TORSTRASSE 94
BERLINER ORTE
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4., erweiterte und überarbeitete Auflage © be.bra verlag GmbH , Medien und Verwaltungs GmbH , B erlin 2023
A sternplatz 3, 12203 B erlin post@bebraverlag.de
L ektorat: I ngrid K irschey-Feix, B erlin
Umschlag und Titelfoto: M anja Hellpap, B erlin
S atz: typegerecht, B erlin
S chrift: S tempel G aramond 10/14 pt
D ruck und Bindung: GGP Media GmbH , Pößneck
ISBN 978 -3 -8148 -0277-0
www.bebraverlag.de
Inhalt
D ie Ulrichs, die Müllers, die Meiers
7 Vorderhaus 1. Etage rechts
C hrista K ern (*1937)
17 1947 – 1953, Vorderhaus 1. Etage rechts
C atrin P rzewozny (*1977)
22 1978 – 1990 , Vorderhaus 4. Etage rechts
D etlef B ohnke (*1950)
28 1978 – 1989, Vorderhaus 3. Etage links
Peter Merten (*1931)
34 1964 – 1971, S eitenflügel 3. Etage rechts
Veronika Puder (*1953)
41 1972 – 1984, S eitenflügel 3. Etage rechts
Nici B rückner (*1970)
51 1973 – 1976 , S eitenflügel 2 . Etage rechts
R uth R adelow (*1937)
58 1937 – 1958 , Vorderhaus 1. Etage links
F rieda Fleischer (1906 – 1999)
66 1938 – 1948 , Vorderhaus 4. Etage rechts
Walter Pannewitz (1901 – 1981)
75 August– November 1951, Vorderhaus 4. Etage links
Manfred Halwas (*1935)
83 1977 – 1987, Konditorei Vorderhaus links
A nnette Höfer (*1962)
88 S eit 1991, S eitenflügel 4. Etage rechts
G ilbert Penser (*1959)
96 Oktober– Dezember 1959, Vorderhaus 3. Etage links
S tefanie Meier (*1948) und K laus Meier (*1952)
105 1984 – 1996 , Vorderhaus, 1. Etage rechts
Rosel K risten (*1938)
116 1952 – 1957, S eitenflügel 3. Etage rechts
R ené B luhm (*1968)
121 1968 – 1989, Vorderhaus 2 . Etage rechts
G ünther Ihde (*1930)
126 1961 – 1994, Vorderhaus 3. Etage rechts
A lice Rönnekamp (1903 – 1942)
132 1936 – 1941, Vorderhaus 4. Etage links
Jan K rause (*1969)
144 S eit 1999, Vorderhaus 1. Etage rechts
149 Unser Haus 2023
158 Das Haus – ein Post S criptum
159 Abbildungsnachweis / Dank
160 Der Autor
D ie Ulrichs, die Müllers, die Meiers Vorderhaus
1. Etage rechts
Meine Eltern haben uns K inder damals nicht gefragt. Irgendwann hieß es: Wir ziehen um. M ich schickten sie in dieser Zeit zur Kur. A ls ich zurück kam, wohnte ich plötzlich in einem Neubau, ein paar U-Bahnstationen entfernt. Vielleicht ist das der Grund, dass ich mich 1970 nicht richtig verabschieden konnte von der Torstraße 94, die damals noch Wilhelm-Pieck-Straße 94 hieß.
Daran hat sich wohl nichts geändert, K inder werden auch heute nicht ernsthaft gefragt, ob sie umziehen möchten. I rgendwann haben sie dann neue Freunde, werden erwachsen, ziehen zu Hause aus und später selber immer wieder um. A n das Haus der K indheit bleiben ein paar Erinnerungen an Nachbarskinder, an Gerüche im Treppenhaus und an komische Erwachsene.
Bei uns im S eitenflügel lebte ein S chauspieler, der extrem gut nach R asierwasser roch und den K ragen seiner Lederjacke stets lässig hochgeklappt trug. »Der ist vom anderen Ufer«, tuschelten die Erwachsenen im Haus. Für mich war klar, dass mit dem ›anderen Ufer‹ Westdeutschland gemeint war. S chließlich wusste jeder im Haus, dass Herr Merten von drüben kam. O ffenbar gab es zwischen den beiden Deutschlands ein Gewässer, vielleicht ja einen großen S ee.
Von der anderen Uferseite hatte Herr Merten auch das Auto mitgebracht, das eines Tages auf unserem Hof stand, ein Modell der französischen M arke S imca. W ir K inder drückten unsere
Nasen an die Autoscheibe und registrierten, dass die Z ahlen auf dem Tacho bis 180 gingen. W ir waren beeindruckt. S chließlich endete die Tachonadel im Trabant bei 120 .
I m Vorderhaus wohnte Doktor I hde, der von Beruf Psychologe oder Psychiater war. Züschologe oder Züschata sagten die Erwachsenen und nannten Herrn I hde der E infachheit halber »Mackendoktor«. Unten im Haus gab es die Konditorei, die die besten Windbeutel in ganz Ostberlin machte, K alorienbomben mit einer riesigen Portion S chlagsahne in der M itte.
