Leseprobe "Meine Winsstraße"

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Die Straße erstreckt sich schnurgerade und fast lückenlos über genau 883 Meter und nicht über tausend, wie ich früher glaubte. A ls innerer Maßstab für die Länge eines K ilometers hat sie ausgedient, seit ich es besser weiß. Ein Haus reiht sich an das nächste, beginnend im Südwesten mit der Nummer 1, endend mit der Nummer 72 auf der anderen Straßenseite. Da sich die Mietshäuser in Höhe und Grundstruktur ähneln, da sie genau die vorgegebene Flucht einhalten, ergibt sich ein Bild von harmonischer Geschlossenheit. Das ist mein Berliner Ort: die Winsstraße in Prenzlauer Berg. Die erste Straße in meinem Leben, deren Namen ich wusste, mein früher, begrenzter und doch unendlich reicher Weltausschnitt. Ich habe sie immer vom südlichen Ende vor Augen, sehe sie von dort aus, wo unsere Familie seit 1962 wohnte, nahe am Friedhof mit seinen hohen, ausladenden Bäumen. Die Wins, in der ich aufgewachsen bin, bietet auf den ersten Blick nichts Be-

sonderes. Als Parallelstraße zwischen der Greifswalder Straße und der Prenzlauer Allee gelegen, die wichtige und lange Ausfallstraßen sind, wird sie von der Heinrich-Roller-Straße am alten Friedhof auf der einen und von der Danziger Straße auf der anderen Seite begrenzt. Abseits der großen Magistralen führt die Wins eine stille, unauffällige Existenz. Sie ist keine Straße für den Durchgangsverkehr, hier fahren keine Linienbusse oder Straßen­5


bahnen, hier ist kein Platz für Wochenmärkte oder Demon­ strationen. Keines ihrer Häuser hat es auf die Liste schützenswerter Denkmäler gebracht. Doch der gestalterische Reichtum bot meinen kindlich staunenden Blicken viele Baustile, wenn auch nur in der Kopierlust des bürgerlichen Zeitalters: antike Säulen und Pilaster, gotische Spitzbögen und Renaissanceportale, barocke Verzierungen, Engelsköpfe und von mir bewunderte Standbilder, aber ebenso die Nüchternheit der Rauhputzfassaden. Diese zu Unrecht oft geschmähten Berliner Mietshäuser erwiesen sich mit ihrer Vielfalt und Individualität als ideale Behausungen für Leute, die sich Eigensinn und Eigenart bewahren wollten. Auch nach dem großen Wandel, nach der umfassenden Sanierung nehme ich noch das Vergangene wahr. Ich spüre die Anwesenheit all der Menschen, die hier lebten und starben, Kinder aufzogen, in zwei Kriege zogen, Fahnen in den Farben der wechselnden Systeme an die Fenster hängten, in den Kneipen saßen, in den kleinen Läden ihre Einkäufe machten und auf dem Heimweg ins Schwatzen gerieten über undichte Dächer und bröckelnde Fassaden, später über steigende Mieten und neue Nachbarn mit fremden Dialekten. Die Straße meiner Kindheit ist eine Durchgangsstation der Generationen, die alle etwas hinterlassen, bevor sie abtreten. Ich habe mich auf den Weg gemacht, mit Alteingesessenen und Neuankömmlingen gesprochen, mit Berühmten und Unbekannten, habe meine Erinnerungen belebt und in staubigen Akten geblättert. Ein Jahr lang kam ich immer wieder hierher und bin auf der Suche nach den vergessenen Geschichten dieser Berliner Straße am Ende auf ein Geheimnis in der eigenen Familie gestoßen. Ein heißer Tag. Die Sonne verflüssigte den Teer, der zwischen den Gehwegplatten eingelassen war. Die Erinnerung daran

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setzt ganz plötzlich ein, wie im Traum. Ein kleines Mädchen hockte auf der Straße, pulte Teerstückchen heraus, drehte aus der schwarzen Masse winzige Kügelchen und forderte mich auf, es ihr gleich zu tun. Unsere Hände schwärzten sich dabei ein, später schrubbte meine Mutter im Badezimmer lange und schmerzhaft an meinen Fingern und ließ die frühe Erkenntnis reifen, dass Dinge, die Spaß machen, auch böse Folgen haben können. Vielleicht sind das die ersten Kindheitsbilder meines Lebens. Ines hieß das Mädchen, wir waren drei oder vier Jahre alt und haben noch oft zusammen auf der friedlichen, verschlafenen Straße gespielt, über der die Sonne stand und Schatten auf die Gehwegplatten warf. Kein Ende der sorglosen Spielzeit war in Sicht. Als ich viel später las, wie wunderbar Walter Benjamin in »Berliner Kindheit um 1900« über die langen Berliner Sonntage schrieb, wusste ich sofort, was er meinte. Die endlosen Murmelspiele auf dem Gehweg, die kühlen Granitstufen vor den Hauseingängen, mein Bruder, der sein Moped wusch. Aus dem kleinen Kofferradio, das er in sicherer Entfernung abgestellt hatte, um die hart ersparte Kostbarkeit vor Schaumspritzern zu bewahren, ertönte schwungvoller Gitarrenrock. Frauen, die in Schürzen und Hausschuhen zum Bäcker gingen. Manchmal folgte ich meiner Mutter aus unserer Wohnung im dritten Stock auf den Dachboden, wo sie zwischen den dunklen Balken eine Wäscheleine gespannt hatte. Mutter schleppte die Kochwäsche hinauf, die zuvor in der Küche lange in einem riesigen Topf mit blubberndem Wasser auf dem kohlebeheizten, eisernen Herd gestanden hatte. Ich fand es immer komisch, dass Mutter etwas kochte, was man nicht essen konnte, und die Wäschebrühe sogar mit einem großen hölzernen Löffel umrührte. Während sie die tropfenden Bettbezüge, die Laken und Hand­ 7


tücher auf die Leine hängte, blickte ich durch die Dachluke hinaus auf unsere Straße, auf die beiden Häuserreihen, die scheinbar immer enger werdend auf das Gaswerk am anderen Ende zuliefen. Der Dachboden hatte etwas Märchenhaftes, er war nicht so unheimlich wie der Keller, aber genauso geheimnisvoll. Ich sah auf die schmutzig-roten Dächer und die rauchenden Schornsteine. Vereinzelt standen hier und dort metallene Antennen, sie bildeten noch längst nicht den Wald späterer Jahre. Ich genoss diesen Blick von oben, diese Fremdheit des Vertrauten, das seltsam Entrückte dieser Perspektive, aus der ich die Gegend, in der ich jeden Stein kannte, wie zum ersten Mal sah.

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Die Lehrerinnen in unserer S chule schmähten die Mietskasernen des K iezes als unmenschliche Relikte des glücklicherweise besiegten Kapitalismus, und stellten deren baldigen, vollständigen Abriss in Aussicht. Dazu ist es nie gekommen, erwogen worden war die geplante Zerstörung aber tatsächlich. Die Winsstraße verdankt ihre Existenz einem Bauboom, der die Bauern und ihre Felder verdrängte. Ich fand es als Kind immer eigentümlich, dass dort, wo ich nur Pflastersteine und dichte Bebauung kannte, früher Getreide auf den Halmen gestanden und Windmühlen-Flügel sich gedreht hatten. Die Straße gehört zu den jüngeren Berliner Altbaugebieten, die im Zuge der stürmischen industriellen Stadterweiterung entstanden. Auf Wunsch des preußischen Königs Wilhelm I., des späteren Kaisers, wurde ein Netz aus Ringstraßen und Zentralachsen um den historischen Stadtkern gelegt. Grundlage war der Bebauungsplan von James Hobrecht für die Umgebung Berlins, der am 2. August 1862 nach nur drei Jahren Vorarbeit in Kraft trat, ein kurzer Zeitraum, wenn man bedenkt, dass er ein völlig neues Stadtbild schuf.

