Leseprobe "Nachsaison - Fontane und die Bettler von Neapel"

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Neapel ist ein Paradies, jedermann lebt in einer Art von trunkner Selbstvergessenheit. Johann Wolfgang Goethe, »Italienische Reise«, 16. März 1787 Ich habe die schönsten Seestädte Italiens, Genua, Neapel und Palermo gesehen, welche um den Vorzug ihrer Lage streiten, und kann sie also miteinander vergleichen. Unbezweifelt wird hier Neapel den Sieg davontragen, denn welche Stadt rühmte sich eines so klassischen Amphitheaters der Natur, eines solchen Golfs, des Vesuvs, der Küsten von Castellamare und Sorrent, und solcher schönen Inseln? Die Farbenpracht, die Größe und Weite dieses Gemäldes ist wohl ohne Gleichen in der Welt. Ferdinand Gregorovius, »Wanderjahre in Italien. Figuren, Geschichte, Leben und Scenerie aus Italien«, 1856 Nein, nein, ein edles Gemüt kann Italien nicht schön finden! Dass die Natur schöner wäre, als bei uns, kann ich nicht zugeben; sie wirkt, wie ich auch im tiefern Süden wiederholen muss, nur durch den Reiz des Fremdartigen; wäre sie aber wirklich unendlich schöner, dennoch vermöchte sie nicht zu entschädigen für die Qualen, denen Körper und Seele in diesem Jammerlande unausgesetzt Preis gegeben sind. Nur ein schmutziger Zyniker kann sich in Italien gefallen. Gustav Nicolai, »Italien wie es wirklich ist. Bericht über eine merkwürdige Reise in den hesperischen Gefilden, als Warnungsstimme für Alle, welche sich dahin sehnen«, 1835 Wird einmal ein Fremder in Sizilien beraubt, so schreibt man darüber in allen Zeitungen und vergisst dabei, dass nur zu häufig im Tiergarten bei Berlin oder auf den Hamburger Wällen ähnliche Untaten verübt werden. Paul Hertz, »Italien und Sicilien. Briefe in die Heimath«, 1878

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Die wichtigsten existierenden und fiktiven Personen des Romans

Kriminalkommissar Aschinger Sottotenente Biondi, Offizier der Carabinieri Gennaro Caccavallo, Taschendieb Giambattista Capuano, Berliner Drehorgelbauer mit neapolitanischen Wurzeln Gianluigi, sein Sohn Zi’ Cristofero, dessen Familie nicht nur aus Blutsverwandten besteht Theodor Fontane, Schriftsteller Emilie Fontane, seine Frau Francesco, ein Cicerone Ispettore Fumagalli, Beamter der Polizia giudiziaria Karl Heinrich Strassmann, reicher Rentier und Italien-Enthusiast aus Lichterfelde bei Berlin Carl Schwatlo, Baurat und Architekt aus Berlin Baurätin Schwatlo, seine Frau

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Erstes Kapitel 2. November 1874 Der Lärm betäubte nicht nur die Ohren, sondern auch den Geist. Alles, was eine Stimme hatte, und selbst, was eigentlich stimmlos war, schien zu schreien: die Menschen, die Pferde und die streunenden Hunde, die Räder der Kutschen, der Omnibusse, der Hand- und der Eselskarren, die Koffer, Postsäcke, Traglasten. Es schrien die taubstummen Bettler – und am lautesten die Obsthändler und die Wasserverkäufer. Der Lärm war gleichsam körperlich geworden, man konnte ihn sehen. Eine unüberschaubare Menge wogte auf dem Platz hin und her, ohne dass immer klar zu erkennen war, womit sich der Einzelne befasste; seltsamerweise hatte man sogar den Eindruck, die meisten würden gar nichts tun, dabei aber trotzdem in unablässiger Bewegung sein. Und selbst der blaue Himmel, den die Abenddämmerung schon zu trüben begann, brüllte und bewegte sich. »Das also ist das Herz von Campania felice«, sagte Theodor Fontane, ergriff den Arm seiner Frau und führte sie vom Empfangsgebäude auf den Vorplatz des Zentralbahnhofes. Emilie seufzte. Während der siebenstündigen Eisenbahnfahrt von Rom hatte er immer wieder entweder darauf hingewiesen, man werde nun bald die klassische Kulturlandschaft erreichen, die von den Dichtern seit der Antike als glückliches Kampanien gepriesen worden sei, und er hatte den berühmten Satz zitiert: »Napoli vedi e poi muori!« Emilie hatte das ebenso tapfer ertragen wie die Abwesenheit von

