Arglistige Täuschung (Leseprobe)

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Burghard Ciesla

Arglistige T채uschung Ehemalige Stasi-Mitarbeiter in der Polizei des Landes Brandenburg nach 1990


Das Projekt wurde vom Ministerium des Innern des Landes Brandenburg ­initiiert und finanziell vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes gefördert.

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Inhalt Einführung Die Personalüberprüfungen bei der ­Brandenburger Polizei Staatssicherheit und Volkspolizei vor 1989 Abbruch – Umbruch – Aufbruch 1989/90 Die »Bischofskonferenz« 1990/91 »Arglistige Täuschung« 1991–1999

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Stasi-Akten, Statistik und Ländervergleich

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Exkurs – Deutsche Polizeiapparate im 20. Jahrhundert

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Zusammenfassung

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Anhang Untersuchungsgrundlagen Anmerkungen Tabellen Quellen Literatur Abkürzungsverzeichnis Personaldaten des MI

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Der Autor

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Einführung Wie wurden Volkspolizisten zu Polizeibeamten? Dieses Buch befasst sich mit der Transformation der Deutschen Volkspolizei (DVP) zu einer rechtsstaatlich-demokratischen Polizei am Beispiel des Landes Brandenburg. Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage, wie sich im Land Brandenburg der »Weg von einer militärisch organisierten Gemeinschaft, deren Mitglieder eher Polizeisoldaten waren, zu einer Polizeiorganisation grundgesetzlicher Prägung« gestaltete.1 Ausgangspunkt hierfür war ein im Herbst 2009 vom Ministerium des Innern (MI) des Landes Brandenburg initiiertes wissenschaftliches Forschungsprojekt am Historischen Institut der Universität Potsdam. Im Zeitraum zwischen Juli 2010 und Oktober 2012 wurden die Personalüberprüfungen bei der Polizei des Landes Brandenburg von 1990 bis 1999 wissenschaftlich untersucht.2 Der Untersuchung lag damit eine komplexe Forschungsmaterie zugrunde. Es galt, die Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, unter denen die Personalüberprüfungen zwischen 1990 und 1999 stattfanden. Die recht unterschiedlichen Einzelfälle mussten immer im Kontext der DDR-Vergangenheit betrachtet werden. Zuletzt war schätzungsweise jeder elfte Volkspolizist als Informant oder Zuträger für die Staatssicherheit verpflichtet gewesen. Mit außerordentlicher Intensität wurde die Volkspolizei von ihr überwacht. Die Anteile der inoffiziellen Mitarbeiter unter den Volkspolizistinnen und Volkspolizisten3 lagen in den 1980er-Jahren je nach Dienstzweig bei zehn bis 20 Prozent. Der hohe Grad der Bereitschaft zur Tätigkeit für die Staatssicherheit hatte maßgeblich mit der weltanschaulichen Nähe, der eingeforderten politischen Loyalität und vielfach auch mit dem Wunsch nach eigenem beruflichen Fortkommen zu tun. Die 1999 vorliegenden Ergebnisse der Personalüberprüfungen bei der Brandenburger Polizei bestätigten einerseits die intensive Überprüfungsund Überwachungspraxis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Andererseits offenbarten sie ein fein abgestimmtes, arbeitsteiEinführung  7


liges Ineinandergreifen von geheimpolizeilichen und volkspolizeilichen Maßnahmen vor 1990.4 Der Hauptschwerpunkt des Projektes war auf die Untersuchung der Überprüfungspraxis im Hinblick auf die Entstehung, Umsetzung und Durchführung der Personalüberprüfungen und die Befolgung rechtsstaatlicher Grundsätze ausgerichtet. Darüber hinaus waren die verschiedenen gesetzlichen Regelungen vom Ländereinführungsgesetz (LEG) über den Einigungsvertrag (EV/EinV), das Landesbeamtengesetz (LBG) bis hin zum Stasi-Unterlagen-Gesetz5 (StUG) sowie die Urteile der Arbeits- und Verwaltungsgerichte bzw. die Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes6 zu berücksichtigen. Grundlage waren mehr als 100 anonymisierte Fallgeschichten, mit denen die Weiterbeschäftigung hauptamtlicher und inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes bei der Brandenburger Polizei untersucht wurde. Dabei standen folgende Fragen im Mittelpunkt des Interesses: Wie und unter welchen Bedingungen wurde geprüft? Nach welchen Kriterien erfolgten die Einzelfallprüfungen? Welche Veränderungen ergaben sich bei den Verfahren? Wie angemessen waren die Kriterien? Inwieweit beruhte die Überprüfungspraxis auf rechtsstaatlichen Prinzipien? Waren die im Untersuchungszeitraum getroffenen Entscheidungen zur Weiterbeschäftigung von ehemaligen hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit bei der Polizei des Landes Brandenburg vertretbar gewesen? Zur Beantwortung dieser Fragen wurden der Aufbau der brandenburgischen Landespolizei7, die Zusammenarbeit mit der StasiUnterlagen-Behörde, die Erarbeitung des Personalfragebogens im November 1990, die Tätigkeit der ersten Personalkommission (»Bischofskonferenz«) 1990/91 sowie die sich mit den Verbeamtungen entwickelnde weitere Überprüfungspraxis zwischen 1991 und 1999 schwerpunktmäßig untersucht. Augenmerk lag zudem auf den personellen und strukturellen Entwicklungen bei der Volkspolizei 1989/90 sowie auf der Rolle der Bürgerbewegungen und den damit zusammenhängenden Entscheidungen der »Runden Tische«. Die Beschäftigung mit diesen Forschungsfeldern war zugleich mit der Einbeziehung schwieriger juristischer Fragen verbunden, die bis heute zum 8  Einführung


Teil kontrovers diskutiert werden und eine Bewertung erschweren. Deutlich zeigte sich das bei der Diskussion um die Neufassung des StUG im Jahr 2011.8 Ziel des Projektes war keine Nachprüfung der Einzelfallentscheidungen durch die Personalkommissionen, was aufgrund der Anonymisierungen auch gar nicht möglich war. Vielmehr ging es um eine Darstellung der Personalüberprüfungsverfahren unter der Berücksichtigung der Normal-, Regel-, Grenz-, Streit- und Klagefälle bei Beamten, Angestellten und Arbeitern im Polizeibereich des Ministeriums des Innern des Landes Brandenburg (MI). In diesem Zusammenhang wurde gefragt, nach welchen Kriterien eine Freigabe oder eine Rücknahme der Ernennung bzw. Entlassung aufgrund »arglistiger Täuschung« gemäß § 169 des LGB oder für Angestellte/Arbeiter gemäß § 12310 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) erfolgte. Hier interessierten vor allem die Klageverfahren der Polizeibediensteten und die Erfolgsquote bei Klägern und Beklagten. Die von allen Innenministerien der neuen Bundesländer 1999 veröffentlichten Überprüfungsergebnisse im Hinblick auf die Mitteilungen der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) zeigen, dass zwischen 199211 und 1999 insgesamt ca. 12.100 ehemalige hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes bei der Polizei identifiziert wurden. Davon wurden 4.800 entlassen und 7.300 belastete Beamte und Angestellte verblieben im Polizeidienst der ­neuen Bundesländer. Von denen, die im Dienst bleiben durften, gehörten 1.323 zur Polizei des Landes Brandenburg. Gemessen am Gesamtpersonalbestand der Polizei zum 1. Januar 2000 betrug der Anteil der Belasteten in Brandenburg ca. 18 Prozent. Die meisten belasteten Polizisten verzeichneten die Bundesländer Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern mit jeweils 26 Prozent. Danach folgten mit 24 Prozent das Land Thüringen und mit 22 Prozent SachsenAnhalt. In Berlin betrug der Anteil rund sieben Prozent. In einem gesonderten Abschnitt wird am Ende des Buches auf die Probleme der Datenüberlieferung und die statistischen Fallstricke des Ländervergleichs näher eingegangen.12 (s. S. 181 f.) Einführung  9


