11 minute read
Einführung
»Sucher und Finder des Lichts«
Als am 7. November 1921 der mit Amtskette geschmückte Berliner Stadtrat Eugen Rosenberg seine Geburtstagslaudatio beendet hatte, war Lesser Ury perplex. Eine solche Ehrung traf ihn völlig unvorbereitet. Zwar waren ihm anlässlich seines 60. Geburtstags Ehrbekundungen von Seiten der Berliner Secession angedeutet worden, doch kam die offizielle Würdigung durch die Stadt Berlin überraschend. Stets hatte sich Ury ungerecht behandelt gefühlt – von der Kunstkritik, von Künstlerkollegen, von potentiellen Käufern. Nun musste er zu Kenntnis nehmen, dass man ihn als »künstlerische[n] Verherrlicher der Reichshauptstadt« pries. Erst wenige Jahre zuvor war ihm mit einer großen, von der renommierten Galerie Paul Cassirer ausgerichteten Ausstellung der lang ersehnte Durchbruch beschieden gewesen. Beachtliche 80 Werke waren dort von ihm zu sehen. Doch uneingeschränkte Freude über seine Erfolge lagen Ury fern. Rückblickend knurrte er: »Seit einigen Jahren fängt man an, mich etwas anständiger zu behandeln, da ich doch nicht totzukriegen bin.« 1
Advertisement
Kindheit und Jugend
Leo Lesser Ury stammte aus dem preußischen Provinzstädtchen Birnbaum (heute Międzychód) bei Posen. Hier wurde er am 7. November 1861 als jüngster Sohn in eine jüdische Familie hineingeboren. Sein Vorname ist eine Variante des hebräischen Namens »Elieser«, in der Bibel einer der Söhne Mose. Wenige Jahre nach dem frühen Tod von Urys Vater, dem Bäckermeister Joseph Ury, beschloss die Mutter Fanny, geb. Schwartz, Birnbaum zu verlassen. Sie zog mit Lesser und seinen Brüdern Joseph und Julius in die Hauptstadt des gerade gegründeten Deutschen Kaiserreichs, wo sie sich mit einem Weißwarenladen selbstständig machte. Er lag in der Dresdener Straße im ärmlichen historischen Stadtteil Luisenstadt. In unmittelbarer Nähe befand sich die Luisenstädtische Realschule, die Lesser Ury besuchte und 1878 mit der Mittleren Reife abschloss.
Über seine Kindheit sagte Ury später, er sei in sehr bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Trotz der finanziellen Notlage der Familie strebte er keine kaufmännische Laufbahn an. Dabei wäre die durchaus erfolgversprechend gewesen, immerhin wurden seine Brüder solide Kaufleute: Joseph Segeltuchfabrikant in Stettin und Julius Geschäftsführer in Breslau. Lesser Ury jedoch brach die begonnene kaufmännische Ausbildung ab. Er wollte Maler werden.
Lehr- und Wanderjahre
Den jungen Mann zog es nach Düsseldorf, wo er sich am 21. April 1879 an der Königlich-Preußischen Kunstakademie einschrieb. Auf dem Weg dorthin machte er Halt in Kassel, um die Werke Rembrandts in der Gemäldegalerie zu studieren. In Düsseldorf frustrierte ihn bald der akademische Lehrbetrieb. Nach rund einem Jahr verließ er die Akademie und reiste weiter Richtung Westen.
Neben Brüssel und Antwerpen lockte Ury die Kunstmetropole Paris, wo er sich 1881 und 1883 für längere Zeit aufhielt. Einige Jahre zuvor hatte der französische Maler Claude Monet seine Ansicht vom Hafen in Le Havre mit »Impression. Sonnenaufgang« (1872) betitelt und damit einer neuen Stilrichtung ihren Namen gegeben. Der Umgang der Impressionisten mit Licht und Farbe, das Einfangen flüchtiger Augenblicke und die Erhebung banaler Straßen- oder Kaffeehausszenen zu Bildgegenständen müssen Ury beeindruckt haben. In Paris, wo er zeitweise bei Jules-Joseph Lefebvre studierte, entstanden seine ersten Stadtimpressionen, aber auch Interieurs und Blumenstillleben.
1882 schrieb sich Ury an der Académie Royale des Beaux-Arts in Brüssel ein. In dem Historien- und Orientmaler Jean-François Portaels fand er einen geschätzten Lehrer. Um 1884 ließ sich Ury für mehrere Monate in dem nahe Brüssel gelegenen Dorf Volluvet nieder, wo er Landschaften, arbeitende Bauern und Bäuerinnen und Interieurbilder malte.
Rückkehr nach Berlin
Mit Mitte zwanzig kehrte Lesser Ury 1887 zurück nach Berlin, in der Tasche ein Empfehlungsschreiben von Fritz von Uhde an Max Liebermann. Ury hatte von Uhde in München kennengelernt. Dort hatte der junge Künstler nach Stationen in Stuttgart und Karlsruhe 1886 ein Studium bei Johann Caspar Herterich an der Akademie der Bildenden Künste aufgenommen. Tatsächlich setzte sich der angesehene und aus wohlhabenden Verhältnissen stammende Max Liebermann für den mittellosen Ury ein, der dem etablierten Maler mit Respekt begegnete.
In Berlin fesselten Lesser Ury das großstädtische Treiben, der Verkehr, das künstliche Licht. Er malte, was er sah: zwei Frauen auf der regennassen Leipziger Straße, flanierende Paare, zufällige Begegnungen im Tiergarten, Menschen im Café. Oft betonte er dabei, im Gegensatz zu den französischen Impressionisten, die linear-zeichnerische Struktur seiner Kompositionen.
Völlig neu war, dass Ury manche seiner impressionistischen Straßenszenen in die Nacht verlegte. Beeindruckend gelang ihm die malerisch anspruchsvolle Aufgabe, die Ausbreitung und Spiegelungen des künstlichen Großstadtlichts wiederzugeben, vor allem auf regenglänzenden Straßen. Dazu setzte der Maler extrem dunkle Farbtöne ein.
Mit Fritz Gurlitt fand Ury einen ersten Galeristen, der ihn ausstellte. 1890 hatte der Maler die Gelegenheit, zum ersten Mal eine größere Anzahl von Bildern bei Gurlitt zu zeigen. Es hagelte harsche Kritik. Urys Malweise, seine teils mit dem Spachtel aufgetragene Farbe, die ungewohnten Bildausschnitte, die einen unmittelbaren Eindruck des Augenblicks wiedergeben, und seine angeschnittenen Figuren sorgten bei den Galeriebesuchern für Kopfschütteln. Seine Bilder galten als »verrückt«. Im industriell aufstrebenden Berlin hatte die künstlerische Moderne, im Gegensatz zur Kunststadt München, noch nicht Einzug gehalten.
Ein Kritiker jedoch, der Kunsthistoriker Cornelius Gustav Gurlitt, Bruder des Galeristen Fritz Gurlitt, brach in der Zeitschrift Die Gegenwart eine Lanze für Ury. Zunächst beschrieb er das »Anstößige«: »Eine Reihe von schwarzen Klexen [sic!] auf einer mit dem Spachtel aufgetragenen Fläche! Diese sieht aus wie der von der Palette zusammengekratzte Farbenrest, in welchem das Kremserweiß vorwiegt! Und daneben eine Reihe von weißen Klexen [sic!] auf einem vorwiegend schwarzen Farbenragout. […] Was soll aus der deutschen Kunst noch werden, wenn solche Schmierereien in ihrem heiligen Bereiche geduldet werden! Keine Spur von Korrektheit in der Zeichnung, von Rhythmus in der Komposition, von Wohlklang in der Farbenharmonie […]!« Dann aber räumte der Autor ein, habe er Urys Bilder mit völlig anderen Augen gesehen, nachdem er während eines verregneten Abendspaziergangs die Lichter der Stadt in den spiegelnden Regenpfützen erlebt hatte: »Da sah ich einen Künstler, dem es Ernst ist zu geben, was ihn die Natur lehrte, einen Mann, […], dem wir aber danken sollen, daß er versucht zu malen, was ihn entzückte […]! Er wird Grobheiten genug dafür einzustecken bekommen, daß er den Idealismus auf sich genommen hat, nicht nach alten Rezepten idealisieren zu wollen.« 2
Landschaften, biblische Themen und Porträts
Zur gleichen Zeit verwendete sich der Altmeister Adolph Menzel für Ury und empfahl ihn für den Michael-Beer-Preis der Königlichen Akademie der Künste. 1890 erhielt Ury die Auszeichnung, die ihm half, einen Studienaufenthalt in Italien zu finanzieren. Im Süden angekommen, giftete er in einem Brief an seinen Freund Franz Hermann Meißner: »Rom ist ein alter Müllhaufen, auf welchem ein frisches Leben nicht gedeihen kann. Ich habe auf Berlin geschimpft [,] aber dort ist doch wenigstens Bewegung, Streben nach etwas Besserem, ein nervöses Vorwärtsdrängen, aber hier Rafael und römischer Müllhaufen, kurz todt und dreimal todt […]« 3. Obwohl ihm sein Aufenthalt wenig gefiel, entstanden sonnengesättigte Ansichten von Rom und Capri. Im Spätherbst 1890 kehrte Ury wieder zurück nach Berlin, um ein Jahr später erneut aufzubrechen. Diesmal erkundete er den Gardasee und den Lago Maggiore, besuchte Florenz, Venedig und noch einmal Rom. Von nun an war seine Präsenz in Berlin von zahlreichen Reisen unterbrochen. In Oberitalien, Norddeutschland, Thüringen, Holland und im Rheingau malte er Landschaften von geradezu magischer Farbintensität, die über das Abgebildete hinaus mit Bedeutung aufgeladen erscheinen. Häufig benutzte er, wie bereits in Volluvet erprobt, weiche Pastellkreiden, um die besondere Stimmung zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten einzufangen.
War Ury in Berlin, nahm er Porträtaufträge an, etwa von Otto Brahm, dem Leiter des Deutschen Theaters, dem Theatermann Paul Schlenther oder der heute in Vergessenheit geratenen Schriftstellerin Elsbeth Meyer-Förster. Neben Persönlichkeiten der Theater- und Literaturszene porträtierte er den Politiker Walther Rathenau, dessen Vater ein Ury-Bild gekauft hatte, und immer wieder auch sich selbst.
Gleichzeitig intensivierte Ury seine Arbeit an biblisch-philosophischen Themen, die ihn schon während seiner Zeit in Brüssel beschäftigt hatten. In dichter Folge vollendete er mehrere monumentale Gemälde, darunter »Jerusalem« von 1896, auf dem er die Vertreibung des jüdischen Volkes zu einer Darstellung trauernder, im Gegenlicht auf einer Bank sitzender Juden verdichtete. Auch das 1897 entstandene Gemälde »Jeremias«, das Triptychon »Der Mensch« (1898) oder »Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies« (1899) stehen mit ihrer Thematik, ihrem Großformat und der symbolisch aufgeladenen Bildsprache für einen bis heute weniger beachteten Aspekt in seinem Schaffen.
Bei Max Liebermann war Ury bald in Ungnade gefallen. Stein des Anstoßes war Liebermanns Gemälde »Flachsscheuer in Laren« (1887). Liebermann war zu Ohren gekommen, dass Ury Bekannten gegenüber behauptet hätte, er, Ury, habe die Lichteffekte auf dem Gemälde nachtäglich verbessert. Zwar soll Liebermann mit dem Ausspruch »[…] mir macht das nichts aus, wenn er das so sagt. Wenn er aber hingeht und sagt, ich hätte seine Bilder gemalt, dann gehe ich vor Gericht!« gekontert haben, aber das Verhältnis war zerrüttet. Das hatte Folgen – vor allem für Ury.
Fortan beschäftigte der Konflikt zwischen den beiden Künstlern auch die zeitgenössische Kunstkritik. Es gab öffentliche Auseinandersetzungen zwischen Liebermann-Anhängern und Ury-Befürwortern. Als Max Liebermann 1892 die moderne Künstlergruppe »Vereinigung der Elf« mitbegründete, ließ er Ury unberücksichtigt. Ebenso außen vor sah sich Ury, als sich 1898 die Berliner Secession gründete, die unter Liebermann als Präsident Position gegen den konservativen Verein Berliner Künstler bezog. Für Ury wandelte sich die Situation erst zum Besseren, als Lovis Corinth Max Liebermann als Präsident ablöste. Ab 1915 konnte er an Ausstellungen der Berliner Secession teilnehmen und wurde 1921 sogar zum Ehrenmitglied ernannt.
Neue Straßenszenen
Nach 1910 knüpfte Ury verstärkt an seine Straßen- und Kaffeehausbilder aus den 1880er Jahren an. Mit dem Boulevard Unter den Linden, dem Pariser Platz, der Leipziger Straße oder dem Café Bauer wählte er häufig Motive aus dem alten Stadtzentrum Berlins. Die oft nur anhand von Details zu lokalisierenden Straßenszenen gerannen zu Sinnbildern des modernen Großstadtlebens. Nun stieg die Nachfrage. Was dem Berliner Publikum Ende des 19. Jahrhunderts noch »verrückt« erschien, entwickelte sich in den 1920er Jah- ren zu gut verkäuflicher Kunst. Was offenbar weniger goutiert wurde, waren die hässlichen Seiten der Großstadt, die verwahrlosten Hinterhöfe und Brachen. Auch von Krieg, Revolution und Elend verrät Urys Bilderkosmos beinahe nichts.