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Speisen, aber nun war sie müde und vor allem hungrig: Wenn sie nicht bald etwas zu essen bekam, würde sie von Neapel überhaupt nichts sehen und trotzdem sterben. Unweit des Ausganges standen die von je zwei Pferden gezogenen Omnibusse der großen Hotels, die ihre Gäste abzuholen pflegten. Daneben warteten der Kutscher und ein Helfer, etliche von ihnen in Livree. Eines der Gefährte trug an der Seite die Aufschrift Hôtel Washington, und Fontane deutete dorthin. »Andiamo!«, sagte er, und begleitet von ihrem Kofferträger, begaben sie sich zum Wagen. Zerlumpte Bettler, barfüßige Gassenjungen und räudige Straßenhunde bildeten ihr Spalier und überschütteten sie mit einem Schwall von Worten oder Gekläff. Emilie musterte sie mit einer Mischung aus Mitleid, Furcht und Abscheu. Immerhin, auch sie waren hungrig. Aus der Menge ragten in einiger Entfernung zwei Männer zu Pferde heraus, die gemächlich über die Piazza ritten, und jeder machte ihnen Platz. Sie trugen helmartige Hüte mit einem rot-blauen Federbusch, einen türkischen Frack mit silbern schimmernden Knöpfen und scharlachroten Schößen sowie eine breite weiße Schärpe über der Brust. Überall auf der Reise waren Fontanes solcherart Uniformierte begegnet, in Verona und Venedig, in Florenz und in Rom. Emilie wusste, dass man sie Carabinieri nannte, aber sie hatte keine Vorstellung, ob es sich nun um Soldaten oder um Polizisten handelte. Bevor sie an der Seite ihres Mannes den Hotel-Omnibus erreichte, stellte sich ihr plötzlich ein Esel in den Weg und blickte sie aus seinen großen, feuchten und irgendwie treu wirkenden Augen an. Das Tier schnupperte an ihrem lindgrünen Reisekleid aus einem festen Wollstoff, was sie gerade noch ertragen konnte, aber dann hob es den Kopf, schürzte die Lippen und zeigte ihr ein Stummelzahngebiss. Emilie schrie auf.

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Die Bettler und die Straßenjungen, die Händler und, wie es Emilie vorkam, sogar die Hunde lachten. »Mon dieu!« Fontane winkte dem Kutscher mit einer heftigen Bewegung der rechten Hand. »Tun Sie doch etwas … fare … fate … fai qualcuno!« Der Kutscher nickte. Er nahm von seinem Bock eine Peitsche, ließ sie ein paar Mal durch die Luft sausen und hieb zweimal auf den Rücken des armen Tieres. »No, no, no!«, entrüstete sich Emilie, denn der Esel befand sich bereits auf dem Rückzug. Offenbar war er Schläge gewöhnt, denn er reagierte kaum auf sie, und dann war er in der Menge verschwunden. »Sì, sì, sì!« Der Kutscher präsentierte Emilie die Peitsche wie ein Gewehr, streichelte sie und sagte auf eine Weise, die ihr anzüglich vorkam: »‘U urpacchiello«, bevor er zum Omnibus zurückkehrte, bei dem sich mittlerweile erste Fahrgäste eingefunden hatten. Es handelte sich um ein Ehepaar, das Emilie bereits im Zug gesehen zu haben glaubte. Der Mann trug eine taubenblaue Redingote, einen übermäßig hohen Zylinder und an den Füßen Knopfstiefeletten, während seine hagere, ihn um Haupteslänge überragende Frau mit ihrem geblümten Sommerkleid und dem gelben Strohhut, von dem ein verwaschen blaues Band traurig nieder hing, zwar weniger schwitzte, aber auch keinen Schönheitswettbewerb in Karlsbad oder Spa gewonnen hätte, ja nicht einmal auf Usedom. Der Mann lüftete beständig den Zylinder und fuhr sich mit einem karierten Taschentuch über die Stirn, die Frau rief ein ums andere Mal zu dem Gehilfen, der ihre Siebensachen auf dem Dach des Omnibusses verstaute, »Attenzione! Attenzione!«, so als enthielte das Gepäck die englischen Kronjuwelen. Emilie warf ihrem Kofferträger einen Blick zu und deutete auf den Wagen ihres Hotels. Der Träger nickte und schleppte die Koffer zu dem Gehilfen, während sich der Kutscher auf den Bock schwang.

