Vorwort »Der Berliner ist grob, zanksüchtig, ohne Sentiment alität, eitel; mit Berlin und dessen Weise ist für den Berliner alles erschöpft, er hat keinen Maßstab als diesen. Er weiß nicht nur alles, er weiß auch alles besser!« Dies schrieb der Schriftsteller und theaterbe flissene Kritiker Heinrich Laube 1837. Das ist natürlich vollkom mener, grundsolider Blödsinn. Wenn einem der Widerspruch so leicht gemacht wird, bereitet es kaum Spaß, Irrtümer zu wider legen. Das war bei diesem Buch anders. Wir wurden prächtig unter halten mit den schätzungsweise 3 470 Kilogramm Papier, die unsere im Stahlbad der Fitnesshöllen abgehärteten Rechercheure täglich die Treppen zu unseren kargen Schreibstuben hoch wuch teten. Ohne die überaus hilfreiche Mitarbeit von Sabine Müller, Mat thias Zimmermann, Robert Zagolla und unserem sokratischen Lektor Christian Härtel hätte dieses Buch nur bestätigen können, dass es ein Irrtum ist anzunehmen, dass ein Buch auch immer In halt hat und es wert sein muss, veröffentlicht zu werden. Aber Obacht! Dies ist kein Lexikon. Eher eine experimentelle Ode, oder sagen wir: Textsammlung mit wissenschaftlichem Fundament und von historischer Unwucht, ein Pamphlet mit halbbiografischem Anstrich, ein faktenhuberischer Angriff auf unser eigenes Unwissen über den Ort, an dem wir gerne leben, ein offener und bisweilen anekdotischer Diskurs, der im Verlauf von Generationen das Selbstbild des Berliners auf subtile Art und Weise transformiert. Bisweilen neigt dieses Buch auch zu Über treibungen. Ganz anders als die Autoren. Wir leben seit 30 (Volker), beziehungsweise 20 Jahren (Robert) in Berlin. Wir lieben Berlin nicht. Nicht etwa deshalb nicht, weil wir zu Gefühlen der Liebe für Entitäten wie »Stadt«, »Heimat«
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oder »Lebensmittelpunkt« nicht fähig wären. Eher aus Prinzip. Weil wir keine Lokalpatrioten sein wollen und bevor wir im Chor der Jubelberliner mitsingen, lieber Rilke zitieren: Der erscheint mir als der Größte, der zu keiner Fahne schwört, und, weil er vom Teil sich löste, nun der ganzen Welt gehört. (aus Larenopfer, 1895) Damit dürften wir die Latte hoch genug gehängt haben, die zu rei ßen wir hier angetreten sind. Der feste Bodensatz der wissenschaftlich gesicherten Erkennt nisse als Sprungbasis erwies sich mit fortgesetzter Dauer der Übung eher als schlammiges Sediment, in dem wir waten. So fin det sich zum Beispiel in der Literat ur über den Flughafen Tempel hof immer wieder der Vermerk, es handele sich um den größten Gebäudekomplex Europas. Also schrieben wir das auch. Wurden aber schnell von erfahrenen Forschern belehrt, dass der 1977 vom rumänischen Dikt ator Nicolae Ceauses¸cu projektierte Protzpalast dem Flughafen Tempelhof diesen Rang abgelaufen hat. Über haupt: Baugeschichte. Es gibt Menschen, die multiple Orgasmen erleben, wenn sie städtebauliche Untersuchungen vornehmen oder ihr Augenmerk darauf lenken, dass 1881 der verputzte Back steinbau des Konzerthauses am Gendarmenmarkt mit Sandstein platten bedeckt wurde. Wir sind dankbar, dass es diese Menschen und ihre Werke gibt. Und noch dankbarer, dass wir es nicht sein müssen. Was können sie also für einen Nutzen aus diesem Buch ziehen? Nun, am Ende werden sie sagen: »Mein lieber Herr Gesangverein! Goethe, Teltower Rübchen, Schweinekot, Teeröfen, Telespargel und Seidenraupen alles in einem Buch. Die Jungs haben aber auch
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eine dicke Fresse. Das müssen Berliner sein. Na warte, denen geb ich’s. Mal sehen, ob sich da nicht noch ein Irrt um findet …!« O.k., sie bestätigen damit zwar das Vorurteil Heinrich Laubes. Aber wie sagte Theod or Font ane doch so schön »Vor Gott sind eigentlich alle Berliner«. Da kiekense aba, wa? Jetzt aber ma ran an die Buletten. Uns kann sowieso keener. Und im Ernstfall könn’se uns alle. Volker Wieprecht und Robert Skuppin Berlin, im September 2005
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Aalr äuc her eien Aale, die in Berlin gegessen und geräuchert werden, stammen nicht aus heimischen Gewässern Diese Annahme ist sowohl richtig als auch falsch. Denn bevor der Aal in den Mund oder gar ins Bewusstsein des Berliners gelangt, hat er eine nahezu unfassbare Reise hinter sich. Aber der Reihe nach. Viele kennen den Aal nur noch als Sushi Unagi, gedämpft mit süßlicher Sauce. Eine im Vergleich zum Schwein des Meeres, Lachs, teure Spezialität, denn – so ein Fischhändler – die »Aal preise sind in den letzten Jahren explodiert«. Mussten um 1990 für so genanntes »Besatzmaterial«, das heißt bis zu drei Jahre alte Aal brut von den Küsten Frankreichs und Englands, nur 150 Mark bezahlt werden, lagen die Preise im Frühjahr 2005 bei 1 100 bis 1 200 Euro. Es ist noch nicht gelungen, Aal außerhalb seines natür lichen Lebensraums zu züchten. Der Aal ist ein Wunder. Eines, das gefährdet ist. Über die Gründe für das stark reduzierte Aufkommen der Spe zies rätseln die Wissenschaftler der Fischereiämter und -behörden noch. Weltweit. Die gestiegene Nachfrage ist eines der Probleme, das dem Aal den Garaus macht. Wie auch beim Stahl kauft etwa China gerade den Weltmarktbestand gezielt auf und beliefert ganz Asien, allen voran Japan, mit der fettigen, glitschigen Delikatesse. Klimatische Veränder ungen und damit einher gehende verän derte Meeresströmungen, Umweltverschmutzung, Überfischung, Parasiten, Kormorane und Wasserkraftwerke tun ein Übriges. Die Gatt ung Aal, als ein hoch sensibler Indikator für int akte Bio tope, leidet enorm. Was in Berlin auf den Fischmärkten ankommt, stammt ur sprünglich aus 400 Meter Tiefe der Sargassosee im Golf von Mexi ko, gelangt über den Golfstrom binnen drei bis vier Jahren an die
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Küsten Frankreichs und Englands, wird abgefischt und zu großen Teilen in Aufzuchten in den Niederlanden, Dänemark und Italien hochgepäppelt. Die Sterblichkeitsrate dabei ist enorm. Entkommt der Jungaal seinen Häschern, wandert er auf der Su che nach Nahr ung in die Flussarme, wird damit zum so genann ten Steigaal. Schafft er es an den künstlichen Steigungen und Wassert urbinen vorbei gar bis in die Havel, warten in Höhe Pots dam die Reusen von Mario Weber auf ihn. Zwei bis dreimal die Woche leert Weber, der letzte Potsdamer Havelfischer, die Körbe, sechs Monate im Jahr. An guten Tagen tuckert er mit 150, 200 Ki logramm Aal nach Hause. An schlechten Tagen fährt er allein. Vom Landungssteg aus wandert der Aal in regionale Räuchereien, in Rest aurants, in Muttis Pfanne und Vatis Wanst. Was in Berlin und Brandenburg an 50 bis 150 Zentimeter lan gen (die längeren natürlich wieder die Weibchen) Breit- und Spitz kopfaalen herausgefischt wird, schmeckt nach Ansicht mancher Aalfans moddrig. »Blödsinn«, erwidern die andern, und verwei sen darauf, dass der »Brotfisch aller Fischer« nur aus freier Nat ur überhaupt eine Köstlichkeit sei. »Die Zuchtfische sind fett und fade!« findet Weber. Die ganze Sehnsucht des nacht aktiven Schlammwühlers gilt derweil dem Fressen und seiner Rückkehr zum Meer. Er futtert Würmer, Kleinkrebse, Insektenlarven, Fischlaich und später jagt er auch Fische. Er frisst sich Fett an für seine Reise. Sind die Tiere gar geschlechtsreif, wandern sie durch die Flüsse zurück in den Atlantik und treten ihre letzte Reise an. Mit dem Golfstrom zu rück in die Sargassosee. Dort laichen sie. Und sterben. Senatsverwalt ung für Stadtentwicklung und Umweltschutz (Hrsg.): Fische in Ber lin. Verbreit ung, Gefährdung, Rote Liste. Berlin 1993