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Hobrecht, der 1825 in Memel geborene Sohn eines Gutsbesitzers, wurde 1885 Stadtbaurat für Straßen- und Brückenbau. Hunderttausende Berliner leben heute in einer von ihm entworfenen Welt, die er sich als eine schöne, neue, gerechte vorgestellt hatte. Vorn Gaststätten, Läden und die Wohnungen der Bessergestellten, hinten die Arbeiterfamilien und Fabriken, in denen sie in Lohn und Brot stehen sollten. Doch die fortschrittlichen Visionen des 1902 verstorbenen Stadtplaners lösten sich im Taumel der Gründerzeit bald auf. Die Einwohnerzahl Berlins verdoppelte sich zwischen 1850 und 1871 auf 800 000. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrug sie schon zwei Millionen. Der riesige Wohnungsbedarf schürte schwindelerregende Spekulationen, die Grundstückspreise stiegen ins Unermessliche. Von den Grünanlagen und Alleen, den Freiflächen zum Erholen und Spielen, die Hobrecht geplant hatte, blieb

nicht viel übrig. Zwar ging es nicht hoch hinaus, die vorgeschriebene Traufhöhe von 22 Metern durfte nie überschritten werden, damit bei Bränden einstürzende Fassaden nicht die gegenüberliegenden Häuser träfen. Aber die erlaubte Expansion in die Tiefe brachte eine ungesunde Häufung von sonnenarmen Hinterhöfen mit sich. In der Winsstraße haben die Häuser höchstens zwei Höfe. Verlangt wurde beim Bau der Innenhöfe lediglich eine Mindestbreite von 5,34 Metern, was schon Hobrecht sehr beklagte, doch nur so viel war für das Wenden der Wagen mit den Feuerwehrspritzen notwendig. In Berlin setzte die dichte Mietskasernenbebauung vor allem im Norden ein, wo sich ein proletarisch-mittelständiges Milieu entwickelte. Fast alle Häuser in der Winsstraße, wurden zwischen 1870 und 1910 gebaut, mit meist recht repräsentativen Vorderhäusern und kleineren Wohnungen im Hof. Eine Ansichtskarte, aufgenommen auf der Höhe der Heinrich-Roller-Straße, 9


die bis 1925 Heinersdorfer Straße hieß, zeigt die Winsstraße in den 1920er Jahren. Ich staune über die schwer erklärbare Tatsache, dass irgendjemand von einer so unbedeutenden Straße eine Ansichtskarte angefertigt hat, bezwinge aber als Autor eines ganzen Buches über die Wins meine Verwunderung. Die Straße sieht auf diesem schwarz-weißen Foto fast majestätisch aus, auch unser Haus, das zweite vorn rechts, wirkt mit seiner geschwungenen Fassade geradezu prächtig. Es ist noch nicht des Stucks beraubt. Ihren Namen erhielt die Straße im Jahre 1891. Er hat nichts mit Weinbergen und Winzern zu tun, wie ich als Kind annahm, sondern erinnert an den Berliner Bürgermeister Thomas Wins. Er regierte von 1426 bis 1447, eine beachtlich lange Amtszeit, allerdings mit einigen Unterbrechungen. Wins entstammte einer reichen Patrizierfamilie aus der Mark Brandenburg und brachte es zu hohem Ansehen und Wohlstand, ihm gehörten unter anderem die Orte Blankenburg, Falkenberg und Biesdorf. Seine Güter und das Amt verlor er nach der Beteiligung am Aufruhr gegen Friedrich II. Eisenzahn. Doch die finanzkräftige Familie konnte die Besitztümer später wieder erwerben. Auch ihr Ruf schien nicht dauerhaft beschädigt zu sein, denn Wins war der erste von fünf Männern seines Clans, die das hohe Amt in Berlin bekleideten. Insofern könnte sich die Namensnennung auch auf die gesamte, einflussreiche Familie beziehen und nicht nur auf ihr bekanntestes Mitglied Thomas. Beinahe kehre ich nach Jahrzehnten wieder in diese Straße meiner Kindheit zurück. Auf der zunehmend verzweifelten Suche nach einer neuen Wohnung stoße ich im Internet auf ein Angebot in der Winsstraße, in einem Haus, das ich schon immer bewundert und geliebt hatte – das »Ritterhaus«, wie ich es früher

nannte. 10


Die Winsstraße in den 1920 er Jahren

Eine freie Wohnung mit Balkon im ersten Stock, der Mietpreis erfreulich unter den üblichen, in abenteuerliche Höhen geschossenen Berliner Kosten. So etwas muss Gründe haben, und meist sind es keine guten. Die zeigen sich in diesem Fall schon bei der Fernbesichtigung auf google earth. Die Wohnung befindet sich über einer Kiezkneipe, dem »Tomsky«, in dem noch geraucht werden darf, zudem lädt dort ein Billardtisch zur sportlichen Betätigung ein. Die Küche der Restauration liegt vermutlich unmittelbar unter unserem künftigen Schlafzimmer. Dennoch ziehe ich den Umzug ernsthaft in Erwägung, denn ich stecke bereits tief in der Arbeit an diesem Buch. Was für eine Lebensrundung wäre das gewesen! Rückkehr in meine alte Heimat nach vierzig Jahren! Beim Auspacken der Kisten würden Schatten aufsteigen. Vergangenheit und Gegenwart wären dramaturgisch wirkungsvoll

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zusammengeflossen und hätten einen wunderbaren Ausgangspunkt für die Beschreibung meines Berliner Ortes geliefert. »Es würde so perfekt passen. Wenigstens ein paar Monate, bis der Text fertig ist, dann sehen wir uns nach etwas anderem um«, bettele ich. Meine Frau verweigert sich diesen rein literarischen Umzugsargumenten ohne jede weitere Diskussion. So bleibe ich ein Besucher, beneide ein wenig die heutigen Bewohner und weiß doch, dass ich eine eigene Vorstellung in mir trage, die nicht ganz deckungsgleich mit der Realität ist, eine Straße, die mir weiter, größer und so unwirklich wie eine Traum­architektur erscheint. Seltsamerweise ist dieses innere Bild der Straße, die sich wie ein von hohen Mauern umgebener, gewaltiger Kanal nach Norden zieht, so stark, dass es sich nicht durch meine häufigen Spaziergänge dort, durch den lebendigen Eindruck der Gegenwart aufgelöst hat. Die Orte, an denen wir aufwuchsen, die Straßen und Plätze, prägen uns ein Leben lang. Sie sind ein »topografischer Imperativ«, wie der britische Autor Peter Ackroyd so treffend sagt. Auch die dort erlernten Wörter, die später zu Begriffen werden, verbinden sich untrennbar mit dem, was wir vor Augen hatten. Ein »Haus« wird für mich immer so aussehen wie die Mietshäuser in der Winsstraße, verbunden mit dem Nachbargebäude durch eine Naht, in der sich die Regenrinnen vom Dach bis in den Boden ziehen. Für einen Dorfbewohner wird ein Hof ein mit Bäumen bestandenes, von Scheunen begrenztes Gelände sein. Für mich bleibt »Hof« auf immer das von Hauswänden umgebene, enge, meist recht trostlose Areal meiner Kindheit. Im Begriff »Hinterhof« schwingt dann noch etwas Herabwürdigendes mit. Die Wins prägte meine Vorstellung von Straße, Haus und Bürgersteig, ein schönes Wort, nach festlichen und selbstbewussten Flaneuren auf den breiten Granitplatten klingend. Sie 12


