Polen zwischen Hitler und Stalin (Leseprobe)

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Marek MarekKornat Kornat

Polen Polen zwischen zwischen Hitler Hitler und und Stalin Stalin

Studien Studienzur zurpolnischen polnischenAußenpolitik Außenpolitik in inder derZwischenkriegszeit Zwischenkriegszeit Aus Ausdem demPolnischen Polnischenübersetzt übersetztvon vonBernard BernardWiaderny Wiaderny

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Gedruckt mit Unterstützung des Muzeum II Wojny Światowej / Museum des Zweiten Weltkriegs, Gdańsk

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © Marek Kornat / Muzeum II Wojny Światowej, 2012 © be.bra verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2012 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Lektorat: Robert Zagolla, Berlin Umschlaggestaltung: Kreacja Pro, Warszawa Satz: typegerecht berlin Karte: Peter Palm, Berlin Schrift: Minion Pro 10/14 pt Druck und Bindung: FINIDR, Ceský Tesín ISBN 978-3-89809-098-8 ISBN 978-83-63029-07-4 www.bebraverlag.de

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Inhalt

7

Vorwort

13

Die Versailler Ordnung und die ­Außenpolitik Polens (1918 –1932)

67

Die Politik des »Gleichgewichts« zwischen zwei totalitären Mächten

119

Das »Intermarium«-Projekt: Politischer Mythos und historische Wirklichkeit

139

Hitlers Forderungen und die polnische Ablehnung

183

1939 – das Schicksalsjahr Polens

225

Über 70 Jahre danach

Anhang 239 281 282 302 303

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Anmerkungen Abkürzungsverzeichnis Literatur- und Quellenverzeichnis Danksagung Der Autor

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N

Polen nach dem Ersten Weltkrieg

ESTLAND

S

Peipus-See

SCHWEDEN Riga

LETTLAND

Ostsee Memel

Wilna

Freie Stadt Königsberg Danzig Ostpreußen

DEUTSCHES REICH 1 Bromberg

Allenstein

4

2

Minsk

Thorn

Posen

Polesien

Warschau

Posen

Lodz Tschenstochau

Oppeln

Lemberg 2

UNGARN

Polen unabhängige Republik 11.11.1918 1 Erwerbungen 1919/20 2

Erwerbungen 1920

3

Erwerbungen 1921

4

Erwerbungen 1923

(1919 bzw. 1920 besetzt)

weitestes Vordringen Polens1919/20

Wo l h y n i e n

1

Krakau

TSCHECHOSLOWAKEI

3

Kiew

Kattowitz 2

Brest

POLEN

Breslau

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SOWJETUNION

LITAUEN

Ukraine

4 Ostgalizien

RUMÄNIEN 0

Grenze Polens 1772 «Curzon-Linie» 8.12.1919

50 100 150 km

Polen nach dem Frieden von Riga 1921 polnische Staatsgrenze 1922 Grenze des Deutschen Reiches bis 1918 Abstimmungsgebiete 1920/21 Wilna-Gebiet («Mittellitauen») andere Staatsgrenzen

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Vorwort

Was weiß der »durchschnittliche« Europäer über Polen und seine Außenpolitik in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen? Die meisten wissen wohl, dass es sich um einen neuen Staat in einem neu geordneten Europa handelte, der seit 1926 autoritär von Józef Piłsudski regiert wurde. Im historischen Bewusstsein des »durchschnittlichen« Europäers gehört das Polen Piłsudskis und seines Außenministers Józef Beck zu den revisionistischen Staaten, das heißt zu denjenigen, die an territorialen Änderungen interessiert waren. Oft wird das damalige Polen auch als einer der »faschistischen« Staaten wahrgenommen, nicht zuletzt weil es in den Jahren 1934 bis 1938 »besondere Beziehungen« zu Hitler-Deutschland unterhielt. Immer wieder werden entsprechende Vorwürfe gegenüber der polnischen Politik der Zwischenkriegszeit erhoben. Obwohl sie jeder realen Grundlage entbehren, sind sie äußerst langlebig. Zuletzt konnte man im Sommer 2009 in der russischen Presse eine antipolnische Kampagne erleben, in deren Rahmen die Behauptung wiederholt wurde, Polen habe 1934 einen geheimen Vertrag mit Deutschland geschlossen.1 Die Diskurse und Erkenntnisse der polnischen Historiker sind auf der internationalen Bühne leider kaum präsent. Und das, obwohl sie sich gerade mit diesem Themengebiet so intensiv beschäftigt haben, dass es kaum möglich erscheint, der umfangreichen Literatur, die im Laufe der letzten Jahrzehnte entstanden ist, etwas Neues hinzuzufügen. Die politischen Beziehungen zwischen Polen und Deutschland2, Polen und Frankreich 3 sowie zwischen Polen und Großbritannien 4 sind bereits gut erforscht worden. Auf ähnlichem Niveau befindet sich der Forschungsstand hinsichtlich der Beziehungen Polens zu seinen Nachbarn Lit­auen und der Tschechoslowakei. Das Verhältnis zu Rumänien und Ungarn ist dagegen weniger gut untersucht, und die polnisch-sowjetischen Beziehungen müssen unter neuen Aspekten in den Blick genommen werden.5 Obwohl die Geschichte der polnischen Diplomatie bereits unter unterschiedlichen Gesichtspunkten analysiert worden ist, besteht unter den Historikern – sowohl 7

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in Polen als auch im Ausland – in wichtigen Fragen kein Konsens, und es wird ihn wahrscheinlich auch zukünftig nicht geben.6 Erörtert wurden die geopolitischen Dilemmata der polnischen Außenpolitik. Gefragt wurde nach den Chancen der »Gleichgewichtspolitik« zwischen Deutschland und Sowjetrussland. Untersucht wurde die Integrationsmöglichkeit der Staaten Ostmitteleuropas. Unter den Kennern der Problematik herrscht immerhin Übereinstimmung darüber, dass Polen seine selbst gesteckten außenpolitischen Ziele nicht erreicht hat.7 Eine Überblicksdarstellung, die die wichtigsten Dilemmata der polnischen Diplomatie in den Jahren 1918 bis 1939 zum Thema gehabt hätte, sucht man allerdings in der jüngeren Literatur vergeblich.8 Vor diesem Hintergrund widmet sich das vorliegende Buch den komplexen Schwierigkeiten, mit denen die Außenpolitik des wieder entstandenen Polen konfrontiert war. Es wurde für den deutschsprachigen Leser geschrieben und bietet eine Zusammenfassung der bisherigen Überlegungen des Autors.9 Sein Ziel ist weder die Wiederholung der bisherigen Forschungsergebnisse, noch die Feststellung von bisher unbekannten Fakten, sondern es liegt darin, – aus der Distanz von nunmehr über 70 Jahren – einen anderen Blickwinkel auf die Dilemmata der damaligen polnischen Außenpolitik zu präsentieren. Ferner soll eine Antwort auf die Frage gefunden werden, ob es eine Alternative zur umstrittenen »Gleichgewichtspolitik« von 1934 bis 1938 gab. Das Buch bewegt sich also im Grenzbereich zwischen Diplomatiegeschichte und den zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Debatten in Polen. Es ist nicht die Aufgabe des Historikers, Urteile zu fällen und Personen der Geschichte zu verteidigen oder anzuklagen; seine Aufgabe besteht darin, die Argumente für und wider zu sammeln, die politischen Dilemmata der Vergangenheit zu analysieren und die Atmosphäre der betreffenden Zeit zu rekonstruieren. Beim Schreiben dieses Buchs habe ich mich bemüht, diese Annahmen zu beachten. Das Denken derjenigen zu erklären, die den Verlauf der Geschichte mitbestimmt haben, ist ein wichtiges Ziel des Historikers. Diese Prämisse bildet den Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen. Wenn wir beginnen, uns mit der Diplomatie der Zweiten Polnischen Republik zu beschäftigen, dürfen wir die Realität der damaligen Zeit nicht vergessen. Das Streben nach dem Erhalt der gerade gewonnenen Unabhängigkeit und das Prinzip »Nichts über uns ohne uns« bildeten nicht ohne Grund das unantastbare Fundament der polnischen Staatsraison. 8

