Verlorene Felder (Leseprobe)

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Hans-J端rgen Schmelzer

Verlorene Felder

Stunde Null im Oderbruch 1945/46

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Meinem Sohn Ferdinand gewidmet

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © edition q im be.bra verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2016 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin Umschlag und Satz: typegerecht, Berlin Schrift: Dante 10,5/14,3 pt Druck und Bindung: Finidr, Cˇeský Teˇšín ISBN 978-3-86124-698-5 www.bebraverlag.de

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Inhalt

Vorwort

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Flucht aus dem Oderbruch

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Gestrandet

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Nach Hause

39

Die Bodenreform

52

Das Ende des letzten Kriegsjahres

65

Weihnachten 1945

78

Der Gutsherr als Landarbeiter

91

Zwischen Oderbruch und Magdeburger Börde

104

Unterwegs

118

Hoffnung

129

Im Märzen der Bauer

141

In Schwaneberg

154

Uns geht’s ja noch gold

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Plagen im Mai

176

Gehen oder bleiben?

188

Schicksale

200

Bilanz eines Sommers

211

Bonzenwirtschaft

222

Land f端r den Gutsbesitzer?

234

Dunkle Wolken

247

Die Ausweisung

259

Ein neues Leben

273

Statt eines Nachworts

293

Anhang

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Der ist in tiefster Seele treu, Wer die Heimat liebt wie du. Theodor Fontane

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Vorwort

Man hat den 1945 im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands enteigneten Großbauern und Gutsbesitzern sowie deren Nachkommen nach der Wiedervereinigung vorgeworfen, sie hätten bei Kriegsende alles im Stich gelassen, seien in den Westen gegangen, um sich dort ein angenehmes Leben zu machen, während die zurückgekehrten und zurückgebliebenen Menschen Wiederaufbau leisteten und mit den neuen Verhältnissen zurechtkommen mussten. Genau so hatten es Zeitungen des SED-Staates gerne dargestellt. Wer wusste schon noch, dass die ehemaligen Besitzer des nun »volkseigenen« Ackerlandes sich keineswegs freiwillig von der Heimat abgewandt hatten, dass man sie festnahm, verschleppte, in Arbeitslager steckte für den Fall, dass sie sich unterstanden, zurückzukehren, und dass ihre Nachkommen niemals die Chance erhalten hätten, die höhere Schule zu besuchen, ein Studium abzuschließen. Dieses Buch schildert und dokumentiert Lebenszeugnisse eines solchen, von den Kommunisten als »Ausbeuter« beschimpften Landwirts, der trotz in Kraft getretener Bodenreform und mit ihr verbundener Zwangsausweisung in das durch wochenlange Frontkämpfe völlig zerstörte Heimatdorf zurückkehrte und unter stiller Duldung der Bevölkerung und mit Einverständnis der eingesetzten KP-Führung bis in den Frühherbst 1946 blieb und, keine Arbeit scheuend, sich für den Wiederaufbau einsetzte. Freilich musste er sich für diese Zeit von seiner Familie trennen, die in dem verelendeten Gebiet vor Hunger umgekommen wäre. Diese musste sich 250 Kilometer westlich mit regelmäßigen Briefberichten begnügen, in denen der fern Ausharrende Not und Alltag der Menschen, aber auch sein eigenes Los aufs Anschaulichste beschrieb. Die Briefe wurden aufbewahrt. Sie dienten Vorwort

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dem Verfasser dieses Buches als einzigartige Quelle für eine Zeitgeschichte des Oderbruchs kurz nach Kriegsende. Die Zeugnisse zeigen, wie die Bewohner trotz Hungers, trotz zugiger Kellerwohnungen, ohne Heizung und ohne elektrischen Strom, bei lumpiger Bezahlung und ständiger Unterversorgung durchzuhalten versuchen. Die Beschreibungen zeigen, wie diese Menschen aller Hungerei und Schufterei zum Trotz noch Witze machen, lachen und hoffen konnten. Wie der erbitterte Kampf ums Dasein in ihren Herzen immer wieder Platz für menschliche Güte, Rücksicht und Hilfsbereitschaft ließ. Man erfährt aber auch, wie Eigeninitiative, persönlicher Einsatz, Mut zu neuen Wegen von einem autoritären, gleichmachenden System oft schon im Keim erstickt wurden. Wie überhöhte Ablieferungsbestimmungen selbstständige Betriebe, noch ehe sie aufblühen konnten, vollkommen ruinierten. Wie unter den neuen Dorfoberen die Korruption ihre Blüten trieb. Wie trotz aller Widrigkeiten neu angesiedelte Flüchtlinge aus dem Schwarzmeergebiet das Ackerland zu neuen Erträgen brachten. Das Bild eines strebsamen, zähen, tapferen Menschenschlags gewinnt Konturen, der, hätte man ihn damals samt Grund und Boden in den freien Westen verpflanzt, mit seinem beharrlichen Fleiß in wenigen Jahren ein mindestens ebenso großes Wirtschaftswunder auf die Beine gestellt hätte wie die Bewohner der aus den drei Westzonen 1949 gegründeten Bundesrepublik. Hans-Jürgen Schmelzer Hameln, im Februar 2016

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Vorwort

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Flucht aus dem Oderbruch

Das im November 2013 erschienene Buch Meines Vaters Felder berichtet, wie aus der jahrhundertealten Domäne Sachsendorf im Oderbruch unter dem aus der Magdeburger Börde stammenden Amtsrat Adolph Schmelzer schließlich Familienbesitz wurde. Zuvor hatte der mit modernster Feldwirtschaft Vertraute durch Dränage, der Schwere des Bodens gerecht werdende Bespannung, bahnbrechende Verfahrenstechniken im Getreide- und Zuckerrübenanbau das Land zu einer wahren Goldgrube erschlossen. Fünfzehn Jahre nach seinem Tod übernahm der Enkel Hans-Adolf Schmelzer, Landwirt mit Leib und Seele wie der Großvater, den Betrieb samt Vorwerk Werder und Lehngut Hathenow, insgesamt 4.800 Morgen. Sie waren unter dem Vorgänger allesamt durch eine unglückliche Verpachtung, durch Kriegsfolgen, Währungsverfall, Unruhen bei der Landbevölkerung sehr heruntergekommen. Dank geregelter Preispolitik und finanzieller Erholung in den 1930er-Jahren gelang es dem sozial äußerst fortschrittlich eingestellten Nachfolger, auf allen drei Betrieben allmählich wieder höchste Erträge zu erzielen und seiner fast 200 Mitarbeiter zählenden Belegschaft gute Entlohnung und menschenwürdige Unterkunft zu sichern. Da Hans-Adolf Schmelzer wegen der Größe der von ihm verwalteten Anbaufläche in Hitlers Krieg nie eingezogen wurde, war es ihm möglich, Anfang Februar 1945 vor der heranrückenden Roten Armee den Treck seines Dorfes zu organisieren und westwärts zu führen. Auf behördliche Anordnung durften aber die Grenzen des Heimatkreises Lebus1 vom Treck nicht überschritten werden. So blieb man am äußersten Südwestzipfel unweit Fürstenwalde in Alt Madlitz über zwei Monate lang hängen, und zwar bis Mitte April 1945. Aus dieser Zeit stammt der nachfolgende Brief. Flucht aus dem Oderbruch