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AGB – Amer ik a-Ged enkb ib liot hek Die Amerika-Gedenkbibliothek war ein Geschenk der Amerikaner, das vor allem aus Büchern und Steinen bestand Was soll schon an Irrtümern dabei heraus kommen, denken wir, angesichts des 3,2 Zentimeter hohen Stapels mit Informationen zur AGB , wenn man sich mit der Schenkung einer Bibliothek beschäftigt? Dass es heimlich die Dänen waren, die das Geld auf gebracht haben? Dass unter dem Gebäude amerikanische Atom sprengköpfe gelagert wurden? Dass der CIA am 23. Juni 1954 eine weitere Filiale eröffnete? Und in der Tat scheint das einzig Skur rile in der ersten hölzernen Übersetzung zu liegen, die ein wacke rer Beamter in den fünfziger Jahren vornahm: »American Memo rial Librar y« wurde zu »Amerikanische Gedächtnisbibliothek«. Fast wider Willen wird während der Lektüre so unpatriotischen Geistern wie den Autoren der Schauer der Freiheit über die schon faltige Haut gejagt, eine Empfindung, der wir durch ideologische Desensibilisier ung jahrzehntelang entgingen und die wir in jun gen Jahren verpönten: Die AGB war die leibhaftige Vergegenwär tigung des American Way of life, des pursuit of happiness: »Wir legen heute den Grundstein nicht nur zu einem Gebäude, sondern zu einem Symbol unserer gemeinsamen Sache und un seres gemeinsamen Handelns, das – was vielleicht noch wichtiger ist – zeigt, wie sehr die Freiheit, die wir erstreben, im Grunde eine recht einfache, anspruchslose und persönliche Angelegenheit ist. Es ist die Freiheit zu lernen, zu studieren, die Wahrheit zu suchen. Sie ist das wesentliche Merkmal einer freien Gesellschaftsord nung und der Ursprung unserer größten Kraft … In Amerika ver sinnbildlicht die public librar y diese Anschauung.« So äußerte sich Dean Acheson, Außenminister der Vereinigen Staaten von Amerika, bei der Grundsteinlegung am 29. Juni 1952. Er hatte eine Idee formuliert, die schnell verstanden und noch
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schneller angenommen wurde. Schon am ersten Tag der Ausleihe, am 17. Dezember 1954, hing das Schild »Wegen Überfüllung ge schlossen« an der Tür. Die AGB war eine gut sortierte Freihand bibliothek mit schnellen Ausleihwegen ohne Spezialisier ung – je des Fachgebiet verfügbar – mitten in Berlin, dem Osten nahe, ein Magnet auch für die Bewohner des sowjetischen Sektors. Alle anderen wichtigen und großen Bibliotheken lagen im Osten und der damalige Westberliner Oberbürgermeister Ernst Reuter fürch tete – im tönenden Blechdeutsch der Zeit – einen »Notstand der Versorgung mit geistiger Nahr ung«. Die Grandezza der amerikanischen Politik bestand nicht allein darin, den Berlinern in Ost und West eine Bibliothek zu schenken und dies als kleines Dankeschön für die Durchhaltebereitschaft während der Blockade zu deklarieren. Es waren nicht die fünf Millionen Mark, die diese Public Librar y kostete. Es war in der Tat das Symbol, das nach dem Mauerbau umso mehr Wertschätzung erf uhr. Die Stein gewordene deutsch-amerikanische Freund schaft, ein pathetisches Statement für die Freiheit. Die Gegenbewegung folgte in den sechziger Jahren: Die Aus leihziffern sanken im Jahr 1968 dramatisch, Ausleihe in der AGB galt unter Studenten als verpönt. Am 9. März legte eine Stadtgue rilla einen Brandsatz in der Lesehalle, 1981 folgte ein weiterer. Einen Popularitätsschub bekam die Bibliothek nach dem Mauer fall. 1989 kamen 500 Prozent mehr Leser. Einige brachten unter Tränen Bücher zurück, die sie kurz vor dem Mauerbau ausgelie hen hatten. 1995 wurde die Amerika-Gedenkbibliothek (ehemals Westberlin) und die Berliner Stadtbibliothek (ehemals Ostberlin) zur Zentral- und Landesbibliothek Berlin zusammengeführt. Und wir dachten bislang, die AGB sei nur eine Bibliothek gewesen. Eymar Fertig: Chronik. Daten zur Geschichte der Amer ika-Gedenkbiblio thek/Berli ner Zen tral bi blio thek. Ber lin 1993; Fritz Moser: Die AmerikaGedenkbibliothek als Idee und Erfahrung, Berlin 1956
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AGB – Amerika-Gedenkbibliothek
AIDS Die HIV-Gefahr in Berlin ist gebannt Berlin ist die deutsche Stadt, in der die meisten mit HIV (Human Immunodeficienc y Vir us) infizierten Menschen leben. 20 Prozent des bundesweiten epidemischen Geschehens vollzieht sich hier. Insgesamt sind in Berlin knapp 9 000 Menschen mit dem Retro virus infiziert, das sein Genom unauslöschlich in das Genom des Wirtes einbaut. Ein todbringender Gast, auch wenn die Über lebensrate nach Ausbruch der Infektion sich seit Mitte der neun ziger Jahre durch neue Medikamente durchschnittlich verdrei facht hat. Nach Angaben des Robert-Koch-Instit uts lebten Ende 2004 in Deutschland rund 44 000 Menschen mit HIV , dar unter etwa 34 000 Männer, rund 9 500 Frauen und 300 Kinder. Jedes Jahr kommt es zu etwa 2 000 Neuinfektionen. Die Hauptrisikogruppe der schwulen Männer ist in Berlin überproportional stark ver treten: Schätzungen gehen davon aus, dass hier bis zu 80 Prozent aller Infektionen durch homosexuellen Verkehr entstanden sind. 55 Prozent sind es im Bundesdurchschnitt. Die weiteren Anste ckungen sind zu ungefähr 10 Prozent auf Drogenmissbrauch, zu jeweils ca. 20 Prozent auf heterosexuelle Übertragung und »Her kunft aus Ländern mit hoher Epidemiologie« (z. B. Südafrika) zu rückzuführen. War bis 2004 die Zahl der HIV -Neuinfektionen unter schwu len Männern rückläufig, verzeichnete die Deutsche Aidshilfe 2005 einen leichten Anstieg: Es gab 50 Fälle mehr im Vergleich zum Vorjahr. »Statistisch ist das noch nicht signifikant«, sagt Karl Lemmen von der Deutschen Aidshilfe, »aber es ist ein Warnsig nal!« Als größten Irrt um bezeichnet er den stillschweigend herr schenden Glauben, man könne vom Aussehen eines Menschen auf eine mögliche Infektion schließen. »Eigentlich weiß jeder, der
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sich mit dem Thema beschäftigt hat, dass dieses Vir us unsichtbar ist. Dennoch vertrauen die Menschen ihren Augen mehr als ih rem Verstand. Und die Augen sagen: Der sieht doch so gesund aus. Der kann nichts haben.« www.aidshilfe.de
