Vorwort
Cornelia Gerner · Sabine Hillebrecht
Insgesamt waren etwa 1 360 Kinder und Jugendliche zwischen Ende 1941 und Mai 1945 Patienten in der »Städtischen Nervenklinik für Kinder« am Eichborndamm 238–242. Diese Kinder erfuhren in der Regel keine Behandlungen mit dem Ziel der Heilung, sondern zum Zweck der wissenschaftlichen Forschung.
Nach unserer Recherche starben hier insgesamt 134 Minderjährige an den Folgen von medizinischen Versuchen, an Medikamenten, die an ihnen getestet wurden, oder durch gezielte Tötung.1 Dies bedeutet, dass jedes zehnte Kind den Aufenthalt in der Klinik nicht überlebte. Die Opfer dieser nationalsozialistischen Politik sind in dem vorliegenden Buch namentlich aufgeführt, wobei ausschließlich die Kinder und Ju gendlichen berücksichtigt sind, die in der »Städtischen Nervenklinik« starben.
Weitaus größer wäre die Zahl der getöteten Patienten, wenn wir auch die Kinder berücksichtigt hätten, für die die Einrichtung am Eichborndamm nur eine Zwischen station darstellte, die also nach einem hiesigen Aufenthalt in eines der eng mit der Klinik kooperierenden Heime oder in ein Krankenhaus überwiesen wurden und an schließend starben. Auch die toten Kinder, die aus den besagten Heimen zur Sektion zurück in die »Städtische Nervenklinik« gebracht wurden, sind in diesem Gedenk buch nicht aufgeführt.
Die Angaben zu den 134 Kindern enthalten die jeweiligen Namen, die Geburtsund Sterbedaten sowie die entsprechenden Orte. Was den Sterbeort anbelangt, ha ben wir zwar ausschließlich die »Städtische Nervenklinik für Kinder« berücksichtigt, allerdings war diese Einrichtung aus organisatorischen Gründen auf zwei, zeitweise sogar auf drei Adressen verteilt:
1. Der Hauptstandort befand sich in Berlin-Wittenau, Eichborndamm 238–242. Er wurde auch Wiesengrund genannt.
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2. Eine Station der Einrichtung war seit der Gründung im Jahr 1941 ausgegliedert und befand sich in den fußläufig entfernten Wittenauer Heilstätten, einer An stalt, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik umbe nannt wurde.
3. Wegen der kriegsbedingten Bombardierungen wurden ab Ende 1943 einige Pa tienten und Personal aus der »Städtischen Nervenklinik für Kinder« ausgelagert, sie kamen in das »Waldhaus« eines Kinderheims in Bad Freienwalde.
Bei den 134 getöteten Kindern berücksichtigen wir die Todesfälle an allen drei Orten, jedoch erst ab Ende 1941 bis zum 8. Mai 1945 in den Wittenauer Heilstätten und ab Ende 1943 bis 8. Mai 1945 in Bad Freienwalde, weil nur in diesen Zeiträumen besagte Außenstellen zur Institution »Städtische Nervenklinik für Kinder« gehörten. Aus archiv- und datenschutzrechtlichen Gründen war es leider nicht möglich, wei tergehende Angaben zu den Kindern zu machen, auch wenn die Aktenlage dies er möglicht hätte. Eine Ausnahme bildet der Patient Paul Höhlmann, dessen Schicksal hier erzählt wird. Seine Geschichte mag beispielhaft für all die anderen toten Kinder stehen.
Wir danken herzlich den Kolleginnen aus dem Landesarchiv Berlin, die uns bei dem Projekt unterstützten und hilfreich zur Seite standen. Unser besonderer Dank gilt hierbei vor allem Dr. Regina Rousavy und Kerstin Bötticher. Darüber hinaus danken wir Prof. Dr. Thomas Beddies vom Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin für sein stets offenes Ohr und seine fachlichen Einschätzun gen. Danken möchten wir auch Klaus Leutner für seine Hinweise zu den Gräbern von Kindern im Parkfriedhof Marzahn und den Friedhofsverwaltungen MarzahnHellersdorf mit Birgit Laubner und Anja Becker und Reinickendorf mit Elke Heritz. Ulrich Tempel von der Topographie des Terrors danken wir für seine Hinweise zum Umgang mit Gedenkbüchern.
Ein ganz besonderer und sehr herzlicher Dank geht an Lutz Höhlmann für sein Einverständnis, die Geschichte seines Bruders öffentlich zu machen.