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Amtsrat Adolph Schmelzer

Der Bericht wurde von Hans-Adolf Schmelzer am 5. März 1945, während des Aufenthalts des Sachsendorfer Trecks in Alt Madlitz (7. Februar bis 20. April 1945), an die Berliner Medizinstudentin Helga Hille2 geschrieben. Getippt auf dessen ERIKA-Schreibmaschine, ergibt er vier eng gedruckte Seiten. Es ist zu diesem Zeitpunkt für den Treckführer nicht mehr möglich, in das verlassene Heimatdorf zurückzukehren (er hatte es zuvor trotz Tieffliegerbeschuss täglich aufgesucht), weil das Oderbruch mehr und mehr zur Front geworden ist. Also hockt Hans untätig in Madlitz, schreibt Briefe an Freunde und Verwandte. Dass er der 25-jährigen Medizinstudentin, häufiger Feriengast auf Gut Sachsendorf und vom Absender freundschaftlich »Bulli« genannt, eine derartig ausführliche, akribisch detaillierte Reportage über Verlauf und Situation des Sachsendorfer Trecks lieferte, mochte an seinem Bedürfnis gelegen haben, die haarsträubenden Erlebnisse der vergangenen fünf Wochen irgendwie festzuhalten – man wusste ja nicht, wie alles enden würde, konnte nicht ermessen, was die kommenden Wochen bringen würden, ja ob man sie überhaupt überleben 12

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würde. So sehr Hans-Adolf Schmelzer hoffte, war er doch von Natur Pessimist, der zwar nicht mit dem Schlimmsten unweigerlich rechnete, sich aber nicht scheute, es bei realistischer Einschätzung der Lage immer wieder in Erwägung zu ziehen. Den Bericht hat Helga Hille, verheiratete Otto, Kinderärztin in Berlin, aufbewahrt und im Alter dem Autor dieses Buches, ihrem Patensohn, zum Geschenk gemacht. z. Z. Alt Madlitz3 über Fürstenwalde/Spree Mein lieber Bulli! 5. März 1945 Dein Brief heute ist die erste Nachricht, die uns hier erreichte, und auch das erste Zeichen, dass unsere Briefe ihren Bestimmungsort fanden. Wir danken Dir sehr und freuen uns, dass es Dir gut geht. Staunen eigentlich, dass es dort noch möglich ist, Examen zu machen und seinen Verrichtungen nachzugehen, da wir glaubten, es ginge alles drunter und drüber.4 Meine Karte an Dich war die erste Nachricht, die ich von hier aus gab. Damals waren uns Briefe nicht erlaubt. Wir sind seitdem hier in Madlitz. Das Gut gehört mit zwei Vorwerken einer Gräfin. Auf diesen drei Wirtschaften hausen die Menschen unseres Trecks – mit Verwandten und Zuläufern 389 Köpfe – bei den Arbeitern, in Schule und anderen Unterkünften. Anfangs waren wir selbst mit etwa 30 Leuten im gräflichen Schloss untergekommen. Sehr eng zusammen. Wir, das waren wir beide mit den Kindern, Annelises 3 Kinder mit dem Mädchen5, Ella (Kuhnert, Stubenmädchen), Gerda (Schulz, Küchenmädchen), Lisa (Kreidner, zunächst Kindermädchen, dann Mitarbeiterin in der landwirtschaftlichen Verwaltung) und Frau (Auguste) Müller (Kochfrau), dazu Asta (Hans-Adolfs Jagdhündin) und Nixe (Lisas schwarzer Spaniel). Die Gräfin und ihre Verwaltung waren s e h r schlecht zu uns. Wir lagen zu 6 bzw. 9 in zwei Zimmern mit je 3 Betten, obwohl an die 80 Räume im Schloss leer standen. Unsere Leute noch enger. Wir mussten unsere Kartoffeln aus Sachsendorf holen (bei Tieffliegerbeschuss), obwohl hier 60.000 Ztr. eingemietet liegen, bekamen kein Holz zum Kochen, obgleich der Betrieb 12.000 Morgen Wald besitzt usw. usw. Schließlich kam noch ein Generalkommando, das unsere Räume im Schloss beanspruchte und uns zum Flucht aus dem Oderbruch