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Im Rahmen des Versailler Systems hatte Polen seinen Platz gefunden. Dieses System war jedoch eine äußerst instabile Konstruktion. Insbesondere das »balkanisierte« Ostmitteleuropa erwies sich als unsicheres Terrain.10 Die Gründer des polnischen Staats vertraten daher die Ansicht, dass nur eine geschickte Außenpolitik die eigene Unabhängigkeit sichern könne. Zudem sollte die Isolierung im Falle einer erneuten militärischen Aggression vermieden werden. Nachdem Polen als Staat lange Zeit nicht existiert hatte, war der Wunsch nach einer unabhängigen Existenz verständlicherweise sehr stark. Damit wurde aber die Möglichkeit ausgeschlossen, sich außenpolitisch auf Deutschland oder die Sowjetunion zu stützen. Diese Einstellung könnte als Ausdruck des polnischen Minderwertigkeitskomplexes angesehen werden, der das Ergebnis einer langen politischen Unfreiheit war.11 Die Generation der Politiker, die im Polen der 1930er Jahre die Macht ausübte, stand vor beispiellosen Herausforderungen: einerseits die Offensive der totalitären Nachbarstaaten, andererseits die Passivität und Kurzsichtigkeit der übrigen Großmächte, die das Versailler System, dass sie wenige Jahre zuvor aufgebaut hatten, kampflos aufgaben. Das Phänomen des Totalitarismus war eine völlig neue Erscheinung, die sich mit Hilfe historischer Analogien weder beschreiben noch verstehen ließ. Die vorhandenen Erfahrungen jener polnischen Generation, die während des Ersten Weltkriegs ins Erwachsenenleben eingetreten war, konnten beim Umgang mit diesem Phänomen wenig helfen. Deswegen ist der an die Adresse Józef Becks formulierte Vorwurf, er habe die Natur und die Spezifik der totalitären Systeme nicht verstanden, zwar richtig, aber ahistorisch. Hitlers Größenwahn entging der rationalen Wahrnehmung. Sehr viele Politiker des damaligen Europas übersahen diese Gefahr. Es ist einfach, die Fehler aufzuzählen, die Beck machte. Eine solche Vorgehensweise trägt aber nicht dazu bei, das Klima der 1930er Jahre und die Denkweise der damaligen polnischen Machtelite zu verstehen.12 Die polnisch-deutsche Erklärung vom 26. Januar 1934, in der beide Staaten einen gegenseitigen Gewaltverzicht vereinbarten, steht nach wie vor im Zentrum des Historikerstreits über die Interpretation der damaligen polnischen Außenpolitik. War diese Erklärung, wie Beck meinte, die größte Errungenschaft der polnischen Diplomatie seit Abschluss des Vertrages mit Frankreich, oder war sie ein schädlicher Schritt, der fruchtlos blieb – insbesondere, wenn man berücksichtigt, dass diese Vereinbarung bereits fünf Jahre später durch die Deutschen gebrochen wurde? 9

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Mit Sicherheit war Polen eine relevante Komponente in der europäischen Kräftekonstellation der Zwischenkriegszeit. Es ist bekannt, dass Polen wirtschaftlich nicht stark war; insbesondere in der schlecht ausgestatteten Armee spiegelte sich der Zustand der ökonomischen Rückständigkeit wider. Das Land litt zudem unter zahlreichen innenpolitischen Problemen, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann. Andererseits war Polen der größte unter den nach 1918 entstandenen Nationalstaaten. Seine Bedeutung steigerte sich noch durch die zentrale Lage in Europa. Aufgrund der Konflikte mit seinen Nachbarländern, die aus dem umstrittenen Grenzverlauf resultierten, stand Polen – insbesondere in den Jahren 1933 bis 1938 – immer wieder im Zentrum der internationalen Politik. Dies war weniger seiner Bedeutung geschuldet, als vielmehr den komplizierten Gegebenheiten der europäischen Kräftekonstellation, in die es, unabhängig von seinem Willen, eingebunden war. Vieles hing damals von Polen ab. Beispielsweise hätte ein polnisches »Ja« zum Ostpakt, einem von der Sowjetunion angestrebten System der kollektiven Sicherheit für Ostmitteleuropa, diesen ermöglicht. Ein polnischer Beitritt zum 1936 von Deutschland und Japan begründeten Antikomintern-Pakt und das Erfüllen der Wünsche Hitlers hätten sofort eine neue Konstellation in Ostmitteleuropa zur Folge gehabt. Ein polnisches »Nein« konnte ebenfalls den weiteren Verlauf der internationalen Entwicklung beeinflussen. Gleichzeitig aber besteht kein Zweifel daran, dass Polen in der Zwischenkriegszeit eher Objekt als Subjekt der internationalen Politik war und dass es nur phasenweise eine ­aktive Rolle spielte. Abgesehen von den Ereignissen der Jahre 1920 und 1939 – der Schlacht um Warschau und der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges – handelte es sich um keinen Staat, der durch seine Entscheidungen die Geschicke der Welt bestimmen konnte. Zu einem wichtigen Faktor der internationalen Politik wurde Polen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, als es über die im Oktober 1938 von Deutschland erhobenen Forderungen – darunter die Überlassung der Freien Stadt Danzig, den Bau einer exterritorialen Autobahn nach Ostpreußen und den Beitritt Polens zum Antikomintern-Pakt – zu entscheiden hatte. Indem Polen die deutschen Forderungen ablehnte, beeinflusste es maßgeblich den weiteren Verlauf der Ereignisse in Europa. In der Folge wäre die Entstehung einer antideutschen Koalition möglich gewesen. Hätte die polnische Regierung diese Möglichkeit genutzt, wäre E ­ uropas Schicksal vermutlich anders verlaufen und die internationale Kräftekonstellation 10

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hätte sich anders gestaltet. Die Frage, ob die Ablehnung der deutschen Forderungen richtig war oder ob man durch ihre Annahme die furchtbare Katastrophe der erneuten Teilung Polens im Zweiten Weltkrieg hätte verhindern können, kehrt in Debatten polnischer Historiker immer wieder. Von Zeit zu Zeit wird sie auch in öffentlichen Diskussionen gestellt, die allerdings meist ahistorisch oder rein ideologisch geführt werden. An eine Gegebenheit sollte an dieser Stelle erinnert werden: Die Grundlagen der polnischen Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit waren das Werk eines einzelnen Menschen – Marschall Józef Piłsudskis. Zwar stand Józef Beck der polnischen Diplomatie seit 1932 als Außenminister vor, aber er war nur der kreative Ausführende von Prinzipien, die Piłsudski entwickelt hatte. Der Diplomat wurde so zu einer der umstrittensten Gestalten der europäischen Diplomatie des 20. Jahrhunderts, zu einer »key figure in the unfolding crisis of the next seven years«, wie es der britische Historiker Alan Balmer formulierte.13 Im Gedächtnis der Polen war die Erinnerung an Beck lange Zeit negativ belegt. Er gehört zu den Akteuren der neue­ren Geschichte Polens, über die nach wie vor gestritten wird. Waren es seine Ansichten und Handlungen, die dazu führten, dass das Polen der 1930er Jahre ein »revisionistischer« Staat wurde? Dies ist eine der wichtigen Fragen. Es ist nicht einfach, die außenpolitischen Ansichten Józef Becks detailliert zu rekonstruieren. Zwei Gründe sind dafür ausschlaggebend. Erstens lassen sich seine Ansichten nicht von denjenigen Piłsudskis trennen. »Beck hielt sich nicht für einen Politiker, der seine Jugend in Uniform verbracht hatte, sondern für einen hochrangigen Soldaten, der auf Befehl des Marschalls die Leitung der Außenpolitik übernahm«, stellte ein Zeitzeuge mit Recht fest.14 Zweitens äußerte sich Beck sehr selten und ebenso sparsam über die internationalen Angelegenheiten. Er hinterließ keine konzeptionellen Äußerungen aus seiner Amtszeit. Obwohl er sieben Jahre lang das Amt des Außenministers bekleidete, gab er äußerst selten Interviews, veröffentlichte keine Erörterungen bezüglich der internationalen Politik und beschränkte sich auf kurze Statements vor der Außenpolitischen Kommission des polnischen Senats. »Meine Politik war nicht meine Erfindung«, sagte er 1940 im Gespräch mit dem späteren Historiker Władysław Pobóg-Malinowski.15 Wenn wir über die Probleme der neuesten Geschichte Polens sprechen, dürfen wir nicht die Veränderungen außer Acht lassen, die in den letzten Jahren eingetreten 11

