Sieben deutsche Leben

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Gisela Greve

Sieben deutsche Leben Erzählungen


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © edition q im be.bra verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2017 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin Umschlag: hawemannundmosch, Berlin (Fotos: ullstein bild – Oscar Poss / shutterstock – RAYphotographer) Satz: ZeroSoft Schrift: Minion 11/14 pt. Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-86124-707-4

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Inhalt Jiří – Der Weg nach Berlin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Werner – Schlauer Junge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Rosemarie – Das gefangene Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Otto – Neun Rehe am Abend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Doris – Stübchen D. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Elisa – Der fröhliche Gesang der Lerche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Erika – Seerosenteiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

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Jiří – Der Weg nach Berlin In einigen Wochen werde ich sechzig Jahre alt. Dann wird mein nächster Lebensabschnitt beginnen. Ich kann nicht sagen, dass ich mich sehr darauf freue. Nur manchmal etwas. Bis zu diesem Geburtstag möchte ich auf mein Leben zurückblicken. Ich möchte nicht in Erinnerungslosigkeit abgleiten, obwohl ich manches aus meiner Kindheit vergessen habe, sondern mich zu erinnern versuchen, wie sie waren, meine Kinderjahre in der böhmischen Landschaft. Je öfter ich an meine Kindheit denke, desto mehr Gedankensplitter steigen hier und da aus meinem Gedächtnis auf. Ich möchte in kurzen Passagen eine Geschichte erzählen, in ihr wird meine Kindheit lebendig und mein Leben als Heranwachsender und Erwachsener. Meine Erzählung ist eine wahre Geschichte. * Manchmal träume ich von dem Dorf Kozolupy, in dem ich als Kind gelebt habe, von meinem Elternhaus, von unserem Garten hinter dem Haus. Das Haus meiner Eltern war ein einfaches, hellgelb gestrichenes Ein-Familienhaus, in dem auch mein Bruder lebte. Ich bin am 4. Juli 1954 geboren. Erst Jahre später erzählte mir mein Vater, dass am Tag meiner Geburt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in Bern die Weltmeisterschaft gewonnen hat und ganz Deutschland an dem Tag jubelte. Wie sich eine Kinderstimme zu verlieren droht. Gibt es ein Dorf auf der Welt, das so traumverloren ist wie dieses? Es ruht gleichsam in sich, es ist auf Kontakte nach außen nicht angewiesen. Obwohl es an der Eisenbahn liegt. Man sah nur selten einen Nachbarn, obwohl jeder jeden kannte. Fremde Menschen waren kaum zu sehen. Manchmal fuhr ein Auto durch die Straßen. Damals gab es wenige Autos in der Gegend. Nur mit der Bahn oder mit dem Bus erreichte man Pilsen, die nächste große Stadt. 7


Ungerührt wurde im Dorf das Interesse der wenigen Touristen zur Kenntnis genommen. Die staunten besonders über die kleine schöne Barock-Kirche mit dem Zwiebelturm. Sie war das einzige Schmuckstück im Dorf. In Kozolupy war ich glücklich. Man sagt, dass Glück im menschlichen Leben nie von Dauer ist. Aber es gab viel Bewegungsfreiheit in meinem Kinderleben. Ich fühlte meinen Mut und die Freiheit meiner Kinderjahre und glaubte, dass meine Kinderzeit mit einer Unabhängigkeit verbunden war, die ich selbst gestalten konnte. Ich möchte die Leichtigkeit meines Kinderlebens einfangen, nicht nur seine traurige Zeit, die ich auch erlebt habe. Die Erfahrungen, die ich gemacht habe, möchte ich festhalten. Mein Leben war ein zufriedenes, sorgloses Leben in unserem Dorf und in der Natur. Es gab immer eine liebevolle Nähe zwischen Feld und Wald und den Menschen meiner Umgebung. Mein Bruder Franz ist zehn Jahre älter als ich. Als ich ein »kleines Kerlchen« war, wie er sagte, hat er oft auf mich aufgepasst und mit mir gespielt, wenn unsere Eltern bei ihrer Arbeit waren. Ich liebte und bewunderte ihn. Später sah ich ihn nur noch selten. Er war eigentlich nie zu Hause. Entweder musste er zum Militär oder – früher und später – zum Trainingslager entweder für seinen Fußballverein oder für seine Eishockey-Nationalmannschaft, weil er diese Sportarten sehr liebte und häufig dafür trainierte. Bei der Olympiade 1968 in Grenoble gewann er den zweiten Platz mit seiner Eishockey-Mannschaft für die ČSSR. Mit meinen Traumbildern und meinen Erinnerungen von der Landschaft begann die Zeit, in der ich aufgewachsen bin. Meine Erzählung ist ein Puzzle meiner Rückschau und auch ein Ergebnis meines Erinnerungsvermögens. Die Landschaft der Träume ist die Landschaft der Kindheit. Sie ist der Fluss, an dem wir, meine Freunde und ich, angelten. Da sind Wälder und Wiesen, die wir durchwanderten. In den Sommerferien war ich in Stropčice, einem kleinen Dorf in Westböhmen, das wir »Tirol« nannten, wegen der abenteuerlichen, etwas wilden Waldlandschaft. Am Weg standen 8


uralte Eichenbäume, dazwischen lagen saftige Wiesen, ein kleiner See. In der Ferne sah man hintereinanderliegende bewaldete Hügelketten. Was war mir das Wichtigste in meinen Kinderjahren? Vom dritten bis zum fünften Lebensjahr war ich im Kindergarten. An diese Zeit erinnere ich mich kaum. Ich glaube, dass ich damals ganz gerne hingegangen bin und mit den anderen Kindern dort gespielt habe, auch wenn die Erzieherinnen sich wenig mit uns beschäftigten. Aber sie störten uns auch nicht. Später habe ich gelesen, dass Kinder im Kindergarten ihr Weltbild entwickeln. Ich denke heute, dass ich im Kindergarten den Beginn eines menschenfreundlichen, positiven Bildes von der Welt erlebte, in der ich mit Gleichaltrigen befreundet sein konnte. Wir Dorfk inder in Kozolupy wuchsen unter der Aufsicht unserer Familien auf. Sobald wir richtig laufen konnten, spielten wir mit den anderen Kindern zusammen auf der Straße. Dieser dauernde Kontakt beeinflusste schon früh unser soziales Verhalten. Das Leben im Dorf war immer ein Gemeinschaftsleben für die Kinder. Auch für mich und für meine Freunde und Freundinnen. Ich genoss mit ihnen zusammen große Bewegungsfreiheiten. Auf der Straße durfte ich mit den anderen Kindern spielen: Fangen, Verstecken, Räuber und Gendarm. Ich war gerne auch allein unterwegs. Im Sommer lief ich mit nackten Füßen über die Straße oder über die Wiese zum Fluss hin. Vielleicht hat es auch ab und zu geregnet, aber in der Erinnerung war es in meiner Kinderheimat immer nur sonnig. Ich lag auf der Wiese vor dem Fluss und sah in den Himmel. Auf der großen Wiese hinter unserem Garten spielten wir besonders gern. Die Dorfstraßen waren sauber, ohne Müll und Schmutz. Genau richtig, um barfuß zu laufen. Wie jung ich da noch war! Keine sechs Jahre alt! Meine Eltern, meine Großmutter väterlicherseits und Tante Rosa hielten mich für einen kreativen Kopf, für einen technisch begabten Jungen. Picasso sagte einmal: »Every child is born as an 9