Anmerkungen
1 Grundlage für die Zahl der getöteten Kinder sind die Patientenakten der »Städtischen Nervenkli nik für Kinder« im Landesarchiv Berlin.
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Die Kinder vom Eichborndamm
Cornelia Gerner
Die »Städtische Nervenklinik für Kinder«
Die unter dem irreführenden Namen einer »Städtischen Nervenklinik für Kinder« laufende Anstalt wurde schon mit der Einrichtung des »Reichsausschusses zur wis senschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden« ab dem Jahr 1939 geplant1 und bis zum 1. Juli 1941 eingerichtet. Erste Belegungen mit Kindern gab es ab Anfang 1942. 2
Die Klinik am Eichborndamm, genannt Wiesengrund, bestand aus drei Gebäu den, die mit Bettenräumen, Röntgenbereich, Operationsraum, Labor, Pathologie so wie einer eigenen Verwaltung ausgestattet waren. 3 Den Namen Wiesengrund gab es für diesen Ort damals schon. Unter der Bezeichnung »Nerven-Sanatorium Wiesen grund« dienten die Gebäude am Eichborndamm 238–242 zuvor als Unterkunft für männliche Patienten der benachbarten Wittenauer Heilstätten. 4
Zur »Städtischen Nervenklinik für Kinder« gehörten zunächst drei, später durch kriegsbedingte Evakuierungen vier Stationen, die jedoch nicht alle am Eichborn damm untergebracht waren. Station 1 hatte ein eigenes Haus im Gebäudekomplex der Wittenauer Heilstätten, bestehend aus einem Knaben- und Mädchenhaus, Schul räumen und einem Lazarett. Als »lebenswert« eingestuft, ging man davon aus, dass diese Kinder bildbar und entwicklungsfähig waren. Die Stationen 2 und 3 befanden sich am Eichborndamm. In Station 2 brachte man vor allem Säuglinge und Klein kinder unter, während Station 3, die »Kinderfachabteilung«, mit ihren 30 Betten, die immer belegt sein sollten, 5 den sogenannten Reichsausschusskindern vorbehalten war. Diese Kinder hatte der »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von
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erb- und anlagebedingten schweren Leiden« nach Aktenlage beurteilt, mit dem Zu satz »R.A.« in der Krankenakte als »lebensunwert« eingestuft und für die Forschung freigegeben. Der Legitimierung dieses Reichsausschusses war das »Gesetz zur Ver hütung erbkranken Nachwuchses« von 1935 vorausgegangen, das den Schwanger schaftsabbruch bis einschließlich des 6. Monats erlaubte und das den am 18. August 1939 versendeten Runderlass des Reichsministeriums des Innern vorbereitete. 6 Die ser Runderlass beinhaltete die streng vertrauliche Anweisung an Ärzte und Hebam men, behinderte Kinder bis zum Alter von drei Jahren zu melden.7
In Deutschland hat es mindestens 30 »Kinderfachabteilungen« gegeben. 8 Der Wiesengrund mit Station 3 war eine davon und gleichzeitig die einzige in der Reichs hauptstadt Berlin. Ab 1943 gab es im Waldhaus/Bad Freienwalde, das bis dahin aus schließlich Kinderheim gewesen war, eine vierte Station für etwa 200 bis 240 ältere Kinder, die als schwer erziehbar und geistig zurückgeblieben eingestuft worden wa ren und unterrichtet wurden.