Um die Nachfrage der Sammler zu decken, pflegte Ury eine ökonomische Arbeitsweise. Neben der Umsetzung neuer Bildideen wertete er seine Bilder aus den 1880er Jahren gründlich aus: Er wiederholte besonders beliebte Kompositionen und frischte sie auf, indem er Details, wie etwa die Rocklängen und Silhouetten seiner weiblichen Figuren, modisch anpasste.
Das Potential von bereits gefundenen Bildideen lotete er oft mit anderen Ausdrucksmitteln aus. Ab 1915 entstanden druckgrafische Blätter: Lithografien und vor allem Radierungen. Einzelblätter und die Grafikmappen »Biblische Gestalten«, »Berliner Impressionen« und »Holländische Motive« kamen der Nachfrage des Marktes entgegen und boten auch weniger begüterten Sammlern die Gelegenheit, Werke von Ury zu erwerben.
An die Technik der Druckgrafik hatte ihn sein Freund, der Grafiker Hermann Struck, herangeführt, der im Verlag Paul Cassirer ein Handbuch über die Kunst des Radierens publiziert hatte. Ury widmete Struck beinahe jeden seiner Probeabzüge, und dieser fertigte zwei Porträtgrafiken des Malers an. Das von Struck radierte und von beiden Künstlern signierte Profilbildnis war Ausdruck ihrer Freundschaft. Tatsächlich war dem oft in Farbe schwelgenden Ury das Arbeiten ohne Farbe – seine Druckgrafik ist durchweg schwarz-weiß – von früh auf geläufig. Auf einigen seiner Zeichnungen erweist sich Ury als äußerst originell im Umgang mit schwarzer Tusche. Außerdem haben sich monochrome Gouachen erhalten, die die Lichtverteilung auf geplanten Ölbildern erproben, in anderen Fällen aber auch eigenständige Kunstwerke darstellen.
Später benutzte Ury zum Zeichnen gerne Kohle. Der Kunsthistoriker und Regisseur Hans Cürlis, der Ury für seinen Film »Schaffende Hände« aus dem Jahr 1925 in seinem Atelier beim Zeichnen einer Straßenflucht filmte, erklärte: »Die kurze fleischige Hand zeichnet eigentlich nicht, sie malt mit Kohle die Stimmung der regenfeuchten Straße, auf der sich die schwarzen Wagen spiegeln. Das Ganze und jede Einzelheit ist farbig gedacht und nur in das leicht Fließende der Kohletechnik übersetzt […]« 4
In seinem späteren Schaffen erweiterte Lesser Ury seine Stadtimpressionen um Motive aus anderen Metropolen. Mit beinahe 65 Jahren setzte der Maler eine alte Idee in die Tat um und reiste nach London. Freunde, die ihn einst auf die Ähnlichkeit seiner Gemälde mit Werken des englischen Malers William Turner aufmerksam gemacht hatten, hatten in ihm den Wunsch ausgelöst, die englische Hauptstadt zu besuchen. Um die silbrige Atmosphäre des Londoner Nebels einzufangen, habe er, so seine Aussage, seine vierzig Jahre lang gepflegte Technik ändern müssen. Er malte unter anderem Charing Cross und wiederholt die Themse mit ihren Brücken. Die entstandenen Pastelle und
Lesser Ury, Pferdedroschke im Regenwetter, 1924 Radierung, 20,5 x 11,2 cm; auf 36 x 27 cm (Bütten)
Aus: Berliner Impressionen, Euphorion Verlag, Berlin, Privatsammlung
Zeichnungen konnte Ury zusammen mit einigen Berlin-Bildern pünktlich zu seinem 65. Geburtstag in der Galerie »Kunst-Kammer Martin Wasservogel« zeigen. Zwei Jahre später wiederholten Ury und Wasservogel das bewährte Verfahren: Ury reiste noch einmal nach Paris – die Stadt, die ihn als jungen Maler geprägt hatte – zu einem Arbeitsaufenthalt, bei dem er in zwei Wochen 38 Bilder schuf. Wohl die Erfahrung des schwierigen Transports seiner Werke von London nach Berlin im Kopf, malte er jetzt überwiegend kleinformatige Ölgemälde und Pastelle. Sie wurden 1928 in der Ausstellung »Neue Bilder aus zwei Weltstädten Paris und Berlin« in der Galerie Wasservogel präsentiert.
