschaffen und als Vergnügungspalast mit Leben gefüllt worden. Viele von ihnen wurden nach 1933 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft oder ihrer politischen Einstellung ausgegrenzt, ihrer Existenz beraubt und verfolgt. Ihre künstlerischen Leistungen wurden missachtet und als »entartet« verfemt. Die neuen Betreiber des Theaters eigneten sich also keineswegs nur eine leere Hülle an. Dieses Haus war ein Ort, den Künstler:innen wie Besucher:innen mit besonderen Erfahrungen verbanden. Es war ein Ort, der die kulturelle Landschaft der Metropole Berlin und auch das kulturelle Gedächtnis einer Generation mitgeprägt hatte. Deshalb soll ein kurzer Rückblick auf die Frühzeit des Hauses zeigen, wie sich die Nationalsozialisten diese Theatertradition aneigneten und was dabei verloren ging.
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Das Vorspiel: Von der Markthalle zum Zirkus Manches kommt ganz anders, als es einmal gedacht war. Viele Geschichten, die das Leben schreibt, könnten so beginnen. Dass das nicht einmal schlecht sein muss, zeigt die Entstehungsgeschichte des späteren Friedrichstadt-Palastes, die mit einer Fehlinvestition ihren Anfang nahm. Das ursprüngliche Domizil des Theaters lag jenseits der Friedrichstraße nahe der Spree und in direkter Nachbarschaft des Theaters am Schiffbauerdamm, des heutigen Berliner Ensembles. Hier wurde nach zweijähriger Bauzeit am 29. September 1867 die erste Markthalle Berlins eröffnet, nach Pariser Vorbild und hochmodern. Die anspruchsvolle Eisenkonstruktion des Stararchitekten Friedrich Hitzig stand auf schwierigem Baugrund. Mit Bedacht hatte man den Zufluss eines Pankearms zur Spree gewählt, denn das Fluss-
Friedrich Hitzigs aquarellierte Tuschzeichnung der Markthalle am Schiffbauerdamm zeigt die eiserne Konstruktion in Zentralperspektive. wasser sollte – mitten durch die Halle geleitet – Lebensmittel und Blumen frisch halten und den Verkauf lebender Fische erlauben. Auf einer Grundfläche von 84 mal 64 Metern waren deshalb gut 800 Holzpfähle in den Sumpf gerammt worden. Das hauptsächlich vom »Eisenbahnkönig« Henry Strousberg finanzierte Projekt geriet wirtschaftlich indes schnell ins Aus. Bereits Mitte April 1868 musste die Markthalle endgültig schließen, weil sie von der Kundschaft nicht angenommen wurde.
Nach einer Zwischennutzung als Lagerhalle entdeckte Albert Salamonsky das Potential des Riesengebäudes für die Unterhaltungskultur. Der wagemutige Zirkusunternehmer war Spezialist für Pferdedressur und hatte sein Metier bei dem direkt gegenüber an der Spree liegenden Konkurrenten Circus Renz gelernt. Mit großem Aufwand wurde nun wieder umgebaut – zu einem Zirkus von gigantischen Ausmaßen. Als der »Markthallen-Zirkus« am ersten Weihnachtstag 1873 eröffnet wurde, konnten mindestens 4600, vielleicht auch über 5000 Zuschauer:innen dabei sein. Die historischen Angaben zur Platzzahl schwanken hier. 1879 zog es Salamonsky nach Moskau weiter, wo er erfolgreich einen Zirkus im eigenen Domizil betrieb, aus dem 1919 nach der Verstaatlichung durch das revolutionäre Russland der erste Staatszirkus der Welt hervorgehen sollte. Er besteht noch heute unter dem Namen Nikulin-Zirkus. In die ehemalige Berliner Markthalle zog nun die Konkurrenz von der anderen Spreeseite ein. Ab 1879 betrieb Ernst Renz hier seinen Circus Renz, da er den bisherigen Standort wegen der Errichtung des Bahnhofs Friedrichstraße hatte aufgeben müssen. Das beliebte Programm zeigte Pferdedressuren, Kunstreiten, Clowns und Akrobaten sowie Zirkuspantomimen als riesige Ausstattungsstücke mit bis zu mehreren Hundert Mitwirkenden. Renz konnte sich über ein Jahrzehnt als erstes Haus am Platz behaupten und ein erneuter Umbau im Jahr 1888 steigerte die Zahl die Plätze auf 5600. Nach dem Tod von Ernst Renz 1892 stellten sich allerdings finanzielle Schwierigkeiten ein, denn man hatte die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Der Publikumsgeschmack wandelte sich, frecher Witz und mondäner Chic galten nun mehr als schiere Ausstattungspracht. Die Konkurrenz im Berliner Unterhaltungsgewerbe wuchs. In der Nähe des Hackeschen Marktes hatte inzwischen der Circus Busch seine Pforten geöffnet und in der direkten Umgebung der Friedrichstraße als neue Amüsiermeile der Stadt konkurrierte man nun mit dem Apollo-Theater, dem Metropol-Theater und dem Wintergarten. Ende Juli 1897 musste Franz Renz, der Sohn des Gründers, seinen Zirkusbetrieb aufgeben.