Die Krankenakten belegen, dass nicht nur Kinder der »Kinderfachabteilung« für medizinische Versuche missbraucht wurden, sondern die Kinder von allen vier Statio nen. Anders aber als bei den »lebenswerten« Kindern, ergriff man bei den »R.A.-Kin dern« nach bestimmten »Behandlungen« oft keine Maßnahmen, so dass sie starben. Was aus den Krankenakten der Kinder hervorgeht
Die ärztliche Versorgung der Kinder im Wiesengrund oblag drei Ärzten: Dr. Dr. Ernst Hefter, Leiter der »Städtischen Nervenklinik für Kinder«, mit den Stationen 1–4, Dr. Gertrud Reuter, Stationsärztin der Station 3, also der «Kinderfachabtei lung«, und Dr. Gerhard Kujath, zuständig für die Station 1. Die Klinik arbeitete da rüber hinaus mit zwei externen Ärzten zusammen, dem Pathologen Dr. Berthold Ostertag und seinem Assistenten Dr. Hans Klein, die im Bedarfsfall in den Wiesen grund kamen, um die toten Kinder zu obduzieren. 9
In die »Städtische Nervenklinik« am Eichborndamm kamen vor allem Kinder aus Berlin und Umgebung, mit den unterschiedlichsten Befunden und Diagnosen. Man che hatten sich nach einer Kinderkrankheit plötzlich nicht mehr weiterentwickelt, andere wurden wegen einer Trisomie 21 oder mit der Diagnose »Hydrocepahlus«
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Krankenzimmer in der »Städtischen Nervenklinik für Kinder«, Anfang 1940er-Jahre. (Quelle: Charité - Universitätsklinikum / Institut für Geschichte der Medizin)
(Wasserkopf) überwiesen. Wieder anderen war eine »organische Hirnschädigung« oder »Idiotie« bescheinigt worden, viele hatten »Krampfanfälle«. Dies geht, neben einer Reihe anderer Informationen, aus der ersten Seite, dem Deckblatt der Patien tenakte, hervor. Hier ist auch zu lesen, ob es sich um ein eheliches oder uneheliches Kind handelte oder um ein Zwillingskind. Neben der Staatsangehörigkeit ist die »Rasse« angegeben. Es finden sich die Namen der Eltern und der Beruf des Vaters: »Bäckermeister«, »Wäschefahrer«, »Offizier«, »Ingenieur«, »Schlosser« und häufig der Zusatz »z.Zt. Wehrmacht«. Die Kinder kamen weitgehend aus bürgerlichen Fa milien, die zur Mitte der Gesellschaft gehörten. Es sind Ausnahmefälle, bei denen man auf sozial schwierige Verhältnisse schließen kann, wo »dürftige wirtschaftliche Verhältnisse«10 bescheinigt werden, der Vater im Gefängnis sitzt11 oder den Eltern das Personensorgerecht entzogen worden ist.12 Auf diesem Deckblatt steht auch, wer sie überwiesen hat und woher sie kamen. Häufig findet man links unten unter »eingewiesen von« das »R.A.« für Reichsaus schuss sowie den Namen eines Krankenhauses, z. B. Charité, oder den eines Kin
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derarztes. In mehreren Fällen waren sie von Dr. Ernst Wentzler, einem der drei Reichsausschussärzte, der in Frohnau, etwa 7 km vom Eichborndamm entfernt, eine Kinderarztpraxis mit Krankenhaus leitete, überwiesen worden.13 Einweisen konnte aber auch das Gesundheitsamt oder das Jugendamt. Die Wohnadresse vieler Kinder waren Kinderheime der Umgebung, wie zum Beispiel Bad Freienwalde, Borgsdorf, Marienstift Crossen, Marwitz, Oranienburg und Reitwein. Diese Kinder wurden in Begleitung einer Mitarbeiterin des Jugendamtes in den Eichborndamm gebracht. Aus der Akte geht hervor, dass sie in der Regel mindestens ein Elternteil verloren hatten, unehelich14 oder die Eltern geschieden waren.15 Überwiegend aber kamen die Kinder von zu Hause in Begleitung ihrer Eltern oder eines Elternteils. Manchmal war es die halbe Familie, die bei der Ankunft im Eichborndamm dabei war: »J. H. wird von den Eltern und Großeltern gebracht.«, hieß es zum Beispiel. Und weiter: »Ein munteres Kerlchen, bei der Ankunft wollte er gleich zur Schwester auf den Arm und blieb bei ihr. Mittags gut gegessen (…).«16
Aufnahme im Eichborndamm.
Erste Untersuchungen und Tests
Nach der Ankunft wurden, zumeist von Ernst Hefter, dem Leiter der Klinik, Auf nahmegespräche mit den Angehörigen geführt und die Krankheitsgeschichte mit der Vorgeschichte erstellt. Die Vorgeschichte enthielt den Geburtsverlauf, den ersten Ein druck der Mutter von dem Neugeborenen und die bisherige Entwicklung des Kindes, darüber hinaus die Zahl und die individuelle Entwicklung der Geschwister, mögliche Fehl- und Totgeburten der Mutter und Krankheiten in der Familie einschließlich der Großeltern. Des Weiteren wurden Feststellungen zur momentanen familiären Situa tion eingetragen, wie zum Beispiel der Hinweis, dass der Vater an der Front kämpfe oder während des Russlandfeldzuges gefallen sei, die Mutter mit mehreren Kindern allein und überfordert sei.17 Hefter beurteilte darüber hinaus Bildungsstand, Lebens stil und eine mögliche Vorbelastung der Familie, wie »Beide Eltern nicht sitzenge blieben (..) Ein Bruder der KM beging Selbstmord«,18 »aus einer tadellosen Familie ohne jede Anhaltspunkte für erbliche Belastung«19 oder auch, dass die Eltern »einen gutwilligen, etwas primitiven und insbesondere die Mutter einen intellektuell zwei fellos etwas beschränkten Eindruck« 20 machen würden.
