9 Für manche hat es etwas Beruhigendes, sich von anderen bestimmen zu lassen und wie auf der Schmalspur einer Vorstadtbahn durchs Leben zu rauschen, bis sie nach einigen festgelegten Stopps in einem Sackbahnhof endet. Für mich nicht. Allein die Vorstellung, verlockende Landschaften vorbeifliegen zu sehen, ohne bei ihnen halten und verweilen zu dürfen, verursacht mir Atemnot. Das konnte die Mücke, die mich am Donnerstagmorgen durch ihr Gesirre weckte, natürlich nicht wissen. Sie starb demnach unter mildernden Umständen. Mit dem Schlaf war es trotzdem vorbei. Ich schnippte die kleine Leiche von meiner Wange und stapfte in die Küche. In einem Zwischenzustand aus Wachen und Dösen setzte ich Kaffeewasser auf und schaltete das Radio an, während ich den Resten eines Traums nachhing, in dem ich Magda aus einem bombardierten Hochhaus gerettet hatte, dann schlurfte ich ins Bad. Als ich wieder raus kam, klingelte das Telefon. Ich ließ es klingeln. Auf dem Festnetz riefen nur meine Eltern und Ämter an. Zu spät fiel mir Magda ein, die vielleicht im Telefonbuch … In diesem Moment meldete sich mein Handy. Ich rannte ins Schlafzimmer. Die Nummer vom Sender. »Was macht der Zahn?«, fragte Bert beschwingt. »Er steht noch.« »Na wenigstens der. Schon Nachrichten gehört?« »Nein, wieso?« »Dann tu’s«, sagte Bert und legte auf. Verärgert schlappte ich in die Küche. Bert wusste genau, wie sehr ich Andeutungen hasse. Auf unserem Sender lief Musik. Bis zu den Nachrichten dauerte es noch eine gute Viertelstunde. Ich nutzte sie, um Kaffee aufzubrühen und mir ein Brötchen zu belegen. Käse hatte ich ja genug im Haus. Dank Magda, die 52
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ebenfalls eine Vorliebe für Andeutungen hegte: Heb mir das Manuskript auf, ich lese es beim nächsten Mal weiter, sage dir aber nicht, wann das sein wird, oder ob ich vorher mit dir schlafe oder hinterher oder gar nicht. Meine Stimmung stieg in eine Lore, fuhr in einen Schacht ein und sank abwärts, begleitet von Kaffee und Werbespots für Versicherungen und Billigflüge, die mich an die Endlichkeit des Daseins erinnerten. Beim Nachrichtenjingle setzte sie in einer dämmerigen Sode auf und erzitterte unter der ersten Meldung. »Zum zweiten Mal in der Stadtgeschichte wurde in der letzten Nacht die Garnisonkirche gesprengt. Die Detonation erfolgte gegen halb drei Uhr morgens und legte den zirka zehn Meter hohen Turm vollständig in Trümmer. Nach ersten Einschätzungen geht die Polizei von einem politisch motivierten Anschlag aus. Umliegende Gebäude wurden nicht in Mitleidenschaft gezogen. Wegen der Räumungsarbeiten ist die Breite Straße in Potsdam gesperrt, der Verkehr wird auf die Friedrich-Ebertund umliegende Straßen umgeleitet, mit Behinderungen …« Ich starrte auf das Radio. Dann wechselte ich zu einem Konkurrenzsender, wo gerade die Geschichte der Garnisonkirche wiedergekäut wurde. Auf dem Weg ins Wohnzimmer riss ich zwei Küchenstühle mit, warf mich auf Fausts Manuskript und blätterte zur entscheidenden Seite. »Um halb drei Uhr morgens …« Flach atmend, griff ich nach meinem Handy. »Weißt du noch mehr über diesen Anschlag, als ihr in den Nachrichten bringt?«, stieß ich hervor, bevor Bert etwas sagen konnte. »Nee, aber im Laufe des Tages trudelt sicher was ein. Ich hab Dietmar darauf vereidigt, mir alles brühwarm zu liefern. Dafür erlasse ich ihm ein paar Spielschulden.« Dietmar. Den Namen hatte ich schon mal gehört, aber ich 53