Als Nachfolger gingen Bolossy Kiralfy und Hermann Haller mit ihrem Projekt des Neuen Olympia-Riesen-Theaters an den Start. Dafür waren wieder einmal Umbaumaßnahmen erforderlich. Das Gebäude bekam ein Bühnenhaus und eine neue 44 Meter breite Bühne. Vier der acht Säulen, auf denen die achteckige Kuppel des Zirkus bisher ruhte, fielen dem Umbau zum Opfer. Noch einmal sollten pompöse, aber inhaltlich wenig anspruchsvolle Ausstattungspantomimen mit bis zu tausend Statisten die Massen in die Arena locken. Im Gastspielbetrieb während der Berliner Gewerbeausstellung 1896 hatte dies glänzend funktioniert. Im festen Theaterbetrieb indes erwies sich das Konzept als nicht tragfähig. Das Publikum strömte lieber in die Unterhaltungsstätten der Nachbarschaft. Diese boten mehr Zeitgeist, meist mehr Niveau und vor allem die in Berlin gerade erst angekommene Operette. Nach nicht einmal zwei Jahren endete das Zwischenspiel des Riesentheaters im März 1899. Hermann Haller wandte sich nach dieser Erfahrung ebenfalls der Operette zu und betrieb Spielstätten in Hamburg, Leipzig und Berlin. Von 1923 bis 1930 sollte er im Berliner Admiralspalast ein Revuetheater aufziehen und ebenso Ansporn wie wichtigster Konkurrent Erik Charells am Großen Schauspielhaus werden.
Nach dem Auszug des Olympia-Riesen-Theaters stand das Haus nicht lange leer. Zu attraktiv war seine Lage, bahnhofsnah und inmitten des Berliner Unterhaltungszentrums. Albert Schumann, ein alter Konkurrent von Renz, zog am 28. Oktober 1899 wieder mit einem Zirkus ein. Schumann galt als führender »Pädagoge der Pferdebeeinflussung«. Seine zauberhaften Pferdedressuren erreichten ein bisher nicht gekanntes Niveau und rissen die Zuschauer von den Sitzen. Aber der Circus Schumann bot der Unterhaltungslust seiner Besucher:innen noch vieles mehr: Beliebte Hausclowns sorgten für ausgelassene Heiterkeit und berühmte Radsportstars lieferten sich in der Arena dramatische Rennen. Außerdem setzte Schumann wieder auf Ausstattungspantomimen, allerdings mit spektakulären Effekten, die auch den anspruchsvollen Hauptstädtern imponieren sollten. Dafür galt es, die Bühne 1901 auf 800 Quadratmeter zu erweitern und für viel Geld eine Drehbühne sowie verstellbare Podien einzubauen. Trotz eines schwieriger werdenden Umfeldes – andere zeigten inzwischen Raubtierdressuren – behauptete sich der Zirkus bis zum Ersten Weltkrieg am Berliner Vergnügungsmarkt. Der Tiefschlag kam nach Kriegsbeginn am
1. August 1914, als die wertvollen Pferde für die Kavallerie requiriert wurden. Es gelang Schumann trotz drückender Steuerlasten und der immer größeren wirtschaftlichen Not, den Vorstellungsbetrieb noch unter Mühen bis Ende März 1918 aufrechtzuerhalten. Dann gingen die Lichter endgültig aus.