wurde zu meinem Lebensraum, mehr noch, sie stand in meiner Begriffswelt für die riesige, nie vollständig erfahrbare Stadt Berlin. Die abgeblätterten Fassaden, die verblassten Inschriften an den Wänden, die blanken Pflastersteine und schweren Gullydeckel, die stummen Diener in den Fluren mit den Namen der Mieter, der Kneipenmief, die alten Frauen am Fenster, die auf ihre Kissen gestützt stundenlang auf die Straße schauten, die grün gestrichenen, gusseisernen Wasserpumpen – das war Berlin für mich. »Alt-Berlin«, das meine Großmutter bei seltenen, sentimentalen Anflügen als eine Insel der rauen Herzlichkeit pries, war für mich unser Kiez und irgendwie ist er es noch immer. Dabei schlossen sich die schnell hochgezogenen Distrikte Ring um Ring um die wirkliche Altstadt in Mitte, die inzwischen vollständig verschwunden ist. Die Einfassung ist geblieben und trat an die Stelle des viel besungenen »Alt-Berlin«. Diese Stadt, die selbst der größte Liebhaber nur mit Überwindung wird »schön« nennen können, diese zerbombte, zerrissene, von großspurigen Projekten verschandelte, zentrumslose Metropole hat sich an den Umfassungen, wo die Zerstörungen und der spätere Bauherren-Ehrgeiz geringer waren, erhalten. Berlin findet an den Rändern statt.

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Uschi trägt an diesem sonnigen Morgen gerade ein paar K lappstühle vor die S chaufenster des »La Bohème«. Ich biete meine Hilfe an. »Leider gibt es nur noch leichte Sachen, die schweren hab ich schon rausgeschleppt«, lacht sie. So stelle ich einige kümmerliche Blumentöpfe auf die Holztische, bevor wir uns in den Innenraum dieser »intergenerationellen Begegnungsstätte« setzen, anheimelnd wie ein Wohnzimmer, mit zusammengewürfelten Sesseln, Stühlen und einigen Tischen, die Wände mit Bildern übersät. Früher war das hier ein Gemüse­

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laden. In der Wand hinter uns befanden sich K lappen, aus denen beim Öffnen die Kartoffeln herauspurzelten, was mich als K ind sehr beeindruckte. Uschi geht sofort an eine kleine Bar und serviert ungefragt einen Kaffee und ein köstlich schmeckendes Stück Apfel-Walnuss-Kuchen, das ich lautstark lobe, voller Verwunderung darüber, wie genau sie meine Vorlieben erraten hat. »Ich weiß, was die Menschen wollen. Wer das Leben kennenlernen will, muss mal in einer Bar gearbeitet haben, und das habe ich ausgiebig getan.« Damit sind wir schon mitten in den Schilderungen ihrer bewegten Biografie. Uschi sieht in ihrem schwarzen Kleid, mit ihrem halblangen dunklen Haar, den braunen, lebhaften Augen, der kräftigen roten Farbe auf den schmalen Lippen wie ein französischer Filmstar aus. Sie ist vollkommen ungeziert, erfrischend humorvoll und bricht angesichts der vielen jähen Wendungen ihrer eigenen Geschichte immer wieder in ein Prusten aus, das sie sofort unterdrückt, als sei es ihr peinlich. Geboren im Jahr der DDR-Gründung, 1949, wuchs sie in einem alten Mietshaus in der Nähe des Alexanderplatzes auf. Wunderschön sei es dort gewesen, schwärmt sie. Die Decken mit reichem Stuck verziert und im Hausflur hätte es tatsächlich handgemalte Fresken gegeben. Das völlig intakte Gebäude fiel, ebenso wie seine Nachbarn, der Spitzhacke zum Opfer. Es musste im Zuge der Umgestaltung des Stadtzentrums einem zehngeschossigen Plattenbau-Riegel weichen. Uschis Familie zog 1967 nur ein paar Straßen weiter, in die Wohnung der Großmutter in der Immanuelkirchstraße, also in eine der Straßen, die die Winsstraße kreuzen. Dort wohnt sie noch heute und gehört damit zu den »Ureinwohnern« in der Gegend. Sie ist sich dieses melancholischen Status sehr bewusst: »Die alten Leute sind weggezogen oder gestorben, ich bemerke kaum noch vertraute 14


Gesichter auf der Straße. Wenn hier Weihnachten ist, siehst du nicht etwa in jedem Haus einen leuchtenden Baum wie früher. Da ist hier alles dunkel, weil die Bewohner zu ihren Eltern ge-

fahren sind.« Eine Ausbildung zur Säuglingsschwester, die Uschi nur begonnen hatte, weil eine gute Freundin das auch tat, brach sie bald ab und ging in die Gastronomie. Sie lernte im Operncafé Unter den Linden, arbeitete dann als Kellnerin im Café Moskau. Das waren für DDR-Verhältnisse gute Läden, mit einem gewissen internationalen Flair. Die Ostberliner Restaurant-Szene war sehr übersichtlich, jeder kannte jeden. Uschi fühlte sich sehr wohl in diesen bunten Kreisen, in denen sich viele unangepasste Leute bewegten, für die woanders kein Platz in der Gesellschaft war. Kellner verfügten in der DDR wegen der chronischen Platzknappheit in den wenigen besseren Restaurants über eine heute unvorstellbare Machtfülle. Die Hierarchie stand auf dem Kopf: Der entmündigte Gast bemühte sich um devotes Benehmen, in der Hoffnung, die oft grimmigen Ober günstig zu stimmen. Uschi gehörte nicht in diese Diktatorenschicht, sie neigte eher zu spätabendlicher Verbrüderung mit der Kundschaft, bezauberte mit Witz, Schlagfertigkeit und Klugheit, die sie durch ständige, fast schon obsessive Lektüre immer weiter steigerte. Besonders die epische Wucht der großen russischen Autoren, vor allem der moralische Rigorismus Dostojewskis, fesselte sie. Uschi hat in verschiedenen Restaurants gearbeitet, bis sie zusammen mit ihrer Bekannten Hedda Holtz eine tragfähige und originelle Geschäftsidee entwickelte. Sie tat einen Keller in der Chausseestraße in Mitte auf, mit malerisch gewölbten Räumen. In dem Haus darüber hatte der Dichter Bertolt Brecht bis zu seinem Tode 1956 gelebt. Auf dem gleich nebenan gelegenen Dorotheenstädtischen Friedhof wurde er begraben. 15


Der sagenhafte Brecht-Keller konnte mit einigen seinerzeit geradezu revolutionären Errungenschaften aufwarten, von denen die zuständigen Stellen in zähem Ringen überzeugt werden mussten. Die Wände wurden nicht verputzt, auf die hölzernen Tische kamen keine Decken. Brecht hätte an dieser Ausstattung seine helle Freude gehabt, aber sicher auch an den angebotenen Gerichten, die sich an österreichischen Rezepten seiner Frau, der in Wien geborenen Helene Weigel, orientierten. Uschi und Hedda hatten sich gemeinsam mit ihrem Koch einen Termin bei Brechts Tochter Barbara Schall geben lassen und Rezepte der Weigel erbeten. Frau Schall schenkte den gerührten Gästen zum Abschied als Glücksbringer noch eine Pfanne ihrer sehr gastfreundlichen Mutter. »Das gute Stück war ziemlich verdreckt«, sagt Uschi kichernd. »Aber wir waren natürlich wahnsinnig stolz darauf.« Ihre Mischung aus mädchenhaftem Charme und Berliner Un-