Die betrachteten Einzelfälle forderten die Auseinandersetzung mit der »Binnenwelt« der Deutschen Volkspolizei (DVP) vor 1989. Wie sahen die politische Instrumentalisierung, die konkreten Handlungsweisen und mehrdeutigen Haltungen der Volkspolizisten im Alltag aus? Bis 1989 war die Volkspolizei eine der tragenden Säulen des Machtapparates der SED gewesen. Zur Herrschaftssicherung hatte diese sich einen effizienten Verbund von politischen, administrativen und gesellschaftlichen Institutionen, Organisationen und Einrichtungen geschaffen. Darin diente die Volkspolizei neben der Staatssicherheit dem Erhalt der »Diktatur des Proletariats«. Die damaligen Definitionen beschrieben im Kern einen unmissverständlichen »Klassenauftrag«: Es ist die ungeteilte staatliche Macht der Arbeiterklasse zu sichern, die gestürzten Ausbeuterklassen niederzuhalten und die werktätigen Massen zur Errichtung einer neuen, klassenlosen Gesellschaft zu führen. Unter den Bedingungen einer bipolaren Welt – des Systemgegensatzes und Kalten Krieges – entwickelte sich ein spezifisches Sicherheitsbedürfnis der SED. Dieses bestimmte die aus rechtsstaatlicher Sicht heute sehr befremdliche Aufgabenmischung der Volkspolizei von originär polizeilichen, erzieherischen, präventiven, politischen, sozialpädagogisch-betreuenden und geheimpolizeilichen Tätigkeiten. Die bis zum Herbst 1989 geltende ideologische »Grundaufgabe« und die »eigentümliche« Aufgabenmischung mussten bei der Untersuchung des Transformationsprozesses und der Überprüfungspraxis nach 1990 stets berücksichtigt werden, um die personellen Umstrukturierungen, Brüche und Kontinuitäten angemessen beurteilen zu können.13 Daraus ergab sich zwangsläufig die Frage, wie viele Volkspolizisten ihre Profession tatsächlich unabhängig von den politischen Ansprüchen ausübten. Generell hätte bis 1989 ein »unpolitisches« Verständnis des eigenen polizeilichen Handelns schwerwiegende Nachteile mit sich gebracht. Hier besteht eine erste Erkenntnisgrenze, da sich eine solche Frage heute kaum noch übergreifend, verbindlich und methodisch abgesichert beantworten lässt. Zudem ist die »InnenAußen-Grenze« der Volkspolizei im Vergleich zu Polizeiorganisatio­ nen westlicher Staaten schwer auszumachen und die Verhältnisse ge10  Einführung


stalteten sich insgesamt oft unübersichtlich, da im Staatssozialismus auch andere Apparate »polizeiliche« Funktionen ausübten. Die Untersuchung zeigte beispielsweise, dass die Staatssicherheit maßgeblich in den 1980er-Jahren mit der »Legende Volkspolizei« sowohl in Zivil mit Dienstausweisen als auch in Uniform und mit VP-Fahrzeugen unterwegs gewesen war. Niemand konnte damals zwischen den beiden Sicherheitsapparaten zweifelsfrei differenzieren. Das Wirken der Staatssicherheit in der Volkspolizei bedeutete insgesamt, das heute »Staatsfeinde in Uniform« oder »widerständiges Verhalten« aufgrund des rigorosen Systems der Überwachung, Disziplinierung und Bestrafung kaum auszumachen sind. Wenn überhaupt, dann zeigte sich das in einer »eigen-sinnigen« Dienstdurchführung. Dahinter verbargen sich wiederum Haltungen und Handlungen, die erst nach eingehender Einzelbetrachtung Aspekte der Widersetzlichkeit, Verweigerung oder der stillen Opposition erkennen ließen. Die Volkspolizei war zudem direkt und unverdeckt im Alltag verankert, wo sie als »Schnittstelle« zwischen Bürger und Staat fungierte. Schon deshalb ist es problematisch, sie pauschal auf eine die SED-Herrschaft sichernde Organisation wie die Staatssicherheit zu reduzieren. Vielmehr sind die vielen Berührungspunkte, Interaktionen und Abhängigkeiten im polizeilichen Alltag zu berücksichtigen, d.h. der Untersuchung lag das auf Max Weber beruhende Konzept der »Herrschaft als soziale Praxis« zugrunde.14 Es galt bei der Beurteilung der Personalentscheidungen im MI auch immer zu berücksichtigen, was der ehemalige Justizminister des Landes Brandenburg, Hans Otto Bräutigam15, im Hinblick auf belastete SED-Juristen zugespitzt bemerkt hat: »Es muss deutlich werden, dass Loyalität auch in einem Unrechtssystem nicht als verwerflich angesehen werden kann.«16 Zur Loyalität und zum professionellen Selbstverständnis von Polizisten mit Stasi-Vergangenheit nach 1990 erklärte der Historiker Jens Gieseke: »Betrachtet man das berufliche Selbstverständnis dieser Klientel, so ist zunächst festzustellen, daß sie offenbar keine Schwierigkeiten empfanden, nun dem einst als Feindbild verhaßten ›imperialistischen‹ Staatswesen zu dienen: (…) Dahinter steht nicht nur Anpassungsbereitschaft im Ringen um den Einführung  11


Lebensunterhalt, sondern auch ein Selbstverständnis, das auf einen Wertekanon des disziplinierten und staatsbewußten Professionalismus abhebt.«17 Hinzu kommt aber auch die Eigenwahrnehmung vieler Volkspolizisten nach 1990. In den Projektinterviews wurde mehrfach darauf verwiesen, dass bei der täglichen Polizeiarbeit der Grundsatz bestimmend war, dass jede Straftat zunächst einmal politisch bewertet werden sollte. Ein brandenburgischer Kriminalist erklärte hierzu im Dezember 1991 im Rahmen einer arbeitsrechtlichen Auseinandersetzung rückblickend, dass »uns beigebracht wurde, dass wir an erster Stelle politische Leiter sind und dann erst Kriminalisten«.18 Generell trug die Überprüfungs- und Überwachungspraxis der Staatssicherheit dazu bei, »dass bei der Volkspolizei politische Zuverlässigkeit und Loyalität oftmals stärker zählten als fachliche Qualifikation und Charakterstärke. Zugleich wurden aus den Reihen der Volkspolizei vielversprechende Nachwuchskader für den eigenen Apparat rekrutiert sowie ältere oder leistungsschwache Mitarbeiter dorthin abgeschoben.«19 Aus diesem hier nur angedeuteten Spektrum von Hintergründen für Loyalität und Berufsethos ergaben sich nicht wenige Schwierigkeiten und Widersprüche bei der späteren Bewertung der Einzelfälle im Rahmen der Personalüberprüfungen. Generell ist es erstaunlich, wie schnell sich 1989 die Volkspolizei von einem herrschaftssichernden Ordnungs- und Schutzorgan zu einem »Sicherheitspartner« der Akteure der Herbstrevolution wandelte. Die gesamte Volkspolizei »entdeckte« buchstäblich über Nacht ihre Funktion als »unpolitische« Ordnungs- und Schutzmacht. Viele verstanden ihr polizeiliches Vorgehen nun als »soziales Handeln« und in diesem Sinne diente die Volkspolizei 1989/90 einer sich wandelnden politischen Ordnung. Das hing natürlich wesentlich damit zusammen, dass sich die Volkspolizei nicht ausschließlich wie die Staatssicherheit auf die Bekämpfung politischer Feinde der SED konzentrierte, sondern die meisten Volkspolizisten subjektiv empfanden, dass sie mit ihrem Polizistenberuf dem »Volke« dienten. Ideologischer Auftrag und Praxis der Profession wurden nicht als Gegensatz, sondern als Einheit angesehen.20 Bei der »Sicherheitspartnerschaft« mit Demonstranten und Bürgerkomitees bei der Besetzung und Sicherung 12  Einführung


der »Objekte des MfS« spielte wohl auch eine Rolle, dass es manchem Volkspolizisten Genugtuung bereitete, »es den arroganten Geheimnistuern der örtlichen MfS-Kreisdienststelle oder Bezirksverwaltung auf diesem Wege einmal heimzuzahlen. (…) Für die Volkspolizei war dieser Weg eine Flucht nach vorn, um ihrem dramatischen Autoritätsverfall etwas entgegenzusetzen.«21 In der Tat verdeutlichen die überlieferten Lageberichte, Eingaben sowie zahlreich dokumentierten Drohungen und Beschimpfungen eine äußerst angespannte Lage für die Volkspolizei.22 Wie kam es aber dazu, dass sich die Volkspolizei in der finalen gesellschaftlichen Krise der SED-Herrschaft so verhielt, wie sie es dann tat? Dieses Thema ist bislang nicht hinreichend untersucht worden. Die in den letzten Jahren vorgelegten Forschungsergebnisse lassen aber die »Umrisse einer Polizei« erkennen, »die – gemessen am ›großen Bruder‹ Staatssicherheit – weniger militant und feindbildfixiert agierte, die im doppelten Sinne in Wertmaßstäben und sichtbarer Kontrollintensität ›bürgernäher‹ war und dadurch ein primär patriarchalisches und obrigkeitsstaatliches Profil gewann«.23 Wie bereits deutlich gemacht, waren weitreichende Recherchen über die Verflechtungen von Volkspolizei und Staatssicherheit erforderlich. Nur so ließen sich die mit den Anhörungsprotokollen der Personalkommissionen des MI überlieferten Empfehlungen für eine Weiterbeschäftigung oder Entlassung angemessen beurteilen. In den 1990er-Jahren war jedoch das Wissen über die Verstrickungen mit der Staatssicherheit oft unzureichend bzw. lückenhaft.24 Es wird beispielsweise kaum wahrgenommen, dass die »normale« Volkspolizei für etwa 95 Prozent der in der DDR verübten Straftaten zuständig war. Sie war das »Arbeitspferd« des inneren Sicherheitsapparates. Um den Rest kümmerten sich die Staatssicherheit, Zollfahndung und Militärstaatsanwaltschaft. Diesem Verhältnis stand entgegen, das allein die Staatssicherheit zuletzt über mehr Personal verfügte als die gesamte Volkspolizei.25 Für eine Reihe von Themen werden die »weißen Flecken« aber weiterhin bestehen bleiben, da das Ministerium des Innern der DDR (MdI) und damit die Volkspolizei die Möglichkeit hatte, »brisante Aktenbestände aus der Ermittlungsarbeit, den Personalunterlagen usw. weitgehend zu vernichten«.26 Das betraf vor Einführung  13


allem die Akten des Bereichs der politischen Kriminalpolizei – der Arbeitsrichtung I27. Bis zum 3. Oktober 1990 konnten die Angehörigen dieser Arbeitsrichtung sowohl ihre Personalakten als auch die operativen Vorgänge weitgehend bereinigen, anpassen oder vernichten.28 Der letzte DDR-Innenminister und spätere Vorsitzender des Innenausschusses des Brandenburger Landtages, Peter-Michael Diestel, erklärte in einem Projektinterview das Vorgehen der Staatssicherheit und auch das seines Ministeriums im Sommer 1990 so: »Die Hauptverwaltung Aufklärung hat seit Frühsommer 1989 ihre Unterlagen bereinigt, vernichtet und ausgelagert, und die Abwehr, der andere Teil, hat im Spätsommer angefangen zu bereinigen, zu vernichten und auszulagern. Das heißt, dass die Staatsicherheit alles das, was sie für geheimdienstlich wichtig empfunden hat, was ihnen möglicherweise auf die Füße fallen könnte, was möglicherweise Potenzial in sich trägt, um geheimdienstliche Vorgänge mit bedeutenden politischen Auswirkungen offenzulegen, das wurde vernichtet, rausgenommen, separiert.«29 Nach der Überzeugung Diestels wurde den Bürgerkomitees nur das übergeben, »was man übergeben wollte. Man habe seine eigenen Leute geschützt durch zielgerichtetes Aussortieren von Akten.«30 Eine 2010 erschienene Untersuchung über die Vernichtung von Unterlagen der Staatssicherheit kam zu dem Schluss, dass der Umfang der 1989/90 vernichteten Akten weitaus größer war als bislang angenommen: Rund 180 Kilometer Unterlagen der Staatssicherheit stehen heute zur Verfügung. »Nach Schätzungen handelt es sich dabei wohl nur um die Hälfte des ursprünglichen Bestandes. Allein aus der Telefonüberwachung wurden 20 Kilometer Akten vernichtet. Aus der Hauptverwaltung Aufklärung wurden noch größere Bestände zerstört. Hinzu kamen die Spionageabwehr, die Fahndung, die Kaderabteilung und die ebenfalls fast vollständig beseitigten Unterlagen des militärischen Geheimdienstes. Aber auch weite Teile der übrigen Überlieferung und alle elektronischen Datenträger fehlen heute. Die Zentrale Personenkartei enthielt allein Angaben – auch zum Persönlichkeitsprofil – von sechs Millionen Menschen. Die Tschekisten vollbrachten also noch in der Zeit des eignen Untergangs enorme 14  Einführung


Leistungen bei der Verwischung ihrer Spuren.«31 Später wurde hierzu kritisch bemerkt, dass es bis heute keine verlässliche Hochrechnung der Kassationen von Stasi-Unterlagen in der Zeit des Umbruchs von 1989/90 gibt. Bestätigt wurde aber auch, dass es zur Aktenvernichtung in einem Ausmaß kam, »das lange Zeit unterschätzt wurde«. Immerhin wird u.a. geschätzt, dass 150 bis 180 Lkw-Ladungen voll mit StasiAkten gezielt zerstört wurden.32 Auf das Problem der Wissenslücken in den 1990er-Jahren machte auch der Abschlussbericht zur Personalüberprüfung bei der Brandenburger Polizei im Juni 1999 ausdrücklich aufmerksam. Im Hinblick auf die Einzelfallprüfungen und des von Beginn an fehlenden »allgemeingültigen Kriterienkataloges« wurde bemerkt: Sicher wären die Personalentscheidungen »einfacher zu treffen gewesen, wenn es einen ›allgemeingültigen Kriterienkatalog‹, also ein feststehendes Regelwerk gegeben hätte. Die Spezifik des der Entscheidungsfindung hier zugrundeliegenden Sachverhalts, nämlich die Verstrickung mit dem MfS ließ aber die Erstellung eines solchen Kataloges nicht zu. Zudem wäre die Erstellung und Anwendung eines ›allgemeingültigen Kriterienkataloges‹ auch nur dann sachgerecht, wenn er vor Beginn der Überprüfungen der Polizeibeschäftigten erarbeitet worden wäre und mit der ersten Entscheidung über Weiterbeschäftigung oder Entfernung aus dem Dienst auch bereits angewendet worden wäre. Ein solcher Kriterienkatalog hätte aber nur erstellt werden können, wenn die Inhalte, die letztendlich zu bewerten waren, auch zweifelsfrei bekannt gewesen wären. Im Jahre 1990 wusste niemand, welche Art der Verstrickung mit dem MfS überhaupt möglich waren, deshalb hätte niemand einen solchen Kriterienkatalog erstellen können. Hinzu kommt, dass durch einen solchen Katalog die Bewertung des Einzelfalls derart eingeschränkt worden wäre, dass von einem Akt wertender Erkenntnis, welcher diese Prüfung eigentlich sein sollte, nicht mehr viel übrig geblieben wäre. Die geschichtlich bedingte besondere Aufgabe der Übernahme aller Beschäftigten einer Polizei, die in vielfacher Art und Weise mit dem Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR verstrickt war, erforderte aber gerade eine Auseinandersetzung und Bewertung, die dem jeweiligen Einzelfall gerecht wurde. Und Einführung  15


diese wurde durch kontinuierliche Entscheidungen des Leiters der Polizeiabteilung gewährleistet.«33 Als ein besonders schwieriges Thema erwies sich die erwähnte konspirativ agierende Arbeitsrichtung I der Hauptabteilung Kriminalpolizei des MdI. Deren Angehörige operierten abgeschottet von den anderen Arbeitsrichtungen34 der Kriminalpolizei und bewegten sich, wie der Bewertungskatalog der Berliner Polizei im Sommer 1992 ausführte, »nahezu im rechtsfreien Raum. Ihre Arbeit war durch Konspiration und absolute Geheimhaltung nach außen hin gekennzeichnet. Sie hatten ihre bedeutenden Straftaten für die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu bekämpfen, die insbesondere, politische, ökonomische und ideelle Auswirkungen hatten. Es bestand ein Höchstmaß an Verflechtungen mit dem MfS.«35 In diesem Bereich waren in den leitenden Positionen »Offiziere im besonderen Einsatz« (O.i.b.E.) des MfS tätig und es wird ein Anteil von ca. 20 Prozent inoffizieller Mitarbeiter geschätzt.36 Nicht von ungefähr war vor 1989 bei Einstellungen in die Volkspolizei in den Kaderabteilungen mitunter der unverblümte Satz zu hören: »Wenn du für das MfS nicht taugst, kommst du auch für die I nicht in Frage.«37 Während den meisten Volkspolizisten die Existenz der Arbeitsrichtung I zumindest bekannt gewesen war, wusste über die Dienststelle I/U bei der Arbeitsrichtung I der Volkspolizei kaum jemand etwas. Die gesamte Tätigkeit der Dienststelle I/U unterlag der strengsten Geheimhaltung und war völlig abgeschirmt von der übrigen Polizei. Die Mitarbeiter der Diensteinheit I/U operierten in eigens dafür geschaffenen Objekten bzw. Institutionen, die mit einer Abdeckungslegende versehen waren. Sie trugen keine Uniform, hatten keinen Dienstausweis und durften sich nicht als Angehörige der Volkspolizei zu erkennen geben:38 »Es war tatsächlich eine geheime und absolut unbekannte Diensteinheit der DVP. Niemand, außer dem unmittelbaren Vorgesetzten, konnte ihre Mitarbeiter als Polizei-Angehörige identifizieren. Es gab eigene Fahrzeuge, gesonderte Kfz-Werkstätten, eine eigene Parteiorganisation mit Direktverbindung zum ZK der SED und einen eigenen Finanzbereich (mit Kontrollpflicht des MfS). Die I/U-Mitarbeiter wurden vom Medizinischen Dienst des MfS betreut und durften das Funk16  Einführung


netz der Staatssicherheit benutzen.«39 Die Dienststelle I/U bearbeitete sogenannte staatsfeindliche »Zentralen und Organisationen«. Dazu gehörten unter anderem auch die evangelische und katholische Kirche. Im Jahr 1989 gehörten 377 Mitarbeiter zur Dienststelle I/U in der gesamten DDR . Von diesen waren elf Prozent Offiziere im besonderen Einsatz. Die Aktenlage hinsichtlich der Aktivitäten ist jedoch ausgesprochen dünn, da bei dieser Dienststelle keine Notwendigkeit bestand, »die Einzelheiten schriftlich festzuhalten«. Problematisch ist heute vor allem die Rehabilitation der Opfer, da der Nachweis in den meisten Fällen kaum noch möglich ist. Kam es in den 1990er-Jahren zu einem Klageverfahren, da ein oder mehrere Opfer den/die Täter identifiziert hatten, so stand meist Aussage gegen Aussage und die Klage wurde vor Gericht abgewiesen.40 In den im Dezember 1990 verteilten Personalfragebogen wurde nicht nach einer Tätigkeit für die Arbeitsrichtung I der Kriminalpolizei gefragt. Erkenntnisse darüber ergaben sich nur, wenn die Polizisten hierzu selbst Angaben gemacht hatten. Die so bekannt gewordenen Fälle wurden im ersten Personalüberprüfungsverfahren gezielt angefragt und dann darüber beraten. Mit dem Inkrafttreten des StasiUnterlagen-Gesetzes zum 29. Dezember 1991 bestand jedoch keine Auskunftsverpflichtung über die ehemaligen Mitarbeiter der Arbeitsrichtung I. Das Brandenburger MI forderte deshalb die betreffenden Polizeibediensteten vor ihrer Überführung in das Beamtenverhältnis ab Herbst 1991 dezidiert dazu auf, eine genaue Darstellung ihrer damaligen Tätigkeit abzugeben. Stellte sich später heraus, dass die Darstellung falsch gewesen war, führte das zu dienstrechtlichen Konsequenzen. Eine wirkliche Lösung dieser Problematik bot ein solches Vorgehen aber nicht. Bis heute besteht Forschungsbedarf.41 Hinzu kommt, dass es durch die Anfragen beim BStU kaum neue Erkenntnisse über die tatsächlichen Tätigkeiten oder operativen Einsätze der hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS gab. Die Mitteilungen der Stasi-Unterlagen-Behörde bestätigten in der Regel nur das schon bekannte Wissen aus den Personalfragebogen auf der Grundlage der Selbstauskünfte, d.h. die Mitteilung des BStU gab lediglich über die Dauer der Tätigkeit, die Dienststelle/Diensteinheit, den letzten Einführung  17


Dienstgrad und die letzte Tätigkeit Auskunft. Mehr nicht. Auf diese Weise waren keine vertiefenden Hinweise vonseiten der übernommenen Personenschützer, Sprengstoffexperten, Terrorspezialisten oder Untersuchungsführer zu erwarten. Die Anonymisierungen und die Gesetzeslage setzten der Untersuchung auch hier Grenzen. Gezielte Recherchen konnten im Archiv der Stasi-Unterlagen-Behörde deshalb nicht durchgeführt werden. Es hat sich gezeigt, dass neue Erkenntnisse immer nur im Zusammenhang von »Opfer-Akten« zum Vorschein kamen. Als Beispiel sei der Fall des Leiters der Polizeiwache Cottbus im April 2011 genannt, der von einem »Stasi-Opfer« erkannt und belastet wurde, sodass der Fall neu aufgerollt werden konnte.42

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Die Personalüberprüfungen bei der ­Brandenburger Polizei Einen »polizeifreien Raum« konnte sich im Oktober 1990 niemand im Beitrittsgebiet der neuen Bundesrepublik leisten. Es herrschte Konsens darüber, dass die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu jedem Zeitpunkt gewährleistet bleiben musste und hierfür war alternativlos auf das Personal der ehemaligen Deutschen Volkspolizei zurückzugreifen. Eine Entlassung aller ehemaligen VP-Angehörigen nach dem Prinzip »Ihr seid alle gefeuert« hätte keines der alten Bundesländer – theoretisch vielleicht nur das Land Berlin1 – mit einem sofortigen Personaltransfer kompensieren können. Darüber hinaus wäre eine solche Praxis im rechtsstaatlich-demokratischen Sinne, aber auch hinsichtlich des früheren Umgangs der Bundesrepublik mit der eigenen NS-Vergangenheit höchst fragwürdig gewesen.2 Natürlich wurde die Variante »Ihr seid alle gefeuert« bei den Verhandlungen um den Einigungsvertrag im Sommer 1990 disku­ tiert, zumal schon bei den Montagsdemonstrationen, durch die Bürgerbewegungen und an den »Runden Tischen« eine umfassende Überprüfung gefordert wurde. Es bestanden frühzeitig Zweifel, ob beispielsweise die ehemaligen Volkspolizisten aufgrund der starken Prägungen durch die SED/Staatssicherheit künftig überhaupt die notwendige rechtsstaatliche Integrität aufweisen würden. Die Überlegungen bei den Verhandlungen um den Einigungsvertrag befassten sich deshalb auch mit der Möglichkeit, zunächst alle Polizeibediensteten zu entlassen, um sie dann in einem individuellen Auswahl- und Prüfungsverfahren wieder einzustellen. Ein solches Vorgehen kam aber im Hinblick auf die notwendige Verwaltungskontinuität, die Sicherheitslage und die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Lebens nicht infrage. Vor allem war der damit verbundene zeitliche Stillstand der Verwaltung in der Phase des Umbaus und der Transformation »nicht hinnehmbar«. Der Einigungsvertrag legte deshalb fest, dass die für die Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung der DDR und OstDie Personalüberprüfungen bei der B ­ randenburger Polizei  19


Berlins geltenden Arbeitsbedingungen in den neuen Bundesländern fortbestehen sollten. Alle zu diesem Zeitpunkt noch in der Polizei befindlichen ehemaligen hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit oder systemnahen Funktionsträger wurden damit durch den Einigungsvertrag automatisch in den Polizeidienst der neuen Bundesländer übernommen.3 Im Hinblick auf diesen personellen Automatismus legte der Einigungsvertrag für die im Öffentlichen Dienst tätigen Personen zwei grundlegende Regelungen im Rahmen eines speziellen Sonderkündigungsrechtes fest. Danach konnte ein Festhalten am Arbeitsverhältnis als unzumutbar angesehen werden, wenn der Arbeitnehmer gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hatte. Als ein zweiter Grund für eine außerordentliche Kündigung galt, wenn der Arbeitnehmer für das frühere MfS/AfNS tätig gewesen war. Neben dieser Sonderkündigungsregelung war auch eine ordentliche Kündigung möglich, wenn der Arbeitnehmer bei mangelnder fachlicher Qualifikation oder persönlicher Eignung den Anforderungen nicht genügte, d. h. der Arbeitgeber konnte sich auch auf diesem Wege von einem belasteten Arbeitnehmer trennen. Eine dritte, nachgeordnete Möglichkeit bot sich durch die Regelungen für die künftigen Verbeamtungen. Das betraf maßgeblich die Polizei, da die Polizeibediensteten nach erfolgter Übernahme zügig zu Beamten auf Probe4 ernannt werden sollten. Damit hierbei keine »rechtsfreien Lücken« entstehen konnten, wurden Entlassungen bzw. Kündigungen auf der Basis einer »Entsprechungsnorm« des Bundesbeamtengesetzes bis zur Inkraftsetzung des Landesbeamtengesetzes geregelt.5 Die Festlegungen des Einigungsvertrages hinsichtlich des Kündigungsrechtes waren »Kannbestimmungen« und sie bedeuteten in der Regel, dass immer die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen waren. Es zeigte sich schnell, dass die aus dem Einigungsvertrag sich ergebenden Kündigungsmöglichkeiten keine »Straf- oder Sühnefunktion« besaßen.6 Die dann einsetzende Rechtsprechung bestätigte, dass die Entscheidung über die Aufrechterhaltung eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses immer auf einer einzelfallbezogenen Würdigung beruhen sollte. Eine Tätigkeit für das MfS war damit 20  Die Personalüberprüfungen bei der Brandenburger Polizei


kein hinreichender Kündigungsgrund7, d. h. viele deshalb vorgenommenen »formularmäßigen« oder »pauschalen Kündigungen« hatten vor den Arbeits- und Verwaltungsgerichten keinen Bestand.8 In Berlin beschritt bis 1997 beispielsweise etwa ein Drittel der gekündigten »Belasteten« den Rechtsweg. Die Erfolgsquote der Kläger lag unter zehn Prozent. In ähnlicher Weise klagten auch in den anderen neuen Bundesländern belastete Polizisten gegen ihre Entlassung. Im Freistaat Sachsen konnte 1997 jede vierte Entlassung später durch Urteile von Arbeits- und Verwaltungsgerichten rückgängig gemacht werden. In Thüringen kam es zu 129 gerichtlichen Entscheidungen, von denen 24 Prozent eine Weiterbeschäftigung ermöglichten.9 In einer Untersuchung über Kündigungen wegen Stasi-Tätigkeit im Thüringer Kultusministerium wurde darauf verwiesen, dass dort die Klagequote gegen ausgesprochene Kündigungen bei ca. 85 Prozent lag. Die hohe Quote wurde vor allem als ein Zeichen des großen Misstrauens der Gekündigten gegen die Arbeit der Überprüfungskommission im Kultusministerium gedeutet. Resümierend erklärte die Verfasserin im Hinblick auf die Gleichbehandlung der Betroffenen: »Die Sonderkündigungsvorschriften haben in dem Bereich der MfS-Kündigungen sicher erreicht, den öffentlichen Dienst von stark belastetem Personal zu säubern. Zweifel am Erfolg bestehen jedoch hinsichtlich des Ziels, das Vertrauen in den Rechtsstaat und die Akzeptanz der öffentlichen Verwaltung in der Bevölkerung zu erringen. Dafür wäre es unerlässlich gewesen, dass die Anwendung der Regelungen, die dieses Ziel verfolgten, von Anfang an rechtsstaatlichen Erfordernissen entsprochen hätte. Es bietet sicherlich nicht nur für den juristischen Laien ein verwirrendes Bild, wenn ein großer Teil wegen MfS-Verstrickung angeblich im öffentlichen Dienst nicht mehr zumutbaren Gekündigten dann nach gerichtlicher Entscheidung – vielleicht erst der zweiten oder gar dritten Instanz – doch im Schuldienst verblieben sind. Ebenfalls weckt es sicher nicht das Vertrauen der Betroffenen in den Rechtsstaat, die nach in Aussicht stellen der Kündigung einen Aufhebungsvertrag unterschrieben haben oder mit ihren Kündigungsschutzklagen scheiterten und später die in ihrem Fall nicht berücksichtigten höchstrichterlichen Maßstäbe für die Wirksamkeit solcher Die Personalüberprüfungen bei der B ­ randenburger Polizei  21


Kündigungen zur Kenntnis nehmen mussten. Durch den langwierigen Konkretisierungsprozess entstand eine enorme Ungleichbehandlung unter den Betroffenen, welche erheblichen Zweifel an der Herstellung eines Rechtsfriedens aufkommen lässt. Es mag zutreffend als ungerecht empfunden werden, dass MfS-belastete Bedienstete, die auf die Fragen im Personalbogen wahrheitsgemäß geantwortet haben, gekündigt und mit ihrer Kündigungsschutzklage abgewiesen wurden, wohingegen sich ein Verschweigen der MfS-Verstrickung für andere als arbeitsplatzerhaltend herausgestellt hat. Dennoch mussten die Fehler bei der Überprüfung des öffentlichen Dienstes – wenn auch um den Preis dieser Ungerechtigkeit – beendet werden.«10 Zum maßgeblichen Kriterium wurden bei den Einzelfallprüfungen des Brandenburger MI der Tatbestand der »arglistigen Täuschung« und die damit zusammenhängende Prüfung der »Kausalität«. Das alles führte in den 1990er-Jahren dazu, dass sich die Anwendung der Kündigungsnormen nach den Interessenlagen der jeweiligen Ressorts in den Landesverwaltungen richtete. Die Personalprüfungskommissionen stützten sich in ihrem Bedürfnis nach Rechtssicherheit bei ihren Empfehlungen mehr und mehr auf die Praxis der Rechtsprechung, um zudem die hohen Entschädigungs- oder Prozesskosten bei Klageverfahren zu vermeiden. Zugleich war bei der Rechtsprechung durch die Flut der Klagen und die dabei gesammelten Erfahrungen eine zunehmende »Ausdifferenzierung obergerichtlicher Positionen« zu beobachten.11 Im Rückblick zeigt sich für die Brandenburger Polizei im Gegensatz zu den anderen neuen Bundesländern, dass Kündigungen oder Entlassungen in der Hauptsache wegen unrichtiger Angaben bei der Übernahme, Einstellung oder Überprüfung vorgenommen wurden, d. h. es wurde regelmäßig aufgrund »arglistiger Täuschung« das Dienstverhältnis beendet. Zur Rechtsstaatlichkeit der Entlassungen bei der Brandenburger Polizei sei angemerkt, dass es keiner/keinem klagenden Polizeibediensteten des Landes Brandenburg gelungen ist, sich auf gerichtlichem Wege wieder in den Polizeidienst zurückzuklagen. In einer wissenschaftlichen Studie über die »Stasi-Überprüfungen« aus dem Jahr 1999 wurde für das in seiner Verfahrensweise 22  Die Personalüberprüfungen bei der Brandenburger Polizei


vergleichsweise rigoros vorgehende Berlin erklärt: »Für die Rechtsstaatlichkeit des Überprüfungsverfahrens in Berlin spricht, daß nur 4 % der gegen die Beendigung ihres Anstellungsverhältnisses klagenden Dienstkräfte im Senat und 10 % in den Bezirken auf gerichtlichem Wege eine Wiedereinstellung erreichten.«12 Wenn das für die rechtsstaatliche Überprüfungspraxis im Land Berlin spricht, dann zu Recht wohl auch für die der Polizei des Landes Brandenburg.13 Die Tätigkeit für das MfS/AfNS wirkte sich im Fall einer Weiterbeschäftigung auf das Besoldungsdienstalter (BDA) und auf die Anerkennung der Beschäftigungszeiten aus, d. h. die Zeiten konnten bei der Berechnung nicht berücksichtigt werden. »Sofern Bedienstete zur Berechnung des BDA bzw. zur Anerkennung von Beschäftigungszeiten unwahre Angaben gemacht hatten, führte dies zu einer Rückforderung überzahlter Besoldung bzw. zu Unrecht gewährter Prämien für Dienstjubiläen durch die Zentrale Bezügestelle in Cottbus.«14 Im Personalreferat des MI wurden bei den Berechnungen der Beschäftigungszeiten oder den Verbeamtungen sowohl die alten DDR-Personalakten als auch die Personalfragebogen herangezogen und nach Unstimmigkeiten geprüft. In den Akten ist eine Reihe von Fällen hierzu überliefert. Im Zusammenhang mit einer Verbeamtung teilte im Juli 1992 beispielsweise ein Mitarbeiter des Personalreferats des MI der zuständigen Dienststelle eines für den gehobenen Dienst vorgesehenen Polizeibediensteten mit: »Aus der Personalakte ist ersichtlich, daß Herr xxx vom 3.5.1979 bis 31.10.1980 Dienst bei den Grenztruppen versehen hat. Im Personalfragebogen hat er allerdings die entsprechende Frage mit ›Nein‹ beantwortet. Ich bitte, Herrn xxx zu dem Widerspruch zu befragen und mir das Ergebnis mit einer eingehenden Stellungnahme mitzuteilen. Dabei bitte ich insbesondere die genaue Tätigkeit von Herrn xxx bei den Grenztruppen anzugeben.«15 Bis zur Klärung der Angelegenheit wurde daraufhin die Verbeamtung zurückgestellt. In einem anderen Fall wurde bei der Durchsicht der alten Personalakte festgestellt, dass der für die Verbeamtung vorgesehene Polizeibedienstete 1983/84 die Kreisparteischule der SED absolviert hatte. Weitere Unterlagen über die vermutete systemnahe Tätigkeit fehlten jedoch, sodass der Betreffende aufgefordert wurde, sich Die Personalüberprüfungen bei der B ­ randenburger Polizei  23


genauer zu erklären.16 In diesem Zusammenhang wurden auch Fälle der Arbeitsrichtung I erneut verhandelt und die Betreffenden aufgefordert, zu ihrer »vermuteten besonderen persönlichen Systemnähe« Stellung zu nehmen. Gelang dies nicht, wurde in der Regel eine Anrechnung abgelehnt.17 Im Grunde erfolgten durch die Berechnungen der Beschäftigungszeiten im Rahmen der Verbeamtungen noch einmal interne Kontrollen der Personalentscheidungen des ersten PÜV I. Die im Rahmen der Verbeamtungen auftretenden Unstimmigkeiten beim Abgleich der Personalunterlagen sind natürlich auch ein Indiz für den enormen Zeitdruck, unter dem 1990/91 das erste PÜV stattfand. In der Entstehungsphase der Personalüberprüfungsverfahren (Oktober–Dezember 1990) zeigte sich in allen neuen Bundesländern, dass aufgrund des Einigungsvertrages die notwendige Prüfung und Auswahl des Polizeipersonals recht pragmatisch ablief und vor allem schnell organisiert werden musste. Die im EV festgelegten Fristen für die Umsetzung von Vorruhestandsregelungen und ordentlichen Kündigungen bauten einen enormen Handlungsdruck auf. Die ehemaligen VP-Angehörigen waren in allen neuen Bundesländern die ersten öffentlichen Bediensteten, die hinsichtlich ihrer Qualifikation und persönlichen Eignung sowie wegen Nähe zum SED-Staat und Zugehörigkeit zur Staatssicherheit beurteilt wurden. Der Einigungsvertrag bot außerdem zahlreiche Möglichkeiten, sich vom Personalüberhang in den höheren Besoldungsgruppen unproblematisch zu trennen. So reduzierte die bis zum 31. Dezember 1990 umzusetzende besondere Ruhestandsregelung den Personalbestand in den neuen Ländern in den Altersgruppen ab dem 50. Lebensjahr oder mit mindestens 25 Dienstjahren schlagartig. Das bedeutete einerseits den Verlust von qualifizierten Fach- und Führungskräften, andererseits konnten die Innenministerien damit eine große Zahl in der Regel systemnaher höherer Führungskräfte in den »Vor-Vorruhestand« schicken. Für das Bundesland Sachsen ist in diesem Zusammenhang das Motto überliefert: »Ihr müsst nicht, aber wehe Ihr geht nicht!«18 Die aufgrund des Alters vorgenommenen Entlassungen des Führungspersonals funktionierten in allen neuen Bundesländern nach dem Grundsatz »so viel wie möglich« und »nicht so viel wie 24  Die Personalüberprüfungen bei der Brandenburger Polizei


nötig«. Von den Anfang 1990 etwa 2.800 VP-Angehörigen in höheren Führungspositionen wurden ein Jahr später nur etwa 400 in Funktionen des höheren Dienstes übernommen. Damit erfolgte in allen neuen Bundesländern der Neuaufbau der Polizeikräfte weitgehend »ohne einheimische, kompetente Führungskräfte«.19 An dieser Stelle sei herausgestellt, dass es sowohl bei der Brandenburger Polizei als auch in den anderen neuen Bundesländern zwei aufeinanderfolgende, getrennt zu betrachtende Überprüfungsverfahren gab. Zwar konnten sich die Innenministerien hinsichtlich eines allgemeinen Bewertungskataloges im Oktober/November 1990 nicht einigen und jedes Bundesland ging eigene Wege, aber alle Personalüberprüfungen bei der Polizei der ostdeutschen Bundesländer liefen nach folgendem Grundmuster ab: Das erste Personalüberprüfungsverfahren beruhte auf einem Personalfragebogen und der Gründung von Personalauswahlkommissionen, die ihre Arbeit im Verlauf der ersten Hälfte des Jahres 1991 abschlossen. In allen neuen Bundesländern war der Sonderbeauftragte für die Stasi-Unterlagen beim ersten PÜV aufgrund der Gesetzeslage nicht beteiligt.20 Der grundlegende Unterschied im Land Brandenburg bestand darin, dass dort im Dezember 1990 eine neutrale, unabhängige Kommission – die »Bischofskonferenz« – gebildet wurde, die bei den strittigen Fällen ab Februar 1991 konsequent die Einzelfallprüfung anwandte. Das zweite Verfahren (PÜV II) wurde in allen neuen Bundesländern im Rahmen der Verbeamtungen begonnen und beruhte auf den ab 1992 nach und nach eintreffenden Mitteilungen der Stasi-Unterlagen-Behörde. Das PÜV II schlossen die Innenministerien in den ostdeutschen Bundesländern im Jahr 1999 ab.21 In den folgenden vier Abschnitten wird auf die Transformation und Personalüberprüfungen im Land Brandenburg eingegangen. Die ersten beiden Abschnitte bieten überblicksartig den erklärenden Hintergrund für die letzten beiden Abschnitte, die sich mit der Transformation und den Personalüberprüfungen befassen.«

Die Personalüberprüfungen bei der B ­ randenburger Polizei  25


Staatssicherheit und Volkspolizei vor 1989 Bei Gründung der DDR stellte die Deutsche Volkspolizei gleichsam die »Hülle« für alle »Organe« der inneren und äußeren Sicherheit des Landes dar. Sie war die Keimzelle für die Staatssicherheit und die bewaffneten Streitkräfte. Der innere Sicherheitsapparat der DDR war wiederum durch eine »Zweiteilung« charakterisiert: auf der einen Seite die Volkspolizei mit weitgehend klassischen polizeilichen Aufgaben22 und auf der anderen die Staatssicherheit, die neben dem Auslandsnachrichtendienst vor allem als geheime politische Polizei im Inneren wirkte: »Die Staatssicherheit begründete ihre Existenz praktisch ausschließlich aus der Bekämpfung politischer Feinde des Sozialismus, während die Volkspolizei neben diesem ideologischen Anspruch auf eine zweite Legitimationsquelle zugreifen konnte: die ›unpolitische‹, systemunabhängige Funktion als staatliches Organ zur Wahrung und Herstellung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung.«23 Das MfS wurde nach sowjetischem Vorbild als ein Herrschaftsinstrument der SED aufgebaut, handelte ausschließlich im Auftrag der Parteiführung und sah sich selbst als »Schild und Schwert der Partei«.24 Die geheime Parteipolizei sicherte und erhielt die Allmacht der SED in allenBereichen von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Dabei entwickelte sie im Auftrag der SED-Führung einen stetig wachsenden Absolutheitsanspruch, der mit einem zunehmend pervertierten Sicherheitsdenken verbunden war. Der Staatssicherheitsminister Erich Mielke brachte diesen Anspruch einmal wie folgt auf den Punkt: »Wir müssen als MfS über alles Bescheid wissen.«25 Dass die SED bis zum Herbst 1989 keine Teilung und keine Kontrolle ihrer Macht befürchten musste, verdankte sie vorrangig dem Wirken der Staatssicherheit. Hierbei gab es nur eine Ausnahme: In den vier Jahrzehnten des Bestehens der DDR war sowohl die SEDFührung als auch die Staatssicherheit – mit unterschiedlicher Intensität – von der sowjetischen Führung bzw. vom sowjetischen Geheimdienstapparat in Moskau abhängig.26 Der straffe Zentralismus führte seit den 1970er-Jahren zudem dazu, dass »die wichtigsten Abspra26  Die Personalüberprüfungen bei der Brandenburger Polizei


chen zwischen Parteiführung und Staatssicherheit nicht in den dafür vorgesehenen Gremien (Nationaler Verteidigungsrat und Politbüro), sondern in Vieraugengesprächen zwischen Honecker und Mielke getroffen wurden. Die Staatssicherheit war damit – wie schon unter Ulbricht – vor allem ein Instrument des Parteichefs.«27 Am Ende der DDR zeigte sich, dass die Geheimpolizei zwar weitgehend zutreffend an die politische Führung berichtet hatte, aber diese wiederum nicht imstande war, auf die prekäre Lage und die eskalierenden Probleme angemessen zu reagieren.28 »Die politisch-operative Sicherung der Deutschen Volkspolizei« gehörte zu den vorrangigen Arbeitsfeldern des MfS. In den überlieferten Planungen zur Sicherung der DVP findet sich hierzu immer wieder eine Frage: »Wer ist wer?«29 Im MfS war es maßgeblich die Hauptabteilung VII, die seit 1959 für das Innenministerium und damit auch für die DVP zuständig war. Hatte die Abteilung am Ende der 1950er-Jahre kaum 40 Mitarbeiter, so waren es 1989 mehr als 1.000 hauptamtliche Geheimpolizisten, die sich mit der Volkspolizei befassten.30 Die vorrangige Aufgabe war die »Abwehr« und die »prophylaktische Absicherung«. In einer Dienstanweisung vom Mai 1987 hieß es dazu: »Durch den zielgerichteten Einsatz der operativen Kräfte und Mittel, insbesondere der IM und GMS, sind die Pläne, Absichten und Maßnahmen sowie die Mittel und Methoden der feindlichen Stellen und Kräfte, vor allem der imperialistischen Geheimdienste, sowie feindlicher Kräfte im Innern der DDR zur Organisierung feindlicher Aktivitäten gegen die DVP rechtzeitig aufzuklären und vorbeugend zu verhindern.«31 Weitere Varianten der Kontrolle waren die sogenannte »vorbeugende politisch-operative Sicherung« und die »allseitige operative Aufklärung« von Volkspolizisten. Davon waren Reisekader, Geheimnisträger oder VP-Angehörige in wichtigen militärischen oder spionage- bzw. diversionsgefährdeten Funktionen betroffen. Hierfür wurden zielgerichtet IM eingesetzt.32 Die steigende Zahl der Mitarbeiter allein in der HA VII des MfS verdeutlicht eine noch andere Entwicklung: Die Staatssicherheit expandierte und rekrutierte kontinuierlich jungen Nachwuchs, was wiederum unter anderem einen »Beförderungsstau« bewirkte. Am Ende Staatssicherheit und Volkspolizei vor 1989  27


der DDR hatte die Volkspolizei einschließlich der Transport- und Bereitschaftspolizei eine Personalstärke von fast 80.000 Polizisten. Demgegenüber verfügte das MfS über 91.000 Mitarbeiter. Während die Staatssicherheit wuchs und sich verjüngte, stagnierte die Altersund Dienstaltersstruktur bei der DVP. Bis heute fehlen jedoch vertiefende Untersuchungen über das personelle Profil der Volkspolizei in den Jahrzehnten nach dem Mauerbau.33 Generell kümmerte sich die Volkspolizei um alle Straftaten in der Gesellschaft. Hierzu zählten auch Straftaten politischer Natur, mit denen sich, wie schon einführend näher beschrieben, die Arbeitsrichtung I der Kriminalpolizei befasste. In diesem Bereich bestand der stärkste Grad der Verflechtung zwischen der Staatssicherheit und der Volkspolizei.34 Aus den Akten wird aber auch eine enge Zusammenarbeit mit der Arbeitsrichtung/Dezernat II35 ersichtlich. In den 1980er-Jahren erfolgten regelmäßige Zusammenkünfte zum Erfahrungsaustausch. In einem Bericht über ein gemeinsames Treffen im Oktober 1988 wurde hierzu protokolliert: »Der Erfahrungsaustausch bestätigte die Richtigkeit der über Jahre praktizierten leitungsmäßigen Sicherung und Organisation des Zusammenwirkens mit den Dezernaten II der Abteilung K der BDVP. Der Einsatz ständiger Verbindungsoffiziere der Referate 4 und der Spezialkommissionen hat sich bewährt. Dadurch wird der Einfluß auf die Bearbeitung von Ermittlungsverfahren, EV/F und die Vorkommnisuntersuchung durch die MUK und BUK sowie die Unterstützung der speziellen Arbeit der in den UHA der BDVP differenziert gewährleistet.«36 Die enge Verflechtung zeigte sich aber vor allem im Rahmen des sogenannten politisch-operativen Zusammenwirkens (POZW).37 In einer Dienstanweisung vom Dezember 1979 »über das politisch-operative Zusammenwirken« ordnete Staatssicherheitsminister Mielke an: »Die zuständigen Diensteinheiten des MfS haben politisch-operativ darauf Einfluß zu nehmen, daß die DVP und die anderen Organe des MdI ihrer Verantwortung für die Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit immer allseitiger und qualifizierter gerecht werden. Damit werden auch günstigere Bedingungen für die Lösung der politisch-operativen Aufgabenstellungen des MfS geschaffen. Durch die 28  Die Personalüberprüfungen bei der Brandenburger Polizei


Diensteinheiten des MfS sind die Potenzen der DVP und der anderen Organe des MdI in schöpferischer Durchsetzung meiner dienstlichen Bestimmungen und Weisungen zielgerichtet zur Lösung der politisch-operativen Aufgaben zu nutzen.«38 Darüber hinaus bestand, wie schon einführend deutlich gemacht, ein weitverzweigtes Netz hauptamtlicher und inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit bis in die Schlüsselpositionen der DVP bzw. des MdI hinein.39 Das »Zusammenwirken« war nicht nur offiziell-dienstlicher Natur, sondern vollzog sich zugleich auch konspirativ und inoffiziell. Die bekannt gewordenen Fälle zeigen, dass Volkspolizisten im Rahmen des POZW als IM geworben bzw. erfasst wurden. Die Tätigkeit als IM war in nicht wenigen Fällen mit dem offiziell-dienstlichen Zusammenwirken identisch bzw. verflochten. Zugleich wird auch deutlich, dass Volkspolizisten hierbei weit über das notwendige Maß hinaus berichtet haben. Der hohe Durchdringungs- und Verflechtungsgrad der Staatssicherheit in der Volkspolizei bewirkte eine heute kaum noch zu entwirrende Mischung von Überwachung und Kooperation.40 Im Hinblick auf die Personalüberprüfungen nach 1990 spielt diese Problematik eine große Rolle. Eine angemessene Differenzierung gestaltete sich aber bei der Untersuchung schwierig, da sie wiederum eine genaue Fallprüfung erfordert, die aufgrund der anonymisierten Akten und des Zeitdrucks nicht gegeben war.41 Die Staatssicherheit überwachte die Volkspolizei also umfassend mit geheimpolizeilichen Methoden und verfügte selbst an der Spitze des MdI über Zuträger. Der zwischen 1963 und 1989 als Minister des Innern fungierende Friedrich Dickel suchte in den 1980er-Jahren eine vorsichtige Abgrenzung von der Staatssicherheit. Er kritisierte die zu große Folgsamkeit seiner Leitungskader gegenüber der Staatssicherheit und bezeichnete sie auch als »Befehlsempfänger von denen«. In einer Beratung mit seinen Stellvertretern ermahnte er diese Anfang 1988 nachdrücklich zur Schweigsamkeit: »(…) das geht hier nicht raus, Ihr wißt schon wohin.«42 Der Innenminister setzte auch hin und wieder seine Linie im eigenen Ministerium sinngemäß mit der Bemerkung durch, dass er die »offenen Fragen« bereits mit dem »Genossen Mielke« geklärt habe. Obwohl solche Absprachen in den Staatssicherheit und Volkspolizei vor 1989  29


Akten nicht bestätigt werden, hat sich Dickel über Fragen der inneren Sicherheit häufiger mit Mielke als mit Honecker verständigt.43 Doch selbst der Staatssicherheitsminister fragte sich »in seltenen Momenten der Besinnung«, ob das MfS einen solchen aufgeblähten Apparat zur Überwachung der DVP überhaupt benötigte, statt mit der Volkspolizei gemeinsam – zur eigenen Entlastung und weil das MfS nicht mehr wachsen sollte – die »Sicherungsaufgaben« zu lösen.44 Am 8. November 1982 sprach Mielke die Problematik in einem Vortrag auf der Konferenz der Politorgane der DVP offen an. Zum Ende seines langatmigen Referats erklärte er offen: »Genau wie Ihr gehen auch wir davon aus, daß die weitere Qualifizierung des Zusammenwirkens zunächst erst einmal verlangt, daß jeder seine spezifischen Aufgaben in hoher Qualität erfüllt und seiner spezifischen Verantwortung voll nachkommt. Ihr wißt, daß das noch nicht immer so ist. (…) Wir müssen davon wegkommen, daß Diensteinheiten des MfS und Dienststellen der DVP im Grunde genommen mit den gleichen Mitteln und auf die gleiche Art und Weise die gleichen Aufgaben realisieren. Doppelarbeit zu vermeiden, ist ein Gebot der Erhöhung der Effektivität der gesellschaftlichen Arbeit, das auch voll auf die Tätigkeit unserer Organe zutrifft. (…) Umgekehrt bitte ich aber auch Euch, Euren ganzen Einfluß geltend zu machen, damit das MfS aus der Arbeit der DVP und der anderen Organe des MdI alles erfährt, was für die staatliche Sicherheit bedeutsam ist. Umso stabiler, konkreter, rechtzeitiger und unkomplizierter wir diese auf Grund der wechselseitigen objektiven Zusammenhänge zwischen öffentlicher Ordnung und Sicherheit und staatlicher Sicherheit notwendigen Informationsbeziehungen organisieren, desto erfolgreicher werden wir unsere Aufgaben lösen – jeder die seinen und die gemeinsam. Das verlangt aber auch, alle Probleme, die Gegenstand unseres Zusammenwirkens sind, Geheimzuhalten, zu verhindern, daß Unbefugte und vor allem der Gegner davon Kenntnis erhalten. Das trifft auch auf alles zu, was ich heute erläutert habe.«45 Die beiden Sicherheitsapparate sollten stärker arbeitsteilig vorgehen und damit Doppelarbeit vermeiden. Dem MdI wurden mehr Eigenverantwortung und damit Spielräume in Aussicht gestellt, aber in der Realität war eine solche »Entflechtung« gar nicht mehr möglich, »weil 30  Die Personalüberprüfungen bei der Brandenburger Polizei


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