Alb rechts Teero fen Albrechts Teerofen ist eine rauchige Kaschemme in Kohlhasenbrück Ursprünglich waren Kohlhasenbrück und Albrechts Teerofen zwei kleine, nah beieinander gelegene Siedlungen. Fast zu klein, um die Mühe zweier Namen zu rechtfertigen. Auf der Koordinate 52° 23' 43" N; 13° 10' 5" O im heutigen Bezirk Steglitz-Zehlendorf stand (wahrscheinlich) bis zum Jahr 1783 ein Teerofen, dessen Ausstoß heute an die abwechslungsreichen Menüs der RBB -Tee stube im nahe gelegenen Potsdam-Babelsberg erinnert. Kienöl für Druckereien stellten Herr Albrecht (verstorben 1680) und sein Nachfolger Kockert her, Holzkohle für Gießereien, Pech für den Schiffbau und vor allem Teer, aus dem Schmierstoffe für Wagen gewonnen wurde. Kutscher machten entlang der san digen Straße halt, fetteten ihre Radlager und gossen sich im nahe gelegenen Krug selber tüchtig einen ein. Schon 1589 werden der Ort Kohlhasenbrück und sein bekanntestes Gewerk, nämlicher Teerofen, synonym verwandt. In einer Steuerliste heißt es: »Kohl hasenbrück oder Teerofen gehört zum kurfürstlichen Amt Pots dam.« Kohlhasenbrück wieder um hat seinen Namen von Hans Kohl hase (hingerichtet 1540), der wegen erlittenen Unrechts im kur
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Albrechts Teerofen
fürstlichen Brandenburg zum Rebellen und erst als »Michael Kohlhaas« in Heinrich von Kleists gleichnamiger Novelle richtig berühmt wurde. Er soll bei der nämlichen Brücke Geld versenkt haben. Im 18. Jahrhundert kredenzte ein eigens vom großen Kurfürs ten importierter Holländer dort frisch gebrautes Bier und einen Wein, der auf den Anhöhen von Stolpe und Glienicke wuchs. Als 1792 eine neue Chaussee für den Weg von Berlin nach Potsdam eingeweiht wurde, ging der Krug ein. Dem Teerkocher Albrecht zu Ehren fabriziert der Pächter der RBB -Kantine mehrmals jährlich Gemüsespieße vom Grill, die vor
allem durch halbrohe Zwiebeln mit Grillanzünderaroma daran erinnern, wie vielseitig verwendbar natürliche Rohstoffe sind. Karl Wolff: Wannsee und Umgebung. Klein-Glienickes Schlösser und Parks. Pfau eninsel. Nikolskoe. Vergangenheit und Gegenwart. Berlin 1985
Ampelm ännc hen Der Streit um das Ampelmännchen war ein klassischer Konflikt Ost gegen West Um es klar vorweg zu sagen: Die erste Ampel in Deutschland wurde nach amerikanischem Vorbild 1924 am Potsdamer Platz aufgestellt. Hier. Das waren wir. Sie galt Autos wie Fußgängern gleichermaßen, wurde von letzteren aber lebhaft ignoriert. Die erste englische Gasampel war schon 1908 explodiert. Unser Mo dell hingegen stand und stand und stand. Kein Wunder, dass Mitte der neunziger Jahre ein ebenso energischer wie emotionaler Krieg um dieses Leuchtfeuer der Moderne in unserer kleinen Re publik ausbrach.
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Am 15. Mai 1957 vermeldete der Berliner »Telegraf« Vollzug. Berlins erste reine Fußgängerampel sei in Betrieb genommen wor den. In 18 Sekunden musste man die Straße »Unter den Eichen« vor dem bot anischen Garten überqueren. Während der nächsten 30 Sekunden ergossen sich die Autoströme an dem schlanken Mann in Rot vorbei. Ein grünes Ampelmännchen gab es noch nicht, der Verkehrssignalgeber aus dem Hause Siemens ließ einen mit dem Wort »Gehe« wissen, wann des Fußgängers Sekündlein geschlagen hatte. Das rote Männchen glich einem sehr schlanken GI in typischer Uniformjacke der vierziger Jahre, mit deutschem
Hütlein auf dem zu klein geratenen Kopf. Sein Ostberliner Brüderchen erblickte erst am 13. Oktober 1961 das Graulicht der Welt. Es hatte nur einen Vater, den Designer Karl Peglau, und war eine echte Kopfgeburt: »Das Männchen sollte durch konkret anschauliche und gemüt lich lustige Figürlichkeit alle Fußgänger ansprechen und die anschauliche Gebundenheit psychischer Erlebens- und Verarbei tungsweise von Kindern, Alten und geistig Behinderten berück sichtigen; durch dicke, ausgebreitete Arme beim front al stehen den roten Männchen die Funktion des Sperrbalkens, also die Halt-Forder ung unterstützen, durch weit ausschreitende Beine in seitlicher Stellung des grünen Männchens die Funktion des dyna misierenden Pfeils, also die Geherlaubnis, unterstützen.« Die größte Sorge des Schöpfers galt dem kecken Hütchen. Peg lau fürchtete, die Parteibonzen könnten darin die Insignie eines verhassten Bourgeois erspähen. Der Hut ging durch, allein sein lebenshungrig geöffneter Schmunzelmund verschwand im Laufe der Jahre. Die Quellen sprechen von Vereinfachung der Darstel lung aufgrund »ausleucht ungstechnischer« Gegebenheiten, nicht von Maulsperre. Da war es also, das Ostampelmännchen, irgendwie lebhafter als sein Westbrüderchen. Es wurde nach der Wende zum Objekt
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Ampelmännchen
west-östlicher Schrebergartenkriege. Nur kämpften die Ritter des Lichts zeitweise mit geschlossenem Visier, so dass das Objekt der Auseinandersetzung zwar ein klassischer Streitfall zu sein schien, die Prot agonisten aber mit verkehrten Rollen agierten. Der medial wirksamste Kämpfer »gegen« das Ostampelmänn chen war der damals einzige Ossi bei der auflagenstärksten Wo chenzeit ung »Die Zeit«. In der Ausgabe vom 23. August 1996 ver öffentlichte Christoph Dieckmann unter dem Titel »Danke, Herr Ampelmann!« eine Satire, die bei den westlichen Lesern nicht als solche verstanden wurde. Die Männchen der Fußgängerampeln im Osten »… zeigten ungesunde Korpulenz (Gemüsemangel) und trugen Herrenhüte, welche Honeckers Staatsvolk in den HO und Konsument-Geschäften wohl vergeblich suchte. Das grüne Männchen rast in sklavischer Hast: Dawai! Dawai! Das Rote brei tete autoritär die Arme: Halt! Stehen bleiben. Die Piktrogramme des Westens hingegen atmen zivile Selbstverständlichkeit.« Der Proteststurm suchte seines gleichen und blies fast aus schließlich aus westlicher Richt ung: »Hetze in Reinkult ur«, Su delei, »beleidigend, platt und arrogant«, antidemokratisch; ande re Totschlagargumente westlicher Gutmenschen folgten. Keiner lachte. Einigen Lesern antwortete Dieckmann, dass er heimlich Ossi sei und die erste Bürgerinitiative, die die Ostler nach 1989 unter dem Namen »Komitee Rettet die Ampelmännchen« be gründet hatten, zwar von Herzen unterstütze, im Männchen sel ber aber keineswegs das Potential sehe, Gralshüter der Ost-Identi tät zu sein. Identität habe man, oder aber nicht. Die westlichen Ampelmännchen orderte derweil zuhauf der, na? Richtig: Ossi. Der VEB Signaltechnik wurde schon 1990 pri vatisiert und verlor seine Kunden. »Die Ostdeutschen Kommu nen kauften aus den Hochglanzprospekten des Westens. Natür lich auch die mageren Westampelmännchen.« Identität hat man, oder aber nicht.