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Ausziehen zwang. Man bot uns die Straße als Unterkunft an, wo ja ein Teil meiner Leute in ihren Wagen hätten kampieren können, doch schien mir das bei der Jahreszeit unmöglich. So war ich gezwungen, mich an Kreisbauernschaft und Partei zu wenden, die uns dann auch Unterkünfte schaffte und die (Guts)Verwaltung zwang, uns das zu geben, was wir benötigen. Seitdem haben wir auskömmliches Leben. Wir selbst sind mit den Pfarrers6 hier zu (Schuhmachermeister) Böse gezogen. Haben zwei ganz kleine Stuben, in denen wir auf Strohschütte schlafen, und eine eigene kleine Küche, was sehr viel wert ist. In unserer Schlafstube waren wir fünf mit den Mädels, Frau Müller und drei Pfarrerskindern, die andere hatten die übrigen Pfarrers. Inzwischen ist es gelungen, die Pfarrers wieder ins Schloss zurück zu quartieren, so dass wir nun die eine sehr kleine Stube als Tageswohnzimmer herrichten konnten. Nun lässt es sich aushalten. Die Kinder der Annelise habe ich, als die Russen immer näher rückten und es auch aussah, als ob wir weitertrecken müssten, mit meinem reisegewandten Gärtnerehepaar 7 zu Verwandten hinter Magdeburg geschickt. Die Kinder schienen uns den Anstrengungen solcher Trecktour nicht gewachsen. Von Annelise und Mann haben wir keine Nachricht. Sie scheint den Russen in die Hände gefallen zu sein, der Mann wird in Graudenz eingeschlossen sein. Die übrigen vier Kinder???8 Unser Treck ging am 5.2. (1945) aus Sachsendorf. Mit den Dörflern zusammen einige 60 Fuhrwerke. Ich selbst hatte 28 Pferde- und 18 Ochsengespanne in Gang gesetzt. Ein Teil der Wagen hatte ich vorher schon mit Planen und Teppichen überdachen lassen. In diese kamen vornehmlich die kinderreichen Familien. Wir selbst hatten auch solchen Wagen, dem ich mein Auto hintergehängt hatte. Lisa und Gisela (Hans-Adolfs Ehefrau) bestiegen den Einspännerwagen mit den Hunden. Die Annelise-Kinder mit Mädchen hatte ich in den von den Füchsen gezogenen Zuwagen getan und die Russenpferdchen vor einen Ackerwagen als Vorratswagen gespannt. Jeder Ackerwagen bekam vorgeschrieben, wen er zu laden hatte, und jeder Wagen erhielt einen Sack Briketts, Zucker, Erbsen usw. sowie Futter für das Zugvieh auf 14 Tage. Wir wussten ja nicht, wohin uns der Weg führen würde. Wir zogen aus, weil die Russen inzwischen in Reitwein saßen, nördlich bei Kienitz über die Oder gegangen waren, daselbst einen stärkeren Brückenkopf gebildet hatten 14

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Der Sachsendorfer Gutshof, der im Februar 1945 verlassen werden musste

und von dort aus bis Genschmar gekommen waren. Rund um Sachsendorf standen zahlreiche Geschütze, und (so) mussten wir annehmen, dass das Feuer eine Antwort der Russen einbringen würde. Die erste Nacht blieben wir in Dolgelin. Das heißt, nachdem dort der Treck zur Ruhe gekommen war, fuhr ich im Auto mit Lisa wieder nach Sachsendorf, da mir der Gedanke furchtbar war, dort über 2.000 Schafe, 350 Rinder, 300 Schweine und die Hühner futter- und pflegelos stehen zu haben. Das Dorf war restlos von allen Deutschen verlassen und bot einen trostlosen Eindruck, den man gar nicht beschreiben kann. Der Auszug war morgens früh im Dunkeln geschehen. Der Hof sah toll aus. Vieh stand herum, alle Tore und Türen an Speichern usw. standen offen. Nun gingen Lisa und ich erst daran, im Hause Ordnung zu schaffen, alles zu schließen, die Verdunkelungen zuzumachen usw. Dann machten wir auf dem Hof Ordnung. Ich holte die Polen9 zum Melken und Füttern der Kühe und Schafe. Bei Dunkelheit gingen wir durchs Dorf, das vollkommen tot schien. Kein Mensch, kein Laut, kein Tier, nur hier und da standen Ausländer stumm vor ihren UnterFlucht aus dem Oderbruch

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künften. Wir kontrollierten die Kasernen der Polen usw. nach Ortsfremden; aber es war alles in Ordnung. Im Hause bei mir im Wohnzimmer lag der Befehlsstand einer Batterie. Nachdem der Hauptmann uns zugesagt hatte, uns im Falle der Not zu wecken, gingen wir zu Bett. Todmüde. Die Tage zuvor war ich kaum zum Schlafen gekommen. Ich hatte mein Nachtquartier im Wohnzimmer aufgeschlagen, um den Telefonen der Vorwerke nahe zu sein, da man dort stündlich mit dem Erscheinen der Russen zu rechnen hatte, die mit ihren Spähtrupps die Gegend durchzogen. An die acht Tage waren die Ostflüchtlingstrecks durchs Dorf gezogen, von denen wir alle unterbrachten, die bei Dunkelheit ankamen und den nächsten Ort nicht mehr erreichen konnten. Esszimmer und andere Räume waren zu Strohschütten eingerichtet worden, und (so) hatten wir unendlich viele dieser Unglücksmenschen bei uns liegen, die teilweise 14 Tage und länger bei Schnee und Frost mit den Russen um die Wette zur Oder gelaufen waren. Viel, viel Elend gab es da. Sie berichteten viel Schlimmes, das sie teilweise mit den Russen erlebt und über sie gehört hatten. Am Morgen waren wir endlich mal leidlich ausgeschlafen. Die über das Dorf brausenden Salven unserer schweren hinter dem Dorf stehenden Batterien hatten uns weniger gestört als beruhigt, nachdem wir eine gute Woche lang nur rückwärts flüchtende, völlig aufgelöste, verwahrloste Soldaten gesehen hatten, die an alles andere als Verteidigen dachten. Eine Woche vordem hatten wir übrigens eine Schwadron Kosaken bei uns einquartiert. Im Hause 2 Offiziere. Leidlich artig, aber doch unangenehm. Als es hieß, die ersten Russenpanzer seien in Küstrin, gingen sie auf und davon gen Westen. Später soll man sie entwaffnet haben. Sie wollten eigentlich zur Wlassow-Armee.10 Nachdem wir den Ausländern die Arbeit eingeteilt und sie richtig instruiert hatten, fuhren wir morgens zum Treck nach Dolgelin. Aber – der war (unter Giselas Führung) längst aufgebrochen. Man hatte ihn 15 km weiter nach Döbberin geschickt. Da traf ich ihn, grad ins Dorf einfahrend, an, das überfüllt war und ihn nicht lassen konnte. Schließlich bekam ich die Bauerngespanne dort unter und fuhr weiter, Quartier zu suchen, das ich 12 km entfernt in Petershagen bei Günther Schulz-Wulkow11 fand. Dorthin beorderte ich die Fahrzeuge und fuhr wieder nach Sachsendorf. Als ich gegen 16

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Hans-Adolfs Kinder Kurt, Angela und Hans-Jürgen (von links) wenige Wochen vor dem Aufbruch