Max Reinhardt und seine Großtheaterexperimente Und wieder bot das definitive Ende einer Nutzungsform Raum für Neues. Noch in den letzten Kriegsmonaten begann die eigentliche Epoche des Großen Schauspielhauses, denn nun kam der Spielort in die Hände Max Reinhardts, eines herausragenden Regisseurs und vor allem eines theaterbesessenen und wagemutigen Impresarios.
Aber auch hier gibt es eine nicht ganz unwichtige Vorgeschichte: Reinhardt wurde am 9. September 1873 im niederösterreichischen Baden als Max Goldmann in eine jüdische Kaufmannsfamilie hin- eingeboren. Später nahm er seinen Künstlernamen an. 1894 hatte ihn Otto Brahm, der neue Leiter des Deutschen Theaters, nach Berlin an sein Haus geholt. Diese Bühne gehörte zu den ersten Adressen des deutschen Sprechtheaters und Reinhardt nutzte die Chance, in zahlreichen Charakterrollen seine Darstellungskunst zu verfeinern. Zu jener Zeit war der Naturalismus en vogue, eine Kunstströmung, die dem meist bürgerlichen Theaterpublikum mit sozialkritischen Dramen ein ungeschöntes Abbild der Lebensumstände der Unterprivilegierten vermitteln wollte. Gerhart Hauptmann gehörte deshalb zu den meistgespielten Autor:innen am Deutschen Theater. Um die Jahrhundertwende jedoch hatte sich diese prosaische Theaterform überlebt. Reinhardt begann nach neuen, sinnlicheren Ausdrucksformen zu suchen: »Was mir vorschwebt, ist ein Theater, das den Menschen wieder Freude gibt. Das sie aus der grauen Alltagsmisere über sich selbst hinausführt in eine heitere und reine Luft der Schönheit.«1
Dafür beschritt er bald eigene Wege. Er erfand sich neu als Regisseur und setzte dem spröden naturalistischen Stil phantastisch-sinnliche Gesamtkunstwerke entgegen, in denen Bühnenbild, Sprache, Musik und Tanz zu einer Einheit zusammenflossen. Die Zeitgenossen bewunderten ihn dafür als wegweisenden »Theatermagier«. Immens war Reinhardts Einfluss auch als Theaterleiter. 1901 beteiligte er sich an der Gründung des Kabaretts Schall und Rauch in Berlin, das er ab 1902 als Kleines Theater weiterführte. Erste Erfolge ermutigten ihn zur Expansion: 1903 bis 1906 leitete er das Neue Theater am Schiffbauerdamm, in dem später das Berliner Ensemble seine Spielstätte finden sollte. 1905 kehrte er als neuer Eigentümer ans Deutsche Theater zurück, wo er die Kammerspiele ins Leben rief und die erste Schauspielschule Deutschlands gründete. 1911 fasste er die Häuser in dem privat geführten Theaterkonzern der Reinhardt-Bühnen zusammen.