artist«. Bei einem Kind von vier bis sechs Jahren fällt oft eine künstlerische Begabung auf und ein Leben in großer Unabhängigkeit. Diese Begabung verliert das Kind allmählich. Sie lässt nach, je älter das Kind wird. Die Schule trainiert die Begabungen des Kindes weg. Könnte das auch mein Problem gewesen sein? Das würde mich trösten. Meine Arbeit in und nach der Schule sollte die sein, den Weg zurück zu finden zu meiner kreativen Leistungsfähigkeit vor Beginn meiner Schulzeit. Denn kreativ, was man darunter auch alles an eigenem fantasievollem Denken verstehen mag, kreativ bin ich nicht. Vielleicht jetzt etwas, wenn ich mit meinen Enkelkindern spiele. Schon früh, sobald ich das Schulalter erreicht hatte, ging ich mit den Nachbarskindern gemeinsam in die 1. und 2. Klasse der Grundschule in unserem Dorf. Die Schule hatte zwei Geschosse. Unten wurden die jüngeren Schüler unterrichtet, oben die älteren. Seit meiner Kindheit träumte ich von meinen beiden Schulfreunden Pavel und Josef. Mit Josef war ich in der ersten Grundschulklasse zusammen. Mit Pavel und anderen Freunden spielte ich am liebsten Fußball. Mit Feuer und Flamme war ich dabei. Ich war nämlich Torwart. Mit sechs Jahren, in der Grundschule in Kozolupy, mussten wir versuchen, mit Regenmantel und Gummistiefeln uns vor Atombomben zu schützen. Es war aufregend. Aber viel wichtiger war es für uns, ob wir ein Fußballspiel gewinnen. In den ersten vier Jahren in der Grundschule ging ich nach Schulschluss zu meiner Tante Rosa, die gegenüber der Schule wohnte. Meine Eltern waren bis zum Nachmittag berufstätig und kamen erst dann nach Hause zurück. Tante Rosa lebte nach dem Tod ihres Mannes, Onkel Honsa, allein, still, unauff ällig und irgendwie geräuschlos. Sie war so ordentlich. Bei ihr musste ich meine Schulaufgaben machen. Rechnen, Schreiben und Lesen übte sie mit mir. Die langweiligste Schulstunde in der Grundschule war Schönschreiben. Mit Feder, Tinte und Tintenfass versuchte ich, so gut zu schreiben, wie ich konnte. Besonders vorsichtig musste ich dabei vor Tintenklecksen sein. Die 10


durfte es in meinen Heften nicht geben. Das gab schlechte Noten. Die anderen Schulfächer machten mir mehr Spaß. Heimatkunde war mein Lieblingsfach. Man sagt immer: Kindermund tut Wahrheit kund. Es bedeutet vielleicht, dass meine positiven und negativen Erinnerungen an die Schulzeit keine Fantasien sind, sondern Realität. Zu meinen Eltern hatte meine Tante eine distanzierte Beziehung. Alles, was sie für mich tat, ließ sie sich von meinen Eltern bezahlen, die sich darüber ärgerten. Abends erwartete die Tante, dass ich Gesicht, Hals, Ohren und Füße wasche. Nach den ersten vier Grundschuljahren durfte ich dann nach Schulschluss allein in das leere Elternhaus zurückgehen. Mit etwa zehn Jahren bekam ich eine Gitarre. Ich versuchte, etwas von meinem Vetter, dem Sohn von Onkel Vladimir, zu lernen, und die ersten Lieder konnte ich auch bald. Aber ich hätte einen Gitarrenlehrer gebraucht, um weiterzukommen. Den gab es in Kozolupy nicht. Inzwischen liebte ich es auch mehr, technische Probleme wie Fahrzeugreparaturen zu lösen. Ich konnte ganz gut Fahrräder und Motorräder auseinander- und zusammenbasteln und hatte schon früh entsprechende Berufswünsche und Lebensvorstellungen. Trotz meiner Visionen vom späteren Bau eigener Autofabrikate wusste ich aber, dass Bäume nicht einfach in den Himmel wachsen. Das sagte mir mein Vater oft. Mit zehn Jahren übte ich also heimlich Motorradfahren auf den Waldwegen im kleinen tschechischen Dorf Stropčice, auf dem Moped meines Onkels Ada. Mit meinem Onkel ging ich auch durch die Wälder und sammelte Pilze und Beeren. Er besaß dort zusammen mit meiner Tante Vera ein Ferienhaus. Ich besuchte sie oft in den Sommerferien. Meine Tante war gutmütig und unkompliziert, sie war das Gegenteil von ihrer Schwester, Tante Rosa, die penibel und sehr ordentlich war und Tante Vera als zu unordentlich empfand. Das Haus in Stropčice war rosa gestrichen. Vor den Fenstern blühten Geranien. Der Rasen war immer frisch gemäht. Hinter dem Haus im Garten wuchsen Gemüse und Obst. Das Ganze 11


machte einen kargen, aber ordentlichen Eindruck und wirkte behaglich. Mit zehn Jahren habe ich mit meinem Freund Josef ein Moped zusammengebaut und bin auf dem Fußballfeld hinter unserem Haus herumgefahren. Ich fuhr heimlich durch die Wälder in der Nähe des Dorfes. Die Eltern sollten nicht sehen, dass ich allein auf einem Moped fuhr. Mein Vater hatte das nicht gern. Es sei zu gefährlich, sagte er. Ich glaube, er war besorgt, er liebte mich, seinen kleinen Sohn. Und ich liebte ihn ebenso wie meine Mutter und tat sonst eigentlich, was er wollte. Wir, meine Freunde und ich, fuhren oft zusammen mit unseren Fahrrädern in die Umgebung des Dorfes. An den Straßen standen Obstbäume. Wenn es herbstlich wurde, sammelten wir die heruntergefallenen Birnen und Äpfel von den Straßen auf und aßen sie. Im Herbst buddelten wir die letzten Kartoffeln aus den Äckern und brieten sie in einem Kartoffelkrautfeuer auf den abgeernteten Feldern. Wenn die Kartoffelfeuer brannten, rochen wir sie schon in der Ferne. Bei unseren Wochenendverabredungen kämpften wir »oben gegen unten«. Die Jungen aus dem höher gelegenen Dorfteil kämpften gegen die aus dem unteren Teil des Dorfes mit Pfeil und Bogen oder mit Holzschwertern, wie die Indianer oder die Wikinger. Eine Gruppe zerstörte im Winter die Iglus der anderen Gruppe. Wir spielten auch mit selbstgebastelten Pistolen oder bauten Flöße aus alten Autoschläuchen. Mit denen paddelten wir über unseren kleinen Fluss. Mit drei oder vier Freunden lief ich durch die weiten, menschenleeren Wälder. Es war ein Märchenwald, der an etwas sehr Tiefes rührte. Vielleicht an das Märchen von den »Sterntalern« oder von »Hans im Glück«? Wir suchten auch Beeren oder Pilze. Ich brachte sie meiner Mutter mit. Nachmittags schlugen wir ein Zelt auf und übernachteten darin. Vorher aßen wir ein Brot zum Abend. Manchmal huschten Luchse und Wildkatzen vorbei. Sie waren menschenscheu und liefen sofort davon, wenn sie uns sahen. Wir brauchten keine Angst vor ihnen zu haben. Wenn es langsam dun12