21 Uhr erneut in Petershagen eintraf, erfuhr ich, dass kurz ehe der Treck dort ankam, SS die Unterkünfte belegt hatte und Gisela inzwischen 10 km weiter hierher nach Madlitz gezogen war. Das bedeutete für die armen Ochsengespanne einen sehr weiten Tagesmarsch, der dann auch dazu führte, dass ich tags darauf 2 notschlachten lassen musste. Von Madlitz aus bin ich nun alle Tage nach Sachsendorf gefahren. Der Gutsbetrieb ging da mit den Polen so leidlich weiter. Das heißt, wir bekamen nach und nach auch einige Deutsche wieder dorthin, und unsere Tätigkeit bestand darin, das Vieh zu versorgen und mit den aus Madlitz hinbeorderten Fuhrwerken Futter für die Treckanspannung herzuschaffen. Allmählich rückte mehr Militär ins Dorf, darunter eines Nachts eine Truppe, die von 1 bis 4 Uhr dort hauste und alles verwüstete, was es gab. (Ich selbst war nachts immer in Madlitz.) Sämtliche Zimmer erbrochen, alle Schränke und Behältnisse durchwühlt und durchplündert. Die Soldaten haben nichts geschont, auch die Leutewohnungen nicht. Ob Kleiderschrank, ob Luftschutzkasten, ob Vorratskammer oder Schulranzen eines Kindes, alles, alles wurde verwüstet. Unter den auf dem Hof herumlaufenden Soldaten fand ich einen Flucht aus dem Oderbruch

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mir persönlich bekannten Schulfreund von Reimar Schmelzer.12 Mit dessen Hilfe konnte ich Ordnung unter den Soldaten und im Hause schaffen, die Zimmer, die Lisa und ich benutzen wollten, zuschließen und als »privat« kennzeichnen. Das hielt bis jetzt vor. Sehr aber hatten es alle auf den Weinkeller abgesehen, den sie immer wieder erbrachen. Da dort mal alles verschwinden würde, benutzte ich die verbliebenen Weinflaschen, um mir von den Soldaten dafür Benzin und Zigaretten einzuhandeln. Nach Madlitz und zurück sind es immer 60–80 km, wozu häufig Umwege kommen. So hatte ich mir an 1.500 Zigaretten und eine Reserve von 100 Litern Benzin beschafft und erschnorrte mir laufend den Tagesbedarf. Die Russen rückten immer näher, da sie Brücken über der Oder errichtet hatten, über die sie sich verstärkten. Bald gehörte ihnen Manschnow und Herzershof, Reitwein, Podelzig und Lebus. Die Bahnlinie Podelzig Reitwein etwa war unsere HKL (Hauptkampflinie). Von da aus fingen die Feinde an, in die Dörfer hineinzuschießen. Nur mit Granatwerfern, die Splitter-, aber keine Brandwirkung haben. Deshalb sollte nun das gesamte Vieh zum Schlachten abgetrieben werden. Ich bemühte mich mit Erfolg um Unterkunft für meine Schafe und konnte 850 in Heinersdorf und 650 in Behlendorf unterbringen. Für 38 Kühe bekam ich mit Hilfe der Kreisleitung Platz hier in Madlitz auf einem Vorwerk und für 24 Zugochsen ebenfalls hier auf einem Bauernhof. Das Viehzeug brachte ich nun alles raus. Die Schafe überführten die Schäfer ohne einen einzigen Verlust. Auch das übrige Vieh kam gut an. Nun sind die Höhewirtschaften13 nach der schlechten Ernte aber sehr futterarm, so dass die Hauptschwierigkeit die Futterbeschaffung war. Ich ließ nun (aus Sachsendorf) täglich je einen Trecker nach Behlendorf, Heinersdorf und Madlitz und 6 Gespanne abwechselnd je 2 dorthin Futter fahren, so dass ich bald überall für 2 ½ Monate Vorrat hatte. Das alles zu erreichen war sehr schwer, da die zur Räumung bestimmten Sonderführer ihren Ehrgeiz darein setzten, möglichst viel Vieh von sich aus zum Schlachten abzutreiben, damit sie mit den Zahlen auftreten konnten, die sie vor den Russen gerettet hatten. Jedes von mir auf Seite geschaffte Vieh ging ihnen durch die Binsen. Und es entwickelte sich ein Kampf darum, bei dem mir leider an die 50 Kühe fortgetrieben wurden (über Nacht), ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Ich ahnte ja erst nicht, dass es den Sonderfüh18

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Auf Sachsendorf beschäftigte polnische Landarbeiter

rern mehr darum zu tun war, mit ihren Zahlen zu prahlen, als vielmehr Vieh für die Volksernährung zu retten bzw. auch für spätere Zeiten. Schließlich ging der Streit so weit, dass die Geister mir mit Verhaftung usw. drohten und ich erst über die Behörden gehen musste, mich davor zu bewahren. Die Behörden aller Art haben mir überhaupt unendlich viel geholfen. Ob Landrat, ob Kreisbauernschaft oder Kreisleitung, schließlich auch Feldgendarmerie und Gestapo. Ich brauchte nie vergeblich zu fragen, und ihre Hilfe war immer freundlich und durchgreifend. Der Kreisbauernführer, auf dessen Hof die Russen sitzen und der hier ins Nachbardorf evakuiert ist, arbeitet richtig kameradschaftlich mit einem zusammen. Ich fahre öfters mal abends zu ihm.14 In den letzten 14 Tagen hatten die Russen nun auch mit ihrer Fliegerei zu arbeiten angefangen. Die Sachsendorfer Dorfstraße beschossen sie mit ihren Bordwaffen, nahmen sich gern Autos vor und steckten bei solcher Gelegenheit, als sie einen Oberzahlmeister in seinem dicken PKW beharkten, ohne ihn zu treffen, mit ihrer Leuchtspurmunition meine Hofscheune in Brand. Es lagen unter anderem ca. 5.000 Ztr. ungedroschener Sommerweizen darin. Flucht aus dem Oderbruch