Gleichzeitig wandte er sich neuartigen Großrauminszenierungen nach dem Vorbild des griechischen Arenatheaters zu. Sein »Thea- ter der 5000« sollte Schauspielkunst für alle bieten, und das zu erschwinglichen Preisen, denn im Kaiserreich konnte sich grundsätzlich nur das wohlhabende Publikum einen Theaterbesuch leisten. So war es kein Zufall, dass Reinhardt den Circus Schumann 1910 als Aufführungsort für seinen »König Oedipus« wählte, die erste Theaterproduktion der Neuzeit, die sich an ein Massenpublikum richtete. Reinhardt setzte auf eine moderne Fassung des Stücks von Hugo von Hofmannsthal, die die Zuschauer der Gegenwart erreichen sollte, und engagierte Schauspielstars wie Tilla Durieux und Paul Wegener für die Hauptrollen. Seine völlig neue Regiesprache sprengte die bekannten Schauspielkonventionen. Mit raffinierter Lichtführung, exotischen Klängen und perfekt choreographierten Massenszenen mit Hunderten Darstellern adaptierte er die Szenerie für die Riesenbühne und überwältigte sein Publikum. Gastspiele in Deutschland und halb Europa sowie Zweitinszenierungen in Budapest und London begründeten den internationalen Ruhm dieser bahnbrechenden Arenaaufführung. Am 1. Dezember 1911 folgte ebenfalls im Circus Schumann die Uraufführung von Hofmannsthals Mysterienspiel »Jedermann«, das noch heute fester Programmpunkt der Salzburger Festspiele ist. 1912 feierte Reinhardt auf einer USA-Tournee mit Karl Gustav Vollmoellers Musikpantomime »Das Mirakel« Triumphe. Auch wirtschaftlich gesehen war dieses Tourneegeschäft ein voller Erfolg. Erst hier schuf sich Reinhardt die materielle Basis für den späteren Ausbau seines Theaterkonzerns.
Während des Ersten Weltkriegs war an Großspektakel und Auslandsgastspiele nicht mehr zu denken. In dieser schwierigen Zeit leitete Reinhardt – neben seinen anderen Theatern – von 1915 bis 1918 auch die kurz zuvor erbaute, 2000 Zuschauer fassende Berliner Volksbühne. Dieses Haus war einzigartig in Deutschland, denn es gehörte den beiden Berliner Volksbühnenvereinen, den größten von der Arbeiterbewegung getragenen Besucherorganisationen der Zeit. Unter dem Wahlspruch »Die Kunst dem Volke!« hatten sie sich zwei Zielen verschrieben: dem sozialen, mit bezahlbaren Theaterkarten auch breiteren Bevölkerungsschichten den Zugang zur Kultur zu öffnen; und dem politischen, auch Stücke zu zeigen, die der staatlichen Theaterzensur ein Dorn im Auge waren.2 Als Reinhardt die Volksbühne übernahm, kam er als Retter in der Krise. Zu Kriegsbeginn litt man unter stagnierenden Besucher- und schrumpfenden Mitgliederzahlen. Als Reinhardt das Haus 1918 verließ, hatten sich die Zahl der Mitglieder und der Kartenabsatz verdoppelt.
Eine Architekturikone entsteht
Auch dieser Erfolg gab Reinhardt Zuversicht für sein Sehnsuchtsprojekt – ein eigenes großes Arenatheater, ein »Theater der 5000«. Er war nicht der Einzige, den diese Idee bewegte, aber er war derjenige, der die Mittel und den Mut hatte, sie auch zu verwirklichen. Dafür hatte er bereits 1913 erste Verhandlungen zur Übernahme des Circus Schumann begonnen. Mit dem Ende des Vorstellungsbetriebs bot sich im Frühjahr 1918 eine hervorragende Gelegenheit, den Plan zu verwirklichen, mitten in der deutschen Hauptstadt, gewissermaßen am kulturellen Puls der Nation. Im Juli 1917 war die »Deutsches Nationaltheater AG« gegründet worden, eine Kapitalgesellschaft zur Errichtung und zum Betrieb des neuen Theaters. Am Stammkapital von 1,6 Mio. Mark beteiligte sich Reinhardt selbst mit 500.000 Mark. Die restliche Summe wurde von mehreren wohlhabenden Unternehmern aufgebracht. Die Geschäftsführung übernahm Max Reinhardts Bruder Edmund, der als graue Eminenz im Hintergrund schon lange alle geschäftlichen Belange des Reinhardt’schen Theaterimperiums regelte.
Am 1. April 1918 wechselte der Markthallenzirkus den Besitzer und noch während des Krieges begannen die Bauarbeiten.