verfrorenheit ist schlichtweg unwiderstehlich. Im Jahre 1978 wurde der Brecht-Keller, der noch heute existiert, eröffnet. Dekoriert mit privaten Fotos der Familie Brecht und mit Schaukästen von Bühnenbildentwürfen des Berliner Ensembles wurde das Restaurant sehr schnell zur ständig ausgebuchten Attraktion. Für mich, den leidenschaftlichen, jungen Brechtianer, war dort so gut wie kein Reinkommen. Uschi weiß auch, warum. »Da gaben sich alle die Klinke in die Hand, Schauspieler, Diplomaten, Schriftsteller, und haben sich dort verbrüdert.« Einmal entdeckte sie den bedeutenden DEFA-Regisseur und Akademiepräsidenten Konrad Wolf, der sich im Keller mit seinem Bruder traf, dem Stasi-Spionagechef Markus Wolf, dessen Gesicht allerdings erst Jahre später, nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst, bekannt wurde. »Die Stasi wollte unbedingt einen Fuß in den Laden bekommen«, vermutet Uschi, die alle Anwerbungsversuche abgewehrt 16


hatte. »Schließlich sollten wir rausgegrault werden, das lag auf der Hand.« Ein neuer Wirtschaftschef wurde ihnen vor die Nase gesetzt. Hedda kündigte entnervt, Uschi hielt bis 1982 durch. Eine Blitzinventur ergab angebliche Unregelmäßigkeiten in der Abrechnung, dabei habe es sich um Missverständnisse gehandelt, die leicht hätten ausgeräumt werden können. Doch zu einer Klärung kam es nie. Eines frühen Morgens wurde sie in ihrer Wohnung wegen Betruges verhaftet. »Es war wie im Film, vollkommen unwirklich.« Im Gefängnis brach sie zusammen. Nach wenigen Tagen begann sie, sich mit der Situation abzufinden. »Man kann doch nichts machen, man muss sich in jeder Lage behaupten.« Unter den Gefangenen waren junge Punks, die man von der Straße weggefangen hatte. »Die waren verwirrt und haltlos und brauchten jemanden, an den sie sich anlehnen konnten. Das war dann eben ich.« Ihre Tatkraft und ihr unerschütterlicher Optimismus steckten an. Sie überredete die Inhaftierten dazu, gemeinsam zu singen und selbst auf Sauberkeit zu achten, weil man es sich so erträglich wie möglich machen sollte. Uschi erzählt diese Episode aus ihrem Leben fast belustigt, mit andauernder Verwunderung darüber, dass ihr so etwas Absurdes widerfahren war. Fünf Monate saß sie im Gefängnis, ohne dass jemals eine Ermittlung durchgeführt oder gar Anklage erhoben worden wäre. Ebenso plötzlich, wie sie verhaftet wurde, entließ man sie kommentarlos. Eine Entschädigung hat sie auch nach der Wende nie erhalten, Ansprüche kann man erst bei mehr als sechs Monaten Haft geltend machen. »Ich habe eigentlich fast alles durch, außer Puffmutter«, fasst Uschi ihren Werdegang zusammen und schickt wieder dieses erstaunte Prusten hinterher. Sie habe sich allerdings mal auf eine Anzeige in einem solchen Etablissement im Wedding als Bar17


dame beworben, dessen eindeutige Ausrichtung aber erst beim Vorstellungsgespräch erkannt und sofort die Flucht angetreten. »Das dann doch nicht.« Die Tür des »La Bohème« öffnet sich. Ein junger Mann, Italiener dem Akzent nach zu urteilen, unterbricht höflich unser Gespräch und erkundigt sich nach dem Puppentheater, dessen Aufführung auf einem Plakat im Schaufenster angekündigt ist. Geduldig gibt Uschi ihm Auskunft, erkundigt sich nach dem Alter der Kinder und bittet ihn, pünktlich zu erscheinen, denn es werde erfahrungsgemäß sehr voll. Ich wundere mich, warum ihr Zentrum mit seinem bodenständigen, familienorientierten Programm den verwegenen Namen »La Bohème« trägt. Uschi ist sich des ironischen Widerspruchs bewusst, doch der gehört zur Geschichte. Im Jahr 1999 gründete sie hier mit einer Freundin eine Boutique, in der es sowohl neue Kleidungsstücke gab als auch Second-Hand-Produkte, keine ausgefallenen Sachen, eher etwas für den täglichen Gebrauch. Das Geschäft entwickelte sich schnell zu einem beliebten Treffpunkt. Hier traf man sich und tratschte, es war eine Insel der Kommunikation inmitten eines Meeres der Veränderungen, ein Stück Beständigkeit. »Gekauft hat eigentlich keiner was«, seufzt Uschi. Trotzdem hielt das Geschäft auf wundersame Weise bis 2003 durch, dann war die Pleite unabwendbar. Aber auch diesmal ergab sich Uschi nicht ihrem Schicksal. Bei einem Klassentreffen begegnete sie Waltraut, einer Freundin von einst. Gemeinsam beschlossen sie, das »La Bohème« zu erhalten, indem sie ihm einen völlig neuen Inhalt gaben. Es wurde zu einem Kiezzentrum, in dem die Kinder spielen und basteln, während die Eltern in Ruhe plaudern können. Hier gibt es Konzerte und Lesungen. Rentner, die nie eines der schicken, neuen

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Restaurants betreten würden, treffen sich nachmittags zu Kaffee und Kuchen. Uschi hat mehrere, jeweils lang andauernde Partnerschaften erlebt, die Tochter ist zu ihrem Mann in die Schweiz gezogen. Uschi hat viel Zeit für ihren Klub, der seit 2004 vom Verein »Tina Modotti« getragen wird. Sie investierte nicht nur ihre Lebensversicherung in dieses generationsübergreifende Projekt, sondern auch ihre ganze Kraft, ihren Einfallsreichtum, ihre Gewitztheit im Umgang mit Behörden. Das Schild der Boutique »La Bohème« ließ sie einfach am Fenster. Den Namen kannte hier jeder. »Im Grunde bin ich wohl etwas konservativ«, sagt sie über sich. »Wenn ich an etwas hänge, dann will ich, dass es genauso bleibt.« Uschi stockt und hört in sich hinein. Das ist eine neue Erkenntnis. Sie staunt sichtlich darüber, dass sie immer noch unbekannte Seiten an sich entdeckt.

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Ein mir von den Eltern vertrauensvoll überlassenes Einkaufsritual leitete am Freitagnachmittag das Wochenende ein. Erst kaufte ich beim Bäcker in der Greifswalder Straße S chrippen in gewaltigen Mengen. Danach ging es zurück in die Winsstraße, wo ich im Zeitungsladen nahezu sämtliche Druckerzeugnisse der DDR-Wochenpresse erstand: NBI, Für Dich, Freie Welt und Wochenpost. Obzwar meine Mutter bei der Lektüre regelmäßig beklagte, dass überall nur das Gleiche stehe, erhielten wir aus Gewohnheit die Dauerbestellung dieses Paketes über Jahre hinweg aufrecht. Der Laden wurde von einer reifen Dame betrieben, die ihre Leibesfülle in eine Kittelschürze hüllte und die anspruchslose Frisur durch Haarklemmen in Form brachte. Alle vier Wochen wurde das routinemäßige Abholen der Zeitschriften durch eine bedeutende Ergänzung bereichert. Die Frau bückte sich, wobei