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Der Gehilfe öffnete den Wagenschlag. Der Herr in der taubenblauen Redingote und seine Begleiterin stiegen als Erste ein. Fontane entlohnte den Träger, dann war er Emilie beim Einsteigen behilflich. Er murmelte ein »Buonasera«, deutete dann auf sich und seine Frau: »Tedeschi.« »Ich habe mir fast schon gedacht, dass Sie auch aus Deutschland kommen«, sagte der Herr und erhob sich. Beinahe wäre er mit seinem Zylinder an den Himmel des Omnibusses gestoßen, aber er hielt rechtzeitig inne und stand nun in verkrümmter Haltung vor Fontanes. Er war ein sonnengebräunter Mittvierziger, aber er wirkte erschöpft und sein Lächeln gezwungen. Die Frau, nur wenig jünger, schien einen hellen Teint zu bevorzugen, von dem sich allerdings die Sommersprossen auf ihrer Nase umso auffälliger abhoben. Sie war ein rothaariger Typ, und sie hatte ihren Mund zu einem Strich verkniffen. »Im Ausland erkennt man einander, nicht wahr? Gestatten: Baurat Schwatlo aus Berlin. Meine Gattin.« Er ließ sich in die Polster fallen und lehnte sich zurück. Die Frau Baurat bestätigte mit einem knappen Nicken, die Ehefrau zu sein. »Welch ein Zufall!«, rief Emilie aus. »Wir wohnen nämlich auch in Berlin.« »Da kann man wohl nur auf gut Italienisch sagen: Tutto il mondo è paese. Oder auf gut Deutsch: Die ganze Welt ist ein Dorf.« Fontane stellte sich und Emilie ebenfalls vor. »Dann sind Sie wohl auch mit dem Zug von Rom gekommen?«, fragte er. »Allerdings.« Schwatlo trug unter der Redingote eine kobaltblaue Weste über einem weißen Hemd, dessen hoher Kragen die Reise nicht unbeschadet überstanden hatte. Das Bändchen am Strohhut seiner Frau hing noch immer traurig herab. »Es gab nichts zu essen«, sagte sie, ohne die Lippen allzu weit voneinander zu trennen.

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Inzwischen hatte sich der Omnibus langsam in Bewegung gesetzt und bahnte sich einen Weg durch die Stände, Karren und Menschen. Die beiden Carabinieri kamen herangeritten und schauten mit gleichgültigem Blick in den Wagen. »Haben Sie zufällig ein Vocabolario?«, wandte sich Emilie an die Baurätin. Der Omnibus rollte nun durch die Gassen der Altstadt, in denen ein noch größeres Gedränge herrschte als auf der Piazza, aber wie durch ein Wunder kam er ohne Zusammenstöße voran. »Unseres befindet sich nämlich in einem der Koffer.« Frau Schwatlo presste eine Handtasche aus maure-doré, einem hellen Leder mit Goldschimmer, an ihren Leib, so als halte sie nicht nur die scugnizzi, die Gassenjungen, für ausgemachte Diebe, sondern auch ein honoriges Ehepaar wie die Fontanes. »Ich habe es immer bei mir«, sagte sie in einem leicht hochnäsigen Ton. »Man braucht es doch an jeder Ecke.« Sie ließ den Verschluss ihrer Handtasche aufschnappen, zog ein kleines, von häufigem Gebrauch abgenutztes Wörterbuch hervor und reichte es Emilie. Die blätterte es durch auf der Suche nach dem U. »Mein Mann spricht recht gut Italienisch«, sagte die Rätin, »vielleicht kann er Ihnen behilflich sein. Carl?« »Ja, meine Liebe. Was suchen Sie denn, Madame Fontane?« »Urpacchiello«, entgegnete Emilie. »Was soll das sein?« »Der Kutscher nannte seine Peitsche so.« »Nein, dieses Wort kenne ich nicht«, sagte Schwatlo. »Vielleicht ein Dialektausdruck. Die gewöhnlichen Leute sprechen eine Sprache, die nicht einmal im übrigen Italien verstanden wird. Finden Sie es?« »Nein. Es gibt kein einziges Wort, das mit U-R-P beginnt.« Befreit vom Staub und angetan mit einer leichten Abendgarderobe, begaben sich Fontanes eine Stunde nach ihrer An-