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sind. Eine wichtige Tatsache – mehr noch ein Phänomen des heutigen Europas – ist mit Sicherheit der polnisch-deutsche Dialog der Historiker. Diesen zu unterstützen und wachsen zu lassen bildet eine wichtige Aufgabe für die Gegenwart und für die Zukunft. Es ist bekannt, dass in Deutschland der Zweite Weltkrieg im Unterricht ausführlich behandelt wird und die Besatzung Polens einen wichtigen Bestandteil des deutschen historischen Gedächtnisses darstellt. Aber gerade das Verständnis für den vorangegangenen Zeitabschnitt, insbesondere für die Dilemmata der polnischen Außenpolitik der Zwischenkriegszeit, scheint mir eine wichtige Grundlage für den weiteren Dialog zu sein. Mit diesem Buch möchte ich zugleich Hans Roos würdigen, den hervorragenden deutschen Historiker, der sich bemühte, die Außenpolitik Piłsudskis und Becks zu verstehen. Sein Werk Polen und Europa. Studien zur polnischen Außenpolitik 1931–1939, das im Jahr 1957 erschien, war eine g­ roße intellektuelle Errungenschaft.16 Neben dem etwas früher verfassten Essay des amerikanischen Historikers Henry L. Roberts über die Diplomatie Józef Becks, der Arbeit Joseph Korbels über die internationale Lage Polens in der Zwischenkriegszeit und den Studien der in den USA tätigen exilpolnischen Historiker Piotr Wandycz, Marian Kamil Dziewanowski und Anna M. Cienciała nimmt die Stimme von Hans Roos einen besonderen Platz ein – meines Erachtens den wichtigsten.17 »Die Erkenntnis, dass die von Hitler entbundene Zwietracht zwischen Polen und Deutschen die Sowjetmacht in das Herz Europas geführt hat, mag die Wege ebnen für eine künftige Verständigung, die nicht mehr unter den Schatten Hitlers und Stalins steht.«18 Mit diesen Worten schloss Hans Roos seine Erörterungen. Sie klangen damals aktuell und sind es noch heute wert, wiederholt zu werden. In schwierigen Zeiten, als im unfreien Polen keine Möglichkeit vorhanden war, eine ehrliche Diskussion über die polnische Diplomatie in der Zwischenkriegszeit zu führen, inspirierte das Buch des deutschen Historikers die intellektuelle Arbeit seiner polnischen Kollegen. Nicht weniger wichtig ist, dass die von Hans Roos verfasste Monographie nach wie vor ein wichtiges Werk bleibt, an dem man nicht vorbeikommt, und dies obwohl seit seiner Veröffentlichung vor über 50 Jahren viele Studien zu diesem Thema erschienen sind. Marek Kornat

Krakau, im Frühjahr 2012

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Die Versailler Ordnung und die ­Außenpolitik Polens (1918–1932)

»Geometrisch liegt die Mitte Europas in Polen«, lesen wir in den alten Ausgaben von Meyers Enzyklopädischem Lexikon.1 Tatsächlich war die multinationale Rzeczpospolita ein wichtiger Bestandteil der geopolitischen Machtkonstellation Mitteleuropas, aber seit dem Ende des 17. Jahrhunderts hatte sie diese Bedeutung kontinuierlich verloren. Seit dem Tod Königs Johannes des Dritten Sobieski im Jahr 1696 war sie ohne Zweifel nicht mehr ein Subjekt, sondern nur noch ein Objekt der internationalen Politik, »eine Null in dem europäischen Gleichgewichte«, wie es der preußische General Carl von Clausewitz später formulierte.2 Am Ende des 18. Jahrhunderts ging der polnische Staat dann zugrunde. Sein Territorium wurde unter Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt. Auf den Trümmern des Staates kam es jedoch zur Wiedergeburt der modernen polnischen Nation.3 Die These, wonach die polnische Nationalbewegung beispielgebend für viele Völker Ostmitteleuropas war und dadurch die Integrität des russischen Imperiums bedrohte, ist keine polozentrische Behauptung der polnischen Historiographie, sondern wird von vielen Sowjetologen und Kennern der modernen Nationalismen vertreten.4 »Eine historische Nation wie die der Polen«, schreibt Roman Szpor­luk, »wurde zu einem perfekten Modell für alle entstehenden Nationen, denen die Ausgangsbedingungen fehlten, über welche die Polen verfügten.«5 Die wichtigste dieser Bedingungen war die Erkenntnis, dass es einen eigenen Staat gab, der verloren gegangen war. Die Bemühungen der Polen, diesen wieder aufzubauen, nahmen den Charakter militärischer Aufstände an. Aus diesem Grund galten sie im 19. Jahrhundert als Zerstörer der herrschenden Ordnung; die zahlreichen Spuren einer solchen Einschätzung finden wir in der damaligen politischen Literatur vieler europäischer Nationen. Dem österreichischen Außenminister Klemens von Metternich galt der »Polonismus« gar als »die Revolution selbst«.6 Über das ganze 19. Jahrhundert hinweg funktionierte Europa ohne einen unabhängigen polnischen Staat. Die polnische Frage hatte nicht nur Russland, sondern 13

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auch Preußen (seit 1871 Deutschland) und Österreich (seit 1869 Österreich-Ungarn) gegen sich. Eine eventuelle Wiederentstehung des polnischen Staates hätte für diese Mächte eine völlig neue Konstellation in Mitteleuropa bedeutet. »Die Wiederherstellung Polens ist die Vernichtung Russlands, Russlands Absetzung von seiner Kandidatur zur Weltherrschaft. (…) Für Deutschland lösen sich daher alle Fragen der auswärtigen Politik in einem Problem auf: Wiederherstellung Polens« – schrieb Karl Marx.7 Im polnischen Bewusstsein kristallisierte sich mit der Zeit die Überzeugung heraus, Polen sei das »Bollwerk Europas«. Diese Überzeugung war die Quelle einer äquivalenten, geistigen Wiedergutmachung für den Verlust des eigenen Staates. Auf ihr basierte die politische Philosophie des polnischen Romantismus. Aber, was zu betonen ist, solche Konzeptionen waren auch vielen anderen Europäern des 19. Jahrhunderts nicht fremd. »Polen verteidigt uns gegen die Barbarei«, behauptete zum Beispiel der französische Philosoph Pierre-Simon de Ballanche im Jahr 1835.8 Von Zeit zu Zeit kehrte bei den Europäern die Überzeugung zurück, dass Europa durch den Fall Polens eine wichtige Komponente im »Gleichgewicht der Kräfte« verloren hätte.9 Die polnischen Hoffnungen auf Frankreich, die durch den Mythos Napoleons I. am Leben gehalten wurden, wurden jedoch nie erfüllt. Der französische Staatsmann François Guizot stellte – ironisch – fest, dass »alle sich immer nur an Polen bedient, aber niemand ihm je gedient« habe.10 Nur diejenigen Nationen, die über eine aktive Unterstützung einer nennenswerten militärischen Größe verfügten, konnten im Laufe des 19. Jahrhunderts die staatliche Freiheit erringen. Weil den Polen dies verwehrt blieb, gewannen sie – als einziges großes Volk Europas – ihre Unabhängigkeit nicht zurück.11 Nach der Niederlage des Januar-Aufstandes von 1863/1864 zerschlug sich auch der Mythos von Napoleon III. als Hauptfürsprecher Polens in Europa. Die »polnische Frage« zog die Aufmerksamkeit vieler hervorragender Persönlichkeiten und demokratisch ausgerichteter politischer Strömungen auf sich. Deren Unterstützung erwies sich jedoch als nicht ausreichend, um die polnischen Hoffnungen zu verwirklichen. »Um Polen wiederaufzubauen, war ein allgemeiner Krieg nötig«, schrieb der Historiker Szymon Askenazy.12 Obwohl das 19. Jahrhundert für die Polen eine lange, schmerzhafte Phase der Abwesenheit von jeder Mitgestaltung der internationalen Beziehungen bedeutete, war es doch keine 14