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sie mir ein gewaltiges Gesäß entgegenstreckte, holte unter dem Ladentisch das begehrte Magazin hervor und steckte es, von den Kunden im Laden unbemerkt, blitzschnell in den Stapel der anderen, von mir erworbenen Zeitungen. Möglicherweise war das überhaupt der Deal: Die vollständige Abnahme der gleichförmigen Einheitspresse gegen die monatliche Versorgung mit einer journalistischen Kostbarkeit. Der in der DDR so häufig angewandte Begriff der »Bückware« hat sich für mich in diesem Hinterteil materialisiert. Auch als wir schon längst nicht mehr in der Winsstraße wohnten, lief ich diese freitägliche Runde ab. Die Geruchsmischung im Einkaufsbeutel von frischen Schrippen und Druckerschwärze verband sich für mich mit der freudigen Erwartungsstimmung des anbrechenden Wochenendes. Schon auf dem Heimweg durch die Winsstraße sah ich mir die zwei berühmten Markenzeichen des Magazins an, das vom Illustrator Werner Klemke gezeichnete Titelblatt mit dem versteckten Kater und irgendwo auf den Innenseiten ein Aktbild, das zu den allmonatlichen Sensationen gehörte. Bei der Suche nach alten Ansichten der Winsstraße war ich auf eine schöne Aufnahme der Fotografin Helga Paris gestoßen. Eine Taube fliegt durch die Straße, die auf diesem Foto wie eine tiefe Schlucht wirkt. Die für Arbeiten von Helga Paris so typischen feinen Abstufungen von Grautönen lassen die tausendmal gesehenen Häuserfronten fremd und dramatisch erscheinen. Die Taube, dieses uralte Symbol der Hoffnung, in der Großstadt zur verhassten Plage degeneriert, erhält auf diesem Bild ihre Würde zurück. Sie ist Teil der rauen Realität dieser Straße und zugleich eine schwebende Metapher. Wie viele der Fotos von Helga Paris

sieht auch dieses aus, als stamme es aus einem neorealistischen Film.

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Die Winsstraße 1984 von Helga Paris fotografiert

Uschi hatte vom »La Bohème« auf die andere Straßenseite gewiesen. Helga Paris, die berühmte Fotografin, wohne gleich gegenüber. Sie sei nebenbei auch Vorsitzende des Vereins, der den Klub trägt, und eine faszinierende Frau, die ich einfach anrufen solle. Das tat ich dann, erfüllt von einem kleinen Anflug des Stolzes, dass sie, deren Name mir seit Jahrzehnten vertraut ist, in der Winsstraße lebt. Nach ein paar Tagen treffe ich sie. Wir sitzen in einem großem Raum, der wie ein Arbeitszimmer auf mich wirkt, überall liegen Zeitschriften, in den Regalen stehen dichtgedrängt Bücher und in einem offenen Rollschrank Kartons mit Fotos. Üppiger, neobarocker Stuck verziert die Decke, wie immer beeindruckt mich dieser reiche Schmuck in privaten Räumen, der wie ein Gruß der längst verschwundenen Schöpfer dieser Wohnungen über den heutigen Mietern schwebt.

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Das Fenster öffnet sich zum Hof hin, in den gerade die Sonne hineinscheint und den gläsernen Fahrstuhlschacht zum Leuchten bringt. »Gegenüber, im vierten Stock wohnte eine Familie mit vielen Kindern«, erinnert sich Helga Paris. »Die liefen außen auf den Fensterbrettern lang, schwangen sich von Fensterkreuz zu Fensterkreuz und verschwanden in der Speisekammer. Mir stockte jedes Mal der Atem, wenn ich das sah.« Als Helga Paris 1966 in die Winsstraße zog, lebte auch ich noch hier. Wir hätten uns also schon früher begegnen können, beim Bäcker, beim Fleischer oder auf der Straße. Ich könnte auf einem ihrer Bilder verewigt sein, ein kleiner Junge in unverwüstlichen Lederhosen, auf einem Holzroller stehend oder Murmeln spielend. Ihr erschienen solche Motive als kostbar. Auf ihren Fotos hat sie lebenslang Momente der Alltäglichkeit festgehalten,

nichts war ihr zu gering, zu unbedeutend. Ihr Gesicht mit den hellen Augen, dem rotblonden Haar, das ihr in die Stirn fällt, ist mir längst bekannt. In einer Fotoserie hatte sie sich über Jahre hinweg, mit mimischen Variationen in die Kamera sehend, selbst porträtiert. In Ausstellungen hatte ich diesen Zyklus der schonungslosen Selbsterkundung gesehen, in dem sie ganz ungekünstelt und direkt wirkt. Jetzt sitzt sie sehr aufrecht und konzentriert vor mir, wie eine Tänzerin, die jeden Augenblick zum Auftritt aufspringen will. Sie war mit ihrem Mann, dem Maler Ronald Paris, von dem sie inzwischen geschieden ist, aus einer kleineren Wohnung in Weißensee in die Winsstraße gezogen. »Damals wollte niemand hierher. Es war auch keine tolle Gegend.« Anfangs habe sie sich sogar etwas gegruselt. Viele Läden standen leer, die Bäume gab es noch nicht. Leute zogen aus, wenn sie eine Neubauwohnung ergattert hatten. »Wie meine Eltern«, füge ich traurig hinzu, stoße aber auf den praktischen Sinn von Helga Paris. »Sicher musste Ihre arme Mutter auch heizen?« Ich nicke schuldbewusst, dabei 22


war ich wirklich zu klein, um ihr zur Hand zu gehen. »Daran denke ich mit Schrecken. Es dauerte ewig, bis die vier großen Zimmer warm waren«, sagt sie. Helga Paris half sich mit Fantasie, wenn sie die Kohlen schleppte und den beschwerlichen Heizungsrundgang in der Wohnung antrat. Sie sah sich in einem jahrtausendealten Zug von heizenden, fürsorglichen Frauen, fühlte sich ihnen verbunden und war etwas getröstet. Während sie das lächelnd erzählt, wird mir bewusst, dass ich noch nie in meinem Leben einen Ofen in Gang setzen musste. Helga und Ronald Paris gehörten zu den ersten Künstlern, die in diese proletarische Gegend kamen, und sie trafen den richtigen Ton nicht sofort. Ronald Paris, Meisterschüler an der Akademie der Künste, bestellte in einer Eckkneipe höflich und zurückhaltend ein Bier und wunderte sich, dass es niemals am Tisch eintraf. Ein Müllfahrer aus ihrem Haus, mit dem sie sich bald angefreundet hatten, zeigte ihnen, wie man das richtig macht: mit Berliner Ruppigkeit, mit Nachdruck und auf keinen Fall auf Hochdeutsch. Fortan klappte es. Als Helga Paris diese Geschichte Jahrzehnte später, nach dem Mauerfall, bei einer Veranstaltung in Heidelberg erzählte, wunderten sich ihre Zuhörer sehr. Keineswegs über die Schwierigkeiten beim Bierbestellen, sondern über die Freundschaft des Intellektuellen-Paares mit dem Müllfahrer. Die Fotografin spürte in diesem Moment, dass es mit der deutschen Einheit etwas schwieriger werden könnte, als auch sie selbst angenommen hatte. Sie liebte gerade diese inzwischen fast verschwundene Mischung, diese gemeinsamen Feiern mit den anderen Hausbewohnern, mit den Müllmännern, mit der Fleischerin und ihrer Familie, diese Nähe und Vertrautheit von Menschen aus ganz unterschiedlichen Schichten.»Hier gab es Leute, die waren schon 1908 eingezogen.« Eine sehr zierliche und schon recht betagte 23