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»Identität haben die armen Ossis wohl nicht! Haben doch so sehr unter uns gelitten. Müssen wir was Gutes tun! Machen wir da, wo es uns nicht weh tut!« So, argwöhnen wir, mögen die un terschwelligen Beweggründe bei dem westlichen Softwarehaus FontShop im Frühjahr 1995 gewesen sein. Dem Ossi muss ge holfen werden. »Häuserabriss, Straßenumbenennung, Schilder sturm – die Menschen in der Hauptstadt und anderswo haben die Vereinnahmungspolitik langsam satt«, wurde der damalige Marketingleiter des Unternehmens zitiert. Und ebenso vernied lichend fügte der Westgrafiker Erik Spiekermann hinzu: »Der stupsnasige Wichtel erzeugt bei Kindern, aber auch Erwachsenen eine größere Akzept anz als der steife DIN -Strichmann!« So wie Schönheit liegt offenbar auch Kindlichkeit im Auge des Betrachters. Der Tübinger Industriedesigner Markus Heckhausen zog nach Berlin und betrieb einen schwunghaften Handel mit Ost-Am peln, die er als Wohnzimmerleuchte (Wand/Tisch/Boden) ent worfen hatte. FontShop digit alisierte den roten und den grünen Knollnaserich im Rahmen eines »Solidaritäts-Fonts« und schuf einen passenden Schriftzug. Internet und Medien waren dank bare Helfer. Keiner kam mehr an dem Ampelmann vorbei. Die Re publik hatte ihr Thema. Unterschwelliger Tenor: Der Westen war schuld, der Westen half schuldbewusst, und so durfte das Ostam pelmännchen bleiben. Der grüne Abbiegepfeil mancherorts gleich mit. So kam es, dass der Westen als stärkster Streiter für das Am pelmännchen gegen sich selbst zu Felde zog und den Osten dabei wie immer vereinnahmte. Genau so, wie der Ossi es immer ge wollt hatte, in dem er das Gegenteil behauptete, um sich dann ge gen die bestehenden Verhältnisse aufzulehnen. Christoph Dieckmann: Das wahre Leben im falschen. Geschichten von ostdeut scher Identität. Berlin 1998; www.ampelmann.de
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Ant ifas chist is cher Schutzwall Geisterb ahnh öf e Arb eit er- und Baue rnstaat V Dia l ekt Armbanduhren V Flaggenhissung auf dem Reichstag
Arm ut Die ärmsten Berliner wohnen im Osten Aus westlicher Sicht liegt der Bezirk mit den ärmsten Berlinern zwar im Osten, aber eigentlich ist es ein alter Westberliner Bezirk, der Probleme macht: In Berlin-Neukölln leben die meisten über schuldeten Menschen Berlins. Im Schnitt sind dort 7,5 Prozent aller Haushalte pleite, im Norden Neuköllns ist sogar fast jeder achte Haushalt (12,59 Prozent) zahlungsunfähig. Im Süden von Steglitz-Zehlendorf sind dagegen gerade einmal 1,69 Prozent der Haushalte überschuldet. Auch hinsichtlich der Sozialhilfeemp fänger war Neukölln zum Jahresende 2004 führend: Insgesamt waren dort 43 663 Personen betroffen, das sind 143 je 1 000 Ein wohner, so die Informationen vom Statistischen Landesamt. In Steglitz-Zehlendorf kommen dagegen nur 40 Empfänger auf 1 000 Bürger. Erschreckend vor allem, dass rund 35 Prozent der Empfänger minderjährig sind. Bereits in den achtziger Jahren war Berlin-Neukölln ein armes Pflaster, als sparsamer Student lebte ich dort. Zuwenig Geld gab es bereits damals, und für manchen Überschuldeten kam noch das Spießrutenlaufen im Postamt an der Neuköllner Hobrechtstraße hinzu. Jeden Samstag Vormittag standen die sozial Schwachen am
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Geldschalter. Wer kein Geld hatte, wurde wie heute auch von den Banken abgelehnt. Nur die zu dieser Zeit noch staatliche Post muss te für jeden ein Konto führen. Nach über 20 Minuten Wartezeit in einer langen Schlange wurde der Postbarscheck vom Schalterbe amten telefonisch überprüft. Häufig wurde dann nicht das Geld ausgezahlt, sondern der Scheck gestempelt und wegen Illiquidität zurückgegeben. Das bekamen natürlich alle Wartenden mit. Der so vor aller Öffentlichkeit gedemütigte Pleitier musste dann an der ganzen Schlange wieder vorbei, um das Postamt zu verlassen. Da bei wurde er mit Veracht ung, Mitleid, Schadenfreude oder auch Entsetzen von den anderen Leidensgenossen angesehen. Mir ist es etwa fünfmal passiert. Mein Postbank-Konto habe ich zwar behalten, aber ich rede schlecht über die Postbank – und wenn es geht, schreibe ich auch schlecht über sie. Marc Neller: Noch tiefer in die roten Zahlen. In: Der Tagesspiegel, 23. Juli 2005
Avalon V Steglitzer Kreisel
AVUS Berlin hat keine Rennstrecke Die Deutschen hatten bei Autobau und Autofahren nicht immer die Nase vorn. 1907 gab es das internationale Kaiserpreis-Rennen im Taunus und deutsche Automobile belegten die letzten Plätze. Schnell wurde der Ruf nach einer Übungs- und Teststrecke im Kaiserreich laut. Neben dem Taunus galt die Berliner Gegend als geeignet für einen Rennkurs.
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Die Entscheidung fiel zugunsten Berlins. Hier waren die zen tralen Automobilclubs, zahlreiche Autofabriken, die alljährliche Automobilausstellung und die meisten Autos. Von den 30 000 Kraftfahrzeugen im Deutschen Reich kurvten alleine 7 000 durch Berlin. 1909 gründete sich die »Automobil-Verkehrs- und Übungs straße GmbH«(AVUS ). Nach schwierigen Verhandlungen begann 1913 der Bau der Strecke von Charlottenburg nach Nikolassee. Die geplante Eröffnung im Herbst 1914 wurde durch den Beginn des Ersten Weltkrieges verhindert. Erst danach konnte das Projekt mit neuen Geldgebern wie Hugo Stinnes fertig gestellt werden. Am 23. September 1921 wurde die Deutsche Automobilausstel lung in Berlin eröffnet und zum ersten Mal auf der AVUS ein Ren nen gefahren. An zwei Rennt agen kamen jeweils über 300 000 Besucher zur Strecke. Eine Runde auf der AVUS war 19,6 km lang. Neben den beiden langen Geraden gab es eine Nord- und eine Südschleife. Der erste Sieger war Fritz von Opel mit einem gleich namigen Auto. Er gewann in der Klasse der Wagen mit bis zu 800 Kilogramm und 8 PS . Die Durchschnittsgeschwindigkeit lag da mals bei fast 130 km/h. Nach der erfolgreichen Eröffnung wurde die Strecke ab Okto ber 1921 für den privaten Verkehr freigegeben, allerdings war die Benutzung kostenpflichtig. Nur wenige Menschen konnten sich »Fahrten auf der AVUS « leisten. Und noch schlimmer: Während der »Inflation« demontierte und verkaufte bzw. verheizte der not leidende Teil der Bevölker ung die mobilen Teile der Strecke. Am 11. Juli 1926 fand dann zum ersten Mal der »Große Preis von Deutschland« auf der AVUS statt. Vor über 230 000 Zuschauern kämpften Rennfahrer aus Frankreich, Italien, der Tschechoslowa kei, der Schweiz und Deutschland um den Titel. Gewonnen hat Rudolf Caracciola, von den Berlinern »Caratsch« genannt. Trotz Regen stellte er mit seinem Mercedes einen neuen Rundenrekord (154,08 km/h) auf.