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verlorene Zeit. Denn eben in diesem Jahrhundert entstanden die modernen politischen Strömungen, die sich mit dem Platz Polens in Europa beschäftigten. Ohne deren Kenntnis kann man die Dilemmata der polnischen Außenpolitik in der Zeit von 1918 bis 1939 nicht verstehen. Die Erfahrungen aus der Zeit nach den Teilungen des 18. Jahrhunderts haben die Denkweise der polnischen politischen Eliten vielfältig beeinflusst. In den Jahren 1921 bis 1925 fand in Polen eine für das politische Denken wichtige Debatte über die fundamentale Ausrichtung der Außenpolitik statt. Sie diente dazu, die langfristigen Ziele des Staates in Hinblick auf seine internationalen Beziehungen festzulegen, weil »die Politik verschiedener Völker eine gleichbleibende Richtung hat«.13 Nach dem Staatsstreich Piłsudskis im Jahr 1926 fasste er diese Diskussion zusammen. Sein politisches Lager gab die Macht bis 1939 nicht ab und das System des polnischen Staates kann als ein – relativ milder – Autoritarismus bezeichnet werden. Die Jahre 1926 bis 1939 fügten der Diskussion keine neuen Elemente hinzu und führten nicht zur Festlegung neuer ­Prinzipien. Über die damalige polnische Außenpolitik kann in zweifacher Art nachgedacht werden. Entweder man bemüht sich, sie »von außen her in der Beleuchtung der fremden Kritik« zu betrachten, wie dies Aleksander Skrzyński formulierte.14 Oder man versucht, die Denkweise der Schöpfer dieser Politik zu verstehen – ihre Zwänge, Annahmen, Pläne und Alternativen. Für den Zweck des vorliegenden Buches scheint es mir nötig zu sein, die zweite Position einzunehmen. Der Historiker hat die Pflicht, zumindest auf einige der grundsätzlichen Fragen eine Antwort zu geben. Warum war Polen in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts den Westmächten gegenüber so kritisch eingestellt? Warum nahmen die Schöpfer der polnischen Außenpolitik 1934 die Offerte Hitlers an und gaben eine gemeinsame Nichtangriffs-Erklärung ab? Warum zeichnete sich die polnische Außenpolitik durch ein tief verankertes Misstrauen gegenüber der Sowjetunion aus? Um dies alles zu verstehen, muss man sich die Realitäten der 1920er Jahre ins Gedächtnis rufen. Die folgenden Überlegungen bilden eine Skizze aus dem Grenzbereich zwischen dem politischen Denken und der Diplomatie und sind als Einführung in das Studium der polnischen »Politik des Gleichgewichts« in den Jahren 1934 bis 1939 gedacht. Sie verfolgen das Ziel, auf die Gegebenheiten und die Zwänge hinzuweisen, von denen die Außenpolitik des polnischen Staates infolge des Ersten 15

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Weltkriegs geprägt war. Vor allem soll hier die Frage nach den Zielen und Aufgaben der Diplomatie des neu entstandenen Polens noch einmal aufgeworfen werden. Wenn wir die Politik Piłsudskis und Becks in der Zeit der Annäherung an Hitler-Deutschland verstehen wollen, müssen wir den Versuch unternehmen, die Sicht der polnischen politischen Eliten auf die internationale Lage ihres Landes zu rekonstruieren. Die polnische Historiographie hat diese Phase der Außenpolitik intensiv aufgearbeitet, deren Ergebnisse allerdings wegen der Sprachbarriere außerhalb Polens weitgehend unbekannt geblieben sind.15

Konzeptionen des polnischen Staates – Inkorporationismus und Föderalismus Der Wunsch, den polnischen Staat in den Grenzen vor 1772 wiederherzustellen, bildete den primären Grund für den polnisch-russischen Konflikt und die sich wiederholenden Aufstände im Laufe des 19. Jahrhunderts. Das Dogma, wonach der vor den Teilungen existierende Staat vollständig wiederhergestellt werden sollte (restitutio ad integrum), hatte zur Folge, dass die Akteure der polnischen Politik stets vor der Frage »Alles oder nichts?« standen.16 Das Dogma überlebte im Bewusstsein der politischen Eliten bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts. Während sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die sozialen und wirtschaftlichen Modernisierungsprozesse beschleunigten und die Herausbildung von Nationen stimulierten, schritt gleichzeitig die Emanzipation der »nicht historischen Natio­ nen« voran, die die Gebiete der früheren Rzeczpospolita bewohnt hatten.17 Dies geschah entgegen den Wünschen der Polen, aber auf ähnliche Weise wie im gesamten Ostmitteleuropa. In den östlichen Teilen des einstigen polnischen Staates entstanden neue Nationen: Litauer, Ukrainer und Weißrussen kämpften um ihr Selbstbestimmungsrecht. Dieser Prozess bildete den Hintergrund für die polnische Frage am Anfang des 20. Jahrhunderts. In der Wahrnehmung der Polen erschien der wiedererlangte Staat nicht als ein neues Gebilde, sondern als eine Kontinuität aus der Zeit vor den Teilungen. Er sollte die geopolitische Rolle des alten Polens übernehmen, das im 18. Jahrhundert aufgehört hatte zu existieren.18 Nach dem Ersten Weltkrieg, als die Unabhängigkeit Polens möglich geworden war, stellte sich die Frage, welche territoriale Gestalt die Funktionsfähigkeit 16

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des Staates garantieren konnte. Bei den Polen herrschte die Überzeugung, dass es unmöglich sei, sich nur auf die ethnisch polnischen Gebiete zu beschränken. Eine solche Einstellung wäre mit den Erwartungen, die in den kollektiven Vorstellungen fest verwurzelt waren, unvereinbar gewesen. Aus diesem Grunde kann man die Konflikte, in die sich der junge polnische Staat verwickelte, als unausweichlich bezeichnen. Dies betraf nicht nur die Spannungen mit dem russischen und dem deutschen Volk, sondern auch mit den Ukrainern, Litauern und den Weißrussen. Heute fällt es leicht, theoretisch über den Verzicht auf Gebiete wie das Wilnaer Land, Ostgalizien oder Teschener Schlesien nachzudenken. Damals aber kam eine freiwillige Beschränkung auf ein Polen »in den ethnischen Grenzen« nicht infrage.19 Unabhängig davon gab es nach der endgültigen Festlegung der Grenzen zahlreiche Siedlungsgebiete von Polen außerhalb des polnischen Staates: in der Sowjetunion, in der Tschechoslowakei und in Deutschland. Die Akteure der polnischen Politik sahen grundsätzlich zwei unterschiedliche Möglichkeiten, das Problem der Ostgrenze Polens zu lösen: eine inkorporative und eine föderative Lösung. Das von Roman Dmowski und seiner Nationaldemokratischen Partei entwickelte »inkorporative Konzept« basierte auf dem Wunsch, Polen als einen zentralistischen Nationalstaat aufzubauen, der zwar über nationale Minderheiten verfügte, aber durch Polen regiert wurde. Dieses Konzept ging von einer Aufteilung der Ostgebiete der ehemaligen Rzeczpospolita zwischen Polen und Russland aus. In einem Memorandum Dmowskis an den britischen Außenminister Lord Balfour wurde im Juli 1917 unmissverständlich erklärt, dass an den neuen polnischen Staat nur diejenigen Gebiete angeschlossen werden sollten, die zum großen Teil durch polnische Bevölkerung bewohnt waren bzw. »zivilisatorisch zu Polen hinstreben«, sowie die, die notwendig seien, um eine »strategische Grenze« des polnischen Staates im Osten zu errichten.20 Dmowski ging davon aus, dass große Teile der westlichen Ukraine und überwiegende Teile Weißrusslands mit Minsk an Polen angeschlossen würden. Sogar das ethnische Litauen sollte polnisch werden – als ein zwar separater, aber Polen in Form eines Protektorats unterstellter Staat. Unabhängig davon, wie die territoriale Gestalt Polens tatsächlich ausfallen würde, musste es innerhalb seiner Grenzen mehrere zahlenmäßig nennenswerte natio­ nale Minderheiten geben. Die Annahme, von der Dmowski und die polnischen 17

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Nationalisten implicite ausgingen, nämlich dass eine Polonisierung der slawischen Minderheiten gelingen würde, entbehrte jeder rationalen Grundlage. Im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert des Nationalismus, gab es dafür keine Chance. Dies verstanden die Gegner der Nationaldemokraten, die dem inkorporativen ein föde­ ratives Konzept entgegensetzten, eine modernisierte Version der »jagellonischen Idee«. Die Nationaldemokraten wiederum glaubten nicht an die Möglichkeit einer polnisch-litauisch-ukrainischen Föderation. Sie sahen in ihr nur eine neoromantische Selbsttäuschung Piłsudskis und seiner Anhänger 21 und waren der Meinung, dass ein föderativer Staat mit einer komplizierten Struktur unausweichlich durch innere Probleme belastet bzw. sogar »unsteuerbar« sein würde. Ein föderativer Staat sei ein schwacher Staat, behauptete der Politiker und Publizist Joachim Bartoszewicz und schrieb, »aus keinem Grund – sei es aus einem geschichtlichen, sei es einem utilitären, äußeren oder inneren – liege es im polnischen Interesse, dass auf seinem heutigen staatlichen Territorium ein föderatives System eingeführt werden sollte«.22 Die Nationaldemokraten argumentierten, dass sich die litau­ische, ukrainische und weißrussische Nation nicht durch den Wunsch leiten lassen würden, mit den Polen im Rahmen eines föderativen Organismus zusammen­zuleben, da sie in ihm eher eine Gefahr für ihre Identität sähen. Dmowski hegte noch eine weitere wenig realistische Überzeugung: Er war der Meinung, dass das russische Volk früher oder später die durch Polen zwischen 1920 und 1921 gewaltsam durchgeführte Inkorporation beträchtlicher T ­ erritorien östlich der »Curzon-Linie« akzeptieren würde. Am Ende seines Buches Die polnische Politik und die Wiederherstellung des Staates brachte er die Ansicht zum Ausdruck, dass in Zukunft eine polnisch-russische Versöhnung möglich sein würde. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit liege die größte Aufgabe für die Außenpolitik Polens in der Gestaltung der Beziehungen mit Russland, da »die sowjetische Macht in Russland vergeht, aber Russland selbst bleibt«.23 Völlig anders war die Vision Piłsudskis, der vor allem danach strebte, einen separaten ukrainischen Staat zu gründen und die Unabhängigkeit der anderen nichtrussischen Nationen des ehemaligen Zaren-Imperiums sicherzustellen. Piłsudski entwarf ein Projekt, wonach »Pufferstaaten« zwischen Polen und Russland gegründet werden sollten, die mehr oder weniger eng mit Polen verbunden gewesen wären. Unter diesen neuen, unabhängigen Staaten sollte die Ukraine die herausragende Rolle spielen. Sie sollte unabhängig von Russland und mit Polen 18