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kunft im Hotel in den Speisesaal. Emilie war nicht wenig enttäuscht. Die Herberge lag an der Via Chiatamone im Viertel Santa Lucia und somit unmittelbar am Golf von Neapel. Schon auf der Fahrt hatte sie mehrmals den Golf gesehen, und da sie sich durch die Reiseführer ebenso hindurchgearbeitet hatte wie ihr Mann, hatte sie erwartet, dass das Meer bei Sonnenuntergang die Farbe von rotem Wein annahm, so wie es schon Homer beschrieben hatte. Stattdessen hatte das Wasser einen bleifarbenen Ton, ganz so wie die herbstliche Ostsee. An der Hoteltafel gesellten sich Fontanes wie selbstverständlich zum Ehepaar Schwatlo, und Emilie bekam auch zu ihrer Linken einen Tischnachbarn, der sich als Johann Heinrich Strassmann vorstellte – ein weiterer Deutscher also, und um die Überraschung komplett zu machen, wurde man schnell gewahr, dass er aus Lichterfelde bei Berlin stammte. Der kleine, dicke Mann mit Halbglatze, Stiernacken und flinken Augen unter schweren Lidern, der sich vermutlich der Sechzig näherte, bezeichnete sich als »Rentier und Propriétaire«, ohne anzugeben, was er denn eigentlich besaß: eine Fabrik, ein Handelsunternehmen, ein Landgut oder einfach nur Vermögen. Kaum dass die Ministra serviert war, befand man sich bereits in einer angeregten Plauderei. Nach anfänglichem Zögern hatte sich Fontane als Schriftsteller zu erkennen gegeben, was wie immer eine gewisse Bewunderung auslöste, aber nicht die so sehr verhasste Frage, ob er denn davon leben könne. Herr und Frau Schwatlo waren nicht zum ersten Mal in Neapel, es war ihr dritter Besuch, da sie die Landschaften Kampaniens so sehr liebten. Es erwies sich, dass der Baurat als Architekt für die Reichspost tätig war und ein Gebäude entworfen hatte, das fast jeder Berliner kannte: das Generalpostamt in der Leipziger Straße. Nun war ihm die Errich-

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tung eines Postfuhramtes in der Oranienburger Straße übertragen worden, offenbar ein schwieriger Auftrag, der den erschöpften Eindruck erklärte, den er machte. Strassmann nahm an dem Gespräch regen Anteil, und rasch kam man auf die antiken Bauwerke zu sprechen, von denen es in der Umgebung nur so wimmelte. Der Rentier schien sie fast alle zu kennen. Er hatte offenbar halb Süditalien bereist, hatte Paestum gesehen, Pompeji, Salerno, Sorrent. Der Höhepunkt seiner Reisen sei aber stets Neapel gewesen, erklärte er, und er maße sich an zu behaupten, nur seine Westentasche besser zu kennen. »Planen Sie und Ihr Gatten auch Ausflüge in die Umgebung?«, erkundigte er sich bei Emilie. Von den Kellnern als besondere Köstlichkeit gepriesen, wurden nun Einsiedlerkrebse aus Pozzuoli aufgetragen. »Sie meinen in Campania felice?« »Genau das meinte ich.« Strassmann lachte. Dann deutete er auf die Krebse. »Pozzuoli, bei den Römern Puteoli geheißen und damals eine wichtige Hafenstadt, steht nämlich auf meiner Agenda. Dort gibt es das drittgrößte Amphitheater der antiken Welt zu bestaunen. Man könnte sich die Kosten für eine Retourkutsche teilen.« »Sie interessieren sich offenbar sehr für das Altertum?«, fragte Emilie, während sie einen kritischen Blick auf die Krebse warf. Mochten sie auch noch so köstlich sein, sie waren schwer zu essen. Die Kellner brachten Schälchen mit Zitronenwasser. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben«, sagte Strassmann, »das Leben eines Rentiers und Eigentümers ist namentlich in Lichterfelde alles andere als aufregend. Man schneidet seine Coupons und erfreut sich eines wachsenden Vermögens sowie der Behaglichkeit eines großzügigen Hauses nebst Garten und einer kleinen Landwirtschaft, die aber eigentlich nur ein Steckenpferd ist. Und dann sind da noch die besten

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Freunde, die Bücher. Ich will nicht aufschneiden, aber alle wichtigen Werke, die jemals über die Antike verfasst wurden, befinden sich in meinem Besitz. Aber was nutzt all das Bücherwissen? Man muss die alten Steine sehen und berühren.« »Und deshalb sind Sie in Italien«, stellte Emilie fest. Sie nahm beherzt einen Krebs und riss ihm die Scheren ab. Strassmann folgte ihrem Beispiel. »Bell’ Italia ist für mich beinahe zur zweiten Heimat geworden«, sagte er. »Jedes Jahr verbringe ich mehrere Wochen auf dem Stiefel. Es ist ein zauberhaftes Land. Aber ob es auch so glücklich ist, wie uns die Dichter weismachen?« Er hob die Schultern. »Der Mezzogiorno jedenfalls ist bitterarm. Ich fürchte, dass Armut nicht sonderlich glücklich macht.« Emilie nickte und sog Krebsfleisch aus den Scheren. Ihr Mann sprach unterdessen mit Schwatlo über Schinkel, die gemeinsame Herkunft aus Neuruppin und natürlich auch über seine Bauten. Seine hagere Gattin zerbrach mit ihren langen Fingern den Panzer eines Krebses und entwickelte dabei eine überraschende Kraft. Emilie legte die Scheren auf das dafür vorgesehene Tellerchen. »Wenn Sie so häufig in Italien sind, sprechen Sie sicher ausgezeichnet Italienisch«, sagte sie zu Strassmann. »Ausreichend vielleicht, aber nicht ausgezeichnet«, wehrte der bescheiden ab. »Ich möchte Sie nämlich nach einem bestimmten Wort fragen«, sagte sie. »Vermutlich handelt es sich um einen Dialektausdruck.« »Nun, ob ich damit dienen kann? Das Napoletano wird nicht einmal …« »Ja, das habe ich schon gehört. Es wird nicht einmal außerhalb Neapels verstanden.«