Aber der ehrgeizige Plan, in der alten Eisenkonstruktion das mo- dernste Theater Europas unterzubringen, hatte gewaltige Tücken. Im Mai 1918 stürzte das alte Bühnenhaus ein und gleich mehrere Architekten scheiterten. Erst der 1919 engagierte Hans Poelzig bewältigte die technisch schwierige Aufgabe. Dieser vielseitige Baumeister war als Filmarchitekt, Maler, Bühnenbildner und Hochschullehrer gleich mit mehreren Künsten vertraut. Bis zum Ende der Weimarer Republik sollte er sich zu einer der Schlüsselfiguren des Neuen Bauens in Deutschland entwickeln. Das IG-Farben-Haus in Frankfurt und das Haus des Rundfunks in Berlin sind sein Werk und gelten heute als Ikonen der modernen Architektur. Und genau deshalb haben die Nationalsozialisten 1933 Hans Poelzig sofort aus seinen Ämtern vertrieben. 1919 aber zündete sein origineller Entwurf für das Große Schauspielhaus, den er im Café für Max Reinhardt auf einer Serviette skizzierte. Für Reinhardt riss Poelzig ein Viertel des Plans heraus. Der Rest befindet sich heute – gewissermaßen als baukünstlerische Gründungsurkunde – im Besitz des Friedrichstadt-Palastes.
Im Herbst 1919 war das Theater der Superlative fertiggestellt. Mit einer 30 Meter breiten Bühne mit integrierter Drehbühne, bewegli- chen Treppen und drei weit in den Zuschauerraum ragenden, verschieb- und höhenverstellbaren Vorbühnen konnte allen inszenatorischen Wünschen Reinhardts entsprochen werden. Dafür musste ca. ein Drittel der 5000 Zirkussitzplätze weichen. Die Zeitgenossen faszinierte der Bau Poelzigs aber vor allem durch seine expressionistische, revolutionär anmutende Formensprache. Außen verkündete der Riesenklotz mit roter Fassade den Aufbruch in eine neue Zeit. Innen empfing die Besucher eine farbintensive Grottenwelt, erleuchtet vom indirekten Licht exotischer Palmensäulen, bevor sie das strahlende Riesenrund des Zuschauerraums betraten. Insbesondere die vom Berliner Volksmund als »Tropfsteinhöhle« titulierte Stalaktitendecke über der Theaterarena machte international Furore. Bei Dunkelheit schufen dort Hunderte kleiner Lampen die Illusion eines südlichen Freilufttheaters unter dem Sternenhimmel. Dabei hatte die futuris- tische Gestaltung in erster Linie einen praktischen Sinn. Reinhardts Wunsch, den Zuschauerraum mit einer Kuppel zu überwölben, widersprach allen Gesetzen der Akustik. Um das Unmögliche möglich zu machen und den Schall einigermaßen zu zähmen, erfand Poelzig die hängenden Gipszapfen, die er sich sogar patentieren ließ. Maßgeblich an der Innengestaltung beteiligt war die Bildhauerin und spätere Ehefrau Poelzigs Marlene Moeschke.
Serviettenzeichnung mit den ersten Fassadenentwürfen Hans Poelzigs für das Große Schauspielhaus. Das fehlende Viertel riss Poelzig für Max Reinhardt heraus – es gilt heute als verschollen.
Innenansicht des Großen Schauspielhauses mit zentraler Arenabühne unter Hans Poelzigs Tropfsteinkuppel.