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kam nicht drauf, in welchem Zusammenhang. Ich wollte gerade fragen, da fiel es mir ein. Berts gelegentlicher BackgammonKumpel und irgendein hohes Tier beim LKA. »Hat dein Dietmar zufällig etwas über menschliche Opfer des Anschlags angedeutet? Mehr so mittelbare meine ich, zum Beispiel welche, bei denen der Knall einen Herzinfarkt verursacht hat?« Bert räusperte sich. »Herzinfarkte gehören nicht zum Metier des LKA . Wie kommst du darauf?« »Nur so. Eine Bekannte meiner Mutter wohnt in der Nähe der Baustelle. Sie hat’s am Herzen. Vergiss es.« »Ruf sie doch an.« »Ja.« Eigentlich war alles gesagt. Aus irgendeinem Grund jedoch zögerten wir beide, das Telefonat zu beenden. »Just?« »Hm.« »Habe ich richtig in Erinnerung, dass es in deinem Blog um die Garnisonkirche geht?« Ich hatte Bert oft genug erzählt, worum es in meinem Blog ging. »Was willst du?« »Tja, also, ist dort mal was gepostet worden, das … du weißt schon. Könnte vielleicht einer von deinen Jüngern was damit zu tun haben?« Mein erster Impuls war, aufzulegen. Was für eine absurde Idee! Meine Gefolgschaft schrieb und diskutierte, und wer diskutierte, sprengte nicht! Andererseits wusste ich nicht genau, ob das ein Naturgesetz war. Und letztlich wohnte Berts Frage bei aller Frechheit auch eine latente Logik inne. »Wie wäre es, wenn du dir selbst ein Bild machst, indem du dich in den Blog einklinkst und meine Leute einfach fragst, wer von ihnen die Kirche auf dem Gewissen hat?« 54
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»War ja nur so eine Idee, reg dich ab. Übrigens: Wahnsinnsrezension, du solltest häufiger Zahnschmerzen haben.« Ein Versöhnungsversuch. Ich ließ ihn an mir abtropfen. Stattdessen fragte ich: »Angerufen hat niemand für mich?« »Bedaure.« »Gut, dann – halt mich über die Neuigkeiten deines LKA Freundes auf dem Laufenden.« »Klar. Dolles Ding, wie? Ich kann’s immer noch nicht fassen. Ein zehn Meter hoher Turm, einfach weggepustet. Schade nur, dass diese Idioten die Sprengung nicht ins Sommerloch gelegt haben.« »Zu der Zeit waren die Idioten, wie alle vernünftigen Menschen, vermutlich im Urlaub«, sagte ich. Was ging hier vor? Warum fühlte ich mich plötzlich wie einer, den man auf den Mars gestellt hatte? Was die Sprengung betraf, konnte man sich noch einreden, dass Faust nur einen Wunsch vieler Potsdamer literarisch ausgesponnen hatte. 14.000 Leute hatten seinerzeit gegen den Wiederaufbau der Garnisonkirche unterschrieben, zack, beseitigte er die Kirche durch ein Fingerballett auf seiner Tastatur. Und zufällig hatte jemand anderer parallel an der Realisierung seiner Fiktion gearbeitet. Vielleicht lagen Sprengungen gerade im Trend, wie seinerzeit S-Bahn-Surfen oder Amokläufe. Aber dass dieser jemand sogar die von Faust vorgegebene Stunde gewählt hatte, fand ich für einen Zufall denn doch zu fett. Den Vormittag verbrachte ich über dem Manuskript. Allerdings las ich es jetzt nicht mehr mit den Augen Magdas, an die mich ab und an ein dumpfes Stechen in der Brust erinnerte, sondern wie einer, der einen Kessel Suppe auslöffelt, nur um das unvermeidliche Haar darin zu finden. Ich begann bei Veits Tagebucheintragung über den Tod sei55
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nes Großvaters. Da er sich schon angedeutet hatte, erschütterte er mich wenig. So war es eben, in Büchern wie im Leben: Man trat auf und ging ab. Interessanter fand ich einen Abschnitt, der offenbar eine Art Brief an den Verstorbenen darstellte. In ihm umriss Veit seine Jugend, die er aus familiären Gründen überwiegend unter der Obhut seines Großvaters verbracht hatte. Kameragleich schwenkte Faust in verschiedene Erinnerungssequenzen, die auch meine hätten sein können: Campingurlaube mit selbst gebauten Windfängen in Mecklenburg oder an der Ostsee, Paddeltouren, nächtliche Belagerungen von Musikgeschäften in Erwartung von Lizenzplatten. Episode reihte sich an Episode, wie die Fotos in einem beliebigen DDR -Erinnerungsalbum. Nur zwei waren individueller. In der ersten stand Veit an einem 1. Mai, mit nachlässig hinters Ohr geklemmtem Winkelement in der Breiten Straße und erklärte Mitschülern ein Mosaik an einem mehrstöckigen Gebäude, das sein Großvater mit entworfen hatte. Ich unterdrückte den Wunsch zu googeln, notierte nur »Rechenzentrum« und las in der Erwartung weiter, dass die Schilderung dieser harmlosen Szene etwas Bedeutenderes vorbereitete. Ich wurde nicht enttäuscht. Veit machte einen Zeitsprung. In einem abgedunkelten Wohnzimmer trat er zu einem älteren Mann, nahm ihm eine Flasche aus der Hand und schaltete den Fernseher aus. Er war kein Schüler mehr, sondern Germanistikstudent im zweiten Semester. Der Ältere murrte unwillig. Vor ihm auf dem Couchtisch verstreut lagen Zeichnungen von Gebäuden, die es nicht mehr gab, neben abgelehnten Entwürfen jüngeren Datums. Dazwischen eine Zeitung, deren Frontseite das Foto einer barocken Kirche zierte. Veit zog die Gardinen auf und setzte sich seinem Großvater gegenüber. »Das Leben ist nicht zu Ende, nur weil du Rentner bist, Opa.« 56
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»Frührentner.« »Na und. Einige deiner Freunde sind schon viel länger zu Hause, und die lassen sich nicht so hängen, die genießen ihr Leben.« Der Alte hob den Blick. »Welches Leben? Mein Leben liegt da auf dem Tisch: eine Bibliothek, ein Pionierhaus, zwei Ambulanzen, zwei Jugendklubs. Abgerissen, um neuen Dreck hinzustellen. Haben wir das mit Hitlers Bauten gemacht?« »Ich meine nur«, seufzte Veit, »dass es nichts än…« »Und jetzt wollen sie sogar die Garnisonkirche wieder aufbauen!« Veit schluckte. Er kannte den Artikel und wusste, was er bedeutete. Das Rechenzentrum, seines Großvaters Lieblingskind, nicht zuletzt dank des Kosmonauten-Mosaiks von Onkel Fritz, ragte ein gutes Stück in den Grundriss der ehemaligen Kirche hinein. Er merkte selbst, wie falsch es klang, als er murmelte: »Das ist doch nur eine Spinnerei der Presse.« Und als sein Großvater wortlos nach der Flasche griff, ließ er ihn. An dieser Stelle hätte ich gern selbst nach einer Flasche gegriffen. Ich tat es nur deshalb nicht, weil mir die temporäre Alkoholsucht meines eigenen Großvaters vor Augen trat. Seine Ausfälle, der Verlust der Würde und am Ende ein Unfall, der ihm paradoxerweise das Leben gerettet hatte, weil er danach wochenlang nicht zum Kühlschrank, geschweige denn in den Getränkeladen hatte gehen können. Doch es war nicht nur diese Parallele, die mir schon vormittäglichen Durst bescherte, sondern auch die Erwähnung von Veits Studiengang. Zu der Zeit, als mein Großvater nach der Abwicklung seines Pflanzenanzuchtbetriebs den regionalen Schnapssorten verfallen war, hatte ich Germanistik studiert und nebenbei ein Jungautorenjournal herausgegeben. Ruhe, sagte ich mir. In jedem zweiten Roman studieren lebensuntaugliche Protagonisten Germanistik. Und die Wendeschäden deiner Eltern und Großeltern füllen Bände. 57
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Der diktatorische Ton meiner Kopfstimme wirkte. Dennoch begleitete die Lektüre fortan eine persönliche Art der Beklemmung. Ich hatte lange nicht an meinen Großvater gedacht, und beinahe schämte ich mich, dass erst ein Fremder kommen und einen Turm sprengen musste, um mich an ihn zu erinnern. Mit der düsteren Szene im Wohnzimmer des alternden Architekten, dessen Leben im doppelten Sinne zerfiel, endete Veits Rückblick. Durch ihn besaß ich den Schlüssel für das Verständnis der folgenden Tagebucheinträge, in denen er Schritt für Schritt an die Einlösung seines Versprechens ging. Wie es aussah, war mir nun klar. Noch stand das Rechenzentrum zwar, aber jeder wusste, dass es fallen würde, sobald Stiftung und Förderverein das Geld für das Schiff der Garnisonkirche zusammen hatten. Sogar ein Asyl für sein berühmtes Mosaikfries von Fritz Eisel, das auf Gagarins Weltraumflug anspielte, war bereits festgelegt: das Treppenhaus des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte. Ich drehte mir eine Zigarette, während Faust seinen Helden ins Internet gehen ließ, wo er einen Blog aufrief und sich als Administrator anmeldete. Vor Schreck verrutschte ich in der Zeile. Sehen, hören, stören – las ich, als ich sie wiedergefunden hatte. Nichts an diesem Namen erinnerte an Verloren in Potsdam. Aber es war ein Blog! Und auch die Themen ähnelten meinen, wenngleich der Ton in Veits Forum rüder war, weil sich dort überwiegend Agros tummelten. In diese Runde hinein meldete Veit ein »weiteres Opfer der Geschichtsverdreher«, womit er zweifellos seinen Großvater meinte, und fragte einen gewissen Treiber, ob er noch Verbindungen zum AGV habe. Treiber bestätigte. 58
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Ob er einen Kontakt herstellen könne. Treiber bestätigte. Er schlug ein Treffen für denselben Abend im Olga vor, wo sein Kontaktmann die Bar bediente. Ich hatte die Namen der Bar und des Vereins gerade verdaut, da klingelte mein Handy. »Bereit für eine richtig heiße Nachricht?«, rief Bert. »Ist gerade reingekommen, sie dampft quasi noch.« »Lass mich raten: Nach der Kirche ist der neue Landtag explodiert.« Wobei, das hätte ich hören müssen. Der Landtag war etwas größer als ein halber Kirchturm, dessen Explosion nur Träume von bombardierten Hochhäusern erzeugte. »Ach, das hättest du doch gehört. Nein, besser: Unter den Trümmern der Garnisonkirche liegt eine Leiche.« Mein Herz setzte für einen Schlag aus. »Männlich oder weiblich?« »Mann. Ist offenbar von einem der herumfliegenden Ziegel oder Gerüstteile erschlagen worden.« »Wie kommt jemand denn nachts um halb drei auf die Baustelle?« »Das ist die Frage. Die Eine-Million-Euro-Frage. Dietmar und seine Leute raufen sich gerade die Haare deswegen.« »Weiß man schon, wer der Tote ist?« »Die Fünfhunderttausend-Euro-Frage. In seiner Jacke hatte er nur Kaugummis und eine Tankquittung.« »Immerhin. Aus einer Tankquittung kann man eine Menge rausholen.« »Dieser Tote scheint dich nicht besonders zu beeindrucken«, bemerkte Bert enttäuscht. »Na ja, die Sprengung einer umstrittenen Kirche hat irgendwie mehr Bums als ein Mann, den es dabei unglücklicherweise erwischt hat. Tote gibt es täglich.« »Deine Abgebrühtheit schaudert mich«, sagte Bert und legte auf. Abgebrüht! 59
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