Dame hackte im Keller ihr Brennholz selbst. Ein Nachbar, ein älterer, sehr gewinnender Herr ging nie ohne Hut aus dem Haus, was Helga Paris sehr beeindruckte. In der Wohnung des Pelzhändlers im ersten Stock hatte sich ein gehobenes Mittelstandsmilieu erhalten. Zigaretten kauften sie gleich um die Ecke in der Marienburger Straße bei Tabak-Arno, einem überaus freundlichen Juden. Helga Paris ist Autodidaktin wie viele bedeutende Fotografinnen ihrer Generation. Sie studierte in Berlin Modegestaltung, war Dozentin für Kostümkunde. Ein schönes, Licht durchflutetes Porträtfoto ihrer beiden kleinen Kinder war der Auslöser für ihre ungeplante Laufbahn. Das Bild steht auf einer Kommode, hier im Zimmer, immer sichtbar, so als wolle Helga Paris stets ihre Anfänge vor Augen haben. Peter Voigt, renommierter Dokumentarfilmer in der DDR, sah das Foto. Er, wahrlich kein Mann großer Worte, murmelte ihr zu: »Mach mal weiter. Das ist gut«, und ermutigte sie damit nachdrücklich. Sie kaufte sich eine Kleinbildkamera, ließ sich von einer Freundin zeigen, wie man Filme entwickelt und prägte schon bald diese anhaltende Liebe zum Schwarz-Weiß aus. So wie die Bilder in den italienischen Filmen, die sie stark beeinflusst haben, Werke von de Sica, Rossellini und Fellini. Ihr Geld verdiente sie mit Fotos für Kataloge, mit Künstlerporträts und Reproduktionen, während die wichtigen, gültigen Arbeiten in eigenem Auftrag entstanden. Helga Paris wusste, dass die Menschen, die sie so faszinierten, die Kneipengänger, die Gemüsefrauen, die alten Damen mit Hütchen und Hündchen, in der öffentlichen Wahrnehmung nicht vorkamen. Sie wollte dieses gänzlich unheroische Milieu festhalten, eine Normalität, die sich grundsätzlich von den tapfer um Planerfüllung ringenden Werktätigen in den Abendnachrichten unterschied. Auf diesen Fotos verteidigt Helga Paris

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die Privatheit der Menschen mit Respekt, mit einem Blick, der nichts Voyeuristisches hat, weil sich die Fotografin gleichberechtigt und ohne jeden Dünkel in dieser Welt bewegte. Sie porträtierte die selbstbewussten Frauen im Bekleidungskombinat »Treff­modelle«, wo sie einst als Praktikantin gearbeitet hatte. Sie ging in die Kneipen hier in der Gegend. »Die waren eigentlich immer gut besucht. Da viele Leute im Schichtsystem arbeiteten, Tag und Nacht, hatte immer jemand gerade Feierabend, und Geld spielte praktisch keine Rolle bei einem Bierpreis von 51 Pfennigen.« Ihre Serien über Eckkneipen (1975), über Müllmänner (1979) und Jugendliche in Berlin (1982) machten sie im ganzen Land als aufrichtige und genaue Beobachterin bekannt. Manche dieser impressionistisch wirkenden Bilder erschienen im begehrten Magazin. Als ich Helga Paris von dem Zeitungsladen in der Winsstraße erzähle und der Dame, der wir das Privileg zuverlässiger Versorgung mit dieser Bückware verdankten, lächelt sie still und sagt dann zu meiner großen Überraschung: »Ja, das war die Frau Güntherberg. Mit der haben wir manchen Schnaps getrunken. Ich habe sie mehrere Male fotografiert.« Während sie zum Schrank geht, um einen Bildband zu holen, kann ich mich etwas sammeln. Eine im Dunkel meiner Kindheit beheimatete Gestalt wird gleich in die Wirklichkeit zurückkehren. Auf dem Foto, das mir Helga Paris zeigt, erkenne ich die Zeitungsfrau sofort wieder, nur die große Brille war mir entfallen. Sie ist es, die Herrin über Zeitungen und Zeitschriften. Der Anlass für diese Aufnahme muss ein fröhlicher gewesen sein, vielleicht eine Faschingsfeier, denn Frau Güntherberg hat sich einen Lampion wie einen Hut aufgesetzt. Sie war offenbar überhaupt kein Kind von Traurigkeit. Ein anderes Foto, auch hier in der Winsstraße in einem Wohnzimmer voller ausgelassener Leute aufgenommen, zeigt 25


die Hochzeit der Familie Schurig. Zärtlich streicht Helga Paris mit dem Zeigefinger Details aus dieser Aufnahme heraus: »Sehen Sie nur, wie schön das ist. Diese bestickten Kissen, die Deckchen auf dem Tisch. So etwas hat mich immer interessiert.« Der Dargestellte ist immer der Souverän ihrer Bilder, geschützt in den eigenen vier Wänden, der angestammten Kneipe oder auf der vertrauten Straße. Helga Paris ließ sich nicht nur vom Kino anregen, sondern auch von der Intimität privater Fotoalben. Sie hat die Unmittelbarkeit, das Unverstellte und Ehrliche des Amateurfotos zur Kunst erhoben. Sie habe eine proletarische Kultur verewigt, sage ich, sehr verschieden von den heutigen Prolls aus den Doku-Soaps, in denen die Privatsender ein Unterschichten-Milieu ausbeuterisch vorführten. »Prolls?« Helga Paris sieht mich völlig verständnislos an. Sie hat dieses Wort noch nie gehört und also keine Ahnung davon, auf welche Niederungen des pseudo-dokumentarischen Fernsehens es verweist. Ebenfalls in eigenem Auftrag entstanden Mitte der 1980 er Jahre ihre Bilder der aufgegebenen Innenstadt von Halle, wo ihre Tochter lebte. » Ich habe Halle fotografiert wie eine fremde Stadt in einem fremden Land«, beschreibt Helga Paris diese Arbeit, die sie zu ihren wichtigsten zählt. Der Zyklus »Diva in Grau« mit seinen fast menschenleeren Ansichten des Zerfalls, ein beklemmendes Dokument aus der Endphase der DDR, sollte 1986 in Halle gezeigt werden. Plakate und Kataloge waren schon gedruckt. In letzter Minute wurde die Ausstellung verboten. Wer wissen will, wie wir in diesem Land gelebt haben, wird bei Helga Paris eine verlässliche Auskunft finden, denke ich. Ein paar Schritte begleitet sie mich auf die Straße und zeigt an einer Hauswand auf den leeren Rahmen einer inzwischen längst verschwundenen Werbetafel. »Werner Wendt, Hutformen, Modellbau, Hof parterre«, stand dort einst. Auf ihrem Foto 26


Frau G端ntherberg 1982 auf einem Foto von Helga Paris

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»Winsstraße mit Taube« ist das Schild noch deutlich zu erkennen. Dann zieht sie mit der Hand in der Luft einen Kreis, der die umstehenden Häuser umfasst und gibt ganz leise die Antwort auf eine Frage, die sie sich selbst wohl gerade gestellt hat: »Doch, ja doch, das ist schon zu Hause hier.«

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Mein Vater mochte die Straße nicht – und auch nicht diese Wohnung. Er verabscheute den Blick auf den Friedhof. Doch im Verlauf meiner Reise in die Vergangenheit stoße ich auf die bittere Erkenntnis, dass dieser Widerwille nur vorgeschoben war. S chon damals fühlte er sich bei uns nicht heimisch. Er wünschte sich aus dieser sehr früh und überstürzt gegründeten Familie fort, hatte jedoch nicht den Mut zu gehen, wirkte oft merkwürdig abwesend. So mag er sich für einen Weg in Unaufrichtigkeit entschlossen haben, der ihn nicht nur zu Lügen zwang, sondern dieses Leben selbst unwahr werden ließ. Woher kam Vater, wenn er am Abend die drei Treppen zu unserer Wohnung emporstieg? War er wirklich müde und abgespannt von der anstrengenden A rbeit, wie wir vermuteten und ihn deshalb nicht ansprachen, oder quälte ihn das Verlangen, ein neues Leben zu gewinnen, ohne das alte zu verlieren? Ich habe die Erklärung erst durch einen Zufall gefunden, fast am Ende meiner Erkundungen in dieser Straße, zu spät, um ihn noch fragen zu können. Vielleicht hatte er das gehofft.