Max Reinhardts Arenatheater
Zur Eröffnung des Großen Schauspielhauses am 28. November 1919 zeigte Reinhardt die »Orestie« des Aischylos. Mit der Wahl dieses Premierenstücks knüpfte der neue Hausherr gezielt an das historische Vorbild des griechischen Amphitheaters an. Nach der Katastrophe des
Ersten Weltkriegs hielt die antike Tragödie zudem eine Botschaft für die Gegenwart bereit, erzählte sie doch vom Ende einer blutigen Rachefehde durch die Herrschaft des Rechts. Die moderne Bearbeitung stammte von Karl Vollmoeller, der Max Reinhardt maßgeblich für die Idee des Arenatheaters begeistert hatte. Bei dieser Inszenierung scheute man keine Kosten. In den Hauptrollen waren Spitzendarsteller:innen zu sehen: Alexander Moissi spielte den Orest, Werner Krauß den Agamemnon und Agnes Straub trat als Klytämnestra auf. Chöre mit bis zu tausend Statisten wogten in sensationellen Massenszenen durch den Riesenraum. Die archaisch-monumentale Ausstattung kreierte Ernst Stern, der kongeniale Chefbühnenbildner Reinhardts vom Deutschen Theater. Zahlreiche Pressestimmen begeisterten sich für die theatralische Wucht der Inszenierung und lobten die neue Nähe zum Bühnengeschehen mitten im Zuschauerraum. Große Anerkennung fand Reinhardts innovatives Konzept eines Volkstheaters, das sich jeder leisten konnte. Hauptstar des Abends aber waren das neue Haus selbst und seine Schöpfer, Max Reinhardt und Hans Poelzig, sie wurden frenetisch gefeiert.
Nur wenige Tage nach Eröffnung der Hauptbühne begründete Reinhardt auch die Tradition der Kleinkunstbühne im Kel-
Programm der Eröffnungsvorstellung des »Großen Schauspielhauses« am 28. November 1919 mit der »Orestie des Aischylos«.
Titelblatt des ersten Programms des Kabaretts Schall und Rauch vom Dezember
ler des großen Hauses. In dem ehemaligen Tunnelrestaurant des Zirkus eröffnete am 8. Dezember 1919 eine Neuauflage des Kabaretts Schall und Rauch. Dieses erste literarisch-politische Kabarett Berlins nach dem Ersten Weltkrieg hatte seine Blütezeit in den so aufwühlenden wie krisenhaften Anfangsjahren der Republik. Klabund, Walter Mehring, Kurt Tucholsky, Friedrich Hollaender, Joachim Ringelnatz, Gussy Holl und Blandine Ebinger gehörten zu seinen prägenden Künstler:innen. Der Keller war im Künstlermilieu so angesagt, dass er auch für den Namen der kurzlebigen Zeitschrift »Schall und Rauch«
Pate stand, die von 1919 bis 1921 Arbeiten avantgardistischer Dadakünstler:innen wie Richard Huelsenbeck und Hannah Höch vorstellte. Aber bereits nach zwei Jahren war die aufregendste Zeit im Kel- lerkabarett vorbei und die kritischen Talente zogen weiter. Begleitet von mehreren Direktionswechseln entwickelte es sich dann bis Mitte der 1920er Jahre zu einem konventionellen Amüsierbetrieb.
Am Premierenabend hatte das Große Schauspielhaus seine erste Bewährungsprobe bestanden. Nachdem jedoch die Wirkung der überwältigenden Sensation nachgelassen hatte, kamen die Mühen der Ebene in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit. Reinhardt bestückte seine neue Riesenbühne mit dem Erfolgsrepertoire des Deutschen Theaters aus der Zeit des Kaiserreichs, das er nun auch dem ganz großen Publikum zugänglich machen wollte. Oft führte er selbst Regie, unter anderem bei »Hamlet«, »Julius Cäsar«, dem »Kaufmann von Venedig« und dem »Sommernachtstraum« von Shakespeare, einer Wiederaufnahme des »Oedipus« und der antiken Komödie »Lysistrata«. Zwei Stücke zur Französischen Revolution, »Danton« von Romain Rolland und »Dantons Tod« von Georg Büchner, boten nicht nur verschiedene Blickwinkel auf denselben historischen Stoff, sondern sollten auch zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit den jüngsten revolutionären Umwälzungen im eigenen Land anregen. Außerdem inszenierte Karlheinz Martin, der auch im Avantgardetheater und im Film zu Hause war, die Schillerdramen »Die Räuber«
Werbeplakat für die Premiere der »Weber« am 20. Juni 1921 im Großen Schauspielhaus.