D iese K indheitserinnerungen waren plötzlich wieder da, als ich vor ein paar Jahren zurück in die G egend gezogen bin. Von meiner jetzigen Wohnung sind es nur ein paar Fußminuten zur Torstraße 94. Das Viertel rund um den Rosenthaler Platz in Berlin-M itte gilt heute als »attraktive Wohngegend in Citylage« und touristischer Hotspot. A lle paar Tage werden neue Hostels, Galerien oder Boutiquen eröffnet, auf den Gehwegen schlängelt man sich durch K näuel von Touristen. I m Supermarkt trifft man S tern-Chefredakteur Jörges, im Blumenladen S chauspieler B en Becker. Wim Wenders wohnt um die E cke, soll sogar einen eigenen Swimmingpool auf dem Dach haben, heißt es. Jeder Vierte, der in dieser E cke von B erlin-M itte wohnt, ist ein Ausländer, sagt die aktuelle S tatistik. Vor allem Briten, A merikaner und Australier kommen gerne hier her.
Wie überall in der Ostberliner I nnenstadt sind in den letzten fünfundzwanzig Jahren nahezu alle früheren Bewohner weggezogen. Ich aber war nach Jahrzehnten wieder da und neugierig auf mein altes Haus. Ob von den A lten noch jemand da ist? Ich studierte die Namen am K lingelbrett neben der Haustür, entdeckte aber niemanden, den ich kannte.
S chließlich rief ich Frau Morgenstern an und die Dinge nahmen ihren Lauf.
Frau Morgenstern war in der Wilhelm-P ieck-Straße 94 unsere Nachbarin und, wie ich von meiner Mutter wusste, lebt sie seit ein paar Jahren in Pankow. Dort habe ich sie besucht und sofort erfahren, dass in unserem Haus tatsächlich niemand mehr wohnt aus der Z eit vor 1990 , dass sie jedoch noch die alten Hausbücher besitzt. I n diese Bücher hatte man sich zu DDR-Z eiten einzutragen, wenn man in ein M ietshaus zog. Name, G eburtsdatum, Geburtsort, Beruf, Ausweisnummer waren ebenso anzugeben wie die vorherige A nschrift. S elbst Besucher, die nur für einige Tage blieben, mussten sich anmelden.
H ausbuchverantwortliche waren in der Regel besonders staatstreue Z eitgenossen. Aber Frau Morgenstern war nie in der Partei, sondern einfache Näherin beim VEB Herrenmoden, wie sie sagt. Vielleicht haben die ihr vertraut, glaubt sie, weil sie schon so lange, seit 1957, in dem Haus lebte.
Eigentlich sollten die Hausbücher nach 1990 bei den Meldeämtern abgeliefert werden. Frau Morgenstern hat sich nicht darum geschert, sondern die Bücher behalten und mitgenommen, als sie 1997, nach vier Jahrzehnten, ausgezogen ist. Vier türkisfarbene A5 -Hefte im Q uerformat, das komplette M ieterverzeichnis der Jahre 1953 bis 1989. Frau Morgenstern hat sie mir geschenkt und dazu gelacht: »Viel S paß bei der Suche nach unseren Nachbarn.«
Was heißt Nachbarn? Ich wollte doch eigentlich nur wissen, was aus denen geworden war, die in meiner K indheit bei uns im Haus gewohnt hatten. M it den vier Heften aber hatte ich plötzlich eine A rt »Stillen Portier« in den Händen. S o nannte man die Holztafeln mit den Namen der M ieter, die es früher in jedem Berliner Hausflur gab.
I n den Heften ist akribisch festgehalten, wer zu welcher Z eit in welcher Wohnung zu Hause war. D ie G eschichten dahinter
freilich sieht man nicht. Nach denen müsste man suchen und mit den A ngaben aus den Hausbüchern sollte das für einen Journalisten eine machbare Aufgabe sein.
I n der Regel kennt man vielleicht noch den unmittelbaren Vormieter. Aber wer weiß schon, wer vor Jahrzehnten in der eigenen Wohnung gelebt hat? Will man das überhaupt wissen?
Nein, man muss das alles nicht wissen wollen. M ich aber hatte die Neugierde gepackt.
D ie H ausbücher von Frau Morgenstern ließen mich nicht mehr los, ich wollte möglichst viel über die Menschen erfahren, die über die Jahrzehnte in unserem Haus gewohnt hatten. Natürlich konnte ich nicht wissen, auf welche Geschichten ich dabei stoßen würde. Egal ob Agentin, Bankräuber, Model oder Parteisekretär vom Palast der Republik – es gibt einiges zu berichten von meinen Nachbarn.
Meine Nachbarn waren sie alle irgendwie, auch wenn wir zu unterschiedlichen Z eiten im selben Haus gewohnt haben – mit unterschiedlichen Adressen übrigens: A ls das Haus gebaut wurde, lautete die A nschrift Lothringer Straße 63. 1951 wurde daraus die Wilhelm-P ieck-Straße 94, seit 1994 befinden wir uns in der Torstraße 94.
Das Gebäude selbst ist eher unspektakulär, erbaut Ende des 19. Jahrhunderts, vier Etagen, ein S eitenflügel, an der Fassade R auputz, der vor ein paar Jahren ockergelb angestrichen wurde. Ein Haus wie tausend andere in Berlin.
A m 14. November 1960 sind wir, die Ulrichs, dort eingezogen, lese ich im Hausbuch. Der Buchhalter K arl-Heinz, die H ausfrau Helga und drei K inder. Bald darauf kam ein viertes hinzu, meine kleine S chwester.