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»Ich glaube, man will es nicht verstehen. Es gilt als wenig vornehm. Welches Wort bereitet Ihnen denn solchen Kummer?« »Urpacchiello. Der Chauffeur des Hotelomnibusses nannte seine Peitsche so, und ich hatte den Eindruck eines mokanten Untertones.« »Dieses Wort kenne ich nicht«, sagte Strassmann und beugte das Haupt tief über seinen Teller.

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Zweites Kapitel 3. November 1874 Nach einer in kurzem, schwerem Schlaf verbrachten Nacht erwachte Emilie bereits um halb sieben; obwohl sie die Fensterläden geschlossen hatte, fiel durch deren Ritzen ein Dämmer, in dem sie die Uhr erkennen konnte. Sie trat in ihrem Schlafgewand ans Fenster, öffnete die Läden und schaute hinaus. Der Anblick, der sich ihr darbot, entschädigte sie für die miserable Nacht. Unmittelbar vor ihr, vom Hotel nur durch die Via Chiatamone geschieden, erstreckte sich der Golf. Ein paar Fischerboote kehrten zurück, eine Dampffregatte, die mit Kanonen bestückt war, lag reglos und mit eingezogenen Segeln neben einem altertümlichen Kastell, dessen Namen Emilie nicht wusste. Als sie den Kopf ein wenig vorneigte und nach links blickte, entdeckte sie den Beherrscher Neapels, den Doppelkegel von Monte Somma und Vesuv, der sie an die Höcker der Kamele im Berliner Zoologischen Garten gemahnte. Eine Rauchfahne über dem Vesuv bewies, dass der Vulkan nicht erloschen war. Das eigentliche Spektakel jedoch war der Sonnenaufgang. Genau in der Rundung zwischen den Höckern erschien jetzt il sole. Emilie musste die Augen zusammenkneifen, aber dieses Schauspiel wollte sie sich nicht entgehen lassen. Das Meer jedoch enttäuschte sie erneut. Sie kannte es von den unzähligen Gemälden deutscher Maler und von den handkolorierten Postkarten, die von jenen Freunden ge-

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schickt wurden, die ihr Mann italianissimi zu nennen pflegte, von den Italien-Enthusiasten à la Strassmann. Auf diesen Gemälden und Karten war das Wasser des Golfs immer von strahlendem Blau. Die Sonne, die sehr gemächlich höher stieg, malte einen breiten Streifen strahlenden Silbers auf die Wasseroberfläche. Das Meer darum aber war – bleigrau. Kein Azur, niente. Emilie begab sich mit einem Lächeln auf den Lippen zur Waschschüssel. Der dritte November war ein bedeutsamer Tag: Ihr Sohn Theo hatte Geburtstag, seinen achtzehnten. Er führte in Berlin das Regiment über Friedel, ihren Jüngsten, während die Tochter Mete bei Freunden auf dem Land war, und hatte schon mehrere Poste-restante-Briefe nach Italien geschrieben, der Weisung seines Vaters Folge leistend, nur ja nichts Unangenehmes mitzuteilen. Emilie entledigte sich ihrer Nachtwäsche, wusch sich sorgfältig und kämmte ihr Haar. Sie öffnete den eleganten, mit Intarsien versehen Schrank, dessen Tür etwas klemmte, und betrachtete ihr Kleiderrepertoire, das den wenig gewinnenden Geruch von Insektenpulver verströmte. Das lindgrüne Kleid schloss sie als Erstes aus. Obgleich es November war, kam es ihr doch warm genug vor, ein Sommerkleid zu präferieren: das mit den Sonnenblumen. Sein Gewebe spiegelte mehr vor, als es tatsächlich war, denn man hielt es gewöhnlich für Satin; allein Emilie wusste, dass es sich um schlichtes Leinen handelte. Nachdem sie ihre Morgentoilette beendet hatte, schloss sie das Fenster und begab sich auf das Zimmer ihres Mannes. Auch er war schon wach, saß an dem kleinen Tisch gegenüber seinem Bett und hatte sich bereits Tinte, Feder und Papier kommen lassen, um einen Brief zu schreiben. Er wirkte bleich und kränklich. »Wie war deine Nacht?«, wollte Emilie wissen.