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Das Zeug brannte gute acht Tage lang, nachts den Fliegern einen willkommenen Zielpunkt bietend, die nun rundherum ihre Bomben abwarfen. Das Kavalierhaus15 bekam eine, die nicht losging, das Pfarrhaus erhielt 13 Blindgänger, vom Nachbarhaus wurde das Dach zerstört … Vieles fiel in Feld und Garten. Großer Schaden entstand außer der abgebrannten Scheune nicht. Neben dem Futterfahren für mein Vieh haben wir mit allen nur greif baren Fuhrwerken der Umgebung inzwischen über 7.000 Ztr. Brotgetreide, Gerste, Erbsen usw. aus Sachsendorf fortgeschafft. Auch 20.000 Ztr. Zuckerschnitzel aus der Zuckerfabrik (15.000 liegen jetzt noch). Wohin das alles gegangen ist und wer’s abgefahren hat, weiß ich gar nicht, da viele kamen, aufluden und abfuhren, ohne sich zu melden, zumal von den Vorwerken. Aus Hathenow z. B. konnte wegen Beschusses nur nachts abgefahren werden. Vieles ist da geklaut worden; aber die Hauptsache ist mir ja, dass es nicht die Russen fressen, sondern für uns Deutsche erhalten blieb. Es ist auch unendlich viel Vieh gestohlen worden. Jeder kam und holte oder schlachtete, ohne zu fragen. Ich selber habe dann auch manches geklaut. So wurde doch viel Vieh aus Rathstock, Podelzig usw. über Sachsendorf abgetrieben. Da blieben unter anderem 16 Fohlen hängen. Diese habe ich nun hierher gebracht. Auf der Straße Dolgelin – Sachsendorf konnte man allmählich nur noch mit großer Vorsicht fahren, dass man nicht von den Tieffliegern etwas verpasst bekam. Auch auf der Höhe die Straße Seelow – Heinersdorf war kitzelig. Oftmals flogen uns die MG-Garben um die Ohren, da man im brummenden Auto gar nicht merkt, wenn solch Biestzeug angeflogen kommt. Es saust ja auch so schnell heran, dass man kaum türmen kann. Alle unsere Nachbarn – auch Rathstock16 – haben ihre Dörfer verlassen, ohne sich jemals wieder darum zu kümmern. Das Vieh ist alles verkommen – nicht gemolken, nicht gefüttert, nicht getränkt. Jammervolle Bilder sah man da. Bei uns haben die Polen bis zuletzt willig ihre Pflicht getan. Bis zum Abtrieb gaben unsere Kühe, obwohl durch Versagen des elektrischen Stromes die Wasserpumpen versagten und das Tränkwasser herangefahren bzw. -getragen werden musste, täglich ihre 600 Liter Milch, und die restlichen 38 geben hier schon wieder 320 Liter, obwohl ihnen das Füllfutter wie Sauerblatt usw. gänzlich fehlt. Das konnte man in den Massen nicht herschaffen. 20

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Helga Hille (ganz links) als junges Mädchen vor der Gutsveranda

Seit drei Tagen können wir nicht mehr nach Sachsendorf, weil der Russe etwas näher gekommen ist, sich mit Granatwerfern aus Rathstock und Hathenow und leider auch mit Artillerie schweren Kalibers von jenseits der Oder eingeschossen hat, Ort und Straße nun übel beharkt. Alle Gebäude haben viele Treffer. In Werder sind eine Scheune und ein Schuppen abgebrannt, in Hathenow Viehstall und Scheune. Es wird noch manches nachfolgen. Aber die Hauptsache ist ja, dass einem wenigstens der Boden erhalten bleibt und man einmal wieder zurück kann und nicht heimatlos im Lande umherziehen muss. Wir hatten Sachsendorf schon eine Weile ganz aufgegeben. Heute sieht es vielleicht etwas besser aus, und es heißt, das Oderbruch sollte noch wieder landwirtschaftlich bestellt werden. Schön wär’s ja. Näheres mag ich nicht schreiben, da man nicht weiß, in wessen Hände solch Brief gelangen kann. Jedenfalls hoffen wir, obwohl wir wenig haben, worauf sich diese Hoffnung stützen könnte. Eine sehr schöne Gemeinschaft hat sich hier in der Fremde zwischen uns und unseren Leuten entwickelt. So wie man sie sich früher oft erwünscht Flucht aus dem Oderbruch

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hatte. Durch Schlachtung von Ochse, Kuh, Schwein, Schafen habe ich ihnen immer das nötige Fleisch (und mehr) schaffen können. Milch und Butter erhalten sie über die Molkerei von unseren Kühen. Kohlen und Gemüse habe ich von Sachsendorf hergeschafft. Sie sind glücklich, dass man für sie sorgt, und freuen sich, dass man bei ihnen geblieben ist, zumal sie sehen, dass alle anderen Gutsleute, von ihren Betriebsführern verlassen, irgendwo in den anderen Dörfern herumsitzen. Sie tun in Bezug auf Bergung aus Sachsendorf ihr Möglichstes und scheuen auch nicht vor dem Beschuss zurück. Und trifft man sich hier auf der Dorfstraße, ist alles eine Freude und Zusammengehörigkeit. Hoffentlich bleibt das auch so. Das Schlafen auf dem Haferstroh hier hat mir anscheinend mein elendes Reißen aus dem Arm genommen. Nach 4 bis 5 Tagen war es verschwunden. Mag doch sein, dass das Zeug solche Wirkung hat. Wenn ich dieser Tage nun nicht nach Sachsendorf kann, fahre ich mit meinem Einspänner oder reite (das Reitpferd habe ich beim Auszug aus Sachsendorf geritten) zu meinen Viechern in den diversen Dörfern. Ich bat heute den Kreisbauernführer um andere Tätigkeit, doch meinte er, ich sollte mich ruhig mal ausruhen, und bald ging’s ja ans Bestellen. Na, hoffentlich hat er recht! Den Kindern geht es gut hier. Angela (13 ½) geht seit heute mit zum Schanzen.17 Die Schanzerei hier könnte einen ja manchmal beunruhigen, da sie doch immer als Zeichen gewertet werden müsste, dass man damit rechnet, die Russen kämen auch hierher – – – aber wer weiß. Von Guben (bis) hierher ist es auch nicht mehr weit. In Sachsendorf liegen schon über 60 deutsche Soldaten auf dem Friedhof. Wer hätte so etwas je gedacht! Auf dem Vorwerk von C. Schulz-Wulkow18 an der Straße Podelzig – Hathenow hat heute Nacht ein Unteroffizier seine ersten beiden Panzer per Panzerfaust zur Strecke gebracht. Er war ganz glücklich darüber und über die 10 Tage Urlaub, die er morgen dafür antreten kann, sowie über das EK I, das der Hauptmann ihm, es von der eigenen Brust nehmend, dafür ansteckte. Mit den Soldaten in Sachsendorf hielten wir gute Freundschaft. Es waren zuletzt sehr ordentliche Leute dort von der Potsdamer Fahnenjunkerschule und SS-Großdeutschland. Das Wohnhaus sieht allerdings toll aus. Kein Möbelstück mehr an seinem Platz. Alles verschleppt, vieles geklaut. Die große 22

