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Mark Pockrandt
Die Dorfkirche
Schรถneberg Kirchliches Leben seit 1764
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Für Jan Lukas
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © be.bra wissenschaft verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2014 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Lektorat: Marijke Topp, Berlin Gesamtgestaltung: typegerecht, Berlin Schrift: DTL Documenta 9,5/13 pt ˇ Druck und Bindung: Finidr, Cesk´ y Tˇ ešín ISBN 978-3-95410-024-8 www.bebra-wissenschaft.de
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Inhalt
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Einleitung Krieg – Aufbau
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Friedrich der Große Abrisspläne Im Schatten Zusammenbruch Wiederaufbau Aufbruch in die Moderne
Wort – Ton 82 93 100
Orgelschicksale Kirchenmusik kontrovers Das gläserne Meer
Frieden – Ökumene 106 114 125
Toleranz Ökumene George Bell
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Ausblick Anhang
139 147 152 154 158 159 160
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Anmerkungen Kantoren, Pfarrer, Orgeln Zeittafel Quellen Abbildungsnachweis Dank Über den Autor
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Grußwort von Angelika Schöttler Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg Sehr geehrte Gemeindemitglieder, liebe Gäste, herzlichen Glückwunsch zum 250. Jubiläum der alten Dorfkirche Schöneberg. Die alte Dorfkirche in der Hauptstraße ist die älteste Kirche in Schöneberg und wurde einst für das 200-Seelen-Dorf Schöneberg gegründet. Sie hat in den Jahrhunderten viel erlebt und ist oft zerstört worden, so auch im Siebenjährigen Krieg und zuletzt im Zweiten Weltkrieg. Die Kirche wurde aber immer wieder aufgebaut und war in den Jahrhunderten ein Ort der Sammlung und des Glaubens für die Menschen. Die diesjährige 250-Jahr-Feier erinnert an den Wiederaufbau in den Jahren 1764–1766 nach dem Siebenjährigen Krieg unter Friedrich dem Großen. Wir feiern 2014 noch zwei weitere große Jubiläen im Bezirk – nämlich 750 Jahre Schöneberg und 100 Jahre Rathaus Schöneberg. Alles stolze Zahlen, die an die gemeinsame Geschichte erinnern. Die alte Dorfkirche Schöneberg zeugt vom großen Willen der Menschen, sich hier anzusiedeln und eine Gemeinschaft zu bilden. Die Festschrift wird hierüber berichten und es gibt für uns alle Interessantes zu erfahren. Viele von Ihnen werden Ihre eigenen Erinnerungen und Erfahrungen mit der alten Dorfkirche haben. Hier wurden Generationen von Schönebergerinnen und Schönebergern im Kreise ihrer Familie getauft, konfirmiert, verheiratet, aber auch zu Grabe getragen. Kirchen sind Orte der Zuversicht, aber auch der Trauer – sie begleiten uns ein Leben lang. In den Jahrhunderten ist aus dem 200-Einwohner-Dorf Schöneberg ein moderner Großstadtbezirk geworden und die Internationalität des heutigen Bezirks Tempelhof-Schöneberg mit seinen über 330.000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist wegweisend.
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Kirche öffnet sich heute in viele Richtungen, in kirchliche Kitas können natürlich auch Kinder anderen Glaubens gehen und gelebte Ökumene bereichert das Gemeindeleben. Der feierliche Ökumenische Gottesdienst zu Pfingsten, aber auch das erste Bezirkskirchenfest vor dem Rathaus Schöneberg präsentieren diese Verbundenheit und sind deutliche Zeichen von Anerkennung und Toleranz des anderen. Die alte Dorfkirche Schöneberg war und ist stets ein Ort der Inspiration gewesen und hat Ideen für die Zukunft entwickelt. Ich freue mich sehr, dass dieses wunderschöne Kleinod zu erhalten und zu pflegen für Sie eine Selbstverständlichkeit ist und hoffe, dass viele Spenden für die Sanierungsmaßnahmen der Kirche gesammelt werden konnten und noch gesammelt werden. Kirche zu gestalten und mit Leben zu erfüllen ist eine wichtige Aufgabe und Herausforderung für die Zukunft. Die vielen Ehrenamtlichen sind hier mit ihrem persönlichen Engagement neben den Hauptamtlichen die tragenden Akteure. Ihnen allen wünsche ich viel Kraft für die Zukunft und ein wunderschönes Jubiläumsjahr mit vielen Eindrücken und Begegnungen. In diesem Sinne alles Gute Ihre
Angelika Schöttler Berlin, den 12. September 2013
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Grußwort von Dr. Dr. h. c. Markus Dröge Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz
»Gott nahe zu sein ist mein Glück« (Psalm 73,28). Die Jahreslosung für das Jahr 2014 verbindet sich auf schöne Weise mit dem Jubiläum der Dorfkirche Schöneberg, die in eben diesem Jahr ihren 250. Geburtstag feiert. Der Neubau der ältesten Kirche Schönebergs erfolgte von 1764 bis 1766, nachdem sie im Siebenjährigen Krieg zerstört worden war. Als Kirchplatz diente der Ort aber schon vorher. Erwähnungen reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück. Kirchen stehen im Stadtbild für die Nähe Gottes mitten in der Welt. Ihre Türme sind heute weniger Ausdruck von Herrschaft und Macht, als vielmehr sichtbare Zeichen für die Verbindung von Himmel und Erde. So auch bei der Dorfkirche Schöneberg. Inmitten des Großstadtlärms ist die alte Dorfkirche wie eine Oase für die Seele. Menschen suchen hier die Nähe Gottes. Im Gebet, im Hören auf Gottes Wort, im Gottesdienst, in der Feier des Abendmahls, beim Singen und im Schweigen können Menschen in dieser Kirche dem Gott begegnen, der sie im Herzen und in der Seele anspricht. Vor 250 Jahren war das Einzugsgebiet der Kirche noch ein kleines 200-Einwohner-Dorf. Heute ist Schöneberg längst Teil der Großstadt Berlins geworden. Das Wort des Evangeliums mag durch die Jahrhunderte und die verschiedenen Verhältnisse hindurch einen unterschiedlichen Klang gehabt haben, aber immer haben Menschen in ihrer Dorfkirche Hoffnung gesucht. Paare haben sich das Ja-Wort gegeben und einander Liebe und Treue versprochen. Trauernde haben miteinander geweint und sich gestützt. Menschen wurden getauft und damit Teil der Gemeinde Gottes. Viele Menschen haben eine persönliche Bindung zur Schöneberger Dorfkirche, die über Jahre und Generationen gewachsen ist. Die Kirche ist bis heute ein lebendiger Ort des Glaubens. Sei es durch die Kirchenmusik oder die vielfältigen Angebote für Kinder und Familien.