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Aber diese Rennveranstalt ung stand unter keinem guten Stern. Bei Unfällen starben insgesamt vier Menschen. Es wurde erstmals deutlich, dass bei Planung und Bau der AVUS nur ungenügende Sicherheitsvorkehr ungen getroffen worden waren. Der »Große Preis« wurde in der Folgezeit nur noch auf dem Nürburgring (1927 eröffnet) ausgetragen. Die AVUS hatte auch große Probleme mit dem Straßenbelag, teilweise bildeten sich Bodenwellen mit bis zu 10 Zentimeter Höhe. In den Folgejahren experimentierte man mit neuen Belä gen und gewann wichtige Erkenntnisse für den Straßenbau. 1928 stellte Fritz von Opel mit einem raketengetriebenen Auto (Opel RAK 2) und mit 230 km/h Spitzengeschwindigkeit einen neuen
Rekord auf. Um die Rundengeschwindigkeiten weiter zu erhöhen, wurde die Nordkurve 1937 durch eine Steilkurve ersetzt. Das führte zu einem neuen Rekord: Ein Mercedes Silberpfeil erreichte 260 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit. 1939 wurde die AVUS an das Deutsche Reich verkauft und 1940 als Teilstück der Reichsautobahn mit dem Berliner Ring ver bunden. Jetzt war die Rennstrecke in den normalen Autoverkehr von und nach Berlin einbezogen. Während des Zweiten Welt krieges wurden Teile der Strecke schwer beschädigt. Am 1. Juli 1951 konnte das erste Nachkriegsrennen gestartet werden. In der Formel-2-Klasse gewann Paul Greifzu, ein Fahrer aus der DDR , mit einem umgebauten Vorkriegs-BMW aus Eise nach. Am 2. August 1959 wurde wieder ein »Großer Preis von Deutschland« auf der AVUS ausgetragen – und wieder gab es ei nen Toten. Einen Tag vor dem Formel-1-Rennen verunglückte der französische Fahrer Jean Behra. Er schoss mit seinem Auto über die nördliche Steilkurve hinaus. Das Formel-1-Rennen wurde dennoch veranstaltet. Tony Brooks siegte auf Ferrari vor Stirling Moss, Graham Hill und Jack Brabham.
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Der Todessturz von Behra führte zu vielen Veränder ungen. Die Formel 1 ließ keine Strecken mehr mit Steilkurven zu und die AVUS wurde von 1967 bis 1971 umgebaut, die Steilkurve wurde
abgerissen und das Autobahndreieck Funkt urm errichtet. Nach dem Fall der Berliner Mauer stieg der Verkehr auf der AVUS sprunghaft an. Sperrungen für Rennen wurden zuneh
mend problematischer. Trotzdem gab es sie weiter, obwohl es immer wieder zu schweren Unfällen kam. 1995 verunglückte der Brite Keith Odor bei einem AVUS -Rennen. 1998 fand dann das letzte offizielle Rennen statt. Heutzut age gilt ein Tempolimit von 100 km/h auf der AVUS – allerdings halten sich nicht viele Fahrer daran. Auch ich möchte mich an dieser Stelle outen: 1996 habe ich das Tempolimit auf der AVUS böse überschritten. Nur so war es mir möglich, die Strecke
Berlin-Neukölln, Pannierstraße, nach Potsdam-Babelsberg, Au gust-Bebel-Straße, morgens um 5.20 Uhr in 22 Minuten zu schaf fen. Ich bin nicht stolz auf diese Tat, aber der Vollständigkeit hal ber sollte auch diese Rekordfahrt hier erwähnt werden. Hans Aschenbrenner: »Mit einer Träne im Knopfloch«. Auf der AVUS rasten 1998 die letzten Rennwagen durchs Ziel. Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001
Bahnh of Zoo Die Westberliner verabscheuten den Bahnhof Zoo In Westberliner (Westberlin) Zeiten ist der Bahnhof Zoo ein Stachel im Fleisch der westlichen Stadthälfte. Eine schwärende Wunde, die eitert und suppt, notdürftig versorgt vom ideologisch gestählten, medizinisch unzureichend ausgebildeten Personal der Deutschen Reichsbahn.
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Obdachlose hausen hier, es riecht nach Pisse, die Scheiben der Haupthalle sind blind, Taubenkot befleckt die Bürgersteige in der Jebensstraße, jedes Jüngelchen, argwöhne ich, hat erhöhte Leber werte. Entweder von den Drogen oder, was wahrscheinlicher ist, von Geschlechtskrankheiten. Ich weiß Bescheid. »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« ist Pflichtlektüre in der neunten Klasse. Spon tan beschließe ich nach der Lektüre, nicht heroinsüchtig zu wer den. Sex finde ich trotzdem gut. Es ist das Jahr 1982. Der Bahnhof Zoo wird 100 Jahre alt. Keiner feiert. Eingeweiht wurde der Bahnhof als Teil des »bedeut ungs vollsten und größten Ingenieurbauwerks Europas«: »Die vierglei sige Stadtbahn hat eine eminent strategische Bedeut ung; sie erleichtert namentlich die beschleunigte Überführ ung großer Truppenmassen … und ist ferner ein Hauptverkehrsmittel in der Stadt und nach den Vororten«, hieß es 1882 in der »Illustrirten Zei tung«. Kaisers Zeiten: Zivile Zwecke unter ferner liefen. Soldaten der Bundeswehr gibt es nicht im Berlin der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Jedenfalls nicht in Uniform. Wehr dienstflüchtlinge dafür umso mehr (Wehrdienst). Sie sehen alle so aus wie ich und schlimmer: braune Latzhose, graue knöchel hohe Boots, ein weinrotes T-Shirt mit Stickern von The Specials und The Police. Man will sich bei den Punks ja nicht unbeliebt machen. Ich rauche Camel, die ich an dem winzigen Kiosk am Ende des Bahnsteigs der U-Bahn-Linie 1 gekauft habe: ein quadratisches Loch in der gelb gefliesten Wand, von der Endhaltestelle meiner Buslinie, dem 62er, nur 50 Meter nach rechts und fünf Meter nach unten entfernt. Vom Zoo weht irgendein Lüftchen herbei, das selbst ein Tier nur hinterrücks herausrücken würde. Um die Ecke sind die beiden größten Kinos in meinem Berlin. Ich bin oft hier. Einmal schleiche ich sogar durch die Hintertür ins »Taki«, den Softpornoschuppen am Bahnhof, und begeifere die diensthaben
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den Nackedeis auf der Leinwand, um mich anschließend abschät zig über die Pornoindustrie äußern zu können. Schlimme Frauen unterdrücker das! An diesem Tag im Juli aber stehe ich am Gleis 1 des Fernbahn hofs. Im Nachhinein erscheinen die Erinner ungen daran in kal tem Schwarzweiß. Nichts, aber auch gar nichts Originelles ist dabei. Jeder weiß, dass man nach einer Fahrt mit der Reichsbahn den Duft der DDR in Haaren und Kleidung trägt. Ich bin 15 und fahre zu meiner Großmutter. Ich warte auf Steffi, meine erste Freundin. Jedenfalls wird sie es bald. Es ist die letzte Woche der Großen Ferien. Sie war mit ihrer Familie in Griechen land, ich im Zeltlager. Ich habe ihr geschrieben, braunes, linier tes Briefpapier. Drei Seiten. Mein persönlicher Rekord. Anr ufbe antworter und Handys gibt es noch nicht. Ich weiß nicht, ob Steffi meinen Brief rechtzeitig bekommen hat und mich am Zug ver abschiedet. Wir haben uns zwei Tage vor ihrer Abreise kennen gelernt. Später werde ich sagen, dass dieses Gefühl Verliebtsein war. Der Nachtzug nach Dortmund wartet auf Abfahrt. Damals finde ich es noch aufregend, eine schlaflose Nacht in einem Ab teil zu kauern, in dem die Lieblosigkeit täglich wiedergeboren wird. Ob ich Steffi anr ufe? Schaffe ich das? Die acht Telefonzellen gegenüber vom Bahnhof sind ständig belegt, vor allem am Sonn abend, wenn die »Berliner Morgenpost« ab 20.00 Uhr am Zoo ver kauft wird und alle Welt Jagd auf die wenigen anständigen Woh nungen macht. Die Schlauen sind zu zweit: einer in der Schlange für die Zeit ung, einer schon in der Telefonzelle. Die Telefonzellen der einzigen Post, die auch am Wochenende Pakete annimmt und Briefmarken verkauft, sind ebenfalls entwe der belegt oder defekt. Also lieber nichts riskieren. Ich warte und streiche an den Waggons vorbei.