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Wohnstube total leer. Lisa hat, während ich in diesen Wochen auf dem Hofe zu tun hatte, alles an Wäsche, Geschirr, Gläsern, Leder usw. in den Weinkeller verstaut, damit es vor Beschuss und Brand sicher sein soll. Hoffentlich hilft es. Meine Gewehre sind mir geklaut bis auf eines, das ich mit Silber und anderem nachts in der Hofscheune vergraben hatte, da, wo kein Stroh lag, es also bei dem Brand nun kaum beschädigt sein dürfte. Die Kinder habe ich beim Ausmarsch an die Stelle geführt, damit sie sie kennen, wenn sie einmal ohne uns wieder nach Sachsendorf kommen sollten. Sonst weiß außer Gisela und Lisa niemand davon.19 Weißt Du, es ist doch ein ganz elendes Gefühl, so auf vielleicht Nimmerwiedersehen von Haus und Hof fortzugehen. Leichter wurde es jetzt dadurch, dass man (all) die Wochen die Verbindung nach dort noch behalten hat. Das wusste man damals aber nicht. Über die Schäden in Sachsendorf gräme ich mich nicht, da ich mir sage, man ist ja bereit gewesen, alles im Stiche zu lassen. Da ist es nun gar nichts, wenn dieses und jenes in Scherben geht. Alles, was übrig bleibt, ist ja dann wie neu geschenkt. Man muss nur hoffen, dass überhaupt etwas übrig bleibt. Und wenn’s nur ein Keller ist oder der nackte Boden. Es soll dann alles gut sein! Nun, Bulli, habe ich vier Seiten eng beschrieben. Vielleicht hast Du jetzt gar nicht die Zeit, sie zu lesen. Aber wer weiß, wie lange man noch jemandem schreiben kann und wo man bleibt. Am 27ten drohte uns eine Umquartierung, doch ging die Grenze der 42 für die Wehrmacht zu räumenden Orte am Nachbarort vorbei. Aber es kann wiederkommen. – – – Also, Mädel, lass es Dir weiter gut gehen. Wir hatten schon sehr Sorge um Dich. Alles Gute Dir, Deinem Manne und den Eltern wünscht Dir mit herzlichen Grüßen auch von Gisela Dein Hans-Adolf.

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Gestrandet

Alt Madlitz wird Front

Bis zum 20. April wird Hans-Adolf Schmelzers Sachsendorfer Treck in Alt Madlitz hängen bleiben, obwohl sich die Lage schon im Verlauf des März zuspitzt. Immer mehr Militär rückt ein, beansprucht die Unterkünfte der Geflüchteten, die noch enger zusammenrücken müssen. Frauen und Kinder helfen beim Schanzen. Immer häufiger kreuzen russische Flieger auf, feuern ihre Bordwaffen ab. Sie fliegen so tief, dass man ihre Gesichter fast erkennen kann. Immer lebensgefährlicher gestaltet sich der Futtertransfer aus dem beschossenen Heimatort nach Madlitz. Trotzdem gelingt es dem Schlossermeister Siegfried Behnisch und dem Treckerfahrer Ernst Böhme in einem kühnen Handstreich mitten in der Nacht, den Dreschkasten herauszuholen und heil an den Fluchtort zu bringen. Am 23. März notiert Hans-Adolf Schmelzer: Das in Madlitz liegende Militär macht uns bezüglich der kommenden Ereignisse große Hoffnungen. Dagegen steht, dass unsere Gespanne aus Dolgelin zurückgekommen sind, weil der Beschuss im Oderbruch keine Bergungsarbeiten mehr zulässt. Selbst das bisher noch ruhige Dolgelin soll übel beschossen worden sein.1 Am 27. März werden Frauen und Kinder an die Bahnstation Bergenbrück/Spree verbracht und von dort ins Havelland geschafft. Auch Hans-Adolf Schmelzer überlegt, wie er Frau und Kinder in Sicherheit nach Westen schicken kann. Es gelingt, ein Fahrzeug der Wehrmacht aufzutreiben, das eine Leerfahrt in den Harz plant. Die Soldaten sind bereit, Hans-Adolfs Familie mitzunehmen und in der Magdeburger Börde bei Verwandten abzusetzen. Am Vortag der Abreise stellt sich ihm ein Major Weber aus Königsberg/Ostpreußen vor, der sich zurzeit in den Kellern des Sachsendor24

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fer Wohnhauses aufhält. Er kann über den Zustand des zur Front gewordenen Heimatortes berichten. Major Weber über Sachsendorf: Der Gutshof fast gänzlich niedergebrannt. Nach Hof- und Lehmscheune nun auch Schlosserei, Kuhställe, Pferdeställe, Brennerei ein Trümmerhaufen. Wohn- und Wirtschaftshaus übel zugerichtet. Das ganze Dorf täglich unter starkem Beschuss, während Flieger ganze Phosphorkanister über die Dächer ausgießen. Der Major scheint dennoch voll Zuversicht. Hans-Adolf notiert: Vor etwa einer Woche hat Major Weber mit seinem Infanterieregiment den Angriff der Russen auf Sachsendorf und Tucheband aufgehalten bzw. abgeschlagen. Zwei Regimenter Infanterie, Artillerie- und Panzerformationen wären angelaufen. Im Gebiet der nach Rathstock zu ausgebauten Gehöfte hätten sich die Hauptkämpfe abgespielt, bei denen 55 Panzer abgeschossen worden seien. Die Russen hätten sehr viele Tote gehabt. Die eigenen Verluste wären gering gewesen. Der Sachsendorf nächste abgeschossene Panzer stehe am Gehöft des Bauern Bischoff, die übrigen an den ausgebauten Höfen bei Willy Lange.2 1. April 1945 – Ostersonntag. Um 5.30 Uhr wird der Trecker beladen, der Gisela Schmelzer, die drei Kinder, das Stubenmädchen Ella Kuhnert und die Kochfrau Auguste Müller nach Bad Saarow bringen soll. Hier wartet das Wehrmachtsauto für den Weitertransport nach Westen. Abfahrt 9.30 Uhr. Hans-Adolf in seinen Aufzeichnungen: So ist nun die Trennung von Gisela und den Kindern vollzogen. Die wenig hoffnungsvolle Stimmung des Militärs und die nun einmal gegebene Möglichkeit, vermittelst dieses Autotransportes die Familie mit allen ihren Sachen direkt bis an den in Aussicht genommenen Zufluchtsort Schwaneberg3 bringen zu lassen, bestimmten mich, in diese Fahrt einzuwilligen. Die Gefahr, Gisela und die Kinder in die Hand der Russen fallen zu lassen, ist zu nahe gerückt, als dass man ihr nicht begegnen sollte. Mag sein, dass die Amerikaner schneller in Schwaneberg sind als die Russen hier, doch wird das eher zu ertragen sein. Der Gedanke, die Familie vielleicht niemals wiederzusehen, liegt nahe. Sie jedoch schutzlos den Russen preisgegeben zu wissen, wäre noch ärger. So müssen wir uns in diese Trennung fügen und hoffen, dass ein gütiges Schicksal uns wieder zusammenführen wird. Gestrandet