Mein Vater hatte Buchhalter in die S palte »Ausgeübte Tätigkeit« geschrieben. Warum eigentlich? V ielleicht sollten sie im
Haus nicht wissen, dass er Regierungsbeamter war. Ich glaube, er arbeitete damals schon im »A mt für Preise«. A ls K ind habe ich ihn ein paar Mal besucht in seinem Büro im Haus der M inisterien. Ein riesiger Nazibau, in dem einst G örings Luftfahrtministerium residierte, heute ist darin das Bundesfinanzministerium untergebracht. Zu DDR-Z eiten haben mein Vater und seine Kollegen dort die Preise festgelegt für alles, was es in der Republik zu kaufen gab. Vaters S chreibtisch war voller A kten- und Papierstapel, sich Preise für D inge auszudenken, war offenbar
furchtbar wichtig und anstrengend. S eitenweise schrieb er mit der Hand irgendwelche Preisberechnungen auf, die eine S ekretärin später auf ihrer S chreibmaschine abtippte. W ährend mein Vater angestrengt formulierte, rauchte er Z igarillos der M arke Bode S pitzen. Ich mochte den D uft in seinem Büro.
A ls Erwachsener ahnte ich, dass er und seine L eute oft nur so taten, als würden sie angestrengt arbeiten. Einmal festgelegte P reise übernahmen sie einfach Jahr für Jahr, zum B eispiel 85 P fennige für eine B ockwurst mit Brötchen, 4,65 M ark für die Zwölfer-Packung Eier oder 18 M ark für eine Dose A nanas.
S päter arbeitete auch Mutter im A mt für Preise. A ls wir 1960 einzogen in die W ilhelm-P ieck-S traße war sie allerdings, wie im Hausbuch steht, tatsächlich »Hausfrau«. M anchmal fragen mich Freunde aus dem Westen: W ie H ausfrau? I n der DDR? Und du warst auch nicht im K indergarten? Tatsächlich, ich war nicht im K indergarten. Auch meine G eschwister nicht. Meine Mutter managte die Familie, sie schmiss den H aushalt in der 140 -Q uadratmeter-Wohnung, putzte, heizte Ö fen und wusch die W äsche, was damals noch Handarbeit war. Deshalb drängte sie jede Woche im »Wohnungsamt des R ates des S tadtbezirks B erlin-M itte« auf eine Neubauwohnung und 1970 war es dann so weit. W ir zogen um und meine Mutter musste nicht mehr heizen, hatte nur noch 75 Q uadratmeter zu putzen, obendrein gingen wir vier K inder inzwischen alle längst zur S chule, deshalb musste sie auch nicht mehr Hausfrau sein.
D ie Z eiten haben sich geändert, niemand würde heute freiwillig aus unserer schönen Wohnung von damals ausziehen – allerdings sind inzwischen auch die Ö fen verschwunden.
E s gab Parkett und an den Decken Stuck, große Flügeltüren mit verschnörkelten Messingklinken. Nach vorne zur Straße lagen das S chlafzimmer meiner E ltern und das Z immer meiner
beiden S chwestern. Zur Hofseite hatten mein Bruder und ich unser Reich. Unser Wohnzimmer, das »Berliner Z immer«, verband das Vorderhaus mit dem H interhaus. D ort waren Bad, Küche, eine kleine K ammer und eine zweite Wohnungstür, die zum Treppenhaus im S eitenflügel führte. Einst hatten in dieser großen Wohnung die Hausbesitzer gelebt.
Für das Jahr 1960 , in dem wir einzogen, verzeichnet das Hausbuch eine gewisse Fluktuation. »Unbekannt verzogen« hieß es dort, wenn wieder jemand in den Westen gegangen war. Die letzten unbekannt Verzogenen waren die Hemmeckes. Damals waren Willy und Elisabeth Hemmecke zunächst unsere Nachbarn, erste Etage links, so ist es nachzulesen. I hr Verschwinden ist für den 12 . August 1961 notiert. Die Hemmeckes waren am Abend vor dem Mauerbau zu Besuch bei Freunden im Westen. A ls sie kurz nach M itternacht zurückkamen, bemerkten sie, dass sich an der Grenze etwas zusammenbraute. Sie holten noch schnell ein paar Papiere von zu Hause und schlüpften im letzten Augenblick nach Westberlin. Eine Freundin der Hemmeckes hat mir die Geschichte erzählt. I nzwischen sind die beiden schon lange tot, ich konnte sie selbst also nicht mehr befragen.
Auch bei den Müllers scheiterte ich. I m Hausbuch hatte ich gelesen, dass im Oktober 1970 der Omnibusfahrer R ainer Müller und die Postbetriebsfacharbeiterin Dagmar Müller mit ihren vier K indern, Frank, Petra, Simone und Nick als Nachmieter in unsere Wohnung gezogen waren.
Familien mit mehr als drei K indern hießen »kinderreich«, was mir, nebenbei gesagt, total peinlich war. Unangenehmer war nur noch der rote Buchstabe F auf den E ssensmarken für uns K inderreiche. F stand für »Frei-E sser«. Wir waren Frei-E sser und in der Pause nach der zweiten Stunde, wenn der Viertelliter M ilch ausgegeben wurde, auch noch Frei-Trinker! Ich wollte kein Frei-
D ie Initiative der Hausgemeinschaft, am 6 Mai 1984 bis spätestens 10 Uhr zur K ommunalwahl zu gehen, schaffte es auch in die BZ am Abend
E sser oder Frei-Trinker, sondern so sein wie die anderen. Das Wort »kinderreich« gilt inzwischen als politisch unkorrekt, weil es suggerieren könnte, dass es diese Familien nur aufs K indergeld absehen würden und sich bereichern wollen. Deshalb heißt es heute offiziell und nicht weniger peinlich »Mehrkindfamilie«.