Letzte Jahre
Selbstzeugnisse und Berichte von Zeitgenossen lassen Lesser Ury als eine komplizierte, von Misstrauen geprägte und zu cholerischen Anfällen neigende Persönlichkeit erscheinen. Überliefert ist sein Zaudern und Hadern, wenn er sich von Werken trennen sollte. Potentielle Käufer mussten ihm gefallen. Mit zunehmendem Alter nahm sein Verhalten ganz offensichtlich pathologische Züge an. Er hatte Angst, Menschen kennenzulernen, und fühlte sich verfolgt. Fremden gegenüber soll er das Pseudonym »Lehmann« benutzt haben.
In seiner Atelierwohnung am Nollendorfplatz 1 in Berlin-Schöneberg fristete Ury über viele Jahre ein bescheidenes Dasein. Er lebte allein. Meta Streiter, mit der er bis zu seinem Tod eine Liebesbeziehung führte und mit der, so wird vermutet, er einen unehelichen Sohn hatte, besaß eine eigene Wohnung und verdiente sich ihren Unterhalt in einer Schneiderwerkstatt. Ury hatte die wesentlich jüngere Frau, die er Katinka nannte, 1903 über eine Zeitungsanzeige kennengelernt, in der er ein Modell suchte.
Ury galt als sparsam, wenn nicht geizig. Während der Inventarisierung seiner Werke nach seinem Tod kamen in Kartons, Armsesseln und Matratzen nicht geringe Mengen an Bargeld zutage. Auch Börsenpapiere, Juwelen, ein Sparbuch, edle Weine und Champagner wurden gefunden.
Eigentlich liefern Urys Charakter und seine Lebensumstände genau den Stoff, aus dem moderne Künstlermythen gestrickt sind. Trotzdem stellte sich sein künstlerischer Erfolg erst spät ein, sei es bedingt durch Max Liebermanns Ausgrenzung, sei es durch die Defizite des Malers im Umgang mit Menschen und sein Unvermögen zur Selbstvermarktung.
Gegen Ende seines Lebens war Ury durch gesundheitliche Probleme stark beeinträchtigt. Von einem Herzanfall, den er nach seiner Rückkehr aus Paris erlitten hatte, konnte er sich nicht mehr erholen. Doch die Idee einer Retrospektive seines Werks anlässlich seines 70. Geburtstags motivierte ihn. Gefasst hatte den Plan Ludwig Justi, Direktor der Nationalgalerie, der ihm 1923 durch den Ankauf von Gemälden seitens des Museums den Ritterschlag erteilt hatte. Die Eröffnung der Retrospektive sollte am 7. November 1931 stattfinden, Urys Geburtstag. Während der Künstler in diesem Jahr den Ausblick aus seinem Atelierfenster auf den Nollendorfplatz zu verschiedenen Tageszeiten, ein Selbstporträt und »Jude im Gebetsmantel« malte, quälte ihn sein schlechter Gesundheitszustand.
Am 18. Oktober 1931, kurz vor seinem 70. Geburtstag, starb Lesser Ury. Er erhielt ein großes Begräbnis auf dem Friedhof Weißensee, wo ihm die Jüdische Gemeinde Berlin ein Grab in der Ehrenreihe zubilligte. Unter den zahlreichen Trauernden, die dem Maler das letzte Geleit gaben, befanden sich der Direktor der Nationalgalerie Ludwig Justi, Vertreter der Jüdischen Gemeinde, Künstler und Schriftsteller. Am Grab sprachen Eugen Spiro als Vorstand der Berliner Secession und der Kunsthistoriker Arthur Galliner. Der mit Ury befreundete Rabbiner Dr. Joseph Lehmann hielt die eigentliche Trauerrede. Etliche geplante Ehrungen zum 70. Geburtstag wurden in Gedenkfeiern umgewidmet. Die geplante Ausstellung in der Nationalgalerie mit 158 Gemälden und Pastellen eröffnete verspätet.
Kurze Zeit nach Urys Tod erschien im Kulturmagazin Der Querschnitt ein Beitrag über den Künstler, in dem er selbst zu Wort kam. Er beteuerte gewohnt trotzig: »[…] Ich habe in den fünfundvierzig Jahren, die ich in Berlin bin, alle Verwandlungen und Richtungen mitangesehen. Ich habe mich darum nicht gekümmert, sondern ‚nur‘ das gemalt, was ich malen wollte, oder vielmehr mußte.« 5