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Sehr herzlich gratuliere ich der evangelischen Kirchengemeinde AltSchöneberg zum 250-jährigen Jubiläum ihrer Dorfkirche. Ich danke allen, die sich in dieser Gemeinde für die Kirche engagieren. Und ich wünsche Ihnen, dass in dieser Kirche auch in Zukunft die Nähe Gottes spürbar wird, von der der Psalmbeter in erfüllter Weise spricht: »Gott nahe zu sein ist mein Glück«. Mit herzlichen Grüßen bin ich Ihr
Dr. Markus Dröge Berlin, den 20. Oktober 2013
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Grußwort von Dr. Birgit Klostermeier Superintendentin des Kirchenkreises Berlin-Schöneberg
Von Tempelhof kommend ist sie auf dem Weg nach Schöneberg schon zu sehen. Aufgemalt auf einer Hauswand steht sie dort zwischen einem Flugzeug vom Tempelhofer Feld und einer Lokomotive der Gründerjahre für die Geschichte dieses Bezirkes. An der Hauptstraße ein wenig höher thront sie dann tatsächlich und kündet von den Zeiten, als Schöneberg ein Dorf vor den Toren Berlins war, die »Millionenbauern« Bauern ohne Millionen waren und ihr Land noch besaßen, und der Anschluss an die sich ausbreitende Stadt noch ausstand. Längst ist die damalige »Dorfaue« durchzogen von Verkehrsströmen auf der Hauptstraße. Längst hat sich neben die »Dorfkirche« in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine andere Kirche gesellt, aus Beton, architektonisch zeitgenössisch raffiniert und mit einem Glockenturm wie ein alarmierender Finger in den Schöneberger Himmel. 250 Jahre »Dorfkirche« zu feiern heißt, dieser städtebauund zeitgeschichtlichen Spannung Gehör und Gesicht zu verschaffen. 250 Jahre »Dorfkirche« zu feiern, heißt noch mehr, sich zu erinnern, wie viele Menschen in dieser Kirche aus- und eingingen, die das Leben feierten oder betrauerten, Gott lobten und zu ihm riefen. Anregend und anrührend kann es sein, einander zu erzählen, wie sich die Geschichte dieser Kirche mit der persönlichen verband. »Ein Tag in deinem Haus ist besser denn tausend, ohn dich nah zu sehn«, so ein Liederdichter aus der Zeit der Neuerrichtung der Kirche nach dem Siebenjährigen Krieg. »Die alte Kirche, da fühle ich mich wohl«, sagt die junge Frau. Hin und wieder guckt sie rein und setzt sich einen Moment. Viele mögen die »alte« lieber als die »neue«. Manche genau andersherum, andere wollen sich nicht entscheiden. So geben die beiden Kirchen zusammen Anlass für so mancherlei Entdeckungen und Erkundungen. Ich grüße für den Kirchenkreis und wünsche der Gemeinde AltSchöneberg ein fröhliches Fest zum Jubiläum dieser einen ihrer beiden
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Kirchen. Möge das Gemeindeleben um diese »alte Dame« herum und in ihr wachsen und der Segen Gottes für viele Menschen dort spürbar sein. Pfarrer Dr. Mark Pockrandt danke ich, dass er in seiner Studienzeit diese Festschrift vorbereitet und geschrieben hat. So hat er die Geschichte der Dorfkirche und die Begegnungen der Menschen mit dieser ältesten Kirche in Schöneberg für die Zukunft festgehalten. Dr. Birgit Klostermeier Berlin, den 3. November 2013
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Einleitung
Wäre die Dorfkirche Schöneberg eine normale märkische Dorfkirche, genügte ein Hinweis auf Theodor Fontane (1819–1898), um den Horizont zu eröffnen. In seinem Roman »Vor dem Sturm« (1878) heißt es: »Nur unsere Dorfkirchen stellen sich uns vielfach als die Träger unserer ganzen Geschichte dar, und die Berührung der Jahrhunderte untereinander zur Erscheinung bringend, besitzen und äußern sie den Zauber historischer Kontinuität.«1 Einige Stürme waren es, die das einst so beschauliche Leben rings um die Dorfkirche Schöneberg durcheinander gebracht und bleibend verändert haben. Sie sollte sich mitten im Zentrum weltpolitischer Ereignisse eines Bezirks wiederfinden, der – so der Regierende Bürgermeister Willy Brandt zur 700-Jahrfeier Schönebergs – »wie kein zweiter in Berlin die dramatischen Stationen der Nachkriegsgeschichte miterlebt hat«2 . So steht die Dorfkirche Schöneberg da: nicht abgeschieden von der Welt, sondern mitten im Geschehen auf dem »schönen Berge«. Was um sie herum passierte und was die Menschen in Schöneberg bewegte, gehört zu ihrer Geschichte. Es ist zugleich die Geschichte der Gebäude, die mit der Zeit um sie herum entstanden. Es gibt wohl kaum einen vergleichbaren Standort, an dem zwei Kirchen auf so engem Raum beieinander stehen wie an der Hauptstraße. Wie es dazu kam, wird in diesem Buch anhand ausgewählter Stationen dargestellt. Stimmen aus alter und neuer Zeit kommen zu Wort, um ihre Geschichte über die Dorfkirche Schöneberg zu erzählen. Die Dorfkirche Schöneberg wird täglich von tausenden Menschen in Berlin gesehen. Viele gehen oder fahren auf ihrem Weg durch die Stadt an ihr vorbei. Nicht nur an ihrem Standort ist sie von der Hauptstraße aus für alle gut sichtbar. Auch an anderen Orten in der Stadt ist sie präsent. »Eine Zeitreise« – so heißt die Dauerausstellung im U-Bahnhof Bayerischer Platz. Auf dem Ölbildnis von W. Otto sieht man das Dorf Schöneberg um 1872. Vor weiten Feldern im Vordergrund erhebt sich das Dorf. Große Bäume stehen an den Rändern der Wege. Rauchend im Hintergrund steht der Schornstein der Schlossbrauerei. Mittendrin von allen Seiten sichtbar