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»Grässlich. Der ganze Vesuv sitzt mir im Leibe. Nur unverwöhnte Mägen dürfen sich nationalen Studien hingeben.« »Wieder der Magenkatarrh?« Fontane nickte. Er betrachtete die Schreibfeder und warf sie neben das Blatt Papier. »Die Feder taugt auch nichts«, schimpfte er. »Und wie sehen deine Pläne aus?« »Keinen Schritt aus dem Hotel! Ich halte es heute mit Goethe; der war an seinem ersten Tag in Neapel auch leidend.« »Nicht einmal Frühstück?« »Willst du mich umbringen? Ich bekomme keinen Bissen hinunter. Aber geh nur. Einer von uns muss sich auf den Beinen halten können.« »Wann wollen wir uns mit Aschinger treffen?« »Übermorgen. Er will mit uns einen Ausflug zu den Phlegräischen Feldern machen. Vorher sollen wir uns akklimatisieren, schreibt er. Ich brauche dafür wenigstens den heutigen Tag.« Emilie ging hinab in den Speisesaal. Der Abstecher nach Neapel hatte nicht von Anfang an auf ihrer Agenda gestanden. Nachdem sie kurz vor ihrer Abreise jedoch erfahren hatten, dass der Berliner Kriminalkommissar und Freund nach Neapel reisen und dort seine Verwandten besuchen wollte, hatten sie im Zug nach München beschlossen, Aschinger eben dort zu treffen. Telegramme waren hin- und hergegangen, und von Rom aus hatte man die Verabredung erzielt. Obgleich sich in ihrem Gepäck neben dem unvermeidlichen Baedeker sowohl Ernst Försters Handbuch für Reisende in Italien als auch Jacob Burckhardts Cicerone befanden, erwarb Emilie an der Rezeption einen Guide. Während sie ein Beefsteak frühstückte und ein Glas Tee mit Sahne trank, blätterte sie darin. Bereits in Rom war es Theodor während der ersten Tage nicht gut gegangen, aber er hatte sich dann

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doch stets aufgerafft, und so hoffte Emilie, ihn auch heute zumindest zu einem Spaziergang bewegen zu können – wenn sie ihm ein interessantes Ziel vorschlug. Der Vomero mit dem Kastell Sant’ Elmo und der Kartause San Martino schien ihr ein solches Ziel zu sein, und dem Stadtplan zufolge konnte man ihn zu Fuß erreichen. »Guten Morgen, meine Gnädigste!« Emilie hob den Blick. Strassmann hatte den Saal betreten und stand schon an ihrem Tisch. »Sie erlauben?« Er deutete auf den freien Stuhl. »Der Herr Gatte schläft noch?« »Er ist unpässlich«, erwiderte sie. »Der Magen. Aber ja, bitte setzen Sie sich.« »Danke.« Strassmann nahm Platz. Ein junger Kellner eilte herbei. »Solo un caffè!«, sagte Strassmann. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn Ihr Mann krank ist, brauchen Sie womöglich einen Begleiter?« Emilie winkte ab. »Nein, nein«, sagte sie, »ich werde ihn schon zu dem einen oder anderen Schritt bewegen. Dennoch herzlichen Dank für Ihr Angebot. Erlauben Sie mir eine Frage?« »Aber gern.« »Sie deuteten gestern Abend an, dass das Leben eines Rentiers und Popriétaires in Lichterfelde nicht sonderlich aufregend sei …« »Sie müssen gar nicht ausreden. Molte grazie!« Strassmann nickte dem jungen Kellner zu, der ihm soeben eine winzige Tasse gebracht hatte. »Sie fragen sich, ob ich Familie habe? Leider hat sich das nie ergeben. Ich bin also, wenn Sie so wollen, ein Hagestolz. Und mittlerweile ein überzeugter. Meine Mittel und meine Ungebundenheit geben mir eine große Freiheit.«