kel wurde, hörte ich Eulen oder Käuzchen rufen. Manchmal suchten uns die Eltern im Wald. Sie riefen und fanden uns schnell. Dann nahmen sie uns mit zurück nach Hause, wenn es ihnen für ihre Kinder draußen zu kalt zu sein schien. In den Sommerferien war ich meist allein zu Hause und durfte tun, was ich wollte. Ich machte gern einen Tagesausflug mit einigen meiner Schulfreunde. Wir fuhren morgens mit der Eisenbahn nach Sulislav. Von da aus liefen wir durch den Wald zur Talsperre Hracholusky und schwammen im See. Wir lernten frühzeitig schwimmen und genossen große Freiheiten, die wir später so nie mehr hatten. Im See träumten wir den Traum von der Freiheit. Die Welt hinter dem See und dem Wald war versunken. Kleine Wohnhäuser standen am Ufer, schöne Bootshäuser gab es, hübsche Mädchen waren zu sehen und viele Einheimische, die auch schwammen. Abends fuhren wir mit dem Zug nach Hause zurück. Heute gibt es dort nur wenige Touristen. Meine Eltern hatten einige Hühner, die im Hof herumliefen. Einmal fütterte ich sie mit Reiskörnern, die sie alle aufpickten. Die Eltern hatten Alkohol aus Reis gebraut, die Körner waren übriggeblieben. Die Hühner pickten so lange die Körner auf, bis sie alkoholisiert hin- und herwackelten. Das sah so komisch aus, dass wir laut lachten. Irgendwann liefen sie wieder geradeaus. Im Winter bei Nebel, Schnee, Eis und Kälte lief ich oft Schlittschuh auf der gefrorenen Eisfläche auf der Wiese. Ich lernte Schlitten fahren und auch bald Eishockey. Mit zehn Jahren baute ich mir einen Bob und legte mir eine Eisbahn an. Begeistert fuhr ich mit dem Schlitten die Eisbahn hinunter, die durch den Wald bergab ging und direkt vor der Straße endete. Nie war ich mutiger als mit zehn Jahren. Dann verbot mein Vater mir und meinen Freunden, die Eisbahn weiter zu benutzen. Er meinte, wenn einer von uns auf der Straße landen würde, könnte er mit einem Auto zusammenprallen. Meine Freunde und ich bauten gerne einen Schneemann. Wir steckten ihm Kohlestückchen an die Stellen, wo die Augen sein sollten, und eine Möhre an die Stelle der Nase. Er bekam einen 13


Topf als Hut. Noch lieber bauten wir Iglus, bevor die heft igen Schneestürme einsetzten und wir unser Elternhaus nicht mehr verlassen durften. Iglus zu bauen war nur bei enormen Schneemassen und frostiger Kälte möglich. Ich mochte die verschiedenen Jahreszeiten in unserem Dorf, den Frühling mit blühenden Veilchen und Buschwindröschen, nachdem alle Schneestürme verschwunden waren, den warmen Sommer, den leuchtenden, bunten, manchmal auch regnerischen, kühlen Herbst und den Schnee im Winter, der durch unsere Bäume in den Garten rieselte. Zu meinem Onkel Honsa hatte ich ein besonders gutes Verhältnis. Er und seine Frau, ein kinderloses Ehepaar, taten viel Gutes für mich und halfen mir oft. Von Onkel Honsa habe ich gelernt zu fotografieren und Fotos zu entwickeln. Er hatte in seinem Haus eine Dunkelkammer. Später baute er auch für mich eine richtige Dunkelkammer im Haus meiner Eltern. Er nahm die Türen aus einem alten Schrank heraus, die er als Eingang zu einer Dunkelkammer benutzte. Sie hatte Blaulicht. Meine Filme wurden im Dunkeln entwickelt, von den Negativen wurden die Fotos gemacht. Lange Zeit habe ich mir einen Hund gewünscht. Eines Tages bekam ich ihn. Mein Vater brachte mir den kleinen Schäferhund »Arga« mit. Er wurde mein bester Freund. Ich war etwa zehn Jahre alt. Im Winter lebte Arga im Haus, im Sommer draußen in seiner Hundehütte. Auch eine Katze hatten wir, die Minda hieß. Aber ich liebte besonders meinen Hund. Eines Tages baute ich den alten Kinderwagen aus dem Keller auseinander. Die vier Räder blieben, und den Boden des Wagens befestige ich so, dass ich auf dem Holzgestell sitzen konnte. Arga wurde vor den Wagen gespannt, und wir fuhren über das Fußballfeld, wo auf der anderen Seite der Hund meines Freundes Miroslav uns entgegenlief. Wir freuten uns über unser Treffen. Unsere beiden Haustiere, der Hund und die Katze, mochten sich auch sehr. Der Hund nahm im Winter in unserem Wohnzimmer die Katze zwischen seine Pfoten, die beiden lagen eng zusammen und wärmten sich gegenseitig. 14


Als unser kleines Nachbarkind von einem anderen Hund angegriffen wurde, wollte mein Vater unseren Hund nicht länger behalten, aus Angst, er könne auch ein Kind anfallen. Der Förster übernahm den Hund, der aber ein- oder zweimal durch den Wald zu uns nach Hause zurücklief. Dann wurde er einige Tage später im Wald erschossen aufgefunden. Ich war in Tränen aufgelöst. Auch die Katze war traurig, weil der Hund verschwunden war. Sie saß tagelang auf dem Gartenzaun an der Straße. Als ein Laster vorbeifuhr, sprang sie plötzlich direkt vor dessen große Räder. Sie war sofort tot. Im Sommer bauten wir im Wald einen Bunker aus Ästen. Wir bauten ihn so, dass er nicht zu sehen war. Es war eine geheime Stelle, die außer von mir und von meinen beiden Freunden von keinem Menschen zu entdecken war. Bei solchen Unternehmungen war der älteste von meinen Freunden, Josef, immer der Boss. Wir waren natürlich sehr stolz auf den Bunker, den wir selbst gebaut hatten. Solche Aktionen gaben mir Lebensfreude, Kraft und Energie. Ich liebte vor allem auch den verträumten, schönen, schmalen Fluss am Dorfrand mit den Weiden, Erlen und Birken an seinen bewachsenen Ufern. Dort war das Paradies meiner Kindheit! Dieser malerische Fluss war eine »kleine, schmale Moldau«, nur still und ruhig fließend, während die richtige Moldau doppelt so breit war, lebhaft und deutlich hörbar schnell dahinplätscherte. Die Birkenstämme waren nicht weiß, sie waren graugelb. Die ersten goldgelben Erlen- und Birkenblätter schwammen auf der Oberfläche des Flusses, dazwischen schwammen mehrere Entenfamilien und ein Biberpaar mit seinen Jungen. Es war eine verzauberte Stille. Die Bäume spiegelten sich im Wasser, die Weidenzweige hingen bis tief in das Wasser hinein. Es waren große, dicht belaubte Bäume über uns. Alle Bäume und Sträucher durften in das Wasser wachsen, wie sie wollten. Das alles hatte etwas von einer wilden, malerischen Landschaft. Libellen schwirrten hin und her. Wunderschöne Eisvögel flogen am Flussufer entlang. Ihr langer Schnabel fiel auf und die blauwei15