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Die Dorfkirche Schöneberg in der ständigen Ausstellung »Eine Zeitreise« im U-Bahnhof Bayerischer Platz
erhebt sich der Turm der Dorfkirche über die Szenerie. Dem Bildnis von Otto wurden in der Ausstellung Fotografien der Synagoge in der Münchener Straße zur Seite gestellt. Wer vom John-F.-Kennedy-Platz aus das Rathaus Schöneberg betritt, begegnet gleich in der Eingangshalle dem goldgerahmten Gemälde von Louis Lejeune, auf dem die Dorfkirche Schöneberg mit dem Pfarrhaus zu sehen ist. Die freie Sicht auf die Kirche veränderte sich. Fortan sollte der Dorfkirche im Laufe der Jahrhunderte immer wieder ein neues Gebäude – und für einige Jahre auch ein Soldat – zur Seite gestellt werden. Die wohl mit Abstand meisten Menschen sehen die Dorfkirche Schöneberg an der Stadtautobahn A 100 am Sachsendamm. An einer Häuserfassade ist sie gemeinsam mit wichtigen Fortbewegungsmitteln der Neuzeit abgebildet: die alte Dampflok legt sich mächtig ins Zeug und rast um die Kurve. Das Flugzeug umfliegt wagemutig Hochhaus und Baumwipfel. Die erste preußische Eisenbahn, die seit 1838 verkehrte3 , und der Tempelhofer Flughafen ab 1923 markieren bedeutende Veränderungen in der Mo-
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Einleitung
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Louis Lejeune: Alte Schöneberger Dorfkirche um 1895
bilität der Menschen in der Großstadt. Wie eine Botschafterin der Ruhe und Einkehr liegt die Dorfkirche Schöneberg zwischen alledem. Dort, direkt an der Grenze der alten Bezirke Tempelhof und Schöneberg, weist sie allen Umhersausenden der Metropole den Weg. Stand vor 750 Jahren, als das Dorf Schöneberg erstmals erwähnt wurde, eine mittelalterliche Kirche am selben Standort wie die heutige Dorfkirche? Sicher ist jedenfalls: Kriege und Feuer trugen dazu bei, dass die Dorfkirche bislang nie länger als 250 Jahre ohne Schäden davonkam. Im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) wurde sie so stark beschädigt, dass eine Neuerrichtung notwendig wurde. Diese wurde 1764 begonnen. Seitdem steht die Wetterfahne mit dieser Jahreszahl auf dem Turm der Dorfkirche. In den dunkelsten Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist sie abgefallen und wich 1934 einer Kopie; diese ist 1945 im Krieg untergegangen. Seit 1953 thront die Wetterfahne wieder auf der Spitze, nun mit beiden Jahreszahlen: 1764 und 1953.4 Seitdem gab und gibt es zahlreiche Menschen, die die Dorfkirche mit Leben erfüllen. Persönliche Familiengeschichten
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Dorfkirche Schöneberg an einer Häuserwand am Sachsendamm, 2013
ranken sich um dieses Gebäude. Es ist ein Ort der Begegnung. Menschen kommen dort zusammen in Freud und Leid, zu Stille und Gebet, Feier und Klang, Gottesdienst und Konzert, zu Taufe und Abendmahl, Hochzeit und Trauer; mit Erntegaben in jedem Jahr auf dem Altar. Auf der hinteren Seite der Dorfkirche befindet sich der Alte Kirchhof Schöneberg. Ein Spaziergang führt vorbei an Berliner Ehrengrabstätten und an den Mausoleen der Schöneberger Millionenbauern.5 Bereits vor 100 Jahren wurde er gerühmt: seine »anmutige Lage auf einem Hügelrücken, von dem man weit hinausschaut über die grüne Niederung und über die Bäume des Tiergartens bis nach den qualmenden Schornsteinen von Moabit«6 . Viele Menschen haben sich seitdem getraut, den Schritt in die Dorfkirche zu wagen. So manches Fest, mancher Leichenschmaus wurde mit einem Gottesdienst oder mit einer Andacht in der Dorfkirche begonnen und anschließend im »Schlösschen« gegenüber in der Hauptstraße 122–124 und nach dessen Abbruch 1950 im Prälat Schöneberg fortgesetzt. Welche Rolle spielt die Dorfkirche im Leben der Menschen? Neben den historischen Begebenheiten zur Geschichte der Dorfkirche kommen in zeitgenössischen Porträts Menschen zu Wort, die sich dieser Frage nä-
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Brautpaar vor der Dorfkirche Schöneberg, 1868 und 1966
hern und erzählen, was sie heute mit »ihrer« Dorfkirche verbindet. Mit dem Anwachsen Schönebergs vom kleinen 200-Einwohner-Dorf zur Großstadt mit zeitweise über 270.000 Einwohnern veränderte sich auch die konfessionelle Landschaft rings um die Dorfkirche. Waren anfangs noch einige böhmische Siedler die »Neuen« im Dorf, kommen heute Menschen aus vielen religiösen Gemeinschaften unterschiedlicher Herkunft und Tradition in Schöneberg zusammen. Auch dies gehört zur Geschichte der Dorfkirche und der Menschen, die in ihrem Kiez leben. Ausgewählte Porträts aus der Ökumene Schönebergs zeichnen diese Vielfalt nach. Sie schlagen den Bogen zu dem, was künftigen Generationen zur Bewahrung aufgetragen ist. Dazu zählen zwei Namen, die im 20. Jahrhundert der Dorfkirche an die Seite gestellt wurden und die in der Darstellung ihrer Geschichte aufgegriffen werden: Paul Gerhardt und George Bell. Die bei der Dorfkirche gelegene Paul-Gerhardt-Kirche steht für die Bedeutung der Kirchenmusik, das George-Bell-Haus nebenan für Frieden und Versöhnung.