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Frau Müller und Ella sind mit Gisela gefahren. Lisa und Gerda sind bei mir geblieben. Lisa wird sich mit unseren Leuten landwirtschaftlich auf dem Gute betätigen, wo die Frühjahrsbestellung langsam beginnt, und Gerda wird unseren kleinen Haushalt versorgen. Es ist Osterwetter, wie man es selten hat. Etwas windig, aber ein so frühes Frühjahr, dass alle Sträucher grün sind, die Kastanien Blätter bekommen und die Saaten sich entwickeln.4 Schon zwei Tage später erhält Hans-Adolf aus einem Nachbarort die Nachricht, man solle für den Fall, dass dem Russen ein Ein- und Durchbruch glücke, ein weiteres Ausweichen um 10 bis 15 km gen Westen ins Auge fassen und vorbereiten. Als Aufnahmegebiet bot sich das Havelland an.5 Noch ist die militärische Lage am Ort ruhig. Man trifft Wehrmachtsangehörige, die einen festen Glaubens, dass die Front gehalten werden könne, andere sind sich weniger sicher. Melkermeister Otto Strietzel wird einberufen. Hans-Adolf Schmelzer selbst soll wiederholt zum Volkssturm nach Hangelsberg zum Feldjägerregiment 3. Immer wieder gelingt es den Leuten – sie fühlen sich ohne Treckführer hilflos und allein gelassen – durch Bestürmung der Behörden, den Stellungsbefehl des Chefs rückgängig zu machen. Als diese unnachgiebig bleiben, gelingt es schließlich dem Landrat Kreuzberg, Hans-Adolf Schmelzers Einberufung bis zum 21. April hinauszuzögern. Notiz vom 16. April 1945: Der Wehrmachtsbericht meldet: »Zwischen Neiße und Oder trat der Russe heute zum Großangriff an.« Schlag 4 wurde der Tag bei uns mit einem unvorstellbaren Trommelfeuer begonnen, das bis 7 Uhr anhielt. Zahlreiche russische Flieger zeigten sich in der Gegend. Unser Haus liegt als letztes am Westausgang des Dorfes Madlitz, an ein großes Luzernefeld angrenzend. 200 m weiter westlich befindet sich ein großes mit Militär belegtes Barackenlager. Das Militär ist inzwischen mit seinen Fahrzeugen in die umliegenden Gutswälder gezogen. Die Russen fliegen niedrig über das Luzernefeld … Wir packen unsere Habe und machen uns abmarschbereit. Als das Trommeln um 7 Uhr nachgelassen hat und keine schlechten Nachrichten laut werden, ziehen die Leute jedoch wieder zur Feldarbeit auf die Gutsäcker. Sie kommen gegen Mittag zurück, da sie ständig von Maschinengewehren russischer Tiefflieger in Deckung gezwungen werden. Auch die Nachbardör26

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Hans-Adolf Schmelzer, bei Kriegsende

fer werden alle paar Stunden angegriffen, und der Fliegeralarm lässt uns immer wieder gemeinsam mit den Soldaten die Schutzgräben um unser Haus aufsuchen.6 Gegen 21 Uhr greift die russische Luftwaffe erneut stark an und hat es offenbar auf den Flugplatz in Fürstenwalde abgesehen. Sie setzt so viele Leuchtfackeln, dass die ganze Umgebung erhellt ist. Auch über Madlitz stehen einige Dutzend solcher Fackeln. Wir haben gemeinsam mit dem Militär den Tag über weitere Deckungsgräben in Hausnähe aufgeworfen, die wir nun beziehen. Wir sind froh, dass wir sie haben, weil die Flugzeuge teilweise sehr niedrig über das Dorf fliegen und mit Bordwaffen schießen. Von den abgeworfenen Bomben gehen nur drei im Dorf nieder und fordern einen Toten. Rundum sieht man Brandwolken aufsteigen. In Briesen wurden Baracken getroffen. Treplin soll durch Bomben und Ari-Beschuss7 völlig zerstört sein. Von unseren dort untergebrachten Zivilpolen sind die Frauen Bieruneck und Szukalski getötet worden, einige sind verletzt. In Ahrensdorf sind Bomben gefallen. Gestrandet

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Ich bin doch froh, dass ich heute nicht zum Militär muss und bei den Leuten sein kann, zumal sich herausgestellt hat, dass sich Inspektor Erdmann8 verdammt wenig Gedanken um die Bergung seiner Leute und des Viehs macht und das für Fremde schon gar nicht tun würde.9 Erneuter Aufbruch – das Ende

Am 18. April erhält Hans-Adolf Schmelzer für den Folgetag die Einberufung zum Volkssturm nach Ahrensdorf. Doch schon sind am 19. bis Ahrensdorf und das Finckensteinsche Vorwerk Wilmersdorf russische Panzer vorgedrungen. Bereits über die Kreisstadt Seelow hinaus streben sie Müncheberg zu. Und noch immer verharrt der Sachsendorfer Treck in Madlitz. Hans-Adolf vermerkt am 19. April: Es scheint kein Auf halten mehr möglich. Ich schicke Lisa Kreidner mit dem Auto nach Hangelsberg zum Landrat, dem ich versprochen hatte, vorher Rücksprache mit ihm zu nehmen, ehe ich mit meinen Leuten abrücken würde. Er war entsetzt, dass wir noch in Madlitz seien, und riet, sofort loszuziehen. Da inzwischen alles fahrfertig gemacht war, konnte man, als Lisa um 6 Uhr zurückkam, Punkt 7 Uhr auf brechen. Es war höchste Zeit. Granaten heulten über den Ort.10 Es ist der 20. April 1945. Zweieinhalb Monate hatte man in Madlitz ausgeharrt. Der Flüchtlingszug, auf dreißig Fuhrwerke zusammengeschmolzen, die Fohlen neben den Gespannen herlaufend, Rinder, zu einer Herde vereint der Karawane folgend, nähert man sich Fürstenwalde. Durchquert es unter einem Himmel voller feindlicher Fliegerschwärme ohne Verlust an Tier und Mensch. Man gelangt in die Rauenschen Berge, berühmt für die Markgrafensteine, Riesenfindlinge, die Theodor Fontane als »tote, zusammengekauerte Elefanten« bezeichnet hat. Die Gegend wird unter Artilleriebeschuss genommen, ohne dem Treck Schaden zuzufügen. Die Stadt Storkow zerschlägt ein Luftangriff, sodass HansAdolf sich gut beraten sieht, um sie herum mit allen Sachsendorfern und von der Betriebsleitung völlig im Stich gelassenen Madlitzern – sie hatten sich den Flüchtenden angeschlossen – einen Bogen zu machen. Nicht weit von Storkow trifft der Zug in dem ehemaligen Kolonis28