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Baurat Schwatlo nebst Gattin erschien. Schwatlo deutete eine Verbeugung gegen Emilie und Strassmann an, seine Frau wirkte so verhärmt wie am Vortag. Emilie stand auf. »Ich will sehen, ob ich meinen Mann überzeugen kann. Drücken Sie mir die Daumen, dass es mir gelingt. Einen schönen Tag wünsche ich.« »Mille grazie, signora Fontane. Empfehlen Sie mich Ihrem werten Gatten.« Fontane hatte in der Zwischenzeit drei Seiten mit seiner sorgfältigen Schrift gefüllt; der Brief war für Karl Zöllner bestimmt, einen alten Freund in Berlin, so wie die meisten vorherigen auch. »Ich möchte dich zu einem kleinen Gang verleiten«, sagte Emilie, legte den Guide auf den Tisch und schlug den Plan auf. »Schau einmal hier, die Certosa San Martino. Das scheint kein weiter Weg zu sein, und es soll dort eine grandiose Terrasse geben; vielleicht können wir unserem Hotel aufs Dach schauen. Danach trinken wir auf dem Toledo einen Kaffee. Das Caflisch soll ausgezeichnete Konditoreiwaren haben.« »Hm«, brummte Fontane bloß. »Du kannst nicht den ganzen Tag auf dem Zimmer verbringen. Wir wollen doch etwas von Neapel sehen.« Fontane betrachtete den Plan, wiegte den Kopf, nickte dann langsam und erhob sich. Er warf den Gehrock über, nahm Spazierstock und Hut, und sogar den grünen Förster und den roten Baedeker steckte er ein. Emilie hakte sich bei ihm unter, und gemeinsam verließen sie das Washington. Sie gingen die Via Chiatamone entlang bis vor den Eingang eines großen Parks, der Villa Nazionale hieß und wo Jungen, aber auch erwachsene Männer Flaschen mit Chiatamone-Mineralwasser verkauften. Emilie erwarb eine für ihren Mann. Sie hielten sich, dem Plan vertrauend, nach rechts und erreichten so die trapezförmige Piazza dei Martiri mit der von zwei stehenden und zwei sitzenden Lö-

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wen getragenen Säule für die Märtyrer der vier anti-bourbonischen Revolutionen, was Emilie herzlich wenig sagte. Außerdem gab es zwei berühmte Paläste. Sie las vor: »Der Palazzo Calabritto, 1756 errichtet von einem gewissen Luigi Vanvitelli, der auch das bourbonische Königsschloss in Caserta erbaut hat.« »Wohl kaum selber«, brummte Fontane. Emilie spürte, dass sich die Laune ihres Mannes wieder verschlechtert hatte. »Willst du auch über den zweiten Palast hören?« »Bitte. Du bist eine ausgezeichnete Erklärerin.« »Verspotte mich nicht. Wenn du nicht willst oder kannst, kehren wir um.« »Nein, nein. Lass uns weitergehen, und sei du meine … tja, da mir bisher noch nie ein weiblicher Fremdenführer begegnet ist, weiß ich gar nicht, ob es dafür ein Wort im Italienischen gibt. Sei also mein Cicerone und nimm mir nicht krumm, dass ich ein wenig missgestimmt bin. Andiamo subito!« Da Emilie den Plan ausgebreitet hielt, hatten sich mittlerweile drei dienstbare Geister eingestellt: drei Jungen, nicht eigentlich schmutzig, aber ihre Kleidung wies so viele Flickstellen auf, dass sie praktisch von ihnen zusammengehalten wurde. Auch sie nannten sich Ciceroni, waren vermutlich wirklich welche und erboten sich, Fontanes an jeden beliebigen Ort Neapels zu führen. Emilie wollte aber nur zu einer Straße mit dem Namen San Carlo alle Mortelle, und dorthin geleitete man sie auch, immerfort auf sie einredend. Emilie verstand nicht ein Wort. Fontane sagte nichts und folgte nur mehr oder minder geduldig. Als sie aber die Via San Carlo erreicht hatten, schüttelte er heftig den Kopf: Das war keine gewöhnliche Straße, sondern eher eine Treppe, die bergan führte und hinter einer Biegung verschwand, was das Schlimmste befürchten ließ.

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»Da kriegen mich keine zehn Pferde hoch«, sagte er. Er zückte seine Börse und gab jedem der Begleiter einen halben Franc. Daraufhin blieben sie. »Aber die Stufen sind niedrig, Théodore. Und du bist es doch gewöhnt, stundenlang zu wandern.« »Durch das flache Brandenburg! Durch ein Land, wo man die kleinste Erhebung schon Berg nennt. Dabei steige ich keine Treppen!« »Aber wir sind nun schon …« »Weil du es wünschst, Emilie. Und weil auch die längste Treppe irgendwo enden muss.« Das tat sie auch. Aber auf die Via San Carlo folgte die Salita del Petraio, die es wirklich in sich hatte. Fontane geriet ins Schwitzen, die Waden begannen bei jedem Schritt zu schmerzen, und er keuchte vor Anstrengung. Auch Emilie spürte zunehmend ihre Knochen. Eine unverhoffte Begegnung ließ sie innehalten: Hinter einem Knick der Salita kam Strassmann hervor. Er tupfte sich unablässig den Schweiß von Stirn und Glatze – und er war nicht allein. Neben ihm ging, weitaus leichtfüßiger, ein schlanker und ausnehmend ansehnlicher Bursche von höchstens achtzehn Jahren. Der Junge, zweifellos Italiener, war schwarzhaarig und hatte blaue Augen. Gerade dieser Kontrast zwischen dem schwarzen Haar, dem dunklen, aber nicht zu dunklen Teint und der Augenfarbe machte ihn, neben der Grazie seiner Bewegungen, zu einer auffälligen Erscheinung. Emilie kniff ihrem Mann in den Arm. Der Junge war einfach zu schön. Sofort überkamen sie Zweifel, ob Strassmann nur aus Mangel an Gelegenheit keine Familie hatte. »Was kneifst du mich?«, wollte Fontane indigniert wissen. »Ich habe eine Ahnung«, flüsterte Emilie. »Du weißt doch, was man sagt: Männer aus dem Norden fahren nach Rom wegen der Frauen und nach Neapel wegen der Knaben.«