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Krieg – Aufbau Friedrich der Große Am Anfang steht der Krieg. Er reißt ein, verwüstet, zerstört. Friedrich der Große kommt in seiner »Geschichte des Siebenjährigen Krieges« ernüchtert zu der Einschätzung: »Andere Ehrgeizige werden neue Kriege erregen und neues Unheil verursachen. Denn es ist eine Eigentümlichkeit des menschlichen Geistes, dass Beispiele keinen bessern. Die Torheiten der Väter sind für ihre Kinder verloren. Jede Generation muß ihre eigenen begehen.«7 Als Friedrich der Große auf die Ereignisse während des Siebenjährigen Krieges zurückblickte, waren Dorfkirche und Pfarrhaus bereits wieder aufgebaut. Das Dorf Schöneberg blühte und huldigte dem König bei seiner Durchreise. Doch bis dahin war es ein langer Weg. Die Geschichte Schönebergs und der Dorfkirche reicht zurück bis ins Mittelalter. In der ersten urkundlichen Erwähnung vom 3. November 1264 ist von »Sconenberch« die Rede.8 Im Landbuch für die Mark Brandenburg unter Kaiser Karl IV. (1316–1378) wird die Kirche von Schöneberg 1375 erstmals erwähnt. Ebenso findet sich ein Nachweis im Steuerregister des brandenburgischen Kurfürsten aus dem Jahr 1450.9 Seit 1506 gehört das Dorf zum Amt Mühlenhof, ab 1872 ist es selbstständiger Amtsbezirk Schöneberg. Nach Einführung der Reformation durch den Kurfürsten Joachim II. 1539 existiert ein Visitationsprotokoll, in dem die Dorfkirche Schöneberg als kurfürstliche Patronatskirche genannt wird. Es ist anzunehmen, dass ihre Vorgängerbauten seit dem Mittelalter an derselben Stelle wie heute standen. Einzig aus älterer Zeit erhalten blieb die Sandsteinplatte an der Südwand der Dorfkirche, die dem 1718 verstorbenen »Tabcirer« Thomas Feger gewidmet ist. Der Geograf und Oberkonsistorialrat Anton Friedrich Büsching (1724– 1793) beschreibt das Dorf Schöneberg in seiner Zeit: »Das Dorf liegt auf einer Höhe, welche man bey der ersten Erbauung des Orts für einen schönen Berg, wenigstens in Ansehung der Aussicht gehalten haben muß, weil man das Dorf davon benannt hat. Die Aussicht ist auch gut, insonderheit nach Berlin und Charlottenburg, allein es fehlt am fließenden Wasser, und an Wald oder Heide. […] Die Kirchenhufe trägt jährlich nur 21 Thaler
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Friedrich der Große reist durch Schöneberg, nach 1775
Pacht, woraus die Beschaffenheit des hiesigen Ackers ungefähr ersehen werden kann.«10 Das Dorf lag an einer der wichtigsten Zufahrtsstraßen nach Berlin. Viele Gaststätten entstanden später, um die vielen Durchreisenden zu bewirten. Ludwig Frege, von 1846 bis 1885 Pfarrer in Schöneberg, berichtete in einer Visitation über sein Dorf: »Bei mir giebt es eine Straße von lauter Wirthshäusern.«11 Das Pfarramt Lankwitz wurde nach einem Brand 1540 von Mariendorf übernommen und bis 1894 mit kurzen Unterbrechungen vom Schöneberger Pfarramt mit verwaltet, woran bis heute der Priesterweg erinnert.12 Hierzu ist eine Notiz von Wilhelm Grix erhalten, der zur Verwaltung des Pfarramts in Lankwitz durch den Schöneberger Pfarrer Friedrich W. K. Gutschmidt mitteilte (um 1880): »Daß war ein weiter weg, 1 1/2 stunde zu laufen. Die konfirmanden mußten damals zu uns komen, denn der pastor gutschmidt ging nur sontags nach lankwitz zur predigt. Früher holten ihn die bauern mit ihrem fuhrwerk ab, aber dann hatte er sich mit den bauern verunreinigt und mußte nun sehen, wie er hinkam. Pastor gutschmidt war auch kein angenehmer seelsorger, denn er wurde bald nach pommern versetzt.«13 Der Siebenjährige Krieg veränderte alles. Für Schöneberg und die Dorfkirche war er ein Desaster. Weite Teile des Dorfes mit Kirche, Pfarr- und
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Alt-Schöneberg um 1775. Auf dem Weg nach Potsdam, Zeichnung Bernhard Pötsch (Karte um 1902)
Küsterhaus (Schule) wurden durch feindliche Invasionstruppen fast vollständig zerstört. Was dieser Krieg für die Menschen in Schöneberg bedeutete, veranschaulicht ein zeitgenössischer Bericht an das königliche Amt Mühlenhof: »Da nun allergnädigster König und Herr … wir durch die uns zweimalen mit betroffene feindliche Invasion, da die letztere nämlich die Russen und die Österreicher uns gänzlich ausgeplündert, gekautschuht und unsere Häuser zu Wüsteneien gemacht.«14 Nach Kriegsende wurden Kirche und Pfarre 199 Morgen Land zugeteilt.15 In Neu-Schöneberg waren die Kriegsschäden geringer. 1751 waren Familien aus Böhmen im »Kolonistendorf Neu-Schöneberg« angesiedelt worden. Schöneberg hatte zu dieser Zeit etwa 200 Einwohner. Wie waren »die Neuen« wohl damals empfangen worden? Die Alt-Schöneberger hatten jedenfalls zur Gründung von Neu-Schöneberg 60 Morgen Land abzutreten.16 Erging es den Böhmen wie den Hugenotten, die seit dem Edikt von Potsdam 1685 ins Land kamen und die zum Teil verachtet, ja mitunter sogar bei Beerdigungen öffentlich beschimpft wurden? »Die Franzosen sind gekommen, um euch aus Haus und Nest zu vertreiben«17, wetterte damals ein Pfarrer lutherischen Bekenntnisses gegen seine reformierten Glaubensgeschwister. Vielleicht haben es die böhmischen Familien gemacht wie die Hugenotten und eine ausgeprägte soziale Gemein-