Wenn ich schon bei sprachlicher G eschichtsaufarbeitung bin – was die Frauen damals als Berufsbezeichnung bei uns im H ausbuch angaben, wäre heute undenkbar: I n den 70 er- und 80 er-Jahren schrieben sie nur die männliche Form ihres Berufes ins Hausbuch, Modegestalter, Programminstrukteur, Textilfacharbeiter oder E xportbearbeiter. Weibliche Berufsbezeichnungen waren noch nicht üblich. A ndererseits gab es seit Ende der 70 erJahre keine »Hausfrau« mehr in unserem Haus, in der WilhelmP ieck-Straße 94 herrschte Vollbeschäftigung.
Ich habe unsere Nachmieter, die Müllers, nicht wieder gefunden. E s gibt in Deutschland einfach zu viele Menschen mit diesem Familiennamen. Nach den Müllers zogen die Meiers in unsere einstige Wohnung. A ktuell steht der Name K rause am K lingelschild. E s scheint, unsere Wohnung zieht Menschen mit A llerweltsnamen geradezu magisch an.
K rauses wollte ich unbedingt kennenlernen, schon um zu wissen, wie es in meiner K indheits-Wohnung jetzt aussieht.
Erstmal aber blätterte ich im Hausbuch zurück in die Vergangenheit und hatte kurz darauf meine erste Verabredung.
1947–1953, Vorderhaus
1. Etage rechts
I hr Teint sah nach G olfurlaub auf Teneriffa aus, das blonde Haar hatte sie straff zum K noten gebunden und sich goldene Clips an die Ohrläppchen gesteckt. Dazu trug sie einen pinkfarbenen Blazer, eine helle Hose, flache italienische S chuhe und strahlte mich aus ihren blauen Augen unternehmungslustig an. Passanten blickten sich verstohlen nach der 77-Jährigen um; weil Christa Kern so klassisch elegant aussieht und niemand hier in B erlinM itte mit diesem Frauentyp rechnet – so durch und durch Z ehlendorf. Zwar wohnten inzwischen auch wieder ein paar A lte hier in der G egend, aber die waren meist der Typ pensionierte S tudienrätin oder Verwaltungsbeamter aus NRW oder Bayern mit Vorliebe für praktische G arderobe und Frisur. D ie S enioren, die jetzt hier in M itte leben, hüten meist für ein paar Tage ihre Enkelkinder oder haben in der Gegend selbst eine Wohnung gekauft und kommen ursprünglich aus Bamberg oder Münster.
Christa Kern in ihrem gediegenen O utfit war anders und mit dem G olf spielen lag ich völlig richtig. Für das Treffen mit mir hatte sie extra ihre vormittägliche Runde auf dem G olfplatz am Wannsee ausfallen lassen.
I n der Torstraße war sie das letzte Mal vor zehn Jahren, verriet sie mir gleich bei der Begrüßung und senkte dabei ein bisschen die S timme: »Das ist ja auch Osten hier. S ieht man auch noch. H ier möchte ich nicht tot über’m Z aun hängen.« Ich
überlegte, wo es hier in der G egend noch nach »O sten« aussah. Unten in den beiden Läden hatten sich jetzt ein Copyshop und eine Galerie eingemietet. A llein auf dem kurzen Straßenabschnitt zwischen Rosenthaler und Rosa-Luxemburg-Platz gab es gefühlt hundert weitere G alerien, Bars und B outiquen. Natürlich waren alle Häuser ringsherum saniert. Wenn Ostberlin irgendwo überhaupt nicht mehr »Osten« war, dann doch wohl hier, entlang der Torstraße. Die LINKE brachte es in der Gegend gerade noch auf magere zehn Prozent und in den Supermärkten hier herrschte schon lange nicht mehr freitags R iesenandrang, sondern am S onnabend. Der Chef der Supermarktkette K aiser’s hat vor Jahren in einem I nterview erklärt, dass die »Ossis« traditionell freitags ihren großen Wochenendeinkauf erledigen, die Westler dagegen am S amstag. Man könne am Tag des Wochenendeinkaufs erkennen, wo O stberlin inzwischen zum Westen geworden sei. B eim EDEKA um die E cke, am Teutoburger Platz, jedenfalls war es jetzt immer sonnabends voll.
Aber ich wollte mich mit Christa Kern nicht streiten. E s ging ja um etwas ganz anderes. S ie und ich hatten im selben H aus gewohnt, sogar in derselben Wohnung, sie allerdings ein paar Jahre vor mir. 1947 war sie als Z ehnjährige mit ihrer Mutter, einer Köchin, eingezogen. I hre alte Wohnung war zerbombt worden.
Obwohl wir uns noch nie begegnet waren, war da sofort eine Vertrautheit. Das Haus war unsere gemeinsame Geschichte. Auch später, bei den anderen Begegnungen, habe ich diese Vertrautheit immer wieder erlebt. Zum Beispiel kamen wir auf unsere Ä ngste zu sprechen. Bei ihr waren es die riesigen Geweihe, die überall in der Wohnung hingen. Gruselig war das, erinnerte sie sich, vor allem nachts. Der Hausbesitzer, der früher in den R äumen residiert hatte, war offenbar leidenschaftlicher Jäger.
