Es ist einmal (Leseprobe)

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Sabine Michel

Dörte Grimm

ES IST EINMAL

Ostdeutsche Großeltern und ihre Enkel im Gespräch

Mit Fotografien von Ina Schoenenburg

BeBra Verlag

»Dies ist ein Buch, in dem jeder sich selbst hinzufügt. Beim Lesen schon beginnt die Selbstbefragung.«

Christa Wolf im Vorwort zu »Guten Morgen, du Schöne« von Maxie Wander

Inhalt

Vorwort 11 »Und eine innere Heimat?« Carla und Elisabeth 17 »Rudolf aussteigen!« Niklas, Ulla und Rudolf 37 »Das kann ich gar nicht erzählen« Hanka und Joachim 57 »Sand im Getriebe« Elena und Christiane 75 »Macht ihr mal, ich gehe eine rauchen« Sarah und Ulla 91 »Bis ins dritte, vierte Glied« Hanna und Christine 103
»Was macht dieses schwarze Kind bei euch?« Sebastian und Marlene 123 »Weihnachten kann mich mal« Greta und Anja 141 »Wie ein Rennen« Jona, Hilde und Ernst 161 »Nichts mehr wert sein« Lukas und Hermann 177 Zu den Fotografien von Ina Schoenenburg 191 Anmerkungen 193 Dank 196 Die Autorinnen 197

Unseren Kindern, die uns Fragen stellen.

Sabine Michel & Dörte Grimm

Vorwort

Über drei Jahre ist es nun her, dass wir unseren ersten Gesprächsband »Die anderen Leben. Generationengespräche Ost« über ostdeutsche Eltern und ihre erwachsenen Kinder veröffentlichten. In unseren Lesungen erzählten sich, angestoßen durch unsere Generationen-Dialoge, Menschen ihre Geschichte, hörten sich gegenseitig zu – und tauschten sich aus. Sie nahmen unser Buch mit nach Hause und begannen in ihren Familien zu sprechen. Seitdem hat Deutschland nicht nur eine Pandemie durchlebt, wir befinden uns inmitten einer globalen Klimakrise. Kriege sind in der Ukraine und im Nahen Osten ausgebrochen. Auch wenn die aktuellen Krisen nicht direkt mit den großen gesellschaftlichen Veränderungen des Systemwechsels Ende der Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre in Ostdeutschland verglichen werden können, sind Familien heute angesichts dieser Weltlage wieder mit sehr existentiellen Fragen konfrontiert. Im Kontext dessen ist eine neue Generation herangewachsen, die andere Werte vertritt und mit ihren eigenen Mitteln Mitsprache einfordert.

Wo steht in dieser Entwicklung die ostdeutsch geprägte Generation der Zukunft, die vierte Generation der Wende- bzw. Nachwendekinder? Sie haben oft unbewusst an der Seite ihrer Eltern und Großeltern die Zeit des Aufbruchs und der Neuorientierung, wirtschaftlicher Unsicherheit und deren Suche nach einem eige-

Vorwort 11

nen Platz im neuen Gesellschaftssystem erlebt. Gerade die Großeltern erfuhren oft Phasen langer Arbeitslosigkeit, Umschulungen und eine undifferenzierte Abwertung ihrer DDR-Biografien. Obwohl sich die wirtschaftliche Situation der meisten Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung mehr als verbesserte, verschlossen sie oft ihre Geschichte und schwiegen.

Für unseren zweiten Generationen-Gesprächsband sind wir 2021 und 2022 wieder durch das Land gereist, um basierend auf unseren beruflichen und privaten Erfahrungen des generationsübergreifenden Dialogs und in der Tradition der Oral History zehn intensive Begegnungen zwischen ostdeutschen Großeltern und ihren Enkeln zu begleiten und aufzuschreiben. Uns begleiteten Fragen wie: Sprechen Enkel und Großeltern wirklich unbefangener miteinander? Welchen Blick entwickeln Menschen auf die Welt, die mittlerweile drei verschiedene Gesellschaftssysteme erlebt haben? Und wie können sie sich in die Sicht ihrer Enkel hineinversetzen? Welche Gefühle und Sehnsüchte werden über die Generationen in den Familien weitergegeben, welches Wissen beruht auf eigenen Erfahrungen; was »war schon immer so« –und wie bewusst sind sich beide Generationen dessen? Wieviel »Osten« ist in den Nachwendekindern noch zu finden? Identifizieren sie sich noch mit diesem Herkunftsbegriff – und was genau bedeutet das für sie?