Autos gab es hier nicht. Niemand ermahnte uns, beim Überqueren der Winsstraße nach links und rechts zu sehen, weil weder von der einen noch von der anderen Seite motorisierte Gefahr drohte. Mein Vater besaß, sicher wegen seiner privilegierten Zugehörigkeit zu den »bewaffneten Organen«, als einer der ersten in der Straße einen PKW, einen himmelblauen Trabant, für

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den er nie einen Parkplatz suchen musste. Das Gefährt stand einsam vor unserer Haustür. Auch wenn es mir bei einem Auto­ narren wie meinem Vater bis heute unerklärlich ist, er muss einmal vergessen haben, seinen Trabant abzuschließen. Ich fand es heraus, wie und warum auch immer. Umgehend lud ich die Kinder der Nachbarschaft zum Herumtoben ins Auto ein, was die sich in die kleine Kiste Drängenden dankbar für geräuschvoll simulierte Fahrten, für wildes Schalten, für heftiges Ruckeln am Lenkrad und Luftsprünge auf den Sitzen nutzten. Irgendwann kehrte mein Vater zurück, ein fürchterliches Gewitter ging hernieder. Ich habe nie einen Führerschein gemacht, habe niemals ein Auto auch nur einen Meter bewegt, für viele meiner Freunde Ausdruck einer diffizilen Behinderung. Für jeden Therapeuten wäre es sicher ein Kinderspiel, hier einen Zusammenhang herzustellen. Frau Güntherbergs Zeitungsladen versorgte uns nicht nur mit dem Magazin, sondern auch mit dem ebenso kostbaren Mosaik, dem wunderbaren Ost-Comic. Ausgerechnet damit, auf einem offiziell nicht gerade geschätzten Gebiet, erreichte die DDR das stets so ersehnte »Weltniveau im internationalen Wettbewerb«. Die schwungvoll und ungeheuer detailreich gezeichneten, fantastischen Abenteuer der drei Freunde Dig, Dag und Digedag bewegten sich durch Jahrtausende der Menschheitsgeschichte. Das Mosaik konnte sich mit seiner Figurenfülle, der Pracht historischer Kulissen, der Vollkommenheit seiner Bildkompositionen mit der Opulenz jedes amerikanischen Kostümschinkens messen. Meine Grundkenntnisse abendländischer Stilkunde verdanke ich diesem Comic. In der besonders fantasievollen mittelalterlichen Phase begleiteten die Digedags den Ritter Runkel, eine der großartigsten Mosaik-Gestalten. Er war ein glückloser, immer am Rande der Lächerlichkeit stehender Mann mit großen Ambitionen und ge29


ringem Können, ausgeprägtem Ehrgefühl und rührender Ungeschicklichkeit. Seine Geschichten erschienen in den Heften 90 bis 151, von Mai 1964 bis Juni 1969, also genau in meinen Kindheitstagen in der Wins. Wenn ich mit einem Mosaik überglücklich aus dem Laden auf die Straße trat, sah ich auf ein gegenüberliegendes Haus, dessen übel heruntergekommene Fassade noch einen Abglanz der einstigen Schönheit vermittelte. Ganz oben, zwischen den beiden Fenstern unterm Dach, stand die vollplastische Figur eines Ritters, der in die Ferne sah, für mich ein stolzer Verwandter des Comic-Helden Runkel. Sicher war er der erfolgreiche Lieblingssohn in seiner Familie, während sein Bruder, der Pechvogel Runkel, ständig für Peinlichkeiten sorgte. Doch beide hatten keinen Blick für die Wirklichkeit. Ritter Runkel überschätzte sich notorisch, während sein Bruder ungerührt ein Haus bewachte, das unter seinem Sockel gerade wegbröckelte. Heute leuchtet die sanierte Winsstraße Nummer 61 in einem saftigen Gelb, weiß abgesetzt die üppigen Stuckelemente, die Medaillons und Bögen über den Fenstern, die Säulen und der hohe Giebel. Der Ritter, der früher die grau-bräunliche Färbung seiner Umgebung angenommen hatte und durch den Verlust eines Arms zum Invaliden geworden war, besitzt nun wieder alle Gliedmaßen und erstrahlt in makellosem Weiß. Die Wins 61, das »Ritterhaus« meiner Kindheit, ist heute eine erstklassig renovierte Immobilie, und ich wollte wissen, wie so etwas zustande kommt. Ich hatte mir die Herren von der SANUS AG, die in einem Ehrfurcht gebietenden Gebäude am Kurfürstendamm ihren Sitz hat, sehr gravitätisch vorgestellt, treffe stattdessen auf lockere, auskunftsfreudige Männer in den besten Jahren, leger gekleidet und nicht im Anzug. Sie erzählen stolz von der Sanierung dieses Hauses in der Winsstraße, Marc Wiese, der SANUS-Vorstand, 30


Die Fassade des »Ritterhauses« vor der Sanierung

und Sascha Welke, der vor allem für die Technik zuständige Geschäftsführer, sowie Gerd Margraf, dem als Generalunternehmer die eigentliche Ausführung des Baus oblag. Er musste mit vielen »Überraschungen« klarkommen. Natürlich sei das eine typische Altbausanierung gewesen, mit allem was eben dazu gehöre, doch 31


manches sei ihm hier wirklich abenteuerlich vorgekommen. Das Haus, an dem Jahrzehnte nichts gemacht wurde, hatte inzwischen einen gewissen Eigensinn entwickelt. »Es lebte«, sagt Margraf, was etwas unheimlich in meinen Ohren klingt. Zu den Auflagen gehörte, dass die Kneipe im Haus, das beliebte »Tomsky«, während der Sanierung weiter geöffnet bleiben konnte. Im Keller des Lokals, das früher eine Fleischerei war, fand man einen völlig verdreckten Fettabschneider, überall lagen tierische Reste, die entsorgt werden mussten. Ich vermag mir unter einem verdreckten Fettabschneider nicht recht etwas vorzustellen und will es eigentlich auch nicht. Da dieses Haus aus dem Jahre 1900 nicht dem Denkmalschutz unterliegt, gab es eine gewisse Freiheit bei der Sanierung, dennoch bemühten sich die Erneuerer um einen geschlossenen, harmonischen Eindruck. Die Fenster wurden ausnahmslos aus Holz gefertigt, die verlorenen Stuckelemente sorgfältig ergänzt, stilgerechte Balkone angebracht und neue Geländer von einem polnischen Kunstschmied gegossen. »Früher war das Vorderhaus begehrt, hier wohnten die feineren Leute. Heute reißt man sich eher um die Höfe. Das Haus hat zwei, die wir ganz wunderbar saniert haben, mit Balkonen, die es früher nicht gab, und Grünanlagen. Es herrscht dort eine fast ländliche Ruhe«, schwärmt der Bauleiter Margraf. Der Aufwand bei der Sanierung dieses alten Berliner Mietshauses hat sich geschäftlich gelohnt, der ästhetische Gewinn für die Straße ist eher ein erfreulicher Nebeneffekt, wie mir die Herren offenherzig erklären. »Ein Haus mit einer so schönen Fassade verkauft sich viel besser«, bekennt Sascha Welke. »Und die Sanierung rechnet sich erst, wenn auch die letzten Wohnungen an den Mann gebracht sind«, ergänzt Marc Wiese. Das »Ritterhaus« in der Winsstraße besteht heute ausschließlich aus Eigentumswohnungen, von denen einige vermietet sind. 32