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In den folgenden Tagen wurden die Kinder von Kopf bis Fuß in der Regel von der Stationsärztin untersucht, Körperteil für Körperteil vermessen und beurteilt: Au genbewegungen, Lidspalten, Gehör, Zunge, Sprache, Arme, Rumpf mit Wirbelsäule, Beine, Muskeltonus, Entwicklungsgrad. Zu den weiteren routinemäßigen Untersu chungen gehörte ein Intelligenztest nach Binet-Bobertag und eine genaue RöntgenUntersuchung des Schädels. Die »Schädelübersicht, p.a. und links aufliegend« er gab dann, neben Angaben wie zum Beispiel zur Größe des Kopfes, zur Stärke der Knochenschale, zur Fontanelle, eine akribische Beschreibung der Form des Schädels. Des Weiteren finden sich in den Patientenakten serologische Untersuchungen, Fie berkurven, Untersuchungen von Blut- und Stuhlproben, Nasen- und Rachenabstri che zum Ausschluss von Krankheiten wie Ruhr, Diphterie, außerdem Berichte von Krankenhäusern und anderen Einrichtungen, Pflegeberichte und Sektionsberichte. Viele der Kinder wurden im Rahmen der Tests und Untersuchungen nackt fotogra fiert, manchmal auch von verschiedenen Seiten. In einigen Akten finden sich Fotos der Kinder post mortem. Nach mindestens einer Woche Eingewöhnungszeit wurden die Aufnahmeuntersuchungen durch einen Absatz zum »psychischen Verhalten« des Kindes ergänzt. Neben Beobachtungen, ob das Kind nach Gegenständen greift, spielt, auf Licht und Geräusche reagiert, wie das Sprachverständnis ist, wie gut es sitzen kann oder ob es gefüttert und »gebündelt« werden muss, werden hier auch Anmerkungen zum Wesen gemacht: »Das Kind hat sich gut eingewöhnt und man gewinnt schnell Kontakt zu ihr; sie ist lieb und freundlich;« 21 oder: »Das Kind sitzt - sich selbst überlassen meist munter in seinem Bettchen und schaut umher, sie lacht vergnügt, wenn man sich mit ihr beschäftigt,(…)« 22
Eine besondere Bedeutung kommt den Zeichnungen zu, die vereinzelt in den Akten zu finden sind und Teil der Untersuchung der etwas größeren Kindern waren. Die Kinder sollten ein Quadrat, einen Kreis, einen Baum und ein Haus nachzeich nen, Formen, die ihnen nachlässig vorgezeichnet worden waren. Diese Zeichnungen sind die einzigen Zeugnisse, die die Kinder hinterlassen haben.
Nach ihrer Aufnahme blieben die Kinder für Wochen oder Monate. Viele von ihnen wurden nach den erfolgten Untersuchungen in Heime verschickt, die eng mit dem Wiesengrund kooperierten, 23 kamen wieder zurück, wurden nach Hause entlas sen und oft nach kurzer Zeit wieder neu aufgenommen. Einige der Kinder starben jedoch schon wenige Wochen nach ihrer Aufnahme.
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Die medizinischen Versuche
Nahezu alle Kinder der vier Stationen wurden während ihres Aufenthaltes in der »Städtischen Nervenklinik« zur Erforschung ihres Gehirns encephalographiert, manche mehrfach. Es handelte sich dabei um eine äußerst schmerzhafte und gefähr liche Untersuchung, bei der durch eine Spritze in den Nacken dem Gehirn Flüssig keit entzogen und das entstandene Vakuum mit Luft gefüllt wurde, um möglichst kontrastreiche Röntgenaufnahmen zu erhalten. Die Kinder wurden solchen Ein griffen unterzogen, auch wenn sie kränklich waren und Fieber hatten. Viele erlitten Kreislaufschwächen, bekamen hohes Fieber und starben kurz nach einem solchen Eingriff. 24
Die Pflegeberichte geben Einblicke in die oft dramatischen Verläufe des sich rasant verschlechternden Gesundheitszustandes nach einer Encephalographie bis hin zum lapidar dokumentierten »exitus letalis« mit Angabe der genauen Uhrzeit, versehen mit der von Hefter häufig verwendeten Todesrune. Von kreislaufunterstüt zenden Mitteln wurde in vielen Fällen »im Hinblick auf den äußerst ungünstigen allgemeinen Entwicklungszustand Abstand« genommen. 25 Eine andere häufig an gewandte Untersuchung war die Lumbalpunktion, bei der, ähnlich wie bei der En cepaholographie, die Kinder durch eine Spritze im Lendenwirbelbereich Hirn- oder Rückenmarksflüssigkeit aus dem Wirbelkanal entnommen und im gleichen Maße Luft eingespritzt bekamen.