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Wintermorgen, Schöneberg um 1800. Originalzeichnung G. Ulrich (Karte um 1935)
schaft entwickelt. Da nach dem Siebenjährigen Krieg die alte Dorfkirche zerstört war, fanden die Gottesdienste für Alt- und Neu-Schöneberg bis auf Weiteres bei den »Böhmischen« statt18 – gelebte ökumenische Gastfreundschaft, wie sie auch in späteren Zeiten für Schöneberg charakteristisch werden sollte. Ein Neubeginn war notwendig. Schöneberg und seine Dorfkirche lagen danieder. Nach den Zerstörungen von 1760 musste es irgendwie weitergehen. Einige kamen eine Zeitlang bei den Kolonisten in Neu-Schöneberg unter. Andere gingen weg und bauten sich woanders ein neues Leben auf. Die Pläne zum Wiederaufbau des Dorfes gingen voran, denn es musste gehandelt werden, wenn das Dorf erhalten bleiben sollte. Deshalb wurden in den »Berlinischen Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen« ab August 1761 Anzeigen geschaltet. Sie sollten dazu beitragen, dass sich Menschen wieder in Schöneberg ansiedelten. In einer dieser Anzeigen heißt es: »Da das von denen Feindlichen Truppen im October vorigen Jahres angesteckte, und gäntzlich in die Asche gelegte Amtsdorff Schöneberg, eine halbe Meile von Berlin im Teltowschen Creyße belegen, wiederum aufgebauet, und die Bauer und Cossäthen-Höfe mit neuen Wirthen besetzet werden sollen; als wird solches dem Publico hiermit bekannt gemachet, und können diejenigen, die etwa sich daselb niederzulassen Lust haben möchten, bey dem
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Königl. Amte Mühlenhoff sich melden, und der Eröffnung der Bedingungen, auf welchen thuen die Höfe überlassen werden sollen, gewärtigen.«19 Friedrich der Große war als Patron für die Dorfkirche Schöneberg zuständig. Er ordnete ihre Neuerrichtung und zu diesem Zweck eine Sammlung »in allen meinen Landen« an. 1764 wurden mit Krone und Signum FR (Fridericus Rex) die Patronatszeichen samt Kreuz an der Turmspitze befestigt. Der Bau wurde im barocken Stil durch Johann Friedrich Lehmann sowie von der »Witwe Lehmann, Mauer-Meisterin in Spandow«20 ausgeführt. Feldsteine des Vorgängerbaus wurden wieder verwendet. Zur Erbauerin heißt es: »Diese Frau Lehmann muß eine recht resolute Frau gewesen sein. Die mit großen Mühen beschafften 30000 Mauersteine für den Kirchenneubau wollte 1764 der Landes-Baudirektor Boumann durchaus für sich beschlagnahmen, um damit die ihm in Auftrag gegebene Porzellanfabrik zu bauen. Es kam zu einem heftigen Streit, der dann schließlich zugunsten von Frau Lehmann entschieden wurde.«21 Zudem erhielt sie die Erlaubnis, freies Bauholz aus dem Grunewald zu entnehmen.22 Am 5. Januar 1766 fand die feierliche Einweihung der neu errichteten Dorfkirche Schöneberg statt. Bereits knapp ein Jahr zuvor war dort Friederica getauft worden, die Tochter des Bauern Johann Daniel Willmann und seiner Frau Maria Dorothea, geb. Schultze aus Sputendorf. Im Kirchenbucheintrag vom 24. April 1765 wurde vermerkt: »Dies ist der erste Taufactus in neuerbauter Kirche in Schöneberg«23 . Der Innenraum der Dorfkirche war gemäß Gemeindeakten aus späterer Zeit auf Wunsch Friedrichs des Großen in Weiß, Gold und Blau gehalten.24 Noch um 1775 war die an der Dorfkirche Schöneberg vorbeiführende Hauptverbindungsstraße zwischen Berlin und Potsdam in keinem guten Zustand. Doch das sollte sich bald ändern. Die wohl berühmteste Hochzeitsgesellschaft jener Zeit zog am 22. Dezember 1793 auf der neuen Chaussee von Potsdam nach Berlin anlässlich der Vermählung des späteren Königs Friedrich Wilhelm III. mit Königin Luise an der Dorfkirche Richtung Berliner Schloss vorbei. In Schöneberg wurde Rast gemacht. Prinz Georg berichtet: »Schon in Schöneberg, eine halbe Meile von Berlin, sollte ein Empfang stattfinden. […] Um 1 Uhr kamen sie in Schöneberg an, wo der Wagen mit 8 Pferden aus dem Königlichen Marstall bespannt wurde. […] Nachdem auch die Hofmarschälle und Kammerherren, welche den Prinzessinnen entgegengeschickt waren, sie in Schöneberg bewillkommt hatten, schlossen sich ihrem Wagen die ihrer hohen Verwandten und der Herren und Damen vom Hofe an«25 .