Die Wahrheit jeder Familie setzt sich aus der Summe ihrer einzelnen Geschichten zusammen. Um dieser Wahrheit so nah wie möglich zu kommen, haben wir uns wieder für die Anonymisierung entschieden, um offene Gespräche führen zu können. Auch über dreißig Jahre nach dem Mauerfall scheint das Sprechen noch immer nicht unbefangen möglich zu sein. Zudem hat die Pandemie mit ihren aufreibenden öffentlichen Diskursen neue Sprachbarrieren hervorgebracht. Wie im ersten Buch war

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unser Angebot, die Texte zu anonymisieren, der Türöffner für die meisten Gespräche. Wir haben junge Menschen getroffen, die die Urteile ihrer Eltern, aber auch die gesellschaftlichen Meinungen über Ost und West nicht unhinterfragt übernehmen, sondern ihren spezifisch eigenen Zugang finden wollen. Das Bild der DDR wird neu verhandelt. Oft trafen sie auf Großeltern, die gern Anekdoten erzählen, aber ihre authentischen Erlebnisse und die Beteiligung ihrer Familien im Nationalsozialismus und der DDR sowie ihre eigenen Gefühle bis heute kaum in Worte fassen können. Sie erinnerten sich nicht nur an ihr Leben in der DDR, sondern im Spiegel aktueller Kriegsberichterstattung auch eindringlich und berührend an ihre Kindheit im Krieg und an die Nachkriegszeit. Diese Gespräche können den Blick auf Geschichte weiten und die DDR als einen Bestandteil davon begreifen. Sie zeigen explizit, wie Kriegserfahrungen über Generationen anhaltend und zerstörerisch bis heute in den Familien nachwirken.

Identitäten sind keine geschlossenen Systeme, sondern, wenn man sie so begreift, fluide bewegliche Konzepte. Das individuelle Selbst-Begreifen der Familien ist ein Spiegel für private wie gesellschaftliche Beziehungsmuster und -brüche, die exemplarisch für die Suche nach einem gesamtdeutschen kollektiven Selbstverständnis stehen. Die Gespräche geben seltene Einblicke in die ostdeutsche Gesellschaft und können helfen, politischen Entwicklungen zu begegnen. Wir wünschen sie uns als Ermutigung, mehr miteinander ins Gespräch zu kommen.

Es ist einmal …

Sabine Michel & Dörte Grimm

Januar 2024

Vorwort 13

»Und eine innere Heimat?«

Carla (*2002) und

Es ist ein heller Tag im Frühsommer. Ich steige aus der Berliner S-Bahn aus. Wie befreit liegt die Stadt nach dem zweiten Winter mit Corona. Ich laufe zu drei neuen Gebäuden einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft hinüber. Die alten großen Bäume stehen noch, alles sieht freundlich und gepflegt aus. Die achtundsiebzigjährige Elisabeth ist vor kurzem aus Bautzen hierhergezogen. Nachdem sie seit Ende der 1960er Jahre dort in immer wechselnden DDR-Neubauwohnungen gelebt hatte, zog sie in die kleine, schöne Wohnung mitten im östlichen Berliner Stadtzentrum, nahe der Familie ihrer Tochter Maxie und ihrer Enkelin Carla. Die rüstige, alleinstehende Rentnerin mit den schulterlangen weißen Haaren trägt ein weites, langes Kleid und zwei Armbänder. So wie es in dem Sommer auch die jungen Frauen tragen. Ihre Füße sind nackt, die Fußnägel lackiert. Das Wohnzimmer hat ein großes Fenster zum Balkon, davor ein kleiner Spielplatz mit Holzgerüsten für Kinder. Sie schenkt Tee in Keramikschalen ein, die Tulpen auf dem Tisch stehen in üppiger Pracht.

Carla kommt mit einem Rollkoffer und einem Rucksack direkt vom Flughafen. Sie stöhnt laut auf und wirft alles von sich. Sie umarmt ihre Oma. Schnell noch ein Blick aufs Handy, dann begutachtet Carla die Veränderungen in Omas neuer Wohnung. Die Neunzehnjährige hat letztes Jahr einen der besten Abiturab-

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schlüsse ihres Jahrgangs gemacht und war Schulsprecherin. Gerade absolviert Carla ein Praktikum an einer Deutschen Schule in Spanien. Die junge Frau hat lockige Haare und ein ansteckendes Lachen.

Schließlich sitzen sie sich am Esstisch gegenüber. Carla stellt ihr Handy leise, jetzt hat auch Elisabeth ihr Handy in der Hand. Sie deutet auf die Corona-Warn App.

»Ich bin wieder rot.«

»Ist gar nicht wichtig, Oma. Du bist doch jetzt geimpft«.

»Ja, ich hatte viel Glück, auch weil ich, bevor der erste Lockdown losging, von deiner Mama das Angebot bekam, zu euch nach Berlin zu kommen. Ich hatte zwei Stunden Zeit zu überlegen, was ich mitnehme. Ich wusste nicht, ob es vier Wochen werden oder sechs.«

»Wie lange warst du insgesamt bei uns in Corona-Zeiten?«

Elisabeth überlegt: »Fünfzehn Wochen? Ja, das war schon eine lange Zeit. Es war nicht immer leicht, weil viele Personen so unterschiedlichen Alters in einer Wohnung waren. Aber wäre ich zu Hause geblieben, wäre ich einkaufen gegangen und sonst wäre ich allein geblieben, sehr lange.«

»Für mich war es gemischt. Ich bin weniger in die Schule gegangen, das war anstrengend, aber ich habe bessere Leistungen erzielt. Eigentlich war es für Corona ganz in Ordnung. Jedoch im Nachhinein, diese ganze Vorsicht. In Spanien habe ich allein viel mehr Freiheit. Ich mache alles, wie ich will. Ich gehe mich ab und zu testen, aber wenn ich feiern gehen will, dann gehe ich feiern.«

Mit einem Blick auf Elisabeth fährt Carla fort:

»Aber keine Sorge, Oma, ich habe mich getestet.«

Man sieht Elisabeth die Erleichterung an, obwohl sie versucht, es sich nicht anmerken zu lassen. Schnell redet sie weiter.

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»Und eine innere Heimat?«

»Ja, bei dir kann man schon sagen, dass du dein Jugendleben in den zwei Jahren hinter das Interesse deiner Oma und deiner Mama, wir sind beide Risikogruppe, gestellt hast. Das war toll.«

Elisabeths Tochter Maxie, Carlas Mutter, ist Journalistin und lebt mit ihrem Mann, einem Buchautor, nicht weit von Elisabeth in Berlin-Mitte. Sie haben vor fünfzehn Jahren geheiratet und eine gemeinsame Tochter, Ella. Carla ist Maxies Tochter aus einer langjährigen Beziehung mit einem spanischen Kameramann. Die beiden trennten sich fünf Jahre nach Carlas Geburt. Elisabeth hörte damals früher auf zu arbeiten und unterstützt seitdem ihre Tochter sehr, ihren Beruf und die Kinder gut zu vereinbaren. Auch Maxies Mann hat noch zwei Kinder aus einer anderen Beziehung. Beide studieren in anderen Städten. Über die Jahre ist die Patchwork-Familie eng zusammengewachsen. Carla und ihre beiden großen Halbgeschwister haben längst mehr Geheimnisse miteinander als mit ihren Eltern; Ella, die Jüngste liebt ihre drei Geschwister. Während des ersten Lockdowns hatte Maxie ihre Mutter aus Bautzen zu sich nach Berlin geholt. Sie haben zu fünft, gemeinsam mit Elisabeth, fast vier Monate in ihrer großen Dreiraumwohnung gelebt.

Carla nickt. »Das mit unserer Familie war schon auch cool. Wir haben viel gekocht und gebastelt. Ich kriege manchmal so Rückblicke mit Bildern auf meinem Handy, die ich vor zwei Jahren gemacht habe – und da ist es immer sonnig. Es war trotzdem eng zu Hause.«

An Elisabeths Wänden hängen viele Fotos und Zeichnungen der Enkelinnen, Postkarten aus Urlauben und kleine Zettel mit Nachrichten. Man merkt, wie wichtig ihr Familie ist. Sie kommt ins Schwärmen.

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»Wir hatten so viel Zeit miteinander: wie ich mit Ella draußen sitze oder wie Geburtstag gefeiert wird. Wie du da die Kinder bespielt hast und was alles gekocht und gebacken wurde …«

Carlas Erinnerungen an den ersten Lockdown sind viel ambivalenter. Sie unterbricht ihre Oma.

»Aber man wusste überhaupt nicht, worauf es hinausläuft, das war schrecklich. Hat dich das nicht manchmal auch an die Zeit des Mauerfalls erinnert, da wusste man doch auch nicht, worauf es hinausläuft?«

Elisabeth ist überrascht von Carlas Frage, vielleicht meint sie den Einfluss ihrer Tochter hinter der Frage zu hören. Carlas Mutter setzt sich in vielen journalistischen Texten mit der Zeit des Mauerfalls und der Wiedervereinigung auseinander. Elisabeth hätte lieber noch weiter über ihre schönen Erinnerungen an den ersten Lockdown gesprochen. Ihr bisher offener Blick geht nach innen; es wirkt, als ob sie sich nicht einfach erinnert, sondern die Zeit wie Schichten wegschaufeln müsste.

»Die Umwälzungen damals liefen bei mir parallel zu meinem Ehe-Crash.«

Carla versteht das Wort »Crash« in dem Zusammenhang nicht. Sie schaut ihre Oma fragend an.

Die fährt fort: »Meine Scheidung! Da habe ich mich mit persönlichen Problemen beschäftigt und die gesellschaftlichen Ereignisse liefen parallel. Vielleicht denke ich deshalb nicht so oft zurück, weil das eine Zeit war, wo ich nicht wusste, wie ich das privat alles bewältige und in die Reihe kriege.«

Laut Statistik wurden Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre viele Ehen im Osten des Landes, parallel zu den großen gesellschaftlichen Veränderungen, getrennt. Elisabeth und ihr Mann sind nach sechsundzwanzig Jahren eine davon. Carla weiß wenig

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von dieser Geschichte. Seit sie Oma und Opa kennt, leben die getrennt. Anfänglich nimmt sie das als normal hin, zumal auch ihre Eltern getrennt leben. Später begreift sie, dass das nicht in allen Familien so ist. Zunehmend fragt sie sich auch nach dem Einfluss des Politischen auf das Private.

»Ich weiß immer noch wenig von all dem. Die politischen Fragen haben für mich in Sozialkunde angefangen: ›Wieso ist Demokratie so schwierig?‹ Damals gewann die AfD großen Zuspruch und da hat sich gezeigt, dass Teile des Ostens anscheinend einen Mangel verspüren – und das hat mich interessiert. Dass es einen Unterschied macht, ob ein Samen gepflanzt wird und die Erde guten Humus, Regen und Sonne hat, oder ob der Samen in eher trockene Erde gepackt wird.«

Elisabeth schenkt Carla Tee nach, bläst die Kerze im Stövchen aus. Gerade hat man noch die Geräusche vom nahen Spielplatz durch die offene Balkontür gehört, jetzt ist es still. Elisabeth streicht über den Tisch. Als Carla sie erwartungsvoll anschaut, antwortet sie leise seufzend.

»In meiner Familie gab es immer eher trockene Erde, um in deinem Bild zu bleiben. Meine Mutter, Gertrud, ist mit ihren Eltern aus Hessen nach Thüringen gekommen. Gertrud war die Älteste mit zwei Brüdern. Der Vater meiner Mutter ist später im Ersten Weltkrieg gefallen und meine Großmutter hat nochmal geheiratet und einen dritten Sohn bekommen.«

Gertrud konnte als junge Frau keinen Beruf lernen, sie musste ihre kränkliche Mutter im Haushalt und mit den drei kleinen Brüdern unterstützen. Später arbeitet sie ungelernt in einer Lebkuchenfabrik. Abends riecht sie süß nach Gewürzen. Mit ihren selbstgenähten Kleidern sieht sie schick aus. Als sie ihren späteren Mann Ernst, Elisabeths Vater, kennenlernt, ist sie seinen

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»Und eine innere Heimat?«

Eltern als Zugereiste nicht gut genug. Doch Gertrud und Ernst heiraten noch vor Kriegsanfang. 1939 ging der Zweite Weltkrieg los.

Carla hört Elisabeth zu, ihren Kopf auf die Hand gestützt. Ihr Blick geht ins Unkonkrete. Sie war am Morgen in Spanien losgeflogen und ist nun im Gespräch mit ihrer Oma im Zweiten Weltkrieg angekommen.

»Mein Vater«, sagt Elisabeth, »musste nicht in den Krieg, weil seine Arbeit kriegswichtig war, das war sicher schön für meine Mutter. Als er jedoch Mitglied der NSDAP wurde, gab es Streit zwischen meinen Eltern, meine Mutter war strikt dagegen. Doch sein Schwager war auch in der Partei. Die haben gedacht, dass es jetzt mit Deutschland vorangeht. Auch die Brüder meiner Mutter waren nach ihrer Lehre sofort arbeitslos und sind zur Armee gegangen. Da hatten sie ein Auskommen.«

Kennt Carla die eingerahmten Fotos der beiden Brüder ihrer Uroma Gertrud? Elisabeth hatte sie mir beim Vorgespräch gezeigt. Zwei blutjunge Männer in Uniform. 1943 sind sie beide vor Stalingrad gefallen. Die Bilder sind in den Kleiderschränken der Frauen-Generationen weiter gewandert. Ganz hinten, verdeckt von Kleidung stehen sie seit achtzig Jahren, nicht sichtbar, aber wirkmächtig. Gertrud und ihr Mann Ernst warteten lange mit einem Kind. Es sollte im Frieden geboren werden, aber der Krieg hörte nicht auf. So kommt Elisabeth 1944 zur Welt.

»1945 war endlich der Krieg vorbei. Die Stadt war russisch besetzt. Da wurde ständig Streife gelaufen und jeder musste einen Ausweis haben.«

Elisabeth verstummt kurz, sie schließt die Balkontür. Carla schaut nicht mehr auf ihr Handy. Dann setzt Elisabeth ihre Schilderung fort.

»Meine Mutter erzählte mir erst viel später, wie mein Vater

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»Und eine innere Heimat?«

im Frühjahr 1946 eines Tages nicht nach Hause gekommen ist. Eine sowjetische Streife hatte ihn kontrolliert und es fehlte ein Stempel. Da haben sie ihn mitgenommen zur Kommandantur. Nach dem Krieg wurden viele, die Posten in der NSDAP hatten, gezielt abgeholt. Mein Vater kam ohne Gerichtsurteil ins KZ Buchenwald.«

Ich stand selbst Mitte der 1980er Jahre als Jugendliche im Rahmen der Jugendweihe-Veranstaltungen im KZ Buchenwald. Die Bilder der systematischen Vernichtung haben sich mir damals eingebrannt. Erst nach dem Mauerfall las ich, dass die sowjetische Besatzungsmacht im August 1945 im gerade erst befreiten Konzentrationslager das Speziallager Nr. 2 einrichtete. Unter den Gefangenen waren vor allem kleinere und mittlere Funktionäre der NSDAP, Angehörige der Polizei, Mitglieder der Hitlerjugend und Angehörige der Waffen-SS. Es gab aber auch eine Vielzahl von Personen, die wegen Denunziationen, Verwechslungen oder willkürlicher Festnahmen ins Lager kamen. Was traf wohl auf Elisabeths Vater zu? Nach offiziellen sowjetischen Angaben waren hier zwischen 1945 und 1950 über achtundzwanzigtausend Menschen gefangen. Das Speziallager Nr. 2 galt als sogenanntes Schweigelager, es war von der Außenwelt völlig isoliert.

Carla schaut ihre Oma aufmerksam an. Es scheint, als ob Elisabeth nur deshalb weiterredet.

»Meine Mutter hatte die Möglichkeit ihm einen Koffer zu bringen, mit etwas Kleidung und etwas zu essen. Gesehen hat sie Ernst nicht mehr. Sie hat dann erfahren, dass er nach Buchenwald gekommen ist. Man wusste nichts darüber.«

Gertrud zieht damals mit der zweijährigen Elisabeth zu der Familie ihres Mannes. Die ungewollte Schwiegertochter und das Kind erhalten ein Zimmer, aber sie fühlen sich nicht zu Hause.

»Und eine innere Heimat?« 23

Auch Ernsts Eltern stehen unter Schock. Sein Vater ertränkte sich kurze Zeit später im nahegelegenen Weiher, seine Mutter erkrankte schwer.

Elisabeth klingt jetzt wie ein junges, verunsichertes Mädchen, wenn sie erzählt. Manchmal beendet sie die Sätze nicht, wischt das Ende mit ihrer Hand weg.

Carla fragt nach: »Hatte er denn etwas getan während des Krieges?«

»Ich weiß es nicht. Mein Vater hat gearbeitet, und er ist auch Blockwart gewesen.«

Elisabeth verstummt wieder. Beide lauschen diesem Wort nach.

»Was ist das?«

»Blockwart habe ich immer verglichen mit denen, die früher in der DDR ein Hausbuch geführt haben, da standen alle Familien drin. Manche haben dann auch Juden im Haus verraten. Ob mein Vater so etwas gemacht hat, weiß ich nicht. Meine Mutter hat mir darüber nie etwas erzählt.«

»Aber hast du sie das nicht gefragt?«

Elisabeth schüttelt langsam den Kopf.

»Sie wurde immer so traurig, wenn ich nach meinem Vater fragte.«

»Und später, als du groß warst?«

»Wollte ich da auch nicht mehr dran rühren.«

Die ersten Gefangenen kehren 1947 zurück. Doch die Entlassenen dürfen nichts erzählen. Gertrud geht immer wieder vergeblich zum Bahnhof, bis sie hinter vorgehaltener Hand erfährt, dass ihr Mann im Lager mehrere Blutstürze hatte und es ihm schlecht ging. Irgendwann waren alle wieder da, nur Ernst nicht.

1949 zog Gertrud mit der damals fünfjährigen Elisabeth weg

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aus dem Haus ihrer Schwiegereltern. Elisabeth erzählt das ohne Tränen. Sachlich fast, und ohne Carla direkt anzuschauen. Carla dagegen ist sichtbar berührt. Sie ergreift die Hand ihrer Oma. Fast überrascht schaut die sie an.

»Meine Mutter war, wenn ich das so im Rückblick betrachte, wahrscheinlich kolossal traumatisiert durch dieses Ereignis. Aber sie hat nicht darüber gesprochen. Und wenn ich mir meine Ängstlichkeit anschaue …«

Elisabeth wächst in der Aufbauzeit als Kind mit einem Vater, der als Nazi inhaftiert wurde, auf. Ihre Mutter Gertrud spricht nicht darüber, und auch Elisabeth lernt früh, dass es besser ist, nichts zu fragen und zu schweigen.

»Und wie ging es dir damals damit?«, fragt Carla.

»Wenn ich anfänglich gefragt wurde, dann sagte meine Mutter: ›Du sagst einfach, der ist im Krieg umgekommen.‹ Da habe ich geantwortet: ›Na, dann schwindele ich doch.‹ – ›Nein‹, sagte sie. ›Du hast ja nicht gesagt, er ist im Krieg gefallen, sondern der ist im Krieg umgekommen. Du musst nicht sagen, dass er in Buchenwald umgekommen ist.‹«

Gertrud ließ Ernst lange nicht für tot erklären, verzichtete viele Jahre auf die Halbwaisenrente für Elisabeth. Ein letzter vergeblicher Funke Hoffnung, dass er vielleicht doch irgendwann vor der Tür steht. Sie vermisst Ernst ein Leben lang. Wirklich geforscht nach den Gründen seiner Verhaftung haben weder Gertrud noch Elisabeth. Das Schweigen über ihn war so groß, dass auch Elisabeths Tochter Maxie erst vor zehn Jahren davon erfuhr. Die hatte mir vorher erzählt, dass Gespräche mit ihrer Mutter über ihr jahrzehntelanges Schweigen oft im Streit endeten. Nicht zuletzt auch deshalb hatte Elisabeth mit der Zusage zu diesem Gespräch lange gezögert.

»Und eine innere Heimat?« 25

Elisabeth sitzt gedankenversunken da. Ihre Hände ruhen still. Carla schaut sie an, zögert, sie anzusprechen. Nach einer Weile fragt sie: »Bist du damals mit zum Bahnhof gegangen?«

Elisabeth scheint aufzuwachen. Sie versteht nicht.

»Wie, zum Bahnhof?«

»Als die Männer ankamen.«

»Da war ich drei Jahre alt.«

»Aber hat sie dich mitgenommen?«

»Sie hat mich sicher bei den Tanten gelassen. Die hatten mir eine Puppe gemacht, aus Stoff und Nähgarn. Die ist mir mehrfach in einen Wassereimer gefallen. Da hat meine Mutter die Ofentür aufgemacht und hat die Puppe einfach reingeschmissen.«

Elisabeth lacht, als ob sie eine lustige Geschichte erzählt hätte. Sie versucht die Traurigkeit, die in ihr aufsteigt, schnell abzustreifen.

»Meine Mutter hat immer nach vorne geblickt. Ich habe sie nicht traurig in Erinnerung. Sie war einfach eine Macherin. Mit dem Nähen hatte sie Erfolge, die Leute haben ihr die Bude eingerannt Sie hat die ganze Familie eingekleidet. Bei meiner Schuleinführung hatte ich so ein schönes Kleid an, so schöne Stiefel.«

Elisabeth fällt jetzt in den fröhlichen Plauderton wie am Anfang, als es um den gemeinsamen Lockdown ging.

»Ich habe meine Kindheit als glückliche Zeit in Erinnerung. Leider durfte ich nie in die Schulspeisung gehen. Ich hätte gerne auch mal mit den anderen einen kleinen Abstecher gemacht. Doch da kannte meine Großmutter echt keinen Spaß. Bummeln und das Essen wird kalt, nee.«

Carla hebt die Augenbrauen.

»Das kennen wir ja!«

Elisabeth lacht. Obwohl sie als Kind gern gebummelt hätte, besteht auch sie heute auf heißem Essen. Das hat während der

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»Und eine innere Heimat?«

Wochen ihres engen Zusammenlebens zu einigen Diskussionen zwischen den Generationen geführt.

Carla: »Trotzdem gab es ja eigentlich so was wie ein Trauma.«

Elisabeth antwortet überraschend lauter als zuvor.

»Richtig, das war aber in ihr verschlossen. Als ich nach ihrem Tod ihren Schreibtisch aufgeräumt habe, da fand ich einen Zettel in einem Holzkästchen, auf den sie geschrieben hatte: ›Die Russen haben deinen Vater umgebracht. Möge Gott sie bestrafen.‹ Und sie war bestimmt keine aktive Christin. Ich wäre gerne so wie die anderen gewesen, die einen Vater hatten, der wichtig war. Ich war kein Pionier1. Über den Tod meines Vaters konnte ich mit niemandem sprechen.«

Carla unterbricht sie, sie will das Kind von damals unterstützen.

»Wenn man sich die Zahlen anguckt, dann muss es ja eigentlich in jeder Familie Nazis gegeben haben. Rein statistisch.«

»Viele wollten den Krieg vergessen und die Zeiten vergessen.«

Wieder ist es still im Raum. Carla atmet tief aus.

»Warst du denn später mal im KZ Buchenwald?«

»Ja, bei einer Jugendweiheveranstaltung: ›Weimar und das KZ Buchenwald‹. Da hatte ich erst überlegt, ob ich vielleicht nicht mitgehe. Aber wie hätte ich das begründen sollen.«

Elisabeth lächelt Carla an. Die zieht ihren weißen Pullover aus. Steht auf, holt sich Wasser. Sie ist erregt, berührt.

»Aber Omi, wie hast du das überstanden? Also, dann standest du dort und du wusstest, dass das das KZ war, wo dein Vater gestorben ist – und du konntest mit niemandem darüber sprechen!«

Elisabeth nickt. Sie zuckt mit den Schultern.

»Habe ich in mir vergraben.«

Carla schüttelt den Kopf und verstummt wieder. Elisabeths

»Und
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eine innere Heimat?«

Wohnung ist hell, es gibt sehr viele grüne Pflanzen; auch die Möbel sind hell. Elisabeth ist ein fröhlicher Mensch. Ich überlege, wieviel Selbstdisziplin und auch Härte dazugehören.

Im Speziallager Nr. 2 des KZ Buchenwald sterben damals über siebentausend Menschen. Elisabeths Vater ist einer von ihnen. Sie hat keine eigenen Erinnerungen an ihn.

Carla schüttelt erneut den Kopf. Vorsichtig fragt sie:

»Ging es in der DDR nicht ganz viel um Freundschaft zur Sowjetunion und zur sowjetischen Armee? Ist das nicht ein krasser Widerspruch gewesen?«

»Ja, das waren unsere Befreier, unsere Freunde. Am 1. März, zum Tag der Volksarmee, sind wir in die nahegelegenen Kasernen gegangen. Wir haben den Krieg angefangen und dort Verwüstung und Millionen von Toten verursacht.«

Carla hält Elisabeths Erklärungen nicht mehr aus und unterbricht sie.

»Aber hat dich diese Willkür nicht auch sauer gemacht?«

Elisabeth wirkt überrascht von dieser Frage. Ist ihr das nie in den Sinn gekommen?

»In solchen Zeiten fragt man nicht nach. Wir Deutschen waren im Unrecht.«

Carla schüttelt langsam den Kopf.

»Das ist aber sehr, sehr rational, Oma.«

In den 1950er Jahren will die Familie in die Bundesrepublik übersiedeln, aber Elisabeth erhält keine Ausreisegenehmigung. So bleiben sie. Gertrud steht der DDR sehr kritisch gegenüber. Elisabeth will am liebsten Teil des Neuen sein, sie ertrotzt sich den Eintritt in die FDJ2 und studiert nach dem Abitur Pädagogik. Dabei lernt sie ihren späteren Mann, Werner, kennen. Er sieht gut aus und weiß genau, was er will. Das reicht für zwei. Werner

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»Und eine innere Heimat?«

glaubt an den Sozialismus und wird später Mitglied der SED3. Elisabeth macht mit, steht jedoch oft zwischen den politischen Ansichten ihrer Mutter und denen ihres Mannes. Sie tritt nie in die SED ein.

»Wenn wir mit unseren Klassen am 1. Mai an den Tribünen mit den Oberen vorbeimussten, habe ich dort nie gewunken. Ich hatte keine Auszeichnungen, die meine gesellschaftliche Arbeit lobten.«

Carla stützt den Kopf wieder auf. Sie denkt offenbar seit einiger Zeit darüber nach, ob sie in eine Partei eintreten soll, um mitzugestalten, und findet sich mutig dabei. Jetzt überlegt sie, dass es auch mutig sein könnte, nicht in eine Partei einzutreten.

»Die DDR ist so wenig Thema unter meinen Freundinnen, auch in der Schule wird kaum darüber gesprochen. Es gab diese Ideologie, dass alles nach außen so gleich sein sollte, aber es war doch nicht gleich.«

Elisabeth nickt. »Entweder du nimmst es an, oder du gehst. Das waren die Alternativen.«

Carla: »Du hast dich angepasst.«

Elisabeth nickt heftig. Sie klingt jetzt fast trotzig.

»Ich habe mich angepasst. Wenn man das nicht konnte, dann war es besser, man ist gegangen.«

»Bist du auch wegen deiner Mama geblieben?«

»Unsere Verwandten im Westen waren reich, mit Haus, Grundstück und kleinem Esel im Vorgarten und einem riesengroßen Auto. Aber dann haben sie alles verloren: sie mussten Insolvenz beantragen und einen Offenbarungseid leisten, so dass sie beide nicht mal mehr krankenversichert waren. Als Rentnerin kam meine Mutter von ihren Westreisen oft ohne Brille wieder, weil die Schwägerin sich im Westen keine neue Brille leisten konnte.«

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»Also war die DDR auch gut?«

»Ich wusste, dass nicht alles super ist im Westen. Ich habe auch nicht zu denen gehört, die 1989 geschrien haben, dass unbedingt sofort die Westmark kommen soll. Deine Mutter war damals bei den Demonstrationen, ich nicht.«

Carlas Mutter absolvierte 1990 ihr Abitur, sie studierte Journalistik und verliebte sich in einen spanischen Kollegen. Spanien war wie ein zweiter Aufbruch für sie, weg aus dem wiedervereinigten Deutschland, das ihr in den 1990er Jahren zunehmend fremd wird. Vier Jahre später wird Carla geboren. Maxie zieht mit Carla nach Spanien. Doch mit ihren ostdeutschen Vorstellungen von der geteilten Sorge für ein gemeinsames Kind und der Vereinbarkeit mit einem Beruf eckt sie in der spanischen Kultur, aber auch bei Carlas Vater zunehmend an. Sie kehrt mit Carla allein zurück nach Berlin.

Carla wächst zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Kulturen ihrer Eltern auf, was sie früh selbstständig, aber auch zerrissen macht. Sie versucht, in beiden dazuzugehören, merkt aber, dass es schwer ist, so eine eigene Haltung zu entwickeln.

»Bei mir spielt Anpassung, glaube ich, auch eine Rolle. Ich bin viel hin- und hergereist. Mein Vater hat das letztens aufgezählt. Es klang ganz schön wild. Meine spanische Oma ist eine dominante Person. Ich glaube schon, dass ich mich so angepasst habe, dass sie mich annimmt.«

Jetzt ist es Carla, die nach den richtigen Worten sucht. Sie bekommt rote Wangen, gestikuliert viel. Elisabeth wirkt wie erleichtert, dass ihre Geschichte gerade nicht im Mittelpunkt steht.

»Mein Papa war ja damals sehr jung, heute ist er immer noch so zerstreut. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie das damals war. Er hat gemacht, was er konnte. Aber es war nicht genug für

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»Und eine innere Heimat?«

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