ßen, oben eisfarbenen Federn, das rostfarbene Gefieder am Bauch und die roten Füße. Oft saß ein Eisvogel lange Zeit still auf einem Ast und beobachtete die Bewegungen im Wasser. Sobald er einen kleinen Fisch entdeckt hatte, stürzte er sich blitzschnell ins Wasser und holte ihn mit seinem spitzen Schnabel heraus. Er flog auf den Ast zurück und verspeiste ihn. Später las ich, dass einer Mythologie zufolge Noah nach der Sintflut eine Taube losschickte, die Land finden sollte. Als sie nicht zurückkam, schickte er einen grauen Eisvogel nach. Der musste bei der Suche einem Sturm ausweichen und flog deshalb so hoch, dass sein Rücken die Farbe des Himmels annahm und sein Bauch von der Sonne gerötet wurde. Es gab ein Baumhaus am Fluss, das ich mit meinen Freunden gebaut hatte. Von oben aus konnten wir im Fluss nach Fischen angeln, nach Barschen, Hechten, Karpfen, Rotfedern. Von meinem Onkel Ada hatte ich das Angeln gelernt. Meist saßen wir unten am Ufer und warfen von dort aus unsere Angeln ins Wasser. Einmal sprang ich oben aus einem Baum kopfüber ins Wasser, schlug mit dem Kopf auf einen Stein und hatte eine große Platzwunde an der Stirn. Seitdem habe ich da eine Narbe. Ich erinnere mich auch, wie gern ich in diesem Fluss geschwommen bin. Allein oder mit meinen beiden besten Freunden lief ich durch den Garten, der hinter dem Haus lag, über das Fußballfeld und die Wiese zum Fluss. Dort war ich am liebsten. Wenn ich allein war, konnte ich ins Wasser hineinträumen. Manchmal hörte ich vom Garten aus das leise Rauschen des Flusses. Der Sommer am Fluss blieb mein ganzes Leben lang unvergessen. Zu Ostern spielten wir Kinder und tanzten rund um ein Feuer und sangen dabei Lieder. In den Nachbardörfern stahlen wir einmal im Jahr einen Maibaum und stellten ihn in unserem Dorf auf. Das alles waren wichtige Ereignisse in unserem Dorfleben. Mein großer Kummer in dieser Zeit war der, dass meine Mutter meist wenig für mich da war. Morgens fuhr sie, etwas später als mein Vater, zu ihrer Arbeit, die nur fünf Kilometer entfernt lag. Sie arbeitete als Bürokraft in einem Jugendheim. Dann war sie in Pilsen im Kohlehandel ebenfalls als Büroangestellte tätig und zuletzt 16


am Bahnhof von Kozolupy in einer Kohlefirma, wo Kohle in LKWs geladen wurde. Ich ging oft dort hin und sah zu. Zu manchen Kunden durfte ich sogar mitfahren. Das faszinierte mich immer derart, dass ich später als Erwachsener davon träumte, mit einem riesengroßen LKW durch die USA zu fahren. Auf meinen späteren Urlaubsreisen durch dieses ferne Land habe ich mir viele truckstops mit großem Interesse angesehen. Meine Mutter war durch ein gesundes Selbstbewusstsein stärker und durchsetzungsfähiger als mein Vater, der häufig krank war und vor allem unter Asthma litt. Sie war blond, hübsch, vollschlank, ein optimistischer und lebensfroher Mensch, immer in guter Stimmung, aber auch eine hilfsbereite, gutmütige und freundliche Mutter, der es schwer fiel, mir auch manchmal etwas zu verbieten. Sie hatte ein gutes Herz und versorgte mich liebevoll. Meine Kinderkrankheiten waren für mich wahre Glückszeiten, obwohl ich Masern und Scharlach hatte, Windpocken und Angina. Meine Mutter blieb jedes Mal bei mir zu Hause, bis ich wieder gesund war. In einer Textilwarenhandlung kaufte sie für mich etwas Warmes zum Anziehen, in einer Gemischtwarenhandlung und in einer Fleischerei etwas für den Haushalt: Tatranka, das sind Waffeln, Sunkovy Salam, das ist Bierschinken, oder Rohlik, das sind Brötchen. Bis heute esse ich zu beliebigen Zeiten oft und gerne eine dicke Scheibe Bierschinken mit einer dicken Scheibe Brot. Mein Leben zu Hause, im Dorf und in der Natur ringsum war ein einfaches Leben. Aber es gab nie Langeweile. Mir imponierte, dass meine Mutter zur Arbeit ging. Ich hatte Respekt vor dem, was sie tat: dass sie ihr eigenes Leben führte und selbst Geld verdiente. Später erzählte sie mir, dass ich als kleiner Junge still, bescheiden, fleißig, ruhig und zurückhaltend gewesen sei. Bei Familienfesten mit unseren Verwandten war ich meist »irgendwo«, wahrscheinlich bei einem meiner Freunde, und kam erst zurück an den Esstisch der Eltern, wenn ich gerufen wurde. Ich konnte damals noch kein Wort deutsch sprechen. Zu meinem Vater hatte ich ebenso wie zu meiner Mutter eine gute Beziehung. Ich erinnere mich an ihn als einen ansehnlichen 17


Mann, schlank, schmuck, mit schwarzem Haar, mit einem markanten Gesicht. Die Musik von Glenn Miller war seine Lieblingsmusik. Er fuhr manchmal an den Wochenenden nach Pilsen, um dort bei einem Eishockeyspiel zuzusehen. Einmal gab es auf dem Weg zum Stadion in einem kleinen Laden sogar Bananen zu kaufen. Die gab es in unserem Dorf selten. Als mein Vater sie sah, gab er sofort seine Eintrittskarte zurück, die er vorher schon gekauft hatte. Für das Geld holte er Bananen, die er mir mitbrachte. Ich freute mich! Er war ein liebevoller Vater, obwohl er manchmal auch streng zu meinem Bruder und mir sein konnte. Eines Tages brachte er mir sogar ein großes Geschenk mit: ein Fahrrad! Ich hatte es mir sehr gewünscht und war ganz glücklich. Der Hund und das Fahrrad: beides hatte mir mein Vater geschenkt. Jeden Tag fuhr ich mit dem häufig quietschenden Rad durch das Dorf und weiter über die Feldwege. Die älteren Kinder im Dorf und einige Erwachsene fuhren jeden Morgen mit dem Bus oder mit der Bahn zur Arbeit. Mein Vater musste schon jeden Morgen um fünf Uhr mit dem Bus nach Pilsen ins Büro einer Drogerie-Großhandlung fahren. Beide Eltern waren berufstätig und kamen erst nachmittags nach Hause zurück. Dann versorgte mein Vater unseren Garten hinterm Haus, der ziemlich groß war. Ein großer Fliederbusch stand im Garten, außerdem ein Apfelbaum und ein Pfirsichbaum. Mein Vater mähte das Gras, pflanzte Gemüse und säte Blumen – an Cosmea und Kapuzinerkresse erinnere ich mich noch. Auch um unsere Tiere kümmerte er sich, um die Hühner und unsere Kaninchen. Nach seinem Tod verwahrloste der Garten. Abends und am Wochenende thronte mein Vater immer in seinem Sessel. Ich erinnere mich nicht, dass er mit mir gespielt hätte. Aber er erklärte mir oft, wie ich mich in der Familie, bei den Nachbarn oder in der Schule sinnvoll zu verhalten hätte, was es bedeutet, vernünftig zu sein, wie wichtig das Lesen, Rechnen und Lernen in der Schule ist und auch meine »Lieblingsarbeit«, technisches Können, mit Aufmerksamkeit, Genauigkeit und Konzentration auszuführen. Das entsprach seinem eigenen Verhalten bei dem, was sein Können und sein Wissen ihm sagte. 18