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Vor 100 Jahren galt die Nutzung des Bahnhofs Zoo als »ge fährlich für Frauen, Kinder und schwächliche Personen«, die die Coupés (Abteile) im wahrsten Sinne des Wortes erstürmen muss ten, da die Züge nur für rund eine Minute hielten. 1889 berichtete ein Zeitzeuge gar, es seien nur 30 Sekunden, die die 60 000 Rei senden täglich jeweils zum Ein- und Aussteigen haben. Aus den Kiemen der Diesellok dringt ein Gemisch aus Techni scher Notdurft und Abenteuergeist. Eine grimmige Zugabfertige rin der Reichsbahn mit schmalen Lippen schwenkt ihre Pfeife und scheint nichts und niemanden eines Blickes zu würdigen. Wo ist Steffi? Mittlerweile hat sich meine drei Wochen angestaute Sehn sucht in ein schmerzliches Brennen verwandelt. Mein Mund ist vor Qualm und banger Vorf reude ganz trocken. Ein Mann kauft eine Wurst, bricht einen Zipfel ab, tunkt ihn in den Senfhaufen und schiebt einen Teil der dreieckigen Weißbrotscheibe nach. Un ter dem Waggon gibt eine Klappe Unansehnliches frei. Dürfen darf man doch erst nach Ausfahrt des Zuges. Dann endlich kommt Steffi. Zwei Minuten vor der Abfahrt, sie rennt die Treppe hoch, nimmt immer zwei Stufen auf einmal. Ihr himmelblauer Batikrock mit den kleinen Schellen im Saum fliegt, als sie auf mich zu rennt, unter ihrem weißen T-Shirt nur wippen de Brüste, kein BH . Die braunen unrasierten Beine in schwarzen, asiatischen Samtschläppchen feinen Riemen über dem Spann. Ich renne, sie rennt, wir treffen uns auf halbem Wege, dann rennen wir beide wieder in meine Richt ung, Hand in Hand. Der Pfiff. »Bis Wannsee kann ich doch mitfahren. Die Schaffner kom men doch nie vor den Vopos!« Wir klettern in den Wagen. Ich sehe Steffis Unterhose unter dem Rock. Dann küsst sie mich. Ich denke nur daran, wer die Strafe bezahlt, wenn jetzt der Schaffner kommt. Vor den schmierigen Zugscheiben zieht das Theater des Westens vorbei. Und Steffi küsst mich.
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»Time is a Train, makes the Fut ure The Past«, singen U2 in ih rem Lied über den Bahnhof Zoo. Blödsinn. Bis zum Bahnhof Wannsee stirbt für mich die Zeit. Wie kann man nur mit 15 zu sei ner Oma fahren, wenn man noch nicht einmal den Busen seiner Geliebten berührt hat? Darüber singt nie einer was. Beim Frühstück am nächsten Morgen fragt mich die Frau, die mich mit großgezogen hat, ob ich ein Ei möchte. Ich habe keinen Appetit, wieder nur Sehnsucht und nur ein Verlangen: So schnell wie möglich in diesen Bahnhof einzufahren. »Bahnhof Zoo, mein Zug fährt ein, ich steig aus, um wieder da zu sein.« Ideal. Nichts Ber uhigenderes, als sich im Spiegel seiner eigenen Geschichten wieder zu erkennen. Uff, überstanden! Ab 2006 wird der Bahnhof Zoologischer Garten – so der derzei tige Planungsstand – als Fernbahnhof stillgelegt. Ein Regional bahnhof für Nahverkehrszüge und die S-Bahn wird bleiben. Alle Welt muss dann zum Hauptbahnhof genannten ehemaligen Lehr ter Bahnhof, dem neuen Knotenpunkt. Manchmal besuche ich Steffi noch. Sie wohnt in Süddeutschland. Meistens nehme ich dann den Flieger. Alf red B. Gottwaldt: Berlin Bahnhof Zoo. Fernbahnhof für eine halbe Stadt. Düs seldorf 1988
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Berg e Berlin hat keine Berge Selbstverständlich hat Berlin Berge, sogar »natürliche« wie die Müggelberge mit einer Höhe von 115 Meter. Das Statistische Jahr buch nennt unter dem Stichwort »ausgewählte Bodenerhebun gen« 28 Berge, darunter den Prenzlauer Berg, den Schäferberg, aber auch die Mülldeponie Wannsee mit immerhin 95 Meter Höhe. Noch exotischer sind die künstlichen Trümmerberge der Haupt stadt. Spitzenreiter ist da der Teufelsberg mit ebenfalls 115 Meter Höhe. Er hat seinen Namen vom südlich gelegenen Teufelssee und wird von den Berlinern auch Monte Klamotte genannt. Über 20 Jahre dauerte seine Aufschütt ung. Von 1950 bis Anfang der siebzi ger Jahre wurde der Hügel aus zirka 26 Millionen Kubikmetern Trümmerschutt des Zweiten Weltkrieges aufgetürmt. Der Dop pelberg mit seinen beiden Gipfeln wurde mit 180 000 Bäumen be pflanzt. Er sollte ein Freizeitgelände werden und so wurden Ski hang und Rodelbahn bei der Erstellung bereits eingeplant. Der Mauerbau 1961 änderte die Lage. Das U. S. Militär sperrte einen der Doppelgipfel für den Publikumsverkehr und baute erst eine provisorische, dann feste Abhöranlage in 110 Meter Höhe. Damit wurde der Funkverkehr des »Warschauer Pakts« belauscht. 1972 musste der Liftbetrieb der Skipiste auf dem Teufelsberg ein gestellt werden, weil dieser den Spionagef unkbetrieb störte. Nach dem Mauerfall wurde die Funkanlage demontiert. Das Gelände verkaufte der Senat 1996 an einen privaten Investor zum umstrittenen Preis von 5,2 Millionen Mark. Dieser plante dort ein Edel-Luxus-Ressort. Das Projekt scheiterte. Noch heute beherbergt das 110 Hekt ar große Gelände des Teu felsbergs einen Kletterfelsen des Deutschen Alpenvereins, eine Rodelbahn und eine 380 Meter lange Skipiste, auf der anlässlich der 750-Jahrfeier Berlins (1237) sogar ein Weltc up-Skirennen
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veranstaltet worden war. Er ist Anziehungspunkt für Modellflie ger und Drachenlenker sowie wichtigster Berliner Aussichtspunkt in der Silvesternacht. Statistisches Landesamt Berlin (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch 2004. Berlin 2004
Berl in Wo Ber draufsteht, ist auch Bär drin Berlin teilt sich sein Wappentier mit einer Dosenmilchmarke, tierknochenmehlhaltigen Süßigkeiten und rund 200 weiteren deutschen Städten, die auf Meister Petz in ihrem Banner nicht ver zichten wollten. Geradezu verwunderlich, dass sich die abgebil deten, oft ausgemergelten Tiere auf den Wappen letztlich gegen pralle Schweine, gerissene Wölfe, flinke Fische und stattliche Hirsche durchsetzen konnten. Zumal die Bemerkung gestattet sei, dass der Bär auf dem akt uellen Berliner Wappen (also dem al ten Westberliner!) deutliche Züge von Paranoia und Ekel an den Tag legt. Ganz anders sein ehemaliger Ostberliner Kollege, dessen galan tes Gezüngel geschmeidiger wirkt, auch wenn die Augenstellung eher an Basedowsymptome gemahnt als an treu-tappsige Teddy kulleraugen. Bären sehen anders aus. Sie haben fünf Klauen und nicht vier, wie einst der Ossibär. Nur mal so am Rande … Daran dürfte auch die Evolution seit 1280 nichts geändert ha ben. Damals tauchte zum ersten Mal ein Bärenpaar auf dem mark gräflichen Adlerschild auf. 1253 indes, auf dem ersten Siegel der Stadt, war von Bären nichts zu sehen. Wie der dickfellige Kerl aus den Nieder ungen der Wälder in die luftigen Höhen der Fahnen gelangte, ist bis heute strittig.