Die Krankenakten der verstorbenen Kinder geben jedoch nur eingeschränkt Auskunft und lassen keine Rückschlüsse auf ein zusätzliches Einwirken seitens des Personals zu. Dass der Tod der Kinder durch solche medizinischen Eingriffe jedoch nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern teilweise durch Injektionen von Lu minal, einem Medikament, das bei Epilepsie, Fieberkrämpfen und zur Narkosevorbe reitung gegeben wird, bewusst herbeigeführt wurde, geht aus den Ermittlungen des Gesundheitsamtes 1946 hervor. 26 Als offizielle Todesursache wurde in diesen Fällen häufig Lungenentzündung angegeben.
Im Wiesengrund wurden aber nicht nur Kindergehirne erforscht, sondern auch Medikamente ausgetestet, die hohes Fieber hervorriefen, um die heilende Wirkung von Fieberkuren herauszufinden, an denen einige von ihnen starben. In einem Kooperationsprojekt stellte die »Städtische Nervenklinik« eine Reihe von »R.A.-
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Kindern« der Charité zur Verfügung, um die Wirkung von Impfungen mit Tuber kulosebakterien zu testen. Von den 19 ausgewählten »R.A.-Kindern« starben etwa die Hälfte. 27
Die Rolle der Eltern
Es stellt sich die Frage, welche Rolle die Eltern bei der Einweisung und den Unter suchungs- und Behandlungsmethoden spielten. Zunächst muss festgehalten werden, dass Eltern von behinderten Kinder zu dieser Zeit unter einem hohen gesellschaft lichen Druck standen. Ein krankes Kind musste nicht nur angezeigt werden, son dern galt auch als Schande für eine Familie. Dennoch legen die Patientenakten nahe, dass sich viele Eltern zu ihren Kindern bekannten. Im Vertrauen auf Wissenschaft und Medizin begleiteten sie die Einweisung ihrer Kinder und hofften auf Heilung. Solche Hoffnungen wurden von den Gesundheitsämtern genährt, die angehalten waren, »die Fachabteilungen als modernste diagnostische und therapeutische Ein richtungen« darzustellen, »die auf die Behandlung schwerer Entwicklungsstörungen spezialisiert waren.« 28 In der Regel waren die Eltern ahnungslos, wenn sie ihre Kin der brachten und wussten nicht, was ihnen bevorstand. Aus den teilweise fast devot abgefassten Briefen sprechen ihre verzweifelte Lage und der Wunsch, das Beste für ihr Kind zu erreichen. Eine Reihe von ihnen drängten auf eine »Operation«, die in Aussicht gestellt worden war. So bat zum Beispiel eine Mutter um Verlegung ihrer Tochter aus dem Heim Oranienburg in den Wiesengrund, damit die Eingriffe vor genommen werden können. 29 Ein Vater, dessen Frau nach der Geburt gestorben war, befürchtete, in Russland zu fallen und bat darum, dass sein Kind in der »Städtischen Nervenklinik für Kinder« behandelt werden würde. 30
Eine Reihe von Eltern registrierten jedoch nach einer Weile, dass sich der Ge sundheitszustand und die Gesamtsituation ihrer Kinder nicht besserte, sondern eher verschlechterte, und drängten in Briefen auf persönliche Gespräche. Einige von ihnen holten sie auch entgegen des ärztlichen »Rats« wieder ab. 31 Andere Eltern lehnten eine weitere Encephalographie ab. 32 Ein Vater erkundigte sich mehrfach besorgt nach seiner Tochter, die auf der Treppe im Wiesengrund gestürzt war, wovon die Klinik leitung nichts wissen wollte, was aber zu einer Verschlechterung ihres Zustandes
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