Nach dem K rieg lebte nur noch seine W itwe in der Wohnung
und vermietete ein Z immer an Christas Mutter unter. A ls wir Ulrichs in den 60 er-Jahren dort wohnten, waren die G eweihe längst verschwunden, gruselig war es trotzdem noch. Die langen Flure zum Beispiel. Nachts im D unkeln hausten dort Ungeheuer, da war ich mir sicher und fürchtete mich vor dem Weg zur Toilette. A m schlimmsten allerdings war es im Keller. Von dort unten schleppte mein Vater mehrmals in der Woche auf seinem Rücken einen riesigen S ack Kohlebriketts hoch in die erste Etage. A ls Achtjähriger sollte ich ihn dabei begleiten. W ährend er noch den S ack vollpackte, hatte ich meine beiden kleinen E imer im Handumdrehen gefüllt, also musste ich allein hoch in die Wohnung und mit den leeren Eimern wieder zurück in den Keller. Wenn ich Pech hatte, war mein Vater in diesem Moment schon auf dem Weg nach oben. Und dann war ich plötzlich allein in den gruseligen K atakomben, in denen es modrig roch und mich bizarre S chattenspiele und rätselhafte Geräusche zu Tode erschreckten. I n diesen Momenten rannte ich, um mir Mut zu machen, laut singend bis zu unserem Kohlenverschlag, warf panisch ein paar Kohlen in die E imer und rannte so schnell wie möglich wieder die Treppe hinauf. Vermutlich ging es tausenden K indern beim Gang in den Keller so. A ls Erwachsener hat man oft keine Vorstellung mehr von solchen K inderängsten und auch K inder sprechen nicht darüber.
Das wirkliche Geheimnis unseres Kellers erfuhr ich erst viele Jahre später: D ie S ache mit der SS -Uniform, die meine E ltern 1960 kurz nach dem Einzug in der hintersten E cke entdeckt hatten. Diese Uniform habe wohl dem S ohn des einstigen Hausbesitzers gehört, der in Russland von Partisanen erschossen worden war, vermuteten die A lten im H aus. »H auptsturmführer, kein kleines L icht«, meinte mein Vater, der die D ienstrangabzeichen an der Uniform erkannte. A ls Achtzehnjähriger wurde
er 1943 in die Wehrmacht einberufen und hatte in Weißrussland Dörfer gesehen, die die SS dem Erdboden gleichgemacht hatte. S eitdem hasste mein Vater alles M ilitärische.
Christa Kern und ich standen noch eine ganze Weile vor unserer H austür. Ich erzählte ihr, dass man für Wohnungen wie diese in der ersten Etage, 140 Q uadratmeter, vier Z immer mit Parkett und S tuck, inzwischen bis zu 2 .000 Euro Warmmiete bezahlen müsse, was mittlerweile teurer ist als in Z ehlendorf.
Ungläubig zog sie die rechte Augenbraue hoch und erzählte von früher: »Das war hier die totale K leine-Leute-Gegend, hier wurde berlinert, was das Z eug hält. A kademiker oder ›Studierte‹ hat es hier nicht gegeben.« D ie Mutter ihrer besten Freundin war S chneiderin, und Uta, das war auch eine gute Freundin, Uta Burger, deren Eltern hatten eine K neipe hier in der Straße, das K affee Burger. Das K affee Burger? Christa Kern hört zum ersten Mal, dass aus der K neipe der Burgers ein Szenelokal geworden ist, seit Wladimir K aminer dort regelmäßig zur Russendisko einlädt.
Dass sie hier »nicht tot über’m Z aun hängen« wollte, vergaß sie dabei ganz schnell. Sie war wieder in ihrer K indheit: »Damals konnten wir stundenlang auf der Straße Ball spielen, hier in der Torstraße! Wenn S ie heute ein K ind hier spielen lassen, ist es doch nach fünf M inuten tot.« A ls sie etwas älter war, ist sie mit Ruth, dem M ädchen von nebenan, zum Tanzen nach Dahlem gefahren, in die »Eierschale«. Und wie die Männer hinter ihnen her waren! I hr selbst haben die Verehrer immer gesagt, dass sie wie Marina Vlady aussehe, sagte sie lachend.
Beim Tanzen in Dahlem lernte sie auch ihren späteren Mann kennen. Sie war achtzehn, als sie geheiratet haben. I m Wedding eröffneten sie ein kleines Möbellager. S päter wurde daraus ein großes Unternehmen, sie belieferten die gesamte Branche, Höff-
ner, Hübner und K rieger. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie die Firma allein geleitet. Jetzt genießt sie das Leben und die Familie. A lle vier K inder haben eine renommierte Dahlemer Privatschule besucht.
Zum S chluss erzählte ich ihr noch, dass unsere Familie ausgezogen ist, weil meine Mutter es leid war, die riesige Wohnung sauber zu machen und zu beheizen. Ob ich in ihrem Fall schreiben dürfte »weggegangen wegen der Liebe«?
»Ja, und zwar ganz offiziell weggegangen«, darauf legt Christa Kern Wert. Sie ist nicht einfach »verduftet«, wie man damals sagte, sondern hat sich 1956 »offiziell und amtlich« umgemeldet nach Westberlin.
C atrin P rzewozny (*1977)
1978–1990, Vorderhaus
4. Etage rechts
E s müssen ja nicht wieder so viele Jahre vergehen, bis sie das nächste M al in der Torstraße vorbeischaut, hatte Christa Kern zum Abschied noch gesagt. Dann stieg sie in ihren S portwagen, den sie ein paar Häuser entfernt geparkt hatte.
Auch meine nächste »Nachbarin« hatte ihre K indheit in unserem Haus verbracht. Catrin Przewozny war noch ein Baby, als ihre Eltern 1978 mit ihr einzogen: Vorderhaus, vierte Etage, drei Zimmer, kleiner Balkon. A ls mir Frau Morgenstern die Hausbücher schenkte, erzählte sie noch mit leicht empörtem Unterton, dass die Przewoznys die Ersten nach der Wende waren, die einfach gingen, ohne sich ordnungsgemäß im Hausbuch abzumelden. Die seien im Januar 1990 geradezu »geflohen«, verschwanden irgendwohin in den Westen.
Flucht im Januar 1990? Dass DDR-Bürger ihrem L and bis November ’89 den Rücken kehrten, weil sie sonst vielleicht erst als Rentner in die große weite Welt gedurft hätten, leuchtet ein. Dass in den 1990 ern M illionen auf der Suche nach einem Job »rüber machten«, ist auch allgemein bekannt.
Aber im Januar 1990?
V ielleicht wollten die P rzewoznys gar nicht, dass jemand fünfundzwanzig Jahre später nach ihnen sucht? Hatten sie 1990 , aus welchen Gründen auch immer, ein zweites Leben beginnen wollen? Ging es bei ihrer Flucht um irgendeine Stasi-Geschich-
te? War nicht im Januar 1990 die Z entrale der S taatssicherheit an der Normannenstraße gestürmt worden? I m Hausbuch hatte Lutz Przewozny als Beruf zwar »K fz-S chlosser« angegeben und seine Frau K arin trug für sich »Bekleidungsingenieur« ein, aber vielleicht war das ja nur Tarnung. Wobei Stasi-Leute sich in der Regel hinter der Bezeichnung »A ngestellter« versteckten. Wenn zum B eispiel im K lassenbuch in der S palte »Tätigkeit der E ltern« das Wort »A ngestellte« auftauchte, konnte man vermuten, dass die Eltern des M itschülers bei der Stasi arbeiteten.
Ich war jedenfalls gespannt. I m I nternet gab es genau eine Catrin Przewozny und die rief ich an. E s war die richtige.
Ein paar Tage später saß ich in ihrem kargen Büro in einem Potsdamer Einkaufszentrum. Die Gewerkschaft ver.di hat dort ein paar R äume angemietet. Catrin kümmert sich um die I nteressen ostdeutscher K rankenschwestern und Ä rzte.
»Das mit der Flucht stimmt«, bestätigte sie sofort. Sie sprach klar, mit leichtem norddeutschem A kzent und sehr viel W ärme strahlte aus ihren braunen Augen. Damals verstand sie die Welt nicht mehr, sagte sie. A nfang 1990 fand sie sich urplötzlich in diesem kleinen K aff an der dänischen Grenze wieder. S ie war zwölf, hatte die falschen K lamotten, berlinerte und konnte kein Wort Englisch. I m Gymnasium wurde sie eine K lasse zurückgestuft. I n Berlin war sie noch K lassenbeste gewesen, nun fehlte ihr das Zuhause, die Stadt und vor allem unser Haus. Sie hatte ihre Heimat verloren.
Zur Wende, erinnerte sie sich, lebten fast nur Familien mit K indern in der Wilhelm-P ieck-Straße 94. Vor allem mit Susanne und M ichael verstand sie sich gut. Der Vater der beiden war Parteisekretär im Palast der Republik. Wenn Catrin nachts mal wieder allein zu Hause war und A ngst hatte, konnte sie jederzeit bei den Bohnkes klingeln.
»Parteisekretär vom Palast der Republik?«, fragte ich überrascht. »Ja«, lachte sie, »auch der ABV, also der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei wohnte bei uns im Haus.«
Gleich zwei F unktionäre im H aus meiner K indheit zum E nde der DDR? B evorzugten solche G enossen nicht eher die schicken Neubauten am A lex, im Nikolaiviertel oder an der Leipziger Straße? »Nein«, erklärte sie mir, »es gab ja insgesamt 14 Wohnungen im Haus, da fielen ein Parteisekretär und ein Polizist nicht weiter ins Gewicht.«
I hre Eltern betrieben eine K neipe, erinnerte sich die Tochter der Przewoznys. »E s gab ja viel zu wenig Restaurants und Cafés. Deshalb lebten Gastronomen super damals, wir hatten einen VW-Bus, ein Grundstück am S ee und immer reichlich Westgeld. Vom Ketchup bis zur S eife kam bei uns zu Hause fast alles aus dem I ntershop.« D ie Eltern gehörten sozusagen zur eigentlich herrschenden K lasse in der DDR : Handwerker und G astronomen, die sich ihre Leistungen gerne zu Teilen in Westmark bezahlen ließen. Der Rest der B evölkerung spekulierte – was die begehrte D -Mark anging – auf eine möglichst spendierfreudige Westverwandtschaft.