Mein Vater ging gerne allein spazieren, durch den Wald oder auf Feldwegen. Er beobachtete Tiere, Pflanzen, Getreide und den Himmel. Wie sehr liebte ich die Augenblicke, in denen er mir erklärte, was er gesehen hatte! Manchmal, etwa 1961 bis 1965, spielte er hinter unserem Haus mit einem Freund oder mit meiner Mutter Tischtennis. Ich konnte noch nicht mitspielen, bewunderte aber das Spiel meiner Eltern. Meist war ich jedoch bei meinen Freunden im Dorf. Mit einem gleichaltrigen Freund sprach mein Vater schon mal über seine Erlebnisse im KZ. Später erfuhr ich, dass er es in Buchenwald nicht so schwer hatte wie andere Lagerinsassen. Er wurde zu Schreibarbeiten herangezogen, das brachte ihm etwas Erleichterung. Mein Vater hatte das genaue Schreiben schon früh gelernt. Sonst war er sehr verschwiegen und sprach in seiner reservierten Art sehr wenig über sich und seine Vergangenheit. Später schrieb er gerne, am liebsten Erinnerungen aus seinem Leben in Buchenwald, aber auch eine Chronik von Kozolupy und vom Sportverein des Dorfes. Er schrieb konzentriert, überlegt und aufmerksam. Von allen, die ihn kannten, wurde mein Vater als intelligenter und eher zurückgezogener Mann beschrieben, mit nachdenklichem oder auch kritischem Interesse für andere Menschen. Er war viel mit seinen eigenen Gedanken beschäft igt. Einmal hörte ich, wie er sagte: »In der Ruhe liegt die Kraft.« Eine andere Aussage von ihm war die, dass es Zeitabschnitte im Leben gibt, in denen man das Gefühl hat, dass einem nichts erspart bleibt. Er konnte gut zuhören und dann seine eigene Meinung bilden. Dabei verzog er keine Miene. Sonntags gingen die Dorfbewohner schon mal ins Kino oder abends zum Tanzen. Mein Vater zog sich in den letzten Jahren immer mehr von ihnen zurück. Er sah offenbar ein, dass es am besten ist, den Mitbewohnern im Dorf nichts Außergewöhnliches oder Aufregendes mitzuteilen. Meine Mutter wurde vom Tanzen im Dorf sogar ausgeschlossen, weil sie eine Deutsche war. Ich erinnere mich daran noch gut. 19


Von meinem Vater habe ich gelernt, eine andere Position als die der Dorfbewohner zu akzeptieren. Er sollte zum Beispiel unbedingt in die kommunistische Partei eintreten. Mein Vater lehnte das ab. Aus der Kinderperspektive gesehen kann ich nur sagen: Am Verhalten meines Vaters habe ich nicht nur nichts vermisst, ich habe seine Haltung und seine Überzeugungen immer nur bewundert. Mein Vater sagte öfter: »Woher der Wind weht, dahin hängt man seinen Mantel«. Dasselbe sagte auch unser Lehrer in der Schule. Es ist ein Spruch, der Anpassung bedeutet, erklärte er. Vaters Einstellung zu den Überzeugungen anderer Bewohner des Dorfes wurde damit deutlich. Bei diesem Zitat hatte er immer eine leichte Verachtung in seiner Stimme. Für mich war es eine Zauberformel: So ein Verhalten würde es bei mir nie geben! In die Dorfk neipe von Kozolupy ging er nie. Er trank sein Bier immer zu Hause. In den letzten Jahren zog er sich mehr und mehr von den Dorfbewohnern zurück. Unsere Nachbarn sahen meinen Eltern jahrelang nicht an, weil sie beide deutsch sprachen. Durch sie habe ich auch deutsche Wurzeln. Sonst unterschied ich mich nicht sehr von den anderen Kindern im Dorf. Übrigens konnten alle Tschechen im Dorf kein Deutsch sprechen. Sie waren seit dem Zweiten Weltkrieg deutschfeindlich. Ein deutsches kulturelles Leben gab es in meinem Umfeld nicht. Es gab keine deutschen Zeitungen, keine deutschen Bücher. Der tschechischen Kultur begegnete ich nur im Schulunterricht. Von meinen beiden Eltern bin ich nie zu etwas gezwungen worden, weder zum Sport noch zu anderen Unternehmungen. Ihre Beziehung zu mir war immer liebevoll. Vielleicht war das der Grund dafür, dass ich als Kind nie etwas Schlechtes in anderen Menschen sah. Ich war immer dazu bereit, an das Gute im Menschen zu glauben. Mir fehlt bis heute der kritische Blick. Ich halte mich heute für ein zufriedenes, glückliches Kind, ohne mich zu verausgaben. Die Großmutter väterlicherseits war alt und schwach. Sie lebte mit uns zusammen im Haus, in der oberen Etage. Sie war grauhaa20


rig, hatte ein faltiges Gesicht. Sie war still, hatte eine leise Stimme und lag meist im Bett, wo wir sie abwechselnd pflegten und wohin wir ihr immer etwas zum Essen brachten. Meine Großmutter tat mir leid. Man konnte sehen, dass sie schwächer und schwächer wurde. Als ich etwa neun oder zehn Jahre alt war, starb sie. Ich hatte das Gefühl, für sie getan zu haben, was ich konnte. Es ist erstaunlich, wie in der Erinnerung manches wieder auflebt. Eine kleine aufregende Geschichte aus der Kindheit ist die Erinnerung an die Kirmes in Kozolupy als Attraktion des Dorfes – eine Woche lang im August. Sie fand auf unserem Fußballfeld statt. Es gab dort ein Ketten- und ein Kinderkarussell, Schaukeln, Schießbuden und Verkaufsstände mit Süßigkeiten. Ich war begeistert, vor allem, wenn mein Vater an der Schießbude einen Teddybären für mich schoss. Für Süßigkeiten hatten wir Dorfk inder meist wenig Geld. An einem Sonntag fuhr ich mit meinen Freunden Josef und Miroslav nach Pilsen und ging dort mit ihnen in den Film »Winnetou I«. Wir waren so begeistert von diesem Film, dass wir an diesem Tag dreimal ins Kino gingen: mittags, nachmittags und abends, um Winnetou zu sehen. Etwa 1964/65 bekamen meine Eltern einen Fernseher. Das war ein großes Ereignis für mich. Mein Vater baute eine Antenne, wobei unser Nachbar ihm half. In unserem Dorf half jeder dem anderen, und jeder lernte etwas vom anderen, wobei man gemeinsam ein Bier oder einen Obstler trank. Nach vier Jahren Grundschulzeit besuchte ich anschließend die Realschule in Mĕsto Touškov, in der das Schönschreiben wegfiel. Statt Heimatkunde gab es nun Erdkunde und Geschichte. Vier Jahre lang lernten wir außerdem Tschechisch, Russisch, Mathematik, Chemie, Physik und Sport. Nachdem ich gut lesen konnte, begann ich immer eifriger, Bücher zu lesen. Spannende Geschichten machten mir mehr und mehr Spaß. Zu meinen Lieblingsbüchern gehörten die Bücher von Karl May, Jules Verne und Alexandre Dumas. 21