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Drei Thesen sind über Berlin und seine Bären im Umlauf. Numero uno: Der erste Markgraf aus dem Geschlecht der Aska nier, Albrecht I., genannt der Bär, trieb die Ostkolonisation voran und gründete die Mark Brandenburg, um sie dem Kaiserreich ein zuverleiben. Seine Regentschaft fällt in die Zeit von 1250 bis 1270. Der Bär wäre damit eine Hommage, öhm Annimage an den wackeren Usurpator. Aber auch der Name der Siedlung und späte ren Stadt? Die zweite Bärenthese geht von der Annahme aus, dass sich der gemeine Braunbär zu Hauf in der Gegend zwischen Spree und Havel her umtrieb. Der Nat urforscher Dr. Theodor Zell mutmaßte gar, dass der Bär vor allem an einer Furt am Mühlendamm steppte. Und weil es gar so viele Bären damals gab, nannte man die Stadt gleich auch noch Bärlin; meint der Volksmund. Eine Lautfolge, die sich dann durch – so stellt es sich der Hobbysprachforscher vor – kat aklysmische Vernuschelung irgendwann nach dem Pleistozän zu »Berlin« verschob. Echte Bären also Vorbild für Wappen und Namen der Stadt – diese These verficht heute unseres Wissens am lautesten noch die Oma von Robert Skuppin. Beide Annahmen aber haben eins gemein: Sie atmen india nischen Geist, der Bär als Totem der Stadt. Seine Wesensart geht auf den Berliner über. (Psychologische Schützenhilfe beim Ein schwören auf die bärige Fahne kommt aus der nordeuropäischen Sagenwelt: dort gilt der Bär als König der Tiere; erst im Zuge der Globalisier ung wurde er vom Löwen verdrängt.) Und drollig ist er ja, der Braunbär, wie er auf zwei Beinen tanzt, Waben vom Baum angelt, Bienen von seiner feuchten Stöpselnase vertreibt und mit einem Prankenschlag die Kopfhaut eines Menschen samt Rest da runter entfernt. Mag auch der Bär vom großen Albrecht den Sprung ins Wap pen geschafft haben, der Name Berlin hat andere Wurzeln. Sla wische. Der Namenforscher Prof. Jürgen Udolph durchforstete
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das gesamte slawische Sprachgebiet inklusive der Region BerlinBrandenburg und stieß dabei auf einen gigantischen Sumpf. Zahl lose Ortsnamen gehen auf die slawische Wurzel »barl« zurück: das bedeutet Sumpf, Morast, feuchte Stelle. (Kennern der bulgari schen Sprache fällt sofort die große sprachliche Nähe zu »burlo«, Pfütze auf!). Auf diese Untersuchung stützte sich 1984 auch der Sprachforscher Schlimpert. Und weil sie diesen Artikel bis hierhin gelesen haben, wird ihnen nunmehr die ganze Wahrheit zugemutet: Das Gebiet öst lich von Elbe und Saale und auch unsere Region war seit dem 7. Jahrhundert von Slawen besiedelt, die dem Stamm der Stodora nen oder Heveller mit dem Hauptsitz Brandenburg angehörten. Slawisch war also die Sprache der Region. Es darf vermutet wer den, dass auch der zugereiste Albrecht von Tuten und Slawisch keine Ahnung hatte. »Ach Berlin, das klingt ja interessant! Da steckt sicher die slawische Form von Sumpf drin!«, darf man als Reaktion beim ersten Vernehmen der Sprache nicht erwar ten. Eher wohl eine streng identifikatorische Lesart: »Ah, Bärlin, mein guter Ruf eilt mir voraus und das Land wirft sich mir an die Brust!« Jürgen Udolph: Studien zu slavischen Gewässernamen und Gewässerbezeichnun gen. Ein Beitrag zur Frage nach der Urheimat der Slaven. Heidelberg 1979; Gerhard Schlimpert: Brandenburgisches Namenbuch, Teil 5. Die Ortsnamen des Barnim. Weimar 1984; www.berliner-baer.de
Berl in er Aufstand 17. Juni 1953
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Berl in er Luft Ihr besonderer Duft ist eine Erfindung von Paul Lincke Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft, so mit ihrem holden Duft, Duft, Duft, wo nur selten was verpufft, pufft, pufft, in dem Duft, Duft, Duft dieser Luft, Luft, Luft. Ja ja ja! Dem weit verbreiteten Taschenlexikon von dtv in 20 Bänden ist Paul Lincke (1866–1946) nur einen siebenzeiligen Eintrag wert. Dabei hat er den Berlinern einen echten Floh, genauer gesagt Wurm ins Ohr gesetzt: die Berliner Luft hätte einen ganz beson deren Duft. Jeder singt es, keiner glaubt es. Lincke war seinerzeit eine Art Ralf Siegel Berlins, nur nicht so penetrant omnipräsent. Sein größter Erfolg war eine Operette – letztlich eine monothematische Schlagerparade – namens »Luna«, am 1. Mai 1899, eigenhändig dirigiert, uraufgeführt. Fünf Jahre später war der daraus entnommene Gassenhauer »Berliner Luft« in aller Munde. Da diese typische Berliner Posse, dunnemals vor allem im Munde des kleinen Mannes, auch schon zu Kaisers Zei ten erfolgreich war, bewirkte sie selbst 2004 noch einen echten Verkaufsschlager: Eines der beliebtesten Mitbringsel unter den 5,6 Millionen Touristen, die im Jahr 2004 die Hauptstadt besuch ten, war die sprichwörtliche Berliner Luft in Dosen für ein paar Mark beziehungsweise Euro. Japaner wie Bad Salzuffler kauften damit eine brisante Mischung, deren Feinstaubgehalt der EU Kommission in Brüssel neuerdings sauer aufstößt und die ab 2006 drastisch gefiltert werden muss. Doch Feinstaub ist ger uchlos. Gibt es ihn also, den typischen Berliner Duft?
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Wolfgang Bergfelder, Abteilungsleiter Integrativer Umwelt schutz bei der Senatsverwalt ung für Stadtentwicklung kann die Frage eindeutig bejahen. Allerdings hätten sich die Spezifika im Laufe der letzten Jahrzehnte gewandelt. Die Luftqualität in Berlin wird an den über 20 Stationen des Berliner Luftgüte-Messnetzes BLUME durch zumeist kontinuier liche Messungen von Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid, Kohlen monoxid, Benzol und Ozon sowie Feinstaub und Ruß überwacht. 1990 schlugen die Messfühler das letzte Mal Smog-Alarm: schwe felhaltige Braunkohle aus den Einzelöfenheizungen (ja, so heißen die!), dezentralen Feuer ungsanlagen und der »Braunkohlekrü melquark« aus der Oberlausitz und Tschechien verbreiteten in Berlin den Duft der Hölle: Schwefel. Auch Gülle gesellte sich spä ter noch dazu. »Um 1994 meinten die Landwirte im Umland alle gleichzeitig ihre vollen Silos auf den Feldern ausbringen zu müs sen. Die Leute gingen durch die Straßen und fragten sich, wonach das stinkt. Viele tippten auf die Kanalisation. Ich bin im Schwarz wald aufgewachsen. Ich kannte den Ger uch. Da mussten wir nicht lange rummessen!« Heute, sagt Bergfelder, sei die Luft sauberer denn je. Allerdings verweist der 59-jährige Jurist zur Feinstaubproblematik auf seine Nachbarabteilung. »Da haben wir ein neues Problem. Und wenn sie nach dem Duft fragen: Den gibt es. Ich kenne keine Stadt, die durch die vielen Straßenbäume im April und Mai so frisch und blumig riecht. Dazu kommen die vielen Gewässer. Das riecht auch immer irgendwie gesund. Herrlich. Da merkt man kaum die vielen Autos.« www.stadte nt w ickl ung.berl in.de/umw elt/luf tq ual it aet/de/berl in er_luf t. shtml; Wolfgang Helf ritsch: »Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft … In: Berlinische Monatsschrift Heft 4/2000