D ie S ippschaft der Ulrichs war in dieser B eziehung allerdings ein glatter Ausfall und ließ bestenfalls mal eine Packung K augummi springen. Einzige Ausnahme war der breitschultrige Onkel A rmin, der meinem Bruder zur Jugendweihe das BeatlesA lbum »Help« durch die Grenzkontrolle in die Wilhelm-P ieckS traße schmuggelte. Der Onkel hatte sich die S challplatte mit Heftpflaster auf den Rücken geklebt, zur besseren Tarnung allerdings die E cken des Covers abgeschnitten. Mein Bruder beschwerte sich nicht, obwohl er mit einer beschnittenen Plattenhülle nicht gut angeben konnte und, wie er kritisch anmerkte, gab es wirklich bessere Beatles-A lben. Ich tauschte mit siebzehn
bei meinem S chulfreund Christoph 180 DDR-Mark gegen 60 DMark ein und kaufte mir im I ntershop meine erste Levy’s. Mädchen, die vorher durch mich hindurch gesehen hatten, bemerkten mich plötzlich.
Aber zurück zu den P rzewoznys, denen es also ganz gut in der DDR ging – jedenfalls im Prinzip. I rgendetwas stimmte nicht, denn C atrin saß oft stundenlang am Fenster und starrte traurig auf die W ilhelm-P ieck-S traße. Gleichzeitig fingen die schlimmen Streitereien mit ihrer Mutter an. »D u bist nicht meine Mutter!«,
sie damals immer öfter geschrien.
I n S chleswig-Holstein wurde der Stress mit der Mutter noch schlimmer, mit siebzehn zog sie zu ihrem Freund, schmiss das Gymnasium, später auch die Ausbildung im Hotel, jobbte statt-
hatteC atrin P rzewozny – von der A doption des K indes wusste niemand im Haus
dessen in einem Supermarkt, heuerte bei einer K rankenhaus-S ervicefirma an, und mit zwanzig brachte sie ihren S ohn zur Welt.
I m K rankenhaus fragte man sie nach ihrer Geburtsurkunde. A ls ihre Eltern davon erfuhren, waren sie plötzlich total aufgeregt. Sie würden sowieso gerade nach Berlin fahren und könnten ihr von dort eine beglaubigte Kopie mitbringen.
Catrin Przewozny schlug sich mit der flachen Hand vor die S tirn, sah mich an und lachte: »Ich S chaf, meine Eltern haben blaue Augen, ich habe braune. Das hätte mir damals schon auffallen müssen!« D ie Eltern brachten dann tatsächlich eine G eburtsurkunde aus B erlin mit, eine merkwürdige allerdings, in der nichts über Catrins Eltern stand. Erst viel später, mit dreißig, fragte sie endlich, ob sie adoptiert war.
Nun erfuhr sie ihre eigene Geschichte: Die Przewoznys hatten sich immer ein K ind gewünscht und dann kam dieser A nruf aus der K linik in Berlin-Lichtenberg. Eine Frau hatte gerade ihr sechstes K ind zur Welt gebracht und das Baby dort gelassen, weil sie mit den anderen fünf schon überfordert war. Ein paar Monate später zogen die Eltern mit dem Baby in die WilhelmP ieck-Straße. Von der Adoption wusste niemand im Haus.
Aber war das ein Grund, Berlin 1990 so fluchtartig zu verlassen? S chließlich hatten die Eltern doch einfach nur den richtigen Z eitpunkt verpasst, der Tochter die Adoption zu beichten.
»E igentlich war das kein Grund«, meinte C atrin. »A ber die Z eiten damals waren irrational. Täglich war die Rede von irgendwelchen A kten, die veröffentlicht werden. Meine Eltern hatten A ngst, dass auch sämtliche Adoptionsakten rausgegeben werden. Vor allem befürchteten sie, dass ich dann zu meinen leiblichen Eltern zurückgehen würde.«
Ja, sie hat ihre leibliche Mutter dann mal angerufen. Die war betrunken und lallte nur am Telefon. Auch beim leiblichen Vater
hatte sie sich gemeldet. Der brüllte, sie solle ihn in Ruhe lassen. M it einigen ihrer leiblichen Geschwister hatte sie sich auch getroffen, aber Verwandtschaftsgefühle kamen nicht auf. Dafür fehlten wahrscheinlich die gemeinsamen K indheitserfahrungen, glaubt sie.
Sie solle froh sein, dass sie adoptiert worden sei, haben ihr die Geschwister gesagt. Das sei sie auch. I hre Adoptiveltern sind inzwischen wieder das, was sie auch vorher für sie waren, ihre Eltern.
Vor einem V ierteljahrhundert hatte C atrin P rzewozny ihr Zuhause verloren. I nzwischen schmerzt es nicht mehr, wenn sie an ihrem, unserem Haus vorbeikomme und das tat sie oft in den letzten Jahren, nämlich immer, wenn sie für ver.di in der Charité zu tun habe. S eit Kurzem kümmert sie sich gewerkschaftlich ums K rankenhauspersonal zwischen Bremen, K iel und Hannover.
Die Wochenenden verbringt sie bei ihrer Familie an der dänischen Grenze. Sie ist jetzt zufrieden mit ihrem Leben.
D etlef B ohnke (*1950)
1978–1989, Vorderhaus
3. Etage links
C atrin Przewozny hatte ihn beiläufig als netten Nachbarn erwähnt. Komisch, ich hatte die Hausbücher nun schon so oft studiert, aber, wie schon erwähnt, keinen »Parteisekretär« entdeckt. Erst durch Catrins Tipp fand ich ihn. Denn Detlef Bohnke hatte 1978 lediglich »politischer M itarbeiter« bei seinem Einzug mit Frau und K ind als seine Tätigkeit angegeben.