Schwierig war der Musikunterricht. Noten zu lesen und Tonarten zu behalten, war für mich das Komplizierteste in meiner Schulzeit. Auch der Sport in der Halle fiel mir nicht leicht. Draußen war alles viel einfacher. Wichtige Erlebnisse waren die Fahrten mit der Schulklasse. Es gab Schulausflüge mit Schlösserbesichtigungen im Böhmerwald, in Südböhmen und einen Ausflug nach Klattau (Klatovy), wo wir die Jesuitenkirche mit den Katakomben darunter besichtigten. Mitte des 17. Jahrhunderts wurde für die Jesuiten die frühbarocke, zweitürmige St. Ignatius-Kirche gebaut. In der Krypta ruhen die mumifizierten Leichname von Jesuiten, die hier bestattet wurden. Wir waren auch im mittelalterlichen Krumau, in Budweis und auf der Schneekoppe im Riesengebirge. Etwa dreißig Kinder aus verschiedenen Dörfern, die in Mĕsto Touškov die Schule besuchten, gingen mit zwei oder drei Lehrern auf Fahrt, alle kamen in einen gemeinsamen Bus. Am leuchtenden Band der Moldau entlang fuhren wir nach Süden. Das Schloss Krumau beherrschte hoch über der Moldau die Stadt, dichter Wald führte aus dem Moldautal hinaus. In Budweis sahen wir den großen, quadratischen Marktplatz, die Altstadt, das Dominikanerkloster und das Rathaus. Der Schulaufsatz am Tag danach über die Besichtigungen hatte jedoch einen unangenehmen Nachgeschmack. Vieles von dem, was wir sahen, hatten wir bald darauf vergessen. Die Mädchen in unserer Schulklasse hatten ein besseres Gedächtnis als wir Jungen, die sich eher an das Unwesentliche als an etwas Wichtiges erinnerten. Trotzdem waren wir am Ende unserer Schulzeit vollgestopft mit Wissen, das wir sicher auch den Klassenausflügen zu verdanken hatten. Von der Schule aus und durch Mundpropaganda wurde ich mit etwa zehn Jahren zur Freiwilligen Feuerwehr von Kozolupy vermittelt. Ich bekam sogar eine Uniform und war stolz darauf. In den Sommerferien schliefen wir in Zelten neben der Eisenbahn. Ein Erinnerungsbild sind die Brände auf den Getreidefeldern. Immer wieder gab es Wettkämpfe von Dorf zu Dorf mit einem 22


Preis für die Gruppe, die am schnellsten einen Brand löschen konnte. Das mussten wir vorher natürlich üben. Tante Vera und ihr Mann, Onkel Ada, wohnten in Bystřice. Mein Onkel war dort der Leiter eines Pflegeheims für schwerbehinderte Kinder. Es war ein kurzweiliges Leben in diesem Heim, obwohl der Leiter manchmal konsequent »Nein« sagte. Mit etwa zehn Jahren war ich häufig bei meinem Onkel. Besonders freundlich waren die Ordensschwestern. Sie wuschen, pflegten und fütterten die Kinder mit einer Geduld und in einer freundlichen, ruhigen Art, dass ich sie nur bewundern konnte. Vorher hatte ich eine so liebevolle Versorgung von behinderten Kindern nie gesehen, das wurde mir dort erst bewusst. Ich hatte mit diesen Kindern oft großes Mitleid. Aber ich dachte auch, so eine geduldige Zuneigung zu diesen Kindern, wie sie bei den hilfreichen Nonnen zu beobachten war, brächte ich nie zustande. Ich ahnte ja nicht, dass ich später selbst einmal behinderte Menschen pflegen würde. * Meine Mutter, die in Breslau geboren ist, lernte mit siebzehn Jahren ihren späteren Mann, meinen Vater, kennen. Beide Eltern arbeiteten damals in derselben Firma. Mein Vater machte Übersetzungen vom Deutschen ins Tschechische, meine Mutter übernahm Büroarbeit. Ein Jahr vor dem Ende des Krieges hatte die Flucht der deutschen Familie meiner Mutter aus Breslau in die Tschechoslowakei begonnen. Das Elternhaus meiner Mutter in Breslau wurde im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört. Jetzt hat die Straße ein einziges, aber großes Loch, denn das Haus wurde nie wiederaufgebaut. Alle anderen Häuser in der Straße blieben erhalten. Die Familie meines Vaters sprach tschechisch. Mein Vater war kurz vor der großen Flucht der Menschen in Breslau verhaftet worden. Man brachte ihn in ein Konzentrationslager. Der Vorwurf an ihn war der, ein Rassenschänder zu sein, weil er eine deutsche 23


Freundin hatte. Er wurde nach Deutschland und in das Konzentrationslager Buchenwald transportiert. Nach Kriegsende zog meine Mutter mit ihrem noch sehr kleinen Sohn in die Tschechoslowakei. Ihr Partner war noch in Buchenwald. Sie wohnte zuerst bei den Eltern meines Vaters in Pilsen, dann im böhmischen Dorf Kozolupy, wo sie bei den Eltern väterlicherseits wohnte. Nach seiner Entlassung aus Buchenwald fand mein späterer Vater seine Freundin bei seinen Eltern. Die beiden heirateten noch im selben Jahr. Mein großer Bruder erzählte später, wie sehr er sich an dem Tag gefreut habe, weil es am Hochzeitstag Eis als Nachtisch gab. Er habe immer wieder gefragt, wann denn die nächste Hochzeit sei. Dann würde es ja wieder Eis geben. Seit seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager Buchenwald fiel es meinem Vater, wie ich von der Familie weiß, immer schwerer zu atmen. Obwohl er als schwerbeschädigt galt, verrichtete er aber weiter seine Büroarbeit in Pilsen. Dann musste er dort zwei Wochen lang ins Krankenhaus. Er hatte Herzbeschwerden und Lungenödeme. Eines Tages fand ich zu Hause nach der Schule ein Telegramm vom Krankenhaus. Darin las ich, dass mein Vater gestorben sei. Ich war fassungslos. Dreizehn Jahre alt war ich. Und ganz allein. Sollte ich zu meiner Tante oder zu den Nachbarn laufen mit der Nachricht? Ich bekam einen Schock und war nicht imstande, in Worte zu fassen, was ich fühlte. Schließlich lief ich mit dem Telegramm als Todesmitteilung weinend durch die Straßen zu Tante Rosa. Dann wurde ich auch krank. Der plötzliche Verlust meines Vaters – er war erst sechsundvierzig Jahre alt – war mein schmerzhaftestes Erlebnis. Ich vermisste ihn jahrelang. Nach seinem Tod hatte ich häufig Magenbeschwerden. Nach mehreren Tagen ging ich jedoch wieder in die Schule. Meinem Freund Václav hatte man mit neun Jahren wegen einer Krebsdiagnose ein Bein amputiert. Dabei war nur eine kleine Beule zu sehen gewesen. Václav bekam eine Prothese und musste mit Krücken laufen. Ich bekam Angst, auch ein Bein zu verlieren, 24