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Berl in er Unw ill e Der Berliner an sich ist von Natur aus unwillig Sicher, mancher, den man im Getriebe der Großstadt anspricht, reagiert zunächst etwas unwillig. Ganz zu schweigen von gele gentlichen Begegnungen der Dritten Art bei Behördengängen oder Kont akten mit dem Dienstleist ungspersonal in der Metro pole. Obwohl man zugestehen muss, dass sich in den letzten Jah ren dort viel geändert hat. So ist etwa das Servicepersonal im Gastronomiebereich dienstbeflissener geworden. Ein »warten Sie hier, Sie werden platziert« wird man kaum noch zu hören bekom men. Der eigentliche Berliner Unwille aber weist weit zurück in die Stadtgeschichte. Die Berliner Patrizier zeigten sich um die Mitte des 15. Jahrhunderts ihrem Landesherren, dem Kurfürsten Fried rich II., gegenüber aufmüpfig. Was in der heißen Phase der Aus einandersetzung um 1447/48 im Einzelnen geschah, ist nur durch den Entwurf einer kurfürstlichen Anklageschrift überliefert, die kein objektives Bild bietet. Nach aufrührerischen Reden in »Wein kellern und anderswo« setzten in der ersten Januarhälfte des Jah res 1448 Bürger den Bauplatz des kurfürstlichen Schlosses an der Spree unter Wasser (Stadtschloss). Auch die Arbeit fürstlicher Beamter, Zöllner und Richter wurde massiv behindert. Außer dem brach man in den Wirtschaftshof Friedrichs II. ein und stahl drei Pferde und drang in die kurfürstliche Kanzlei vor, wo man Akten einsah und vernichtete. Allerdings handelte es sich nicht um umstürzlerische Umtrie be im heutigen Sinne, vielmehr um Auseinandersetzungen zwi schen den Mächtigen der Zeit. Die Patrizierfamilien der Doppel stadt Berlin/Cölln hatten ihren Einfluss immer weiter ausgebaut. Sie verfügten über großen Grundbesitz, zahlreiche Privilegien und Einnahmequellen. Ihnen gegenüber standen ein ökonomisch
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ruinierter Adel und ein schwächelnder Kurfürst. Kein Wunder, dass es zu ersten Konflikten kommen musste, als vermutlich 1435 ohne Zustimmung des Landesherrn die Johanniterdörfer Tempel hof, Mariendorf, Marienfelde und Rixdorf durch den gemeinsa men Rat der Städte Berlin und Cölln erworben wurden. Wenn der Kurfürstenhof zunächst auch die Auseinandersetzung für sich entscheiden konnte, blieb doch der Gegensatz zwischen ihm und den reichen Bürgerfamilien bestehen. 1447 witterten die Vertreter der Patrizier Morgenluft. Kurfürst Friedrich II. war im Krieg in Pommern verstrickt, die Bürgerlichen hofften, von den freien Hansestädten, mit denen sie Handelsbe ziehungen unterhielten, Unterstützung zu bekommen. Aller dings wurde der »Aufstand« im Sinne des Kurfürsten niederge schlagen. Wohl nicht zuletzt, weil die um Hilfe angerufenen Städte, unter ihnen auch Gemeinden in der Mark, eine Unterstüt zung ablehnten. Isoliert musste man schließlich klein beigegeben. Im Mai 1448 schlossen die Bürger unter Aufsicht des Bischofs von Brandenburg und anderer Städte der Mark mit dem Fürsten einen Vergleich. Erstmals war es einem Territorialfürsten im Reich ge lungen, sich erfolgreich gegen städtische Autonomiebestrebun gen durchzusetzen. Der Berliner Unwille war also im Nachhinein eher ein Signal für die Fürsten, dass man in Auseinandersetzungen mit dem auf strebenden Bürgert um durchaus nicht chancenlos sein musste. Peter Neumeister: Persönlichkeiten des »Berliner Unwillens« 1447/1448. Die Fami lie Reiche. In: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs. Berlin 1994
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Berl in er Weiß e Der Trank aus Bier und Sirup ist eine Ur-Berliner Spezialität Die Berliner Weiße, »ein duftendes, elegant moussierendes, aus Weizen und Gerste gebrautes alkoholarmes Bier«, tauchte 1575 erstmals urkundlich bestätigt in Berlin auf. Paul Jacob Marperger sprach in seinem 1716 erschienenen »Vollständigen Küch- und Keller-Dictionnarium« von einem »guten gesunden Weiß-Bier«, dass gegen Ende des 16. Jahrhunderts seinen Weg von Hamburg nach Berlin gemacht habe. Das Getränk müsste also – streng ge nommen – Hamburger Weiße genannt werden. Aber letztlich gab ihm erst das weiche und bekömmliche Berliner Wasser den letz ten Schliff und die Weiße trägt wohl ihren Namen zurecht. Die Weiße wurde in hohen Stangengläsern kredenzt (Stange Bier), »später in einer etwa 3 Pfund schweren fußlosen Wanne mit einem weißen Rand und über 2 Liter Inhalt«, die nur mit beiden Händen zu heben war. Prost! Zeitweise entwickelte sich um das Weißbier ein regelrechter Kult. Verschiedene Gastwirte gruben die Weißbierkruken wäh rend der Reifezeit in ihren Kellern in feinen Sand ein, um sie vor Explosion zu schützen. Die solchermaßen behandelten Flaschen wurden als Sandweiße serviert. Wer jemals versucht hat, heutige Berliner Weiße pur zu trin ken, wird wissen, dass sie ohne Zusatz nahezu ungenießbar ist (obgleich es hierzu unterschiedliche Meinungen gibt). Glück licherweise kam man Anfang des 19. Jahrhunderts auf die Idee, das säuerliche Gebräu mit Himbeer- und Waldmeistersir up zu verset zen. Man erreichte zweierlei: das Getränk verfärbte sich poppig und es ward süffig. Die Berliner Weiße wie wir sie heute kennen ist seither erst mit viel Saft und Zucker komplett. Viel Aufregung gab es neuerdings um eine Rückr ufaktion der Schultheiss-Brauerei zirka 50 000 Flaschen »Berliner Mix Weisse«
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betreffend. Bei der Variante mit Waldmeistergeschmack kam es durch einen Fehler bei der Abfüllung zu Explosionsgefahr und zu Verschlüssen, die sich unkontrolliert öffneten. Vielleicht hätte man, statt all die Flaschen zurückzufordern, lie ber die Kunden mit feinem Sand beliefern sollen. Back to the roots! Sybille Schall: Bier is och Stulle. Berlin und seine Küche. Berlin 1976
Berl in er Zimm er Jedes Zimmer in Berlin ist ein »Berliner Zimmer« Wer heute ein Berliner Zimmer hat, kann sich glücklich schätzen. Vorausgesetzt, er hat auch noch einen Salon, ein Ankleide-, ein Herren-, ein Raucher- und ein Damenzimmer. So sahen die groß bürgerlichen Wohnungen in Berlin vor dem Ersten Weltkrieg aus. Aus innerstädtischem Platzmangel gab es Vorderhaus, Seitenflü gel, Quergebäude und Gartenhäuser. Im sonnigen, zur Straße ge legenen Vorderhaus logierten Beamte und Offiziere des alten Kai serreichs. Die Wohnungen waren allesamt in Form eines großen L konzipiert, das Vorderhaus und Seitenflügel miteinander ver band. Während es sich die großbürgerliche Familie in der Beletage des Vorderhauses gemütlich machte, musste das Dienstpersonal in den zum Hinterhof gelegenen Räumen des Seitenflügels seinen niederen Pflichten nachkommen. Ein eigener Eingang sorgte da für, dass Personal und Herrschaft sich nicht zu ungebetener Zeit über die Füße liefen. Einzige Verbindung zwischen dem muffigen Dienstbotentrakt im Seitenflügel und den stuckverzierten Herr schaftsräumen zur Straße war der rechtwinklige Knick im L: Das Berliner Zimmer, ein zumeist großer dunkler Durchgangsraum
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Die Autor en Vol ker Wiep recht (geb. 1963) und Robert Skuppin (geb. 1964) sind Radio-Giganten. Jedenfalls denken das die Hörer von radio eins, der Bundeskanzler und sie selber. In Moderations-Semina ren sagen die Trainer immer: »Sie spielen in einer anderen Liga. Machen Sie das bloß nicht.« Und wer den Hals nicht voll genug kriegen kann, dem sei gesagt: Ja, Sie haben es hier mit zwei Le genden zu tun.
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