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»Ja, so sagt man. Aber die Motive dieses Couponschneiders sind mir wirklich gleichgültig.« »Ah, Madame et Monsieur Fontane!«, rief Strassmann kurzatmig. »Ich habe mich auch hinaufgequält. Gehen Sie keinen Schritt weiter. Die Certosa ist geschlossen. C’est Italie!« »Schade«, sagte Emilie. »Gott sei Dank«, murmelte Fontane. Zu Strassmann sagte er laut: »Nun weiß ich wenigstens, warum man sagt: Neapel sehen und sterben. Eine Stadt mit solchen Aufstiegen ist mörderisch.« Strassmann lachte, aber es klang bemüht. »Dann steigen wir wieder hinab und gehen bei Caflisch Kuchen essen«, sagte Emilie. »Das sollten Sie tun. Aber ich muss vorstellen.« Der unternehmungslustige Rentier deutete auf seinen Begleiter. »Das ist Gianluigi, mein Cicerone, aber als Verehrer der Alten nenne ich ihn lieber meinen Perigetes, so wie die Fremdenführer im antiken Griechenland hießen. Signora e Signor Fontane.« »Molto lieto«, sagte der Jüngling, aber er schaute weder Fontane noch Emilie dabei an. Strassmann verbeugte sich, wünschte einen guten Tag und schritt mit dem Jungen die Treppe hinab. Emilie sah ihnen nach. »Schau doch mal, Théodore!«, befahl sie. »Was soll ich denn schauen? Ich bin froh, dass wir umkehren können. Die Certosa nehmen wir morgen durch. Ich will nur sitzen und einen Kaffee.« »Wie vertraut die beiden miteinander sind. Strassmann braucht namentlich in Neapel keinen Perigetes. Gab es bei den alten Griechen wirklich schon Fremdenführer?« »Emilie! Ich verdurste! Und genau genommen möchte ich erst einmal ein Bier.« Der Abstieg war nicht weniger beschwerlich als der Aufstieg. Offenbar war das auch den Jungen klar geworden, die den

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Fontanes ihre Dienste aufgedrängt hatten, denn sie waren nicht mehr zu sehen. Umso dankbarer war Fontane, als er das Aushängeschild einer Taverne entdeckte, die ihm zuvor nicht aufgefallen war, allein schon weil er seinen Blick vor allem auf die Stufen gerichtet hatte. Die Schankstube trug den schönen Namen Paradiso terreno, und in diesem irdischen Paradies hoffte er ein gut gekühltes Bier zu bekommen. Die Trattoria war klein, verfügte aber über einen Hof mit Weinlaub über den vier Tischen. Und wieder gab es ein unverhofftes Zusammentreffen, denn an einem der Tische saßen fünf Männer unterschiedlichen Alters, unter ihnen Strassmanns jugendlicher Cicerone, der Lichterfelder Couponschneider selbst war nicht dabei. Der Mann neben Gianluigi fiel Fontane sofort ins Auge, denn er war älter als der Junge, hatte aber eine so große Ähnlichkeit mit ihm, dass man ihn für seinen Vater halten konnte. Die Männer tranken Wein und unterhielten sich angeregt. Als Gianluigi die Fontanes bemerkte, machte er die anderen auf sie aufmerksam. Die Männer verstummten, wandten die Köpfe und starrten die Neuankömmlinge an. Fontane verspürte sofort jenes Unbehagen, das man auf einem Präsentierteller hat. Er rückte Emilie einen Stuhl zurecht und nahm selbst Platz. Der Wirt eilte herbei. Die Unterhaltung am Nebentisch wurde nicht fortgesetzt. Als das Schweigen der Männer unangenehm zu werden drohte, verlangte Fontane die Rechnung. Er zog die Geldbörse aus dem Gehrock, die prall gefüllt wirkte, weil er Briefe in ihr verwahrte, doch in Wahrheit enthielt sie nicht mehr als dreißig Francs. Nur einen davon musste er für das Bier opfern. Bei der Via Toledo handelte es sich offenbar um die Prachtstraße der Stadt, sozusagen die Linden von Neapel. Große

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Adelspaläste und Kirchenbauten säumