Hermann Benkowitz (Leseprobe)

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Band 1 Ein Leben zu und nach Zeiten des 1. Weltkriegs

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Dagmar Stange

HErmann

Ein preuĂ&#x;ischer Leibhusar

eine Dokumentation in Bildern und texten

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Herausgegeben von:

Bibliografische Information der Deutschen nationalbibliothek Die Deutsche nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. alle rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, mikroverfilmungen, Verfilmungen und die einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-rOms, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © texte und Bilder: Dagmar Stange Stiftung für Zeit- und Fotodokumentation Weinbergstraße 4a, 8280 Kreuzlingen/Schweiz www.dss-zfd.org © für diese ausgabe: be.bra verlag gmbH, Berlin-Brandenburg, 2015 KulturBrauerei Haus 2, Schönhauser allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de autorin und Konzeption: Dagmar Stange, Kreuzlingen/Schweiz text: Bettina Schröm, Konstanz; Dagmar Stange, Kreuzlingen/Schweiz Schrift: Profile 12 / 14 pt Umschlag: typegerecht, Berlin, unter Verwendung eines Fotos der Dagmar Stange Stiftung für Zeit- und Fotodokumentation Kreuzlingen, Schweiz Lektorat: matthias Schütt, Schürensöhlen Druck und Bindung: Finidr, Český těšín ISBn 978-3-89809-124-4 www.bebraverlag.de

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Inhalt 7 12 15

Vorwort Lebensereignisse Einleitung Um 1900

Kindheit und Jugend in Westpreußen Die Heimat Pommerellen Die Familie Der Zeitgeist – ein kurzer Streifzug

18 22 24

1914 – 1918/19

Die preußischen Leibhusaren „Im Großen Kriege“ Kriegsbeginn Im Krieg – West- und Ostfront Kriegsende und Verwundung

44 54 76

1920 – 1926

Benkowitz und seine neue Heimat in Pommern als Leibhusar in Belgard Familiengründung und Leben in der neuen Heimat Die Familie im Polnischen Korridor abschied von den Leibhusaren und Belgard

98 106 130 134

1927 – 1929

aufbruch in den Westen

nach Kassel als Steuerwachtmeister Start in Frankfurt als Zollwachtmeister

146 156

Heute

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100 Jahre später – ein kurzer Streifzug

174 175 176

Quellen, Literatur, Bildquellen, Online-Quellen Editorische notiz, Danksagung Heimat

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Vorwort

ein ganz normales Leben. Vor 100 Jahren sah es anders aus als heute, das sogenannte ganz normale Leben. ganz anders. Hermann Benkowitz (1892-1959) hat das Kaiserreich, zwei Weltkriege und den Wiederaufbau erlebt – den Wandel von einem landwirtschaftlich geprägten Leben zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. er kam ursprünglich aus Westpreußen und ist mehrfach und über weite Strecken umgezogen, wurde vom Land- zum Stadtmensch, beendete eine militärische zugunsten einer zivilen Karriere. Leibhusar war Hermann Benkowitz einst, später Zollbeamter und ganz offenbar ein großer anhänger der Luftfahrt. Benkowitz hat die Spuren seines Lebens als Hinterlassenschaft bei seiner tochter aufbewahrt. ausweise, nachweise, Fotografien, Dokumente, geldscheine längst untergegangener Währungen – ein umfangreicher nachlass, wie es ihn nur selten aus dem Leben eines »ganz normalen« menschen gibt. Sie eröffnen ein Fenster in die damalige Zeit, stehen beispielhaft für den alltag vieler menschen, sind Zeugnis erlebter und gelebter Zeitgeschichte. anhand dieser Dokumente lässt sich die Biografie von Hermann Benkowitz im zeitgeschichtlichen rahmen rekonstruieren. Wenig lückenhaft sind so die wichtigsten Lebensdaten. Weithin unbeantwortet hingegen bleiben Fragen, die sich nicht auf Fakten wie geburtsurkunden, militärpässe und Umzugsrechnungen beziehen. Persönliche Fragen, die man Hermann Benkowitz gerne stellen würde und die oft nur anlass zu Vermutungen sein können. Viele menschen könnten ähnliche geschichten aus dem Leben ihrer Familie erzählen, wenige aber nur können den Lebensweg eines Vorfahren anhand von Originaldokumenten derart umfassend rekonstruieren. Dieses Buch zeichnet nach, zeigt die Originale, ermöglicht es, das Leben von Hermann Benkowitz anhand historischer Quellen – im Übrigen oft Zeugnisse einer damals wie heute allumfassenden Bürokratie – nachzuvollziehen. Dabei soll nicht alles erläutert und nur wenig gedeutet werden. Vielmehr sprechen die Dokumente ihre eigene Sprache, stehen für den Zeitgeist, zeigen Zwänge – und Freiheiten.

Weitere wichtige Quellen sind neben den persönlichen Dokumenten und Fotografien - das Buch „Im Pommerndorf“, ein „Lesebuch für ländliche Fortbildungsschulen und Hausbuch für die Landbevölkerung in Pommern“ herausgegeben 1912 in Leipzig und Berlin von der Landwirtschaftlichen Schulbuchhandlung Karl Scholze, 511 Seiten - „Der Leibhusar“, das Nachrichtenblatt des Leibhusarenbundes aus den Jahren 1923 bis 1937 - die Sonderausgabe des Pommernblattes „Kriegsarbeit der Landwirtschaftskammer für die Provinz Pommern 1914-1918“ - Sonderausgabe Pommernblatt über die Tätigkeit der Landwirtschaftskammer in den 25 Jahren ihres Bestehens 1896-1921.

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Hermann Benkowitz – sein Weg von 1892 bis 1929 in Kürze

Hermann Benkowitz wurde am 9. märz 1892 als unehelicher Sohn von Florentine Benkowitz und Hermann Dodt in Lankewitz im Landkreis Putzig in Westpreußen geboren. In einem Dokument wird die Vaterschaft Hermann Dodts – ein »arbeiter und musikant«, wie es dort heißt – bestätigt. Benkowitz besuchte die Volksschule von 1898 bis 1906 und war anschließend in der Landwirtschaft tätig.

In Belgard lernte er Hedwig naß kennen, verlobte sich 1922 und heiratet sie 1923 in der marienkirche in Belgard. Das Hochzeitsfoto zeigt ihn noch in Husarenuniform. ein Jahr nach der eheschließung kam tochter Ursula zur Welt. noch 1925 beteiligte er sich als Obergefreiter der eskadron 2 am großen Jagdspringen beim Belgarder reit- und Fahrttunier. Die 1926 geborene Brunhilde sollte bereits im alter von fünf monaten versterben. Im gleichen Jahr - nach 12-jährigem Dienst schied Benkowitz aus der reichswehr als Unteroffizier aus.

1914 – 1918/19 Der 1. Weltkrieg

1927 – 1929 Start einer zivilen Karriere

Im Oktober 1914 wurde er Leibhusar im Leibhusaren-regiment nr. 2 der Königin Viktoria von Preußen, den sogenannten totenkopf-Husaren. Den Beinamen hatte das regiment aufgrund des totenkopfs auf der Uniformmütze erhalten. Die Husaren waren in DanzigLangfuhr stationiert, kämpften zunächst an der Westfront, wurden aber später in den Osten versetzt. 1915 wurde auch Hermann Benkowitz an die Front geschickt. 1917 erhielt er das eiserne Kreuz Zweiter Klasse, 1919, bereits nach Friedensschluss, wurde er verwundet. Benkowitz kehrte zu seinem regiment nach Danzig zurück und blieb auch nach dem ende des ersten Weltkriegs beim militär und wurde 1919 gefreiter.

Benkowitz war zunächst als aushilfe am Finanzamt von Belgard angestellt. es war der Beginn einer zivilen beruflichen Karriere, die die junge Familie in den Westen bringen sollte. 1927 wurde Hermann Benkowitz Steuerwachtmeister in Kassel, 1929 bewarb er sich um eine Position beim Zoll. Im gleichen Jahr zog die Familie weiter nach Frankfurt am main, wo Benkowitz zunächst als Zollbeamter des Hauptzollamts gutleutstraße und am Flughafen Frankfurt rebstock beschäftigt war.

1892 – 1913 Lankewitz / Westpreußen

1920 – 1926 reichswehr 5. (Preussisches) reiter-regiment in Belgard 1920 verließen die Leibhusaren Danzig und quartierten sich in Belgrad/Hinterpommern ein. Benkowitz wurde im selben Jahr in die zweite eskadron des reiter-regiments nr. 5 übernommen. 1921 wurde er Obergefreiter.

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Lebenslauf Hermann Benkowitz, erstellt 8. Oktober 1942 Am 09. März 1892 wurde ich in Lankewitz Kr. Putzig (Westpr.) geboren. / Von Ostern 1898 bis Ostern 1906 besuchte ich die Volkschule. / Nach der Schulentlassung war ich in der Landwirtschaft beschäftigt. / Am 15.10.1914 wurde ich zum (offen gelassen 2. Leibhusaren-_Regiment Nr. 2, Anm. d. Verf.) eingezogen. Am 7.1.1915 kam ich an die Front. Am 30. Sept. 1917 erhielt ich das Eiserne Kreuz 2. Kl. Nach Friedenschluß 1918 beteiligte ich mich noch freiwillig an der Niederwerfung polnischer Aufstände und wurde hierbei am 19. Febr. 1919 verwundet. Nach meiner Genesung wurde ich am 5. April 1919 zu meinem Truppenteil nach Danzig-Langfuhr zurückversetzt. / Am 3. Juni 1919 erfolgte meine Beförderung zum Gefreiten. Die Reichswehr übernahm mich am 10. März 1920 zum Reiter Reg. 5 2. Esk. Dort wurde ich am 16. Juli 1921 zum Obergefreiten und am 10. März 1924 zum Unteroffz. Anw. (Unteroffizier-Anwärter, Anm. d. Verf.) befördert. Am 15. Okt. 1926 schied ich als Unteroffizier nach zwölfjähriger Dienstzeit

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aus der Reichswehr aus. / Vom 4. Novemb. 1926 bis zum 15. Juni 1927 war ich beim Finanzamt Belg. (Belgard) als Aushilfe beschäftigt. Am 20. Juni 1927 wurde ich als Steuerwachtmeister i. P. (in Probe, Anm. d. Verf.) an das Landesfinanzamt Kassel einberufen. Am 20. Dez. 1927 erhielt ich meine Ernennung zum Steuerwachtmeister./ Am 1. Juni 1929 wurde ich als Zollwachtmeister zum Hauptzollamt Ffm. Gutleutstr. versetzt. Die Ernennung zum Zollbetriebsass.(istenten) erfolgte am 1. April 1935. Am 1. Mai 1936 wurde ich offiziell an das Zollamt Flughafen Ffm. versetzt. / Bis Ausbruch des Krieges 1939 versah ich meinen Dienst auf dem Flug- u. Luftschiffhafen Rhein-Main. Jetzt bin ich wieder im Hauptzollamt beschäftigt. Ich bin Inhaber des Ehrenkreuzes für Frontkämpfer, der Dienstauszeichnung III. u. IV. Klasse für 12-jährigen Dienst in der Wehrmacht und des silbernen Treuedienst-Ehrenzeichens. Seit dem 6. April 1923 bin ich verheiratet. Ich bin schuldenfrei und nicht vorbestraft.

Frankfurt Main den 8. Okt. 1942 H.B.

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12 Krockow

Putzig

1919

1914

Lebensereignisse

▶ Danzig-Langfuhr

▶ Danzig-Langfuhr

Am 15.10.1914 wurde ich zum 2. Leibhusaren Regt. Nr. 2 ein­ gezogen.

▶ Front

Am 7.1.1915 kam ich an die Front.

▶ Lankewitz · Kreis Putzig

Am 09. März 1892 wurde ich in Lankewitz Kr. Putzig (Westpr.) geboren.

1921

▶ Front

▶ Belgard

10. Januar 1920 Friedensvertrag von Versailles tritt in Kraft

28. Juni 1919 Friedensvertrag von Versailles

Februar 1920 Leibhusaren verlassen Danzig

1918

▶ Lankewitz · Kreis Putzig

▶ Bialystock

1906 ▶ Goschin · Kreis Putzig

Nach der Schulentlassung war ich in der Landwirtschaft beschäftigt.

Dort wurde ich am 16. Juli 1921 zum Obergefreiten befördert.

11. November 1918 Kriegsende

1898 – 1906 Von Ostern 1898 bis Ostern 1906 besuchte ich die Volkschule.

Die Reichswehr übernahm mich am 10. März 1920 zum Reiter Reg. 5 2. Esk.

1917 Am 30. Sept. 1917 erhielt ich das Eiserne Kreuz 2. Kl. 1. August 1914 Kriegsbeginn

1920 ▶ Belgard

1915 1892

Am 3. Juni 1919 erfolgte meine Beförderung zum Gefreiten.

Nach Friedenschluß 1918 beteiligte ich mich noch freiwillig an der Niederwerfung polnischer Auf­ stände und wurde hierbei am 19. Febr. 1919 verwundet.

1919

1922 ▶ Belgard

Verlobung mit Hedwig Naß an Ostern

1923 ▶ Belgard

6. April 1923: Heirat mit Hedwig Naß in St. Marienkirche

▶ Danzig-Langfuhr

Nach meiner Genesung wurde ich am 5. April 1919 zu meinem Truppenteil nach Danzig­Langfuhr zurückversetzt.

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13 Putzig

Belgard

Danzig

Hinterpommern

Berlin

Ostpreußen Bialystock

Polen

DEU T S CHE S REICH Kassel

Frankfurt

1926 ▶ Belgard

7. Januar 1926: fünf Monate alte Tochter Brunhilde stirbt 14. Oktober 1926: Beförderung zum Unteroffizier

1924 ▶ Belgard

Am 10. März 1924 wurde ich zum Unteroffizier­Anwärter befördert. 6. April 1924: Geburt Tochter Ursula Emma Florentine 11. Mai 1924: Taufe Tochter Ursula in St. Marienkirche

Am 15. Okt. 1926 schied ich als Unteroffizier nach zwölfjähriger Dienstzeit aus der Reichswehr aus. Vom 4. Novemb. 1926 bis zum 15. Juni 1927 war ich beim Finanz­ amt Belg. (Belgard) als Aushilfe be­ schäftigt.

1925

1927

▶ Belgard

▶ Kassel

August 1925: Geburt Tochter Brunhilde 30. September 1925: Mietvertrag für Pankniner Abbau 2

1929 ▶ Kassel

Am 1. Juni 1929 wurde ich als Zoll­ wachtmeister zum Hauptzollamt Ffm. Gutleutstr. versetzt.

Am 20. Juni 1927 wurde ich als Steuerwachtmeister in Probe an das Landesfinanzamt Kassel einberufen. 14. Dezember 1927: Umzug nach Kassel, Mietvertrag Langestraße 80 Am 20. Dez. 1927 erhielt ich meine Ernennung zum Steuerwacht­ meister.

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Antrag des Steuerwachtmeisters Hermann Benkowitz auf Übernahme in eine Zollwachtmeisterstelle Kassel, den Euer Hochwohlgeboren bitte ich, das anliegende Gesuch dem Herrn Reichsminister der Finanzen mit Befürwortung vorzulegen. Hermann Benkowitz Steuerwachtmeister

Herman Benkowitz (rechts) als Zollwachtmeister ca. 1930 am Flughafen Rebstock in Frankfurt am Main. Im Juli 1924 wurde der Luftschiffhafen offiziell zum Flughafen und das Flughafengebäude eingeweiht.

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einleitung

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Ein Fenster in die Vergangenheit Hermann Benkowitz hat es geschafft. nach zwölf Jahren Dienst als Leibhusar für seine regiments-Chefin Prinzessin Viktoria Luise von Preußen ist er weitestgehend unversehrt nach dem ersten Weltkrieg mit seinem regiment von Danzig nach Belgard in Pommern gezogen. als Zivildienstberechtigter seit 1927 versah er einen Posten als Steuerwachtmeiser in den Finanzämtern Belgard und Kassel. Jedoch zog es ihn zum Zoll. In einem Brief an seinen „hochwohlgeborenen“ Vorgesetzten bittet er „Seine exzellenz Herrn reichsminister der Finanzen“ um eine Versetzung als Zollwachtmeister. nun ist er glücklich und zufrieden seit September 1929 für das Hauptzollamt Frankfurt am main in der gutleutstraße 185 tätig, wo er im selben Hause mit seiner Familie wohnt. er freut sich auf seine neue Zukunft. Jedoch haben ihn bei seinen Umzügen von Belgard über Kassel die erinnerungsstücke aus seiner Leibhusarenzeit im 1. Weltkrieg begleitet, und später hat er auch die erinnerungen an die Frankfurter Zeiten als Zollbeamter am Flug- und Luftschiffhafen rhein-main und den 2. Weltkrieg aufbewahrt. nach einem Jahrhundert erlauben uns nun seine erinnerungen, festgehalten in persönlichen Bildern und Dokumenten, einen oder besser seinen Blick in die Weltgeschichte der Kriege. Indem wir seinen Spuren folgen, werden wir zurückversetzt in die Vergangenheit und durchleben sie in seiner Wahrnehmung und Bedeutung. Dieser Band umfasst die Zeit von 1892, seiner geburt, bis ende 1929, als er nach Frankfurt versetzt wurde.

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Um 1900

Kindheit und Jugend in WestpreuĂ&#x;en Die Heimat Pommerellen Die Familie Der Zeitgeist – ein kurzer Streifzug

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Eine auswahl historischer Ereignisse ++ 1892 13. September Geburt Viktoria Luise von Preußen, einzige Tochter Kaiser Wilhelms II., später 2. Chef des Leibhusaren-Regiments Königin Viktoria von Preußen Nr. 2 in Danzig-Langfuhr + Gesetz über Kleinbahnen zur Erschließung der landwirtschaftlich strukturierten Bereiche im Norden und Osten des Königreichs Preußen ++ 1894 6. Dezember Einweihung Reichstagsgebäude in Berlin ++ 1896 Olympische Sommerspiele in Athen, die ersten Olympischen Spiele seit der Antike ++ 1900 Weltausstellung in Paris + 2. Juli Jungfernfahrt des ersten Zeppelin-Luftschiffs + 29. Juli König Umberto I. von Italien in Monza ermordet ++ 1901 Verleihung der ersten Nobelpreise u. a. an Wilhelm Conrad Röntgen; Friedensnobelpreis an Henri Dunant (Internationale Rotekreuz- und Rothalbmond-Bewegung) und „Friedensapostel“ Frédéric Passy ++ 1903 erstes gesteuertes Motorflugzeug, gebaut von den Brüdern Wright ++ 1905 Friedensnobelpreis an Bertha von Suttner + „Schlieffen-Plan“, strategisch-operativer Plan des Großen Generalstabs für den Fall eines Zweifronten-Kriegs ++ 1909 Ernennung Prinzessin Viktoria Luise von Preußen zum 2. Chef des 2. Leibhusaren-Regiments ++ 1910 Weltausstellung in Brüssel ++ 1912 15. April Passagierschiff RMS Titanic im Nordatlantik gesunken + 12. November Spaniens Regierungspräsident Mendez in Madrid ermordet ++ 1913 Balkankriege + 18. März König Georg I. von Griechenland in Thessaloniki ermordet + 29. Mai Skandal in Paris bei der Uraufführung des Balletts „Sacre du Printemps“ von Igor Strawinski + 30. Juni Deutscher Reichstag verabschiedet Wehrvorlage zur stufenweise Aufstockung des Heeres ++

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am 9. märz 1892 wurde Karl Hermann Benkowitz in Lankewitz, Kreis Putzig (dem heutigen polnischen Puck), im ländlichen Westpommern geboren. Ob man ihn so recht willkommen geheißen hat auf dieser Welt, ist unwahrscheinlich, denn er kam als uneheliches Kind der Florentine Benkowitz zur Welt, gezeugt von einem »arbeiter und musikanten«, wie es in den Unterlagen heißt. Florentine blieb trotz des Kindes nicht allein, heiratete den Schneider Friedrich Kropp und erfüllte damit auch die gesellschaftliche norm ihrer Zeit. Die Familie war zahlreich: Hermann hatte nun drei Halbgeschwister. Der Umgang scheint innig gewesen zu sein. erhalten sind herzlich formulierte Briefe, in denen Hermann als »Lieber Sohn« und »Bruder« angesprochen wird. Über die genauen materiellen Verhältnisse der sechsköpfigen Familie ist nichts bekannt. Doch für ein Leben im Wohlstand hat es wohl nicht gereicht: Hermann musste gleich nach dem Besuch der Volksschule von 1898 bis 1906 seinen Lebensunterhalt in der Landwirtschaft, vermutlich im gutsbezirk goschin, verdienen, wie er 1942 in einem Lebenslauf schreibt. Viel Schriftliches aus den Kinderjahren Hermanns gibt es nicht. Familienfotos zeigen ernste menschen. Das hatte einerseits einen ganz banalen grund: man musste damals noch lange stillhalten, bis das Foto »im Kasten« war. andererseits waren die Zeiten nicht einfach. Selbst bei Hochzeiten war das geld knapp. eine Braut trägt ihren dünnen Schleier zum schlichten schwarzen Kleid. auch das war keine Seltenheit.

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Die Heimat Pommerellen

Krockow Krockow Putzig Putzig

Am 09. März 1892 wurde ich in Lankewitz Kr. Putzig (Westpr.) geboren. / von Ostern 1898 bis Ostern 1906 besuchte ich die Volksschule.

Westpreußen mit dem Landstrich Pommerellen. Hermanns Geburtsort Lankewitz liegt nordöstlich von Krockow, das ebenso zum Kreis Putzig gehört. Krockow und Umgebung ist die Heimat seiner Familie.

Sütterlin Ludwig Sütterlin entwickelte Anfang des 20. Jahrhunderts im Auftrag der preußischen Regierung eine neue Form der deutschen Schreibschrift. Die nach ihm benannte Sütterlin-Schrift war von 1935 bis 1941, in leicht abgewandelter Form, Teil des Lehrplans in ganz Deutschland. „Putzig. Promenade am grünen Ausguck“ (in Sütterlin-Schrift) Eine Ansichtskarte als Feldpost von Hermanns Bruder Fritz Kropp, 1942.

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Um 1900 – Kindheit und Jugend in Westpreußen Die Heimat Pommerellen

Geburtsurkunde, ausgestellt in Krockow, Kreis Putzig, Pommern, 18. Dezember (Grudzień) 1922 (Pomorze = Pommern, im Polnischen gibt es den namen Pommerellen nicht) Statt Unterschrift drei Kreuze, offensichtlich war der Vater von Hermanns mutter Florentine Benkowitz des Schreibens unkundig. Glinke war der letzte Wohnsitz von Hermanns Großvater mütterlicherseits, Carl Benkowitz (* 20.10.1835 † 1915). nach dem 1. Weltkrieg wurde Westpreußen 1919 Polen zugeordnet. Benkowitz war zu diesem Zeitpunkt im deutschen Belgard/Pommern ansässig. Er benötigte diese Urkunde vermutlich für seine 1923 geplante Heirat.

Dokument urodzenia. Nr. 3 / Geburtsurkunde Glinke, am 9ten März 1892 Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Persönlichkeit nach ... bekannt der Arbeiter Carl Benkowitz wohnhaft in Lankewitz ... katholischer Religion, und zeigte an, daß von der unehelichen Arbeiterin Florentine Benkowitz, seiner Tochter evangelischer Religion wohnhaft zu Lankewitz bei dem Anzeigenden zu Lankewitz in der Behausung des Anzeigenden am neunten März des Jahres tausend acht hundert neunzig und zwei, vormittags um zweieinhalb Uhr ein Kind männlichen Geschlechts geboren worden sei, welches die Vornamen Carl Hermann erhalten habe. Der Anzeigende erklärte, daß er bei der Niederkunft der Florentine Benkowitz seiner Tochter zugegen gewesen sei. Vorgelesen, genehmigt und wegen Schreibunkunde des Anzeigenden mit seinen ... versehen X X X Der Standesbeamte Krokowice, den 18. Dezember 1922

Lankewitz, Kreis Putzig, bestand um 1871 aus einem Gutsbezirk mit 15 Haushalten und 80 Einwohnern. Es gehörte zum Amtsbezirk Krockow, der die Landgemeinden Gelsin, Goschin und Menkewitz und die Gutsbezirke Glinke, Koslinke-Neuhof, Krockow, Lankewitz, Lissau und Parschütz umfasste. Das Gut Glinke gehörte zum Rittergut Krockow (12 Haushalte, 69 Einwohner) und liegt südwestlich von Krockow. Die kommunale Struktur des Landes war früher geprägt vom Dualismus zwischen Einzelhöfen und Dörfern, auf denen der Adel seinen Sitz hatte („Rittergüter“ waren selbständige Gutsbezirke), sowie Dörfern, in denen freie Bauern auf eigener Feldmark zusammen wohnten. Der Adel leistete Kriegsdienst, der Bauer zahlte Steuern. In den als Altpreußen bezeichneten Provinzen (Brandenburg, Sachsen, Ostpreußen, Westpreußen, Pommern und Schlesien) war der Gutsbezirk ein räumlich abgegrenzter Herrschaftsbereich, in dem die Bewohner der obrigkeitlichen Gewalt eines Gutsherrn unterworfen waren. Gutsbezirke waren im frühen 19. Jahrhundert entstanden, als im Zuge der Stein-Hardenberg‘schen Reformen (Bauernbefreiung, Abschaffung der Erbuntertänigkeit) die kommunale Verwaltung neu organisiert werden musste.

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Erklärung über die Vaterschaft von Hermann Dodt durch Dodts Schwester Ottilie Zindars, geb. Dodt, datiert 5. Dezember 1938 und angefordert im Zusammenhang mit den nachweisforderungen der nS-Behörden über die Herkunft der Familie, denen Hermann Benkowitz als Zollbeamter nachkommen musste. Stempel der evangelischen Kirche in Krockow.

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abschrift der Geburtsurkunde des Vaters Hermann Dodt, datiert 29. november (poln. Listopada) 1938, beglaubigt vom Zollamt Frankfurt (main), Flug- und Luftschiffhafen rhein-main 3, wo Hermann Benkowitz ab 1936 als Zollbeamter tätig war.

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Putzig

Um 1900 – Kindheit und Jugend in Westpreußen

Krockow

Die Heimat Pommerellen

Pommerellen im Kaiserreich um 1900 Um 1900 ist Pommerellen die größte Region in Westpreußen. Es liegt westlich der Weichsel und grenzt im Westen an Hinterpommern, im Norden und Nordosten an die Ostsee. Pommerellen ist geographisch nahezu deckungsgleich mit der Kaschubei. Historisch war Pommerellen ab 1454 als „Königliches Preußen“ in einem losen Verbund mit anderen Gebieten mit der polnischen Krone verbunden. Dabei gewährte die polnische Krone weitreichende Autonomierechte, u.a. eigene Landtage, eigene Landesregierung sowie eigene Währung und Wehrhoheit. Verwaltet wurde dieses Gebiet in drei Wojewodschaften, unter denen Pommerellen die größte war. Das Fürstbistum Ermland blieb als eigenständige Verwaltungseinheit bestehen. Als Friedrich II. mit der russischen Kaiserin Katharina 1772 die Erste Teilung Polens vornahm, fügte er das „Königliche Preußen“ mit dem Fürstbistum Ermland und dem Netzedistrikt in das hohenzollernsche Königreich Preußen ein. Das Gebiet Pommerellen ging in der neuen Provinz Westpreußen auf. Mit dem Wechsel des Herrschers einher ging der Verlust der Autonomierechte, die die polnische Krone gewährt hatte. Diese Annexion musste Polen – die I. Rzeczpospolita – im Vertrag von Warschau 1773 anerkennen. Die Gebietsgewinne führten in Preußen zu einer Neuorganisation der Verwaltungseinteilung: Das Königreich Preußen bestand nunmehr aus den Provinzen Westpreußen, Ostpreußen und Netzedistrikt. Pommerellen blieb bis 1919 Teil des deutschen Nationalstaats. Friedrich der Große, genannt „Der Alte Fritz“, 1712–1786; ab 1740 preußischer König

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Die Familie

mutter Florentine, abfotografiertes Bild mit dem Vermerk auf der rückseite „Erkennst du unser muttchen noch“

Stiefvater Friedrich Kropp?

Fotos aus den Jahren um 1904. Hermann Benkowitz war damals ca. 12 Jahre alt

Schwester meta

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Schwester Gertrud

Bruder Friedrich

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Um 1900 – Kindheit und Jugend in Westpreußen

Werde ein Mann! ... bleibt Herren über Regungen und Triebe der eigenen Natur!

Die Familie

auszüge aus dem Buch Im Pommerndorf

Der Hausvater muß den Ertrag seiner Arbeit dem gemeinsamen Haushalt zuführen (...); die Frau muß von den Einnahmen einen möglichst zweckmäßigen Gebrauch machen; die Kinder müssen nach besten Kräften die Eltern unterstützen. (…) Es (das Gesetz, Anm. d.Verf.) setzt die Altersgrenze fest, von der ab erst Ehen geschlossen werden dürfen (Männer 21, Frauen 16 Jahre) (…). Der Staat erkennt (seit 1874) nur die Ehen für gültig an, die vor den von ihm errichteten Standesämtern geschlossen sind.

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Der Zeitgeist – ein kurzer Streifzug (Land-)Wirtschaft und Soziales Nach der Schulentlassung (Ostern 1906, Anm. d. Verf.) war ich zu Hause in der Landwirtschaft beschäftigt.

„Zu Hause“ ist Goschin, eine Landgemeinde im amtsbezirk Krockow zwischen den Gemeinden Lankewitz und Krockow. (Goschin ist als Kontaktadresse der Eltern in Hermanns militärpass angegeben.) Goschin und Krockow gehörten zur Krockowschen Herrschaft. Krockow ist der name eines westpreußischen adelsgeschlechts. Die Herren von Krockow gehören zum pommerellischen Uradel.

auszug aus dem Buch Im Pommerndorf

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Um 1900 – Kindheit und Jugend in Westpreußen

Bei uns ist Papiergeld im Umauf, das nur Tauschmittel, nicht Wertmaß und Währung ist und von der Reichshauptkasse auf Verlangen in Metallgeld umgewechselt werden muss. Ein Zwang zur Annahme von Geldscheinen besteht nicht; sie sollen nur der Erleichterung des Verkehrs dienen. (Im Pommerndorf, S. 360)

Der Zeitgeist – ein kurzer Streifzug

Banknoten aus den Jahren 1908 und 1910

Mark-Euro-Kaufkraft vergleich Einige Güterpreise aus den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts werden in dem vom Hessischen Statistischen Landesamt 1960 herausgegebenen Band „Hessen im Wandel der letzten hundert Jahre 1860-1960“ genannt. Um zu prüfen, in welchen Größenordnungen die aufgrund solcher Preise feststellbaren Kaufkraftrelationen liegen, wurden die dort angegebenen Preise aus dem Jahr 1882 den entsprechenden Preisen für 2012 gegenübergestellt. Nahrungsmittel

Preis 1882 in M

Preis 2012 in €

Kaufkraftäquivalent einer M in € 1

1 kg Roggenbrot 1 kg Weizenmehl 1 kg Speisekartoffeln 1 l Vollmilch 1 kg Butter 10 Eier

0,26 0,45 0,07 0,17 1,98 0,50

2,69 0,78 1,03 0,74 4,46 1,82

10 2 15 4 2 4

1 Die Kaufkraft einer Mark im Vergleich zum Euro lässt sich in dieser Übersicht nicht eindeutig berechnen. Die aufgeführten Werte weisen dazu eine zu große Spanne aus. So errechnet sich beispielsweise für 1 Mark aus dem Jahr 1882 für Speisekartoffeln ein Kaufkraftäquivalent von 15 € im Jahr 2012, während der über den Preis für Weizenmehl ermittelte Vergleichswert nur 2 € beträgt.

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Literaturempfehlungen als anlage im Buch Im Pommerndorf.

rechts eine Kreistafel zur Berechnung der verdaulichen Stoffe im Futtermittel „ein willkommener rechenknecht“

Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlangte die Kartoffel allgemeine Verbreitung als Volksnahrungsmittel, besonders durch die Bemühungen Friedrichs des Großen.

auszug aus dem Buch Im Pommerndorf

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Um 1900 – Kindheit und Jugend in Westpreußen Der Zeitgeist – ein kurzer Streifzug

auszug aus Im Pommerndorf. am 17. november 1881 wurde im reichstag die „Kaiserliche Botschaft“ vorgetragen, dass der reichstag Gesetze zur finanziellen absicherung der arbeiter gegen Krankheit, Unfall, Invalidität und alter beschließen möge.

auszug aus Im Pommerndorf

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mode im fr체hen 20. Jahrhundert

Schwestern Gertrud und meta, mutter Florentine (oben rechts) in l채ndlich kaschubischer Bekleidung. abfotografierte Bilder, vermutlich Hermann an seinen Stationierungsort Danzig-Langfuhr zur Erinnerung zugeschickt

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Um 1900 – Kindheit und Jugend in Westpreußen Der Zeitgeist – ein kurzer Streifzug

mädchen in katholischem Kommunionskleid. Benkowitz’ Familienmitglieder waren größtenteils evangelisch. Sein Großvater jedoch war mütterlicherseits ursprünglich katholisch, später evangelisch. Seine Großmutter aus nanitz bei neustadt (heute poln. Wejherowo) war katholisch wie der Großteil der Bewohner. Neustadt wurde 1818 Sitz eines eigenen Landkreises Neustadt (Westpreußen). Während dieser Zeit stieg der Anteil der deutschsprachigen Einwohner auf fast 50 Prozent an. Bei der preußischen Volkszählung von 1905 gaben 27.358 Bewohner Kaschubisch und 27.048 Deutsch als Muttersprache an.

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Foto einer Jungenklasse. (Hermann vermutlich hintere reihe, 6. von links). man beachte die reihe fast einheitlich geschn端rter Halbstiefel

menschen in Hermanns Umfeld

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