und sah meine Beine oft auf Beulen hin an. Mein Freund konnte jedoch mit Prothesen wieder gut laufen und blieb gesund. Und ich blieb zu meinem eigenen Erstaunen auch gesund. Bei der Beerdigung meines Vaters und noch ein Jahr danach war meine Mutter schwarz gekleidet, wie es früher üblich war. Mein Vormund wurde Onkel Vladimir, der Bruder meines Vaters, der Mann von Tante Zdenka, der in Radčice wohnte. Er kümmerte sich sehr freundlich um mich. Nach dem Tod meines Vaters blieb ich häufig in meinem Elternhaus und half meiner Mutter, so gut ich es konnte. Ich trug die Asche aus den Öfen nach draußen und holte Wasser oder Holz herein. Ich heizte auch unsere Öfen. Einmal meinte ich es so gut mit der Hitze, dass sich die Kerzen in der Küche krümmten, obwohl sie nicht brannten. Auch Gemüse holte ich aus dem Garten und Eier aus dem Hühnerstall. Ich saugte Staub im Haus und putzte unsere Schuhe. Die vorher friedliche Welt meiner Kinderjahre geriet durch die innere Erschütterung nach dem Tod meines Vaters ins Wanken. Der Verlust hat mein weiteres Leben geprägt. Die Zeit heilt alle Wunden, so hoffte ich. Ich meinte, dass ich noch jung genug war und dass mein Leben noch vor mir liegt. Mein Leben im Dorf war ein einfaches Leben in einem kleinen Ort und in der Natur ringsum, und in meinem Kinderleben hatte ich bisher viel Glück gehabt. Ist die Kindheit die beste Zeit im Leben? Ich glaube, dass es bei mir so war. In meinen Kinderjahren gab es ein anderes, ein zufriedeneres Weltbild als in meinem frühen Erwachsenenleben. Nach meinem Gefühl habe ich eine erstaunliche Sehnsucht an die Lebensweise meiner Kindheit bewahrt. In Kozolupy hatte ich Freiheiten, die ich später in Berlin nie mehr so ausgeprägt erlebte. Wenn mein Vater länger gelebt hätte, wäre ich wohl nicht nach Berlin gekommen. Ich hätte auch meine Frau nie kennen gelernt. Nach meinem dreizehnten Lebensjahr hatte ich plötz25


lich keinen Vater mehr, der mir geholfen hätte, einen möglichst gradlinigen Weg durch mein Leben zu gehen. Meine Mutter war jedoch der Überzeugung, dass ich der Sohn meines Vaters bin, äußerlich, charakterlich und psychisch ihm außerordentlich ähnlich. Sie war sicher, dass ich meinen Lebensweg schon fi nden würde. * Wie kommt ein tschechischer Junge von vierzehn/fünfzehn Jahren nach Deutschland und nach Berlin? Ich möchte erzählen, wie ich nach und nach erwachsen wurde. Dabei ging es nach meiner Erinnerung um eine Selbstverwirklichung und um ein Leben in großer Freiheit. Ein Jahr nach dem Tod meines Vaters begann eine Zeit der politischen Veränderungen. Wir hörten plötzlich von russischen Panzern aus dem Warschauer Pakt, die den Radiosender besetzt hatten und in Prag und Pilsen auf Menschen schossen. Sie kamen von überall her, fuhren durch jedes Dorf und kamen an einem Morgen auch nach Kozolupy. Dort sah ich durch das Küchenfenster den Einzug der russischen Panzer in unser Dorf. Sie hatten schon die ganze Tschechoslowakei besetzt. Die russischen Soldaten waren noch sehr jung. Wir hatten etwas Russisch in der Schule gelernt und konnten mit ihnen in ihrer Sprache reden und sie auch verstehen. Sie sagten: »Wir wissen nicht, warum wir hier sind und was wir hier eigentlich sollen. In diesem kleinen Dorf!« Die Dorfbewohner waren wütend, weil die Russen unbeliebt waren. Ich konnte mit vierzehn Jahren natürlich nicht wissen, warum die Russen hier waren und verstand nicht, was sie hier sollten. Einmal schoss ich mit einem Luftgewehr auf einen Panzer. Zum Glück passierte nichts, obwohl es hätte gefährlich werden können. Die russischen Soldaten hatten Hunger. Sie taten keinem Dorfbewohner etwas zuleide, also bekamen sie von einigen etwas zu essen und zu trinken. Die Russen zogen erst nach der Wende wieder aus Tschechien ab. 26


In der Schule redeten wir in den ersten Jahren unseren Lehrer mit »Genosse Lehrer« an. Er war ein alter Mann, von dem wir Schreiben, Lesen und Rechnen lernten. In der Ära Dubček hieß er: »Herr Lehrer«. Als die Russen im Dorf waren, hieß er wieder: »Genosse Lehrer«. Und dann? Obwohl die Russen zunächst noch im Land waren, konnten meine Mutter und ich ausreisen. Wie war das möglich? Mein Vormund, Onkel Vladimir, musste zustimmen, damit meine Mutter mit mir von Kozolupy nach Berlin umsiedeln durfte. Nach seiner Genehmigung beantragte meine Mutter auf Anraten ihres Berliner Cousins Rudi im März 1969 die Ausreise aus der Tschechoslowakei. Meine Mutter war Deutsche, sie wollte zurück nach Deutschland. Deshalb verkaufte sie unser Haus und zog mit mir nach Westberlin um. Ich war fünfzehn Jahre alt und wäre lieber in Kozolupy geblieben. Bei der Ausreise hatte ich nur einen Gedanken: »Die Kindheit ist vorüber«. Auch meine Heimat hatte ich verloren, den Ort, an dem ich reden, lesen und träumen lernte. Was ist denn »Heimat«? Ich dachte, man wird in sie hineingeboren und erlebt sie als Geborgenheit in der Kindheit, als ein »Zu-Hause-sein« im Haus der Eltern. Heimatlosigkeit dagegen ist die Losbindung von etwas, das einmal zu mir gehört hat: das Elternhaus, das Dorf, die Freunde, die Landschaft ringsum. Mein Abschied von der Tschechoslowakei war zunächst relativ schmerzlos. Ein weiteres Leben in Kozolupy hätte wenig positive Aussichten gehabt. Man durfte nicht reisen, die Kommunisten waren noch im Land, das Geld war knapp. Für mich gab es wenige Ausbildungsmöglichkeiten. »Das Leben ist völlig unvorhersehbar«, sagte meine Mutter bei der Ausreise. Die Zeit vorher war schwierig. Die Entscheidung fiel trotzdem nicht leicht. Unsere Verwandten in Tschechien hatten Angst, dass der Weg nach Berlin gefahrvoll für uns sein würde und wie unsere Zukunft dort sein könnte. Pass und Visum zu besorgen war für meine Mutter auch keine Kleinigkeit. 27