Auf meine Bemerkung, ob es nicht doch schade wäre, dass frühere Bewohner dieses Hauses nicht mehr zu den heutigen Mietern gehören, erwidert Gerd Margraf, der selbst in der DDR gelebt hat: »Wir haben vierzig Jahre von der Substanz gelebt. Es hätte ohne die Wende kein Stein mehr auf dem an-

deren gestanden, alles wäre zusammengefallen oder abgerissen worden.« Im Osten hatte der Verfall unerbittlich sein Werk verrichtet. Im Westen walten die vitalen Kräfte des Marktes. Das wunderschöne »Ritterhaus« ist ein sprechendes Symbol dafür. Der Osten ließ das ruinierte Haus verdämmern, der Westen seine alten Bewohner verschwinden. Dieses Paradoxon schwebt über meiner alten Straße wie ein unsichtbares Schriftband: »Ich wäre nicht mehr, die ich bin, wenn sich nicht alles gewandelt hätte.« Oder so ähnlich. Nach rund einem Jahr Bauzeit wurde das Haus 2004 fertig gestellt. Investiert wurden 5,546 Millionen Euro, darin ist der Kaufpreis enthalten. Verkauft wurde es für 6 ,603 Millionen. Das macht einen Ertrag von 1,057 Million Euro, was im niedrigen Bereich liegt, andere Objekte brachten schon zweistellige Millionenerlöse. Doch das Wohnhaus in der Winsstraße mit seinen 34 Einheiten scheint auch ein Markenzeichen der Firma zu sein, ein großes Aushängeschild. Als Marc Wiese vor einem Jahr Vorstand der SANUS AG wurde, zeigte man ihm zuerst dieses Haus, damit er sich ein Bild vom internen Anspruch der Firma machen könne. Das strahlende Gelb ist so etwas wie die Erkennungsfarbe des Unternehmens geworden, es leuchtet als »Corporate Identity« an vielen von ihm sanierten Gebäuden. Kann man trotz des eindeutig kommerziellen Hintergrundes bei einer solchen Sanierung eine gewisse emotionale Bindung an das Objekt entwickeln, ein Gefühl der Vertrautheit und des Schöpferstolzes? 33


»Es gibt kein schickeres Haus in der Winsstraße«, antwortet Gerd Margraf kurz und bündig und schiebt ein »Oder?« hinterher, das keine Antwort erfordert. Dann erfahre ich noch von der Expertenrunde, was auf der Hand liegt, mir aber nie bewusst war: Der dekorative Stuck innen und außen unterscheidet sich radikal. Während man in den Wohnungen Gips verwenden kann, ist an den Fassaden ein zementgebundener Mörtel erforderlich. Dieser Außenstuck wird »gezogen«, wie es in der Fachsprache heißt, und nicht gegossen. Ich packe diesen Begriff in den Sektor meines Gehirns für voraussichtlich nur einmal zu verwendendes Wissen, ein Bereich, der im Verlauf eines Journalistenlebens beträchtlich anwachsen kann. Auch mein Ritter sei aus diesem haltbaren Material gefertigt worden, nachdem man vom ramponierten Original einen Abdruck genommen habe, eine Ganzkörper-Totenmaske als Grundlage für die völlige Neuschöpfung. Der Ritter in frischem Weiß sei also nichts weiter als eine Kopie des Helden meiner Kindheit, wird mir mitgeteilt. Wo denn das Original sei, will ich wissen. Vielleicht in der Stuck-Werkstatt, vermuten die Sanierer. Später frage ich bei den Stuckateuren nach und erhalte die tröstliche Auskunft, dass es sich sehr wohl um den Original-Ritter handele, der am Haus stehe, sorgfältig restauriert und ergänzt, unverwüstlich und unbesiegbar.

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Ich kann mich selbst davon überzeugen, wie schön die Höfe geworden sind, als ich Franziska Petri und Stefan Fichtner besuche, die seit einigen Monaten mit ihrer kleinen Tochter genau hier, im »R itterhaus« leben, in einer geräumigen Parterrewohnung mit einer kleinen Terrasse. Franziska gehört zu den eindrucksvollsten Schauspielerinnen ihrer Generation. Die geborene Leipzigerin, die an der Ernst-

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Der sanierte »Ritter« an der Fassade Winsstraße 61

Busch-Schauspielschule in Berlin studiert hat, wurde schon als Berufsanfängerin mit Filmen wie »Vergiss Amerika« und »Leo und Claire« sehr bekannt, eine Charakterdarstellerin, die Strenge und Zartheit zu verbinden weiß, eine durchscheinende, lichte Gestalt wie auf einem impressionistischen Gemälde. Stefan ist Filmwissenschaftler und engagierter Festivalmacher, ich habe ihn auf dem Filmfest Schwerin kennengelernt, für das er einige Jahre gearbeitet hat. Die beiden sind seit vier Jahren zusammen und mussten sich mit ihrem unregelmäßigen Einkommen schon einiges einfallen lassen, um an diese begehrte Wohnung zu kommen. In ihren Schilderungen der Winsstraße halten sich Befremden und Begeisterung die Waage, auf jede erfreuliche Tatsache folgt eine Einschränkung und umgekehrt. Franziska Petri kennt die Gegend noch aus der Umbruchszeit Anfang der 1990er Jahre. Sie zog als 19 -Jährige in die Greifs-

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Dank Ich danke allen Anwohnern der Winsstraße, heutigen und ehemaligen, die mich an ihren Erinnerungen teilhaben ließen. Herzlichen Dank für wertvolle Hilfe und Anregungen an: – Barbara Goldstein, Museum Pankow – Juliane Grossmann, Uta Fröhlich, Zentrum NS-Zwangs­

arbeit – Hannelore Emmerich, Schöneberger Kulturarbeitskreis AG Stolpersteine – Nicolai M. Zimmermann, Bundesarchiv – Eva Nemcová, Gedenkstätte Terezin – Heike Stroll, Angelika Hindennach, Gisela Erler, Landes­ archiv Berlin – Barbara Welker, Stiftung Neue Synagoge Berlin – Siegfried Butterweck, Sonderstandesamt Bad Arolsen – Verena Neusüs, International Tracing Service – Monika Nakath, Landesarchiv Brandenburg – Gottfried Andree, Heimatverein Hüls – Michael Steinbach, Prenzlberger Ansichten – Dorett Molitor, Ralf Forster, Filmmuseum Potsdam – Heidi Zapke, Peter Mänz, Martin Körber, Regina Hoffmann, Deutsche Kinemathek – Karin Dengler, Yad Vashem – Talma Cohen, Beit Terezin – Angela Schwarz, Immanuelkirchgemeinde – Ann-Christin und Jan Hofmann, Architekten – Iris Praefke, Kino Moviemento – Birte Wachsmuth, Jaroslaw Plewinski, Business Network Marketing – Arne Krasting, Zeitreisen – Eva und Alexander Martens, Mafilm 142


Vielen Dank meinen Freundinnen und Freunden für Eure wunderbare Unterstützung: Jörg Wagner, Gerd Dehnel, Beate Gerboth, Dorothee Blauert, Susanne Schädlich, Katja Hübner, Anke Westphal, Anke L ­ eweke, Marion Brasch, Anita Haviv, Ulrich Hopp, Ingrid Kirschey-Feix, Anita Haviv

Der Autor Knut Elstermann, 1960 in Berlin geboren, studierte Journalistik in Leipzig und arbeitete nach Stationen bei verschiedenen Zeitungen bis 1991 beim Jugendradio DT 64. Seit 1992 ist er freier Filmjournalist und vor allem für den rbb-Hörfunk (u. a. radioeins), für den mdr sowie fürs Fernsehen tätig. Von ihm erschienen im be.bra verlag »Gerdas Schweigen. Die Geschichte einer Überlebenden« (verfilmt von Britta Wauer) und »Klosterkinder. Deutsche Lebensläufe am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin«

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