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durch eine militärische Allianz sowie eine gemeinsame Außenpolitik verbunden sein. Den Ausgangspunkt für diese Vision bildete die Ostgrenze der Ersten Polnischen Republik aus dem Jahr 1772. Piłsudski stellte dem bolschewistischen Russland die Forderung, die Territorien östlich dieser Linie zu verlassen und das Recht der Ukrainer auf Unabhängigkeit bedingungslos anzuerkennen. Als die leitende Persönlichkeit der Polnischen Sozialistischen Partei, die das Programm des Kampfes um die Unabhängigkeit Polens verkündete, ­propagierte Piłsudski die Zerschlagung des russischen Imperiums und das Selbstbestimmungsrecht der durch dieses unterdrückten Nationen. Damit knüpfte er an die reiche Tradition des polnischen politischen Denkens aus der Zeit nach den Teilungen an.24 Von dem ersten Tag der Existenz des unabhängigen polnischen Staates an war er überzeugt, dass das wiedergeborene starke Russland – sei es ein »weißes« oder ein »rotes« – für Polen eine tödliche Gefahr bilde. Die föderative Idee Piłsudskis war eine logische Folgerung aus der Lektion, welche die Geschichte Polen während der Teilungszeit erteilt hatte. Die nationaldemokratischen Politiker hielten das vom Piłsudski-Lager vertretene Programm der »Aufteilung Russlands« für einen großen Fehler. Ihrer Meinung nach müsse eine solche Politik Russland dazu veranlassen, mit Deutschland gegen Polen zu kooperieren. Daher sollte man – so argumentierten sie weiter – die Pläne zum Aufbau von »Pufferstaaten« zwischen dem »ethnischen Polen« und Russland aufgeben. Stattdessen müsse das Vertrauen in Polen in der Welt gestärkt werden.25 »Die Entfachung der ukrainischen Frage« gleiche der Stimulierung eines Kriegsbrandes, schrieb der nationaldemokratische Sejm-Abgeordnete Stanisław Grabski.26 Russland würde die Existenz einer unabhängigen Ukraine nicht akzeptieren, und darüber hinaus würde ein solcher Staat nicht in Polen, sondern eher in Deutschland Unterstützung suchen, das für Polen der Feind Nummer eins bleibe. Dessen ungeachtet sah Piłsudski das »Zurückdrängen Russlands in seine ethnischen Grenzen« als die Schlüsselaufgabe der polnischen Außenpolitik an. Dieses Programm resultierte aus dem Bestreben, Russland soweit wie möglich zu schwächen.27 Die Bestrebungen, Osteuropa umzubauen, wurden durch den Gedanken begleitet, die Folgen der Ende des 18. Jahrhunderts durchgeführten Teilungen der multinationalen Rzeczpospolita ungeschehen zu machen.28 »Das wieder auferstandene Polen muss den natürlichen Widerstand der […] Teilungsmächte und das – ohne Polens Mitwirkung festgelegte – weltumspannende politische System 19

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bekämpfen. […] Polen kann sich nicht unbemerkt in das System des 19. Jahrhunderts hineinpressen und dabei nichts an ihm ändern. Dann würden die Polen umgebenden Teilungsmächte danach streben, die Teilungen zu wiederholen. Um am Leben zu bleiben, muss es ein neues System aufbauen, es muss einen breiten Gürtel der befreiten Nationen von Finnland bis Georgien unterstützen und es muss sich an die Spitze dieser Nationen stellen – als die Klammer dieses Gürtels.« So lauten die wichtigsten Gedanken eines programmatischen Memorandums des polnischen Außenministeriums von 1919.29 Zum Instrument der Pläne Piłsudskis, die sich definitiv im Frühjahr 1920 herauskristallisiert hatten, wurde die am 21. April desselben Jahres in Warschau unterschriebene polnisch-ukrainische Allianz, die als Piłsudski-Petljura-Pakt bekannt ist.30 Dieser Vertrag kündigte den Kampf um die Befreiung der Ukraine von der sowjetischen Herrschaft an. Letztendlich aber erlitt das föderative Projekt eine Niederlage. Entscheidend dafür waren mehrere Ursachen: Erstens war Polen trotz des Sieges im Jahr 1920 nicht in der Lage, Russland maximalistische Lösungen aufzuzwingen. Zweitens betrachteten Ukrainer, Litauer und Weißrussen Polen mit Misstrauen als einen Staat, der sie beherrschen wollte. Und drittens herrschte in der Ukraine, die den Schlüssel zum Gelingen dieses Programms bildete, im Jahr 1920 Chaos. Der Anführer der Ukrainer, Ataman Simon Petljura, der sich als Partner Piłsudskis und Befürworter einer propolnischen Einstellung positionierte, war nicht in der Lage, das umfangreiche Territorium zu kontrollieren. Die Schwäche des ukrainischen Partners, seine zahlenmäßig kleine Armee und die allgemeine Apathie der Ukrainer bildeten die Faktoren, die zum größten Teil über das Misslingen von Piłsudskis Plänen entschieden haben. Dass Piłsudski unabhängig von allen Schwierigkeiten die »ukrainische Karte« ausspielen wollte, ist eine unumstrittene Tatsache. Er sah – wie oben dargestellt – eine außergewöhnliche Möglichkeit gekommen, Osteuropa geopolitisch zu rekonstruieren, und er wollte diese Möglichkeit nutzen.31 Vor diesem Hintergrund war die Möglichkeit, einen polnisch-sowjetischen Krieg zu vermeiden, äußerst gering, zumal Polen in den sowjetischen Plänen bekanntlich das erste Ziel der Sowjetisierung bildete.32 Dennoch dominiert in der Geschichtsschreibung die vereinfachende Einschätzung, dass das polnische Programm der territorialen Expansion in den Osten den Hauptgrund des polnisch-sowjetischen Krieges bildete. Man sollte aber die expansionistischen Ziele der Sowjetunion nicht aus dem Blick verlieren. Sie 20

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richteten sich nach Westen, vor allem im Bemühen, den Zugang nach Deutschland zu gewinnen. Kein anderer als Josef Stalin nannte im November 1918 das sich im Entstehen befindende Polen »eine Bretterwand« zwischen Russland und dem Westen, die zerschlagen werden müsse.33 Die von Polen gewonnene Schlacht bei Warschau im August 1920 hatte zwar zur Folge, dass die staatliche Unabhängigkeit gerettet werden konnte. Das Ergebnis des polnisch-sowjetischen Krieges erlaubte es Polen aber nicht, Russland den Verzicht auf die Ukraine und die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit aufzuzwingen. Osteuropa wurde nicht nach den Vorstellungen Piłsudskis umgebaut. Der Krieg selbst war mehr als einer von vielen Grenzkonflikten im damals instabilen Europa. Er entschied über die Gestalt Ostmitteleuropas, mehr noch – über die Gestalt des ganzen Kontinents. »Für einen kurzen historischen Moment schien Europa den Atem anzuhalten«, schrieb der deutsche Historiker Peter Krüger.34 Der britische Diplomat und Botschafter in Berlin, Lord D’Abernon, nannte diese Konfrontation, vielleicht übertrieben, »die achtzehnte entscheidende Schlacht in der Geschichte der Welt«.35 So oder so – für Polen war dies nicht nur ein Krieg ums Überleben, sondern auch um die Verteidigung des Versailler Systems in Ostmitteleuropa. Dies war auch dem britischen Premierminister David Lloyd George bewusst. Obwohl er den polnischen Territorialforderungen im Osten gegenüber negativ eingestellt war, sprach er am 20. Juli 1920 im britischen Unterhaus eine klare Sprache: »Wenn die Polen ihre eigene Unabhängigkeit verteidigen, dann liegt es im englischen Interesse, liegt es im europäischen Interesse, dass Polen nicht vernichtet wird. Dies wäre für den Frieden in Europa fatal und die Konsequenzen wären geradezu katastrophal.«36 Es steht außer Zweifel, dass eine polnische Niederlage in der Schlacht bei Warschau die Zerschlagung des Versailler Systems in Ostmitteleuropa bedeutet hätte, vielleicht sogar eine neue Teilung Polens zwischen Russland und Deutschland.37 Mit Sicherheit hatte der polnische Sieg im Jahr 1920 entscheidende Bedeutung für die Bewahrung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten und bis zu einem gewissen Grad Rumäniens, wahrscheinlich auch Ungarns und der Tschechoslowakei. Er rettete das Versailler System und beendete dessen erste Krise.38 Der polnisch-sowjetische Friedensvertrag, der am 18. März 1921 in Riga geschlossen wurde, war ein schwer errungener Kompromiss; die politischen Eliten 21