Der Weg nach Berlin war dagegen jedoch relativ leicht. Frühmorgens kam ein großer Möbelwagen aus Pilsen. Zwei starke Männer luden unser Hab und Gut ein. Meine Mutter, mein Bruder und ich saßen auf einer Bank hinter dem Fahrer, der sehr freundlich zu uns war. Es machte mir Spaß, in so einem riesengroßen Auto mitzufahren. Das hatte ich ja noch nie erlebt. An der Grenze wurden wir kaum kontrolliert. Der Wagen war verplombt. Der Grenzübergang nach Bayern verlief jedoch nicht problemlos. Wir mussten fünf DM pro Person als Visumgebühr bezahlen, besaßen aber kein DM-Geld. Den Zöllnern schenkten wir stattdessen eine Kiste Bier, »Pilsener Urquell«. Wie gut, dass wir die mitgenommen hatten! Die Zöllner freuten sich und ließen uns sofort durch die Grenze. Abends waren wir in Berlin. Aus der Weltabgeschiedenheit unseres Dorfes kam ich in eine große Stadt. Das war ein Wechsel von einem Leben in der Natur in eine kulturreiche Weltstadt. In Berlin war ich zunächst heimatlos. Wir wohnten zuerst bei Onkel Rudi, Mutters Cousin. Auf den ersten Blick war das wie eine Familienzusammenführung. Ein zweiter Cousin wohnte ganz in der Nähe. Meine Mutter fragte sich, mit welchen Inhalten sie künft ig den neuen Rahmen ihres und meines Lebens füllen könnte. Berlin war eine andere Welt als Kozolupy. In Tschechien träumten viele Menschen von einer Ausreise in den »Goldenen Westen«. Nach der Ankunft in Berlin stiegen mir jedoch die Tränen in die Augen. Ich saß allein in meinem Zimmer und weinte. So gerne wollte ich zurück nach Kozolupy und zu meinen Freunden! Ich träumte mich dahin und hatte Sehnsucht nach dem Land meiner Kindheit. In Berlin war ich fremd. Die Stadt war zu groß und zu laut. Überall waren Grenzen. Berlin war in zwei unverbundene Teile getrennt. Man lebte hier nicht so einfach und nicht in solcher Freiheit wie in Kozolupy. Es war kein goldener Westen, jedenfalls nicht für uns. Dazu brauchte man Geld, das hatten wir natürlich nicht. Es war nicht leicht, sich in Berlin einzuleben. Die Menschen hier verstand ich nicht. Zuerst musste ich wohl die deutsche Sprache lernen. 28


Berlin hatte jedoch eine Realität, die sich leichter verändern ließ als die in Tschechien. Man konnte öfter in ein anderes Wohngebiet der Stadt umziehen, ja sogar nach vielen Jahren noch einen völlig neuen Beruf ergreifen. Beides erlebte ich hier. Wir wohnten ein Jahr lang bei unseren Verwandten, dann zogen wir in eine Wohnung nach Berlin-Steglitz. Mein Onkel Rudi hatte mir vorher die Schule in Neukölln gezeigt, eine Grundschule, die ich einmal pro Woche besuchte. Ich lernte hier die deutsche Sprache. Langsam, aber sicher. Meine Mutter half mir oft bei den Schulaufgaben. Sie bedauerte nie den Umzug nach Berlin, obwohl der Weg durch das Notaufnahmelager Marienfelde nicht leicht für sie war. Wir fuhren von der Wohnung des Verwandten aus hin, lebten drei Tage lang dort und mussten unsere Papiere für Deutschland beantragen. Schließlich bekamen wir sie auch nach dieser Wartezeit. Nach der Schule wollte ich meinen Traum verwirklichen. Ich müsse in Berlin etwas lernen, um etwas zu werden, meinte meine Mutter. Mit etwa sechzehn Jahren lernte ich zunächst Eishockey und hörte mit zweiundzwanzig Jahren damit auf. Ich war ein leidenschaft licher Spieler. Mein Sohn und jetzt auch meine beiden Enkel spielten später mit demselben Engagement wie ich damals. Mein Vater hatte in mir die Begeisterung für diesen Sport geweckt. In Berlin wollte ich unbedingt testen, wie ich einen Teil meiner Freiheit wiederfinden könnte. Die gab es auf dem Eis nicht. Aber Technik war seit meiner Kindheit ein Thema, das mich begeisterte, und schon früh in meinen Kinderjahren hatte ich diese praktische Arbeit zu üben versucht. Man sagte früher: Wer seine Freiheit nicht verteidigen will, verdient sie gar nicht. Ich weiß, dass ein Mensch nur das lernt, was er lernen will. Mir kam also die Idee, meinen Traum zum Beruf zu machen. Ich tauchte mit sechzehn Jahren in die Welt der Technik ein, begann in Berlin eine Kfz-Lehre und beendete schon nach zweiundeinhalb Jahren – ich war neunzehn Jahre alt – meine Automechanikerlehre mit der Gesellenprüfung. Die ließ mein technikbegeistertes Herz höher schlagen. Mein bester Lehrer war 29


der Meister im Kfz-Betrieb. Ihm verdanke ich sehr viel theoretisches und praktisches Wissen und schulde ihm große Achtung. Natürlich war ich auch von meinem zukünftigen Beruf gefesselt. Ich war ernsthaft, gründlich, fleißig und diszipliniert. In der Lehre fand ich neue Freunde: Roland, Rainer und Hans. Mit ihnen verbrachte ich viel Freizeit und lernte durch sie einzelne Berliner Stadtteile kennen. Dennoch dauerte es verhältnismäßig lange, bis ich eine Art Stadtplan von Berlin im Kopf hatte. Mit sechzehn Jahren machte ich meine Führerscheinprüfung und bekam mein erstes Fahrzeug, ein Kleinkraftrad. Mit achtzehn Jahren erhielt ich meinen Führerschein für ein Auto. Damit fühlte ich endlich wieder ein Stück meiner neuen Freiheit, jetzt mit einem eigenen Auto und in Berlin, einer großen Stadt. Ich konnte fahren, wohin ich wollte. Mit meinem Freund Roland fuhr ich durch die Randbezirke von Berlin. Mit ihm veranstaltete ich auch Motorradrennen zum Beispiel über die Avus oder die Havelchaussee entlang. Wir versuchten auch, die Böschung an der Havelchaussee hinauf zu fahren, was uns leider nicht gelang. Eines Tages fuhr ich mit meinem neuen Fahrzeug allein von Berlin nach Kozolupy, in meine alte Heimat. Ich suchte ein Stück meiner verlorenen Kindheit. Manches wusste ich noch, was ich damals gedacht, erlebt und gefühlt hatte. Wie würde es jetzt sein? Meine Mutter weigerte sich zuerst, mich ohne eine Begleitung fahren zu lassen, und schickte einen alten Freund der Familie mit dem Auto hinter mir her. Ein Jahr später traute sie mir die Fahrt alleine zu, als ich im Sommer zum zweiten Mal in mein Kinderdorf fuhr. Meine Kindheitserinnerungen waren noch immer von meiner Sehnsucht geprägt. Sie lag seit dem Umzug nach Berlin auf meiner Seele. Ich fuhr durch die wild bewachsenen Berghänge des Böhmerwaldes, Wälder, meist Mischwälder! Uralte Eichenbäume standen an beiden Seiten der Straße, die wie ein Tunnel wirkte. Nadelhölzer, Birken, Erlen und Weiden wuchsen an den schmalen Flüssen. Ich sah die Hänge mit den Wiesen und die Obstbäume an den Straßen. Dazwischen lagen sonnengelbe Getreidefelder. Auf eini30


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