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Zeichnung zur Erbauung des Pfarrhauses beym Königlichen Dorfe Schoeneberg Amts Mühlenhofs. Berger, 1765
Neben der Dorfkirche Schöneberg wurde im Rahmen des Wiederaufbaus nach dem Krieg auch ein neues Pfarrhaus gebaut. Die ersten Bauzeichnungen von 1765 geben Aufschluss darüber, wie zu jener Zeit ein Pfarrhaus konzipiert wurde. Auf einer Grundfläche von rund 200 Quadratmetern mit drei Wohn- und fünf Funktionsräumen gehen vom Eingangsflur links die Wohnstube und rechts die »Fremden-Stube« ab. Bedienstete haben im hinteren Bereich des Hauses ihr Zimmer. Dort gegenüber befinden sich Küche und Speisekammer mit Zugang zum Lagerbereich im Keller. Das Pfarrhaus wurde um 1768 fertig gestellt. Im Pfarrgarten befanden sich, wie vielerorts gemäß Anweisung Friedrichs des Großen, Maulbeer-
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Die Franzosen in Schöneberg 1807. 7.–21. Aug. 1807: Besatzung durch Mannschaften vom Corps VICTOR. Zeichnung Bernhard Pötsch (um 1902)
bäume zur Förderung der Seidenraupenzucht.26 Das Pfarrhaus sollte über hundert Jahre Bestand haben. Ein kurzer Einschnitt für Schöneberg war die Besatzung durch die Franzosen um 1807. Bei deren höheren Militairs und Verwaltungsbeamten war es beliebt, in den Dörfern vor Berlin zu wohnen.27 Aus dieser Zeit sind zwei Personenmitteilungen aus der Gemeinde erhalten. Über Ernst Christian Wegener (1749–1808), Prediger in Schöneberg, teilt Oberprediger Dressel aus Charlottenburg mit: er war »25 Jahre vorher Rektor der Schule zu Charlottenburg und seit 1802 Prediger in Schöneberg. Ein gelehrter aufgeklärter Mann, ein Menschenfreund und guter Redner. Seine Gemeinden verloren ihn ungern. Bei seinem Examine rigoroso bekam er die Zensur ganz vorzüglich. Sanft ruhe seine Asche.«28 Von Christian Wilhelm Jancke (1800–1857) aus Rudow – 28 Jahre als Küster und Lehrer in Schöneberg tätig – heißt es: »ein Mann von treuer Gesinnung, dessen Seele zum Frieden eingegangen ist«. 1867 wurde die Wetterfahne der Dorfkirche Schöneberg bei einem Sturm niedergerissen. Die Helmstange fiel auf den Boden, Münzen und Schriftstücke wurden aus der Kapsel geborgen. Die Fundstücke gelten
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seitdem als vermisst, doch wurden erneut aktuelle Schriftstücke in der Kapsel deponiert und 1868 auf der Turmkrone platziert. Die Kenntnis über ihren Inhalt verdanken wir vor allem der Beharrlichkeit des zuständigen Baurats Kern vom königlichen Amt Mühlenhof. Anlässlich von Umbauarbeiten 1908 war sie kurzzeitig von der Turmkrone genommen worden. Der damalige Gemeindekirchenrat hatte ursprünglich gar nicht die Absicht, die Kapsel mit den Schriftstücken öffnen zu lassen. Der königlichen Regierung wurde kurzerhand mitgeteilt: »Der Gemeindekirchenrat verzichtet auf die Öffnung der Kapsel und beschließt, dieselbe wieder in den Turmknopf hineinzulegen, oder, sofern dies nicht mehr möglich ist, ihr unter dem Altar einen würdigen Platz anzuweisen.«29 Schließlich konnte die Kapsel doch geöffnet werden. Sie enthielt die Urkunde von Pfarrer Ludwig Frege, von 1846 bis 1885 Pfarrer an der Dorfkirche Schöneberg. Sie vermittelt einen Eindruck über das Leben in Schöneberg um 1868.
Urkunde in der Turmkapsel der Dorfkirche Schöneberg von Pfarrer Ludwig Frege, 1868; Kapsel 1908 geöffnet30 Gnade und Friede von Gott und dem Vater unseres Herrn Jesu Christi Allen, die gegenwärtige Urkunde lesen und hören! Unter Gottes gnädigem Beistande, durch welchen bisher jeder Unfall bei der TurmAusbesserung verhütet worden, ist heute Nachmittag um 6 Uhr der Helmstangenschmuck mit Kugel, Fahne, Königszeichen und Krone auf dem hiesigen, erneuerten Turm aufgestellt worden, nach dem die Helmstange mit dem verwitterten Kaiserstiel in der Nacht vom 4. zum 5. April 1867 durch einen weitverbreiteten Sturm herabgestürzt war. Die Wiederaufstellung der Turmspitze hatte die Königl. Regierung zu Potsdam, als Vertreterin des Patronats Seiner Majestät angeordnet. Die Ausbesserung der Helmstange und ihrer Zierate hat der hiesige Schlossermeister Herr Petri ganz in der Weise ausgeführt, wie sie seit 1764, in welchem Jahre sie auf Befehl Sr. Majestät des Königs Friedrichs des Großen zum ersten Male mit seinem Namenszeichen FR aufgerichtet worden, bis 1867, also 103 Jahre hindurch, als Turmschmuck unserer Kirche gesehen worden sind. Unser Wohnort Schöneberg, dessen Bestehen bis zum Jahre 1264, also bis auf ein Alter von 604 Jahren urkundlich nachgewiesen werden kann, denn in diesem Jahre schenkte Markgraf Otto III. dem von ihm und seinem Bruder Johann I. im Jahre 1239 gestifteten Benedictiner-Nonnenkloster zu Spandau fünf Schöneberger Hufen, kann dieses Jahr 1868 als ein für seine Entwicklung bemer-