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in der Sowjetunion hielten ihn trotzdem für ungerecht und aufgezwungen.39 »Für Polen hat der Rigaer Frieden die gleiche Bedeutung wie der Versailler Frieden«, urteilten die Vertreter des französischen Außenministeriums.40 Aufgrund seiner Bedeutung für ganz Ostmitteleuropa muss man dieses Traktat als eine wichtige Komponente des Versailler Systems betrachten.41 Am 15. März 1923 erkannten die Staaten der Entente die polnische Ostgrenze offiziell an und erfüllten damit die Bestimmungen von Artikel 87 des Versailler Vertrages, der die endgültige Fest­ legung der Ostgrenze Polens in ihre Hand gelegt hatte. Die territoriale Gestalt des polnischen Staates war das Ergebnis der Pariser Friedenskonferenz von 1919/20, der späteren Entscheidungen der Entente-Staaten, des polnisch-sowjetischen Krieges 1920/21 und anderer militärischer Handlungen Polens. In ihr spiegelte sich letztendlich das Konzept Dmowskis und nicht das Piłsudskis wider: Das neu entstandene Polen war ein Nationalstaat, der zwar durch die Polen regiert wurde, aber eine komplizierte nationale Struktur hatte. Obwohl das Programm Piłsudskis nicht realisiert worden war, wies das Territo­ rium eine beachtliche Größe auf. Unter den neuen Staaten Europas gehörte Polen – neben Rumänien und der Tschechoslowakei – zu den größten Profiteuren des Versailler Systems. Von den vielen Territorialstreitigkeiten verlor es nur einen einzigen: den mit der Tschechoslowakei um das Teschener Schlesien, das die Polen Zaolzie nannten. Der Preis dafür war aber eine Grenzgestaltung, die ethnisch nichtpolnische Territorien einschloss. Das neue Polen war ein mittelgroßer und ökonomisch schwacher Staat, der sich mit den Nachbarn im Streit befand und dennoch Ambitionen hatte, eine nennenswerte Rolle in der internationalen Politik zu spielen. Seine internationale Lage war äußerst ungünstig. Auf die Sicherheit des Staates wirkte sich der irreguläre Verlauf der Grenzen besonders negativ aus. »Eine noch ungünstigere geographische Lage als diese des neuen Polens kann man sich einfach nicht vorstellen«, stellte der Außenminister Aleksander Skrzyński fest.42 Nur zu zwei Nachbarn – zu Rumänien und Lettland – zeichneten sich die Beziehungen durch ein positives Klima aus. Deutschland dagegen, obwohl es demokratisch geworden war und mit dem Erbe der autokratischen Monarchie gebrochen hatte, akzeptierte seine neue Ostgrenze nicht, sondern sah in ihr das Ereignis eines mit Gewalt aufgezwungenen Diktats. Die Beziehungen mit Sowjetrussland konnten allein wegen der 22

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systemischen Unterschiede nicht normal sein. Dazu kamen noch die Grenzkonflikte mit der Tschechoslowakei und mit Litauen sowie der Konflikt mit dem ukrainischen Volk um die Gebiete Ostgaliziens mit Lemberg. Darüber dass polnisch-deutsche und polnisch-sowjetische Antagonismen in der Realität der Zwischenkriegszeit so gut wie unausweichlich waren, herrscht unter den Historikern weitgehend Einigkeit. Wäre es aber möglich gewesen, die Antagonismen mit den kleineren Nachbarn der Rzeczpospolita, etwa der Tschechoslowakei oder Litauen, zu vermeiden? Mir scheint, dass auch dies nicht realistisch war. Obwohl das Gefühl des Zusammenhalts zwischen slawischen Völkern noch in Ansätzen vorhanden war, hatte sich zwischen Polen und der Tschechoslowakei eine große Kluft aufgetan. Die Ursachen waren vor allem die Inkorporation des Teschener Schlesiens im Januar 1919 sowie die ablehnende Haltung der tschechoslowakischen Regierung gegenüber einem Plebiszit in dem umstrittenen Gebiet und gegenüber dem Transit militärischer Güter nach Polen während der kritischen Tage des polnisch-sowjetischen Krieges. Die Unterstützung für die auf dem Gebiet der Tschechoslowakei lebenden ukrainischen Emigranten und die Duldung der antipolnischen Aktivitäten der Komintern belasteten die Beziehungen zusätzlich. Ebenso unmöglich erscheint ein »historischer Ausgleich« mit dem unabhängigen Litauen. Es lässt sich lediglich darüber spekulieren, ob es realistischer gewesen wäre, die Stadt Wilna, in der die polnische Bevölkerung dominierte, den Litauern zu überlassen. Im Gegenzug hätte sich die litauische Regierung vielleicht einverstanden erklärt, ein Abkommen zu schließen, in dem eine Föderation bzw. Konföderation der beiden Staaten festgelegt worden wäre. Piłsudski machte den Litauern tatsächlich ein solches Angebot, aber die Mehrheit der polnischen Eliten unterstützte ihn dabei nicht. Auch die litauische Seite war an solchen Ideen nicht interessiert, da sie die polnische Übermacht fürchtete.43 Der Zusammenstoß der beiden jungen Nationalismen im Kampf um möglichst günstige Grenzen schuf eine Kluft zwischen den beiden »Nachfolgenationen« der alten Rzeczpospolita. Das prinzipielle Dilemma der internationalen Lage Polens lag darin, dass den Schöpfern der polnischen Außenpolitik die äußerst schwierige Lage durchaus bewusst war. Eben deswegen vertraten sie aber die Meinung, dass das wiederentstandene Polen den Status eines kleinen Staates, der lediglich ein Werkzeug der Großmächte gewesen wäre, nicht akzeptieren dürfe. Diesbezüglich herrschte in 23

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der polnischen Politik ein Konsens, der auch manchen Ausländern verständlich war. »Polen wird nicht länger eine kleine Nation sein«, schrieb ein britischer Politiker unter dem Eindruck des Manifestes der russischen Provisorischen Regierung vom 30. März 1917, das Polen das Recht auf einen eigenen Staat in den »ethnischen Grenzen« zusprach.44 Trotz aller unüberbrückbaren Unterschiede wollten sowohl Piłsudski als auch Dmowski nicht nur Polen auf-, sondern auch jenen Teil Europas umbauen, in dem der polnische Staat lag. Sie waren der Meinung, dass dies nötig sei, um das internationale System, das auf den Trümmern der Ersten Polnischen Republik entstanden war, unumkehrbar zu zerschlagen. Die von den Bolschewiki nach dem Ende der Zarenherrschaft betriebene Wiederherstellung Russlands als ein multinationales Imperium stellte aus der Sicht Polens eine äußerst ungünstige Entwicklung dar. Eine von Russland getrennte Ukraine hätte dagegen ein wertvoller Verbündeter und ein unabhängiges Litauen eine relevante Komponente einer wirkungsvollen Politik im Ostseeraum sein können. All diese Pläne blieben aber nicht mehr als eine unerfüllte Idee.