Auch in seinem Fall frage ich mich zunächst, ob er nach fünfundzwanzig Jahren nicht einfach seine Ruhe haben will, zumal ich übers Melderegister herausgefunden hatte, dass Detlef Bohnke inzwischen am R ande von Frankfurt am Main lebt. Der ehemalige Parteisekretär vom »Haus des Volkes«, wie der Palast der Republik in der DDR auch offiziell bezeichnet wurde, sollte nun also ausgerechnet in der Bankenmetropole, der Z entrale des Finanzkapitals, zu Hause sein?
Ich rief ihn an und er sagte sofort zu. Er sei regelmäßig bei seinen K indern in Berlin, wir könnten uns bald mal treffen.
I m Café am Weinbergsweg laufe ich erst mal an ihm vorbei. M it L ederjacke, S onnenbrille und grauem S chnauzer sieht er aus wie einer dieser S echzigjährigen, die sich eine Harley kaufen und es noch mal richtig krachen lassen wollen. A n einen SEDFunktionär erinnert mich dieser Typ überhaupt nicht. B ohnke lacht scheppernd, steckt sich eine Marlboro an, sagt, er sei »nur« stellvertretender Parteisekretär im Palast der Republik gewesen.
A ls er in unser Haus einzog, wohnten wir, die Ulrichs, schon lange nicht mehr dort. Aber an den Palast kann ich mich sehr gut erinnern. Für uns Jugendliche war der Bau am Marx-Engels-Platz in den 1970 er-Jahren eine, wie man heute sagen würde, coole Location. Wir lümmelten nach der S chule im großen Foyer in Ledersesseln herum und rauchten betont lässig unsere K aro- oder Juwel-Z igaretten. Kein Erwachsener machte uns irgendwelche Vorhaltungen. I m Gegenteil, die freundlichen Palast-Hostessen lächelten sogar uns pickligen L anghaarigen freundlich zu. M it etwas Glück ergatterten wir gelegentlich K arten für die D isko im Untergeschoss. Dort gab es eine sich drehende, auf und ab bewegende Tanzfläche, der absolute Clou damals.
Aber was hatte eigentlich ein Parteisekretär zu tun in dem größten Vergnügungstempel der Hauptstadt?
»Um das Parteileben musste ich mich kümmern, schließlich war ja die H älfte der zweitausend M itarbeiter G enossen. D a mussten Versammlungen und S chulungen abgehalten werden, und für die Parteidisziplin war ich schließlich auch zuständig.«
Eine Strafe allerdings habe er nur ein einziges Mal verhängt. Zu der stehe er heute noch. Eine G enossin kam damals in sein Büro gestürmt, B ohnke sollte helfen, ihr M ann gehe fremd. Bohnke und die Partei sollten den Untreuen zur R aison bringen. Das war kurz vor dem E nde der DDR und die E inheitspartei mischte sich längst nicht mehr so inquisitorisch ins Ehe- und S exualleben ihrer M itglieder ein, wie sie es noch in den 50 er- oder 60 er-Jahren getan hatte. Die Genossen akzeptierten inzwischen stillschweigend, dass die O stdeutschen ein promiskes Volk waren und genauso gern heirateten, wie sie sich auch wieder trennten, die Q uote lag bei eins zu eins. Ehescheidungen waren
damals noch kein Synonym für drohende lebenslange Unterhaltszahlungen an den E x-Partner, das S cheidungsrecht war ein
anderes, und es herrschte Vollbeschäftigung. B ohnke aber war über den Ehebruch vor Empörung außer sich und bearbeitete die Parteileitung so lange, bis der untreue Gatte eine Rüge kassierte. »Familie und Treue«, sagt Detlef Bohnke und zündet sich die nächste Zigarette an, »sind noch heute die wichtigsten Werte für mich.«
Vielleicht ganz gut, dass er und ich zu unterschiedlichen Z eiten in der W ilhelm-P ieck-S traße 94 gewohnt haben. Wer lebt schon gern mit so einem Tugendwächter unter einem D ach. »Ach«, beteuert er, »in der W ilhelm-P ieck-Straße war ich einfach nur Nachbar. Da waren wir alle gleich, egal ob Bonzen oder A rbeiter.«
»B onzen oder A rbeiter«, das sollte jetzt vermutlich cool klingen. W ie war denn das wirklich mit den B onzen und den A rbeitern? I m Kopf checke ich schnell das Hausbuch, mittlerweile kenne ich es in- und auswendig. Ende der 80 er-Jahre lebten zwei A rbeiter- und zwei »B onzenfamilien« – wie B ohnke sie nennt – im Haus, außerdem einige A kademiker, wahrscheinlich keine ungewöhnliche M ischung für Ostberlin in jenen Z eiten.
»M al ehrlich, war das wirklich eine richtige G emeinschaft, gab es keine K lassenunterschiede in der W ilhelm-P ieck-S traße?«, frage ich ihn.
Da erzählt er mir die S ache mit der S auna. D ie wollten sich die H ausbewohner gemeinsam oben im D achboden einbauen.
I n der S auna zu schwitzen war seit den 70 er-Jahren immer beliebter geworden. E ines Tages hockten sie bei B ohnke am Küchentisch und zeichneten erste S kizzen. S päter hatten sie alles M aterial beschafft, eine B augenehmigung besorgt sowie einen K lempner und einen E lektriker organisiert. D ie S aunakabine zimmerten sie sich selbst zusammen, er, der Parteisekretär, der K neipier aus der vierten und der I ngenieur aus der ersten Eta-