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kenswertes bezeichnen. Der 1. Januar 1868 war der erste Neujahrstag, welcher den Einwohnern die am 16. September d.J. durch die amtliche Abnahme seitens des Regierungs-Medizinalrats Dr. Wald und des Hof-Apothekers Lange aus Potsdam amtlich eröffnete Borussia-Apotheke zeigte. Für die Herrn Apotheker Wischhusen ausgestellte Konzession datiert vom 14. Dezember 1866, dem Jahre der ruhmvollen Siege von Sadowa, Chlum und Königgrätz, aus deren Folgen der norddeutsche Bund sich entwickelte, dem wir Gottes Segen zu einigen, deutschen Vaterlande mit unserem hochteuren König Wilhelm inniglich erflehen. Am 20. Februar 1868 übergab der Landrat Herr Gayl aus Teltow dem Ortsvorstand Herrn Gottlieb Mette vor der versammelten Gemeinde die ihm von seiner Majestät dem Könige verliehene Dekoration, wobei er der Verdienste desselben als Kreisschulzen gedachte, und zugleich betonte, daß in dem Vorstande die Schöneberger Gemeinde wegen ihres Benehmens im Jahre 1866, vornehmlich beim Empfange der siegreichen Truppen, ausgezeichnet werde. Um dieselbe Zeit war die Schloßbrauerei des Herrn Schlegel soweit vollendet, daß am 13. Februar durch den Braumeister Herrn Frey aus Württemberg das erste Bier gebraut wurde, das schon am Ostersonntage ausnahmsweise getrunken werden konnte. Die neue Verbindungs-Eisenbahn, welche von Tempelhof aus in der Gegend der Brauerei in die Hauptbahn einmünden wird, war in Angriff genommen, und die Besprengung der Straßen war ins Leben getreten für beide Gemeinden: Altund Neu-Schöneberg, deren Vereinigung zu einer Gesamtgemeinde nicht zur Ausführung gekommen war. Die Erweiterung des Kirchhofs, die beide Gemeinden gegen einen JahresKanon von 125 Talern von den Besitzern Herrn Johann Mette, Karl Willmann und August Willmann erworben haben, wurden bei der Beerdigung der Witwe Schulze am 9. Juni feierlich eingeweiht. In Alt-Schöneberg leben zur Zeit 2300 Einwohner, in Neu-Schöneberg 900, welche die 32 Grundstücke in der Botanischen-Garten-Str. und in der Bahnstraße bewohnen, deren linke Seite, von hier aus gesehen, von dem Stuhlmanschen Hause bis zu dem Garten des Stadtrats Sommer dem zuletzt genannten Orte angehört. Die gegenüberliegende Seite vom Hause des Kaufmanns Lenz bis zur Ottoschen Schmiede gehört zu Alt-Schöneberg. Die 2300 Einwohner Alt-Schönebergs wohnen in den 5 Straßen: Mühlenstraße, Hauptstraße, Akazienstraße, Bahn- und Kolonnenstraße, und zwar in 90 selbständigen Grundstücken, von denen 16 Baugüter, 7 Kossätengüter und 67 Büdnergrundstücke sind. Die Polizeiverwaltung leiten die beiden Ortsschulzen, die Herren Gottlieb Mette und für Neu-Schöneberg der Königliche Porzellanmaler mit Pension Herr Forst. Die Sicherheitspolizei ist in den Händen des Königlichen Polizei-Leut-
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nants Herrn von Albert. Der Kirchen- und Schulvorstand besteht aus den Herren Gutsbesitzer Martin Richnow und Karl Willmann, welche mit den Herren Theodor Bergemann auf dem Gute Nr. 18 der Hauptstraße Leinenwarenhändler Max Claus, der vom 1. Oktober oder 1. Januar 1869 die Post- und TelegraphenVerwaltung übernehmen wird, den Gemeindekirchenrat bilden, welcher für das Filial Lankwitz, das bis 1265 urkundlich nachzuweisen ist, durch die Herren Barleben, Senior des Eisernen Kreuzes, Mühlenmeister Winter und Bauergutsbesitzer Beiecke in Lankwitz ergänzt wird. Die Schule, welche in der verflossenen Ferienzeit vollständig renoviert ist, gewährt in fünf Klassen 450 Kindern Unterricht. Es unterrichten an derselben die Herren Scheffler, zugleich Küster, Kantor und Organist, Zachen, Stook und Scheel. Die Armen-Kommission wird gebildet durch den Ortspfarrer und die Herren Gottlieb Mette, Karl Willmann, August Rosenkessel, Herrmann Hoepfner, Heilgehilfe Sauerland und Maximilian Claus. Als Armenarzt fungiert der Herr Dr. Cohn. Frühling und Sommer haben sich im Jahre 1868 ganz außergewöhnlich entwickelt. Die Witterungs-Aufzeichnungen haben seit 70 Jahren eine so hohe Wärme-Temperatur nicht notiert. Im Monat Juli erreichte das 80-teilige Thermometer nach Réaumur täglich die Höhe von 26 bis 27,5 Grad im Schatten. In London brannten die öffentlichen Rasenplätze aus, in New York starben an einem Tage fünfzig Menschen am Sonnenstich und über 100 Pferde fielen vor Hitze auf den Straßen um. In unserer Nähe, namentlich in dem Tegeler und Spandauer Forst, sowie im Grunewald, sind mehrere Hundert Morgen Schonung durch Waldbrand zerstört worden. In Potsdam brannte das Schützenhaus ab, nach Jüterbogk mußte die Berliner Feuerwehr zur Dämpfung eines Feuers, das die alte Kirche und viele Häuser ergriffen hatte, requirirt werden. In Zehlendorf Giesensdorf waren Scheunenbrände zu beklagen, welche die eingebrachte Ernte gänzlich zerstörten. Die Sehnsucht nach einem erquickenden Regen war allgemein. Die lange anhaltende Wärme verfrühte die Ernte in einer durchaus ungewöhnlichen Weise. Am 25. Juni ließ der Gutsbesitzer Herr Richnow bereits gereiften Roggen mähen, und am 23. Juli hatte Herr Gottlieb Mette die Erntearbeit beendet und die reichlohnenden Garben der Winteraussaat in der Scheune. Die Aussichten auf eine sehr gute Winterernte waren zu Ende des Monats Juli überaus günstig. Um diese Zeit wurde zu Wien das dritte, große, deutsche Schützenfest gefeiert, bei welchem viel geredet, gegessen und getrunken wurde. Einflußreicher dürfte sich der Juristentag in Hamburg entwickeln, zumal da für den norddeutschen Bund die Ausarbeitung eines neuen Gesetzbuches in Aussicht gestellt ist.