Polen und das politische Gleichgewicht Europas Eine der wichtigsten Grundlagen im politischen Diskurs Polens war die Annahme, dass ein polnischer Staat unersetzlich für das Gleichgewicht der Kräfte und ­einen dauerhaften Frieden in Europa sei. Józef Piłsudski behauptete bereits 1895, als Sozialist und Anführer der polnischen Arbeiterbewegung, dass sich das polnische Problem darauf reduzieren lasse, dass Polen aus der russischen Vorherrschaft herausgerissen werden müsse. Für ihn war Russland »seit seinem Auftreten auf der historische Bühne eine feste Stütze der Reaktion und ein ewiges Damoklesschwert über dem Kopf aller fortschrittlichen Bewegungen«.45 Der Anführer der modernen polnischen National-Demokratie, Roman Dmowski, beschrieb zwar das polnische Problem anders und zog auch andere Schlussfolgerungen, aber auch er betonte die geopolitischen Determinanten. In seinem politischen Traktat »Deutschland, Russland und das polnische Problem« schrieb er, dass Europa vor einer Alternative stehe: Entweder werde ein lebensfähiger und selbstständiger polnischer Staat entstehen, oder es werde ein »germanisches« und »von Berlin aus regiertes« Europa geben.46 Während Polen für Piłsudski, in 24

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Anknüpfung an die frühere Vision der Rzeczpospolita, als das »Bollwerk Europas« die »östliche Barriere« des Kontinents bilden sollte, war es in der Konzeption Dmowskis ein Faktor, der die Vorherrschaft Deutschlands in Mitteleuropa unmöglich machen sollte. Entsprechend seiner Interpretation gab es nur eine Alternative: Entweder würde Polen als ein wirklich unabhängiger Staat entstehen, oder es würde »eine Provinz des deutschen Imperiums« sein.47 Aus Dmowskis Sicht gab der Versailler Vertrag Polen die Möglichkeit einer selbstständigen Existenz, aber er glaubte, dass erst die Zukunft zeigen würde, ob das Land diese Möglichkeit wirklich nutzen und das Versailler System überleben könne. Der politische Diskurs in Polen betonte die Notwendigkeit der Existenz des eigenen Landes für Europa und artikulierte das Bedürfnis, zum Ausdruck zu bringen, dass dessen Beseitigung 1795 für den ganzen Kontinent schädlich gewesen war. Dementsprechend verlange Europas eigenes Interesse danach, den Fehler der Teilungen wiedergutzumachen. Dieser Diskurs war eine wichtige Hinterlassenschaft der politischen Reflexion aus der Zeit vor 1914, auf die man auch bei der Konzeption der polnischen Außenpolitik nach 1918 zurückgriff.48 Ob jedoch diese Sicht der Dinge für die übrigen Europäer der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verständlich war, ist eine andere Frage. Zwar wiederholten die westeuropäischen Politiker, insbesondere die französischen, oft die These, wonach Polen »wiederauf­ erstanden« und dadurch »die Rechnung der Geschichte« ausgeglichen worden sei, aber diesen Äußerungen lag nicht zuletzt diplomatische Höflichkeit zugrunde.49 Das Europa des 19. Jahrhunderts – das Europa ohne Polen – hatte immerhin eine Zeit relativ stabilen Friedens und der beschleunigten wirtschaftlichen Entwicklung erlebt. Im überragenden Maß bestimmte der Kontinent das Schicksal der Welt. Erst der Weltkrieg hatte diesbezüglich einen wahren Umsturz verursacht und den Anfang eines Prozesses signalisiert, in dessen Verlauf der Niedergang der Bedeutung Europas in der Welt allmählich sichtbar wurde. Diese unerwartete und nicht einkalkulierte »geopolitische Revolution« brachte eine radikale Zerstörung der internationalen Ordnung mit sich, die im Lauf des 19. Jahrhunderts entstanden war – einer Ordnung, die im entscheidenden Maße auf den Ende des 18. Jahrhunderts durchgeführten Teilungen Polens basierte. Keine der Großmächte, die an der Entfesselung des Ersten Weltkriegs beteiligt gewesen war, hatte sich eine »geopolitische Revolution« gewünscht. Aber nur 25

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ein solcher Umsturz konnte den Wiederaufbau des polnischen Staates in den ­Kategorien der Realpolitik realistisch erscheinen lassen. Als bahnbrechend für das Schicksal Polens kann die deutsch-österreichische Proklamation eines Königreichs Polen vom 5. November 1916 gelten. Aber erst die Proklamation der russischen Provisorischen Regierung vom 30. März 1917, in der dem polnischen Volk das Recht auf Unabhängigkeit zugestanden wurde, hatte zur Folge, dass der Wiederaufbau des polnischen Staates zu einem der Kriegsziele der Entente-Staaten wurde. Die Unabhängigkeit Polens war eine unausweichliche Folge des Weltkriegs, und dies, obwohl zur Zeit seines Ausbruchs keine der beteiligten Großmächte sich die Wiederherstellung des polnischen Staates zum Ziel gesetzt hatte. So überging zum Beispiel der französische Premier Arisitide Briand noch in seiner bekannten Deklaration vom 10. Januar 1917 hinsichtlich der Kriegsziele die polnische Angelegenheit völlig. Er appellierte lediglich an die Polen, den Glauben an den guten Willen des russischen Zaren zu bewahren.50 Die Logik der Ereignisse führte jedoch dazu, dass – nach 123 Jahren der Staatenlosigkeit – ein unabhängiges Polen Wirklichkeit wurde.51 Der polnische Diplomat Michał Łubieński schrieb ex post, dass »die Entstehung des polnischen Staates in seinen Vorkriegsgrenzen zum großen Teil aus der idealistischen Intervention des Präsidenten Wilson und des Obersten House resultierte«.52 Natürlich war die Unabhängigkeit Polens das Resultat einer äußerst günstigen internationalen Konstellation. Diese entstand dadurch, dass es zu einem Konflikt zwischen den drei Teilungsmächten Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn gekommen war, der in einer gleichzeitigen Zerschlagung dieser Mächte endete. Darüber hinaus entwickelte und verstärkte sich auf den polnischen Gebieten das nationale Bewusstsein, das zur Entstehung einer modernen polnischen Nation führte. »Das Wunder der Auferweckung Polens erfüllte sich durch eine Folge von Katastrophen«, schrieb treffend Carlo Sforza, ein polenfreundlicher italienischer Politiker.53 Den meisten Europäern blieb der Erste Weltkrieg als ein großes Drama des auseinandergerissenen Kontinents in Erinnerung; für die Polen war dies aber »der erlösende Krieg«.54 Ohne Berücksichtigung dieses Konflikts zwischen zwei unterschiedlichen kollektiven Erinnerungen kann man das Dilemma in den Beziehungen zwischen Polen und Europa im 20. Jahrhundert nicht verstehen. 26

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Bis heute ist der Mythos lebendig, US-Präsidenten Thomas Woodrow Wilson sei als Befürworter des Selbstbestimmungsrechts der Nationen Urheber der polnischen Unabhängigkeit. Seine »Vierzehn Punkte« vom 8. Januar 1918 enthielten tatsächlich die klare Forderung nach einem unabhängigen Polen, das aus »unbestreitbar polnischen Gebieten« bestehen und »einen freien Zugang zum Meer« haben sollte. Allerdings hatte der britische Premier Lloyd George schon am 5. Januar eigentlich das Gleiche gesagt: In seiner bekannten Rede auf einem Gewerkschaftskongress stellte er fest, dass das polnische Volk ein Recht auf seine Unabhängigkeit habe und dass die Wiederentstehung des polnischen Staates eine Bedingung für die Stabilität des Friedens in Westeuropa sei.55 In der Konzeption des britischen Regierungschefs war jedoch alles dem Prinzip des »ethnischen Polens« unterstellt – eines Polens in den Grenzen des ehemaligen Herzogtums Warschau aus den Jahren 1809 bis 1813.56 In den Augen vieler Politiker der Entente waren die Ostgebiete, die sich Polen infolge des Krieges gegen die Sowjetunion gesichert hatte, ein Ballast für den neuen Staat, der seine innere Konsolidierung erschwerte. Das Konzept eines »ethnischen Polens« wollte aber das polnische Volk nicht akzeptieren. Sowohl Piłsudski als auch Dmowski waren sich trotz der grundsätzlichen Unterschiede vollkommen einig, dass es in dem Teil Europas, in dem Polen sich nun befand, keinen Platz für kleine, unselbstständige Staaten gäbe und dass solche sich ihren großen Nachbarn unterstellen müssten. »Zurzeit hat Polen eigentlich keine Grenzen«, konstatierte Piłsudski. »Alles, was wir diesbezüglich im Westen machen können, hängt von der Entente ab – davon, ob sie bereit ist, Deutschland mehr oder weniger zusammenzurücken. Ganz anders sieht es im Osten aus (…). Hier gibt es eine Tür, die sich öffnet und schließt. Es kommt darauf an, wer sie und wie breit mit Gewalt öffnet.«57 Piłsudski hatte Recht: Im Jahr 1919 bildete ganz Ostmitteleuropa in der Tat ein politisches Vakuum, das als Folge des Niedergangs der drei großen multinationalen Teilungsmächte entstanden war. Das wichtigste Problem, vor dem Polen im Jahr 1918 stand, lässt sich in der Frage zusammenfassen, ob die neue, für das Land vorteilhafte internationale Konstellation von Dauer sein würde. Andersherum gefragt: War es möglich, dass in Ostmitteleuropa erneut eine politische Konfiguration entstehen würde wie jene, die Polen am Ende des 18. Jahrhunderts die Katastrophe der Teilungen gebracht hatte? Als Voraussetzung dafür galt eine deutsch-russische Annäherung. Eine unsichere Zukunft und die Erinnerung an die Vergangenheit – diese zwei Faktoren 27