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tendorf Philadelphia11 ein, wo man auf dem nahen Gut Stutgarten freundliche Aufnahme findet. Der Verwalter Gut Stutgartens, ein Förster Wilke, bemüht sich um Unterbringung und Verpflegung der Flüchtlinge, selbst die aus Behlendorf und Heinersdorf hergeleiteten Sachsendorfer Schafherden beherbergt er in den Gutsstallungen. Hans-Adolf verzeichnet am 23. April: Das Gutshaus in Stutgarten war ein großes, schlossartiges, hellgelb gestrichenes Gebäude. Über Tage war es ein markanter Fleck im Gelände und nachts leuchtete es im Scheine der ständig am Himmel stehenden Leuchtfackeln. Da besonders nachts sehr viel Flieger unterwegs waren, trauten sich unsere Leute nicht, im Hause zu übernachten, und lagerten sich im Walde bei den Gespannen. Auch Gerda, Lisa und ich hielten uns lieber im Freien auf und suchten die Schutzgräben oder Bunker im Garten auf, wenn die Flieger zu nahe zu sein schienen. Als am 23ten rund um den Ort deutsche Artillerie in Stellung ging, zogen wir es vor, weiterzuziehen.12 Man gelangt noch in das Spreewalddorf Schwerin, zieht weiter Richtung Münchehofe, Hermsdorf, bis sich der russische Kessel um Flüchtende und Kämpfende immer enger zuzieht. Wegen intensiver Fliegertätigkeit sucht man Deckung im Wald. Hans-Adolf hält fest: Der Wald war voll militärischer Trosse, die uns dringend rieten, sofort feste Unterstände zu bauen, da der zu erwartende Beschuss sehr heftig sein würde. Kaum waren die Leute fertig eingegraben, wechselten sich Artilleriebeschuss und Bombenwürfe ab, wodurch wir die meiste Zeit des Tages in die Unterstände gezwungen wurden. Einige Leute und Vieh erhielten leichte Treffer.13 Eine Brücke, die noch einen letzten Durchschlupf aus dem nahezu geschlossenen feindlichen Spreekessel versprach, wird zerschossen, noch ehe man sie im Schutze der Dunkelheit erreicht hat. Es ist der 28. April 1945. Panzergranaten fahren in den sich davor stauenden Zug von Menschen, Tieren, Fahrzeugen; ein Bild des Schreckens, das sich unauslöschlich ins Gedächtnis der Menschen eingräbt. Man lässt Gespanne und Wagen stehen, es geht nur noch zu Fuß weiter. HansAdolf sieht sich im Strom Tausender Fußgänger versinken, der sich durch den Wald wälzt. Er schreibt: In meiner Nähe blieben Schlossermeister Behnisch, der aber auch bald abgedrängt wurde, Lisa, Gerda Schulz, Gestrandet

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deren Mutter und Schwester. Nach etwa einer Stunde Marsch gerieten wir in heftigen Beschuss durch Leuchtspurmunition allmöglicher Art. Der ganze Zug stob Deckung suchend rechts und links in die Schonungen auseinander.14 Am nächsten Tag, dem 29. April, geriet Hans-Adolf Schmelzer in Gefangenschaft. Kriegsgefangener

Nach dem Tod meines älteren Bruders Kurt15 am 21. Dezember 2013 gelangte ich dank seiner Witwe Ruth in den Besitz weiterer Dokumente über meine Familie und die ihr bis 1945 gehörenden landwirtschaftlichen Betriebe Sachsendorf, Werder und Hathenow im Oderbruch. Darunter fand sich ein zerschlissener unansehnlicher, schmaler Bauernkalender im Oktavformat, Deckelinschrift: Reichsnährstand 1944/45. Während der knapp viermonatigen Gefangenschaft muss Hans-Adolf Schmelzer ihn unbehelligt bei sich geführt und regelmäßig mit Bleistiftnotizen versehen haben. Man bedenke – ein nationalsozialistisch geprägtes Orientierungsheft mit fettschwarz eingedruckten Gedenktagen: 20. April Adolf Hitlers Geburtstag – 29. Juli (1921) Adolf Hitler Führer der NSDAP – 23. Februar Todestag Horst Wessels – 14. Juli (1895) Reichsbauernführer Walther Darré geboren. Auch Kriegsereignisse werden dick geschwärzt als Jahresjubiläen genannt: 1.9.1939: Deutscher Gegenangriff auf Polen – 28. Mai 1940: Kapitulation der belgischen Armee – 14. Juni 1940: Einmarsch deutscher Truppen in Paris – 22. Juni 1941: Beginn des Kampfes gegen die Sowjet-Union … Inmitten der Flutwelle hunderttausender Gefangener, die dem Sieger nach der Endschlacht vor den Toren Berlins in die Hände gefallen waren, wurde der Gutsbesitzer aus Sachsendorf anscheinend nie ernsthaft gefilzt. Erst in der siebten Woche geht man daran, den Lagerinsassen Messer und Scheren abzunehmen. Den sehr knapp gehaltenen Aufnotierungen nach wurde HansAdolf Schmelzer am 29. April um 18 Uhr gefangen genommen, nach Oderin, einem Ortsteil von Halbe, verbracht, am nächsten Tag freigelassen. Lisa Kreidner16 ist bei ihm. Noch am selben Tag wieder gefangen genommen, schafft man ihn zwanzig Kilometer südwärts nach 30

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