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Seine Majestät der König befand sich mit seinem Kabinett in dem Bade Ems, wohin auch ihre Majestät die Königin gekommen ward. Seine Königliche Hoheit der Kronprinz war mit der Kronprinzessin und der Familie auf Schloß Reinhardsbrunn im Sachsen-Coburgschen. Die treuen Schöneberger erbeten für die Königliche Familie den reichen Segen Gottes, der auch, so betet die gegenwärtige Urkunde von der Höhe unseres Turmes, unsere Gemeinen gnädiglich umfassen möge! Ja, Gott segne reich unseren hochgeliebten König, unser Volk, unser Land, unser gesamtes deutsches Vaterland! Er segne unsere Gemeinde, daß die Herzen in allen Häusern bestrebt sein mögen, nach oben zu blicken, daß alle Stände, alle Nahrungszweige kräftig erblühen und samt Schule und Kirche reiche Früchte bringen mögen zur Erlangung der Krone des ewigen Lebens, woran unsere Turmkrone jeden Einwohner erinnern möge zur Ehre Gottes in der Höhe und Ausbreitung seines Friedensreiches auf Erden! Auf, Schöneberger, schauet auf! Habt einen edlen Namen – Drum edel sei des Lebens Lauf! Dazu sprech’ Gott sein Amen! Das Alter wie die Jugend sei, Wo Gottes Wort ruft, stets dabei! Daß sein Reich hier nur walte! Amen Schöneberg, den 3. August 1868 L. Frege Die vorstehende Urkunde ist Sonnabend, den 1. August 1868 um 6 Uhr in der Gemeinde-Versammlung, im Lokale des »Schwarzen Adlers« – Wirt: Herr Hewald, Eigentümer: Herr Dittner – öffentlich vorgelesen worden und wurden die Anwesenden aufgefordert, ihre Namen eigenhändig in den Listen einzuzeichnen, die in beiden Schulzen-Ämtern ausgelegt sind, damit sie samt den Zeitungen vom 2. August, in welchem die Preise der Lebensmittel aufgezeichnet sind, in der Dokumenten-Kapsel Platz finden können. Die stattfindende kirchliche Feier, bei welcher Jungfrau Ida Willmann die Krone dem darreichen wird, der sie auf der Turmhöhe befestigt, wurde nach der Predigt am Sonntag gemacht. Der Musik-Direktor Selchow wird die Kapelle des Garde-Kürassier-Regiments den Choral »Nun danket alle Gott« blasen lassen. Der Kirchenvorstand – Frege / Richnow / C. Willmann
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Zur Aufstellung des Helmstangenschmucks ist der 3. August, der Geburtstag Seiner Majestät, des hochsehligen Königs Friedrich Wilhelm III., gewählt worden, und ist die Feierlichkeit am Altare über den Text Jakob 1 v.12 in dankbarer Anerkennung der Verdienste des genannten Monarchen zelebriert worden, da diese Bibelstelle der Gedächtnistext im Jahre 1840 war. Gott hat Preußen in diesem väterlichen König gesegnet, hat uns gesegnet in dem geistvollen Sohne, Wilhelm, dem Vollender Friedrichs des Großen. Schöneberg, den 3. August 1868, des Jahres, in welchem zu St. Petersburg die Anwendung der Sprenggeschosse beim Kriege als wider das Völkerrecht erklärt werden soll. Ludwig Frege, Schloßprediger und Prediger
Abrisspläne »DORFKIRCHE Schöneberg vor dem ABRISS!« In riesigen Lettern prangte die Schlagzeile im Boulevardblatt. Eine Ungeheuerlichkeit, was sich die da oben schon wieder erlaubten: Die kleine Dorfkirche sollte abgerissen werden? Und dann setzte sich alles in Bewegung. Diskussionsrunden, Ortsbegehungen, Protestkundgebungen fanden statt. Infozettel wurden auf der Hauptstraße und Umgebung verteilt, eine Bürgerinitiative zum Erhalt der Dorfkirche Schöneberg gründete sich. Spendenaufrufe folgten, Prominente erzählten in Talkshows ihre Geschichte zum kleinen rosa Kirchlein. Schließlich lenkten die verantwortlichen Stellen ein, die Abrisspläne waren vom Tisch. Die Dorfkirche – gerettet! So ähnlich hätte es ablaufen können, als es die Überlegung gab, die Dorfkirche Schöneberg abzureißen und durch einen größeren Neubau zu ersetzen. Doch nichts von alledem. Nur ein kleiner Artikel in der Beilage zur »Vossischen Zeitung« von 1902 gibt Auskunft über die unglaublichen Pläne: »Die alte Kirche in Schöneberg soll in absehbarer Zeit abgebrochen werden. Dieser Tage besichtigte als Vertreter der Regierung Geh. Baurath v. Tiedemann in Anwesenheit des Kreisbauinspektors Jaffé, des Stadtbauraths Egeling, des Superintendenten Jacobi und mehrerer Mitglieder der kirchlichen Körperschaften die Kirche. Das Gutachten lautete auf Baufälligkeit. Das Gotteshaus soll vorläufig ausgebessert werden, wird aber abgebrochen, sobald der auf dem danebenliegenden Pfarrgrundstück geplante Neubau einer Kirche ausgeführt sein wird.«31 Wie konnte es dazu
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Hauptstraße mit Dorfkirche Schöneberg, 1899
kommen? Eine baufällige Kirche kann saniert werden und steht dann wieder zur Nutzung bereit. Bei der Dorfkirche Schöneberg hatte man zu dieser Zeit andere Pläne. Sie hingen eng mit der rasanten Entwicklung zusammen, die Schöneberg in jener Zeit nahm. Pfingsten, ein herrlicher Sonntag im Monat Mai 1901. Emil Flanger war voller Tatendrang. Gleich nach dem Frühstück machte er sich auf den Weg. Von seiner Wohnung in der Grunewaldstraße nahm er die »schöne« Route über den Alten Kirchhof, besuchte dort das Grab seiner Eltern. Dann steuerte er geradewegs die Dorfkirche Schöneberg an. Heute zum Pfingstfest freute er sich auf einen schönen Gottesdienst. Er war extra rechtzeitig losgegangen, um noch einen Sitzplatz zu bekommen. Der morastige Weg über den Friedhof war zwar halsbrecherisch. Umso verheißungsvoller aber würde das sein, was ihn erwartete. Dachte er. An der Dorfkirche angekommen, stellte er fest: die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Auch auf den Emporen gab es keine Sitzplätze mehr. Wegen seines fortgeschrittenen Alters war Emil Flanger aber auf einen Sitzplatz angewiesen. Also änderte er seinen Plan, ging ein paar Schritte Richtung Prinz-Heinrich-Platz zur Apostel-Paulus-Kirche. Doch dort bot sich ihm das gleiche Bild: kein Sitzplatz mehr frei – und das bei immerhin gut 1.000
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