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markierten die Suchprozesse innerhalb der polnischen politischen Reflexion an der Schwelle zur Unabhängigkeit. Zu weiteren wichtigen Problemen, die im Zusammenhang mit der »großen geopolitischen Revolution« nach dem Ersten Weltkrieg in Erscheinung traten, gehörte die Frage nach dem Platz Polens in Europa. Sollte das Land – bei seiner unveränderlichen geographischen Lage – eher als »Barriere« oder als »Brücke« zwischen Deutschland und Russland bzw. zwischen Ost und West fungieren? Piłsudski plädierte eindeutig für eine selbstständige Außenpolitik, die weder Deutschland noch Russland nachgeben würde. Er sprach von der Notwendigkeit eines »neutralen Polens«, das eine stabile Politik betreibe, die programmatisch frei und unabhängig von den Schwankungen der internationalen Konstellationen sein sollte.58 Vor allem aber sollte die polnische Außenpolitik nicht von Ideologien geprägt sein, sondern mit jedem Partner konstruktiv verhandeln können, unabhängig davon, welche Weltanschauung dieser vertrat. »Polen darf kein Kleinstaat sein, der den Schutz der Mächtigen braucht« – dies war der grundsätzliche Gedanke.59 Der Wunsch, als »Barriere« zu fungieren, hätte unausweichlich zu einer gleichzeitigen Verschlechterung der Beziehungen zu den beiden benachbarten Großmächten geführt und die Gefahr eines konzentrischen Angriffs heraufbeschworen. Aber auch die Idee, Polen könne als »Brücke« zwischen Deutschland und Russland fungieren, wies einen illusorischen Charakter auf. Sie setzte nämlich gute Beziehungen zu den beiden Nachbarn voraus, die aber nicht dauerhaft herzustellen waren: Erstens akzeptierte Deutschland die während der Friedenskonferenz in Paris festgelegte Ostgrenze nicht; zweitens strebte das »neue Russland« – trotz unterschiedlicher Scheinaktivitäten – im Grunde genommen danach, den polnischen Staat von der Landkarte zu tilgen bzw. sich ihn zumindest zu unterstellen. Mit Sicherheit war der neue polnische Staat ein wichtiges Element des Versailler Systems. Wegen seiner geopolitischen Lage wurde Polen sogar als dessen »Achse« bzw. »Wölbstein« bezeichnet. So unterschiedliche Politiker wie Wladimir Lenin, Winston Churchill und der französische Staatspräsident Alexandre Millerand waren sich diesbezüglich einig. Churchill bezeichnete Polen als »den Vorposten des Antibolschewismus«,60 Millerand stellte im August 1920 fest, dass die Zukunft der westlichen Zivilisation »sich am Ufer der Weichsel entscheidet«.61 Lenin sprach von Polen als dem »Wölbstein des Versailler Systems«. Der britische 28

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Völkerrechtler Alfred Zimmern schrieb, dass aus der Sicht der Vorherrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen Polen »einer der wichtigsten und unentbehrlichsten Staaten auf der Karte Europas« sei.62 Der französische politische Publizist De la Revelière äußerte die Meinung, dass sich Polen auf dem Wege dazu befinde, den fundamentalen Faktor des politischen Gleichgewichts in Europa zu bilden.63 Dem Land falle dabei die »entscheidende Rolle« zu, die es erfüllen sollte, indem es als Pufferstaat zwischen Deutschland und Russland diente.64 Gleichzeitig aber bestand unter den Politikern Europas kein Zweifel daran, wie unsicher die Zukunft des wiedererstandenen Polens sei. Gezweifelt wurde vor allem an dessen innerer Konsolidierung. Mit dem Argument, dass Polen keine wirkungsvolle Barriere zwischen Deutschland und Russland bilden würde, hatte sich Lord Balfour gegen dessen Unabhängigkeit ausgesprochen.65 Die ökonomischen Möglichkeiten einer selbstständigen Existenz des polnischen Staates schätzte der britische Ökonom John Maynard Keynes als äußerst niedrig ein. Überhaupt hielt er das ganze Versailler System für einen kostspieligen strategischen Fehler.66 Auch der bekannte Autor der französischen nationalistischen Rechten, Jacques Bainville, räumte Polen keine größeren Chancen ein, weil das Land Russland nie als den östlichen Verbündeten des siegreichen Frankreichs ersetzen könne.67 »Die Barriere, die Polen zwischen Deutschland und Russland errichten will, ist eine Absurdität, die nicht von Dauer sein wird«, schrieb der italienische linke Politiker Francesco Nitti.68 Und Lord Balfours verächtliche Bemerkung, dass niemand wisse, welche Politik Polen eigentlich verfolge, wurde in der europäischen Presse breit kommentiert.69 Die Grenzen des polnischen Staates wurden als nicht verteidigungsfähig angesehen. Bekannt ist die Äußerung des britischen Außenministers Austen Chamberlain, dass »wir nicht einen Finger rühren werden, um den polnischen Korridor zu sichern«.70 Der Kern der internationalen Lage Polens wurde treffend durch den französischen Publizisten und Historiker Louis Eisenmann definiert: Polen sei als ein Staat auferstanden, »der zu schwach ist, um eine Großmacht zu sein, aber stark genug, um Aspirationen zu haben, die den Status einen kleinen Staates überschreiten«.71 Ähnlich äußerte sich ein polnischer Politiker, der betonte, dass sich Polen »ganz in der Mitte der Großmächte« befinde. Es sei ein Organismus, der schwächer sei als diese, aber stärker als »die »Kleinstaaten«, und der »unter dieser Benachteiligung« leide.72 29

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Allianzen Das wirkliche Fundament der polnischen Außenpolitik war die polnisch-französische Allianz, die nach zweijährigen Bemühungen der polnischen Diplomatie am 19. Februar 1921 in Paris geschlossen wurde. Die Allianz bestand aus einem politischen Vertrag und einem Militärabkommen, das gegenseitige Garantien im Falle eines von Deutschland begonnenen Krieges bzw. einer militärischen Aktion vorsah, die ihren Ursprung auf einem durch die deutsche Regierung kontrollierten Gebiet haben würde.73 Im politischen Vertrag sprach man von einer gegenseitigen »Verständigung« zwischen beiden Ländern »mit dem Zweck, ihre Territorien zu verteidigen und ihre berechtigten Interessen zu schützen«.74 Die Allianz trat im März 1922 in Kraft, nachdem ergänzende polnisch-französische Wirtschaftsabkommen unterschrieben worden waren, die dem französischen Kapital große Präferenzen in der polnischen Wirtschaft einräumten.75 Der politische Vertrag war relativ unpräzise. Er erlegte beiden Seiten die Pflicht auf, sich im Bündnisfall zu verständigen und erst dann die Bestimmungen der Allianz umzusetzen. Das Militärabkommen war klarer formuliert – es sprach deutlich von der gegenseitigen Pflicht, sich die militärische Hilfe zu leisten, wenn eine der Parteien Opfer der deutschen Aggression sein sollte.76 Weil bei der Umsetzung der Allianz das Prinzip des Automatismus nicht angewendet wurde und im Text des politischen Vertrages das Wort »Allianz« nicht vorkommt, behauptet der französische Historiker Jacques Bariéty, dass die polnisch-französische Verständigung von 1921 nicht die Bezeichnung Allianz tragen dürfe.77 Diese Einschätzung ist nicht annehmbar, weil jeder Vertrag über gegenseitige Hilfe als Allianz gilt, unabhängig von den einzelnen in ihm verwendeten Formulierungen; der polnischfranzösische Vertrag von 1921 erfüllt diese Vorgabe. In Bezug auf die Verpflichtungen der beiden Seiten war das polnisch-französische Abkommen aber in der Tat nicht so präzise wie etwa das französisch-russische von 1892.78 Es ist durchaus verständlich, dass Polen – als ein Staat, der an der Verteidigung des Status quo interessiert war – seinen Platz an der Seite einer Großmacht fand, deren außenpolitische Interessen sich nach den gleichen Prinzipien richteten, zumindest in den ersten Jahren nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags. Die Allianz mit Frankreich brachte Polen Garantien für den Falle eines deutschen Angriffs, angesichts der potenziellen Gefahr seitens der UdSSR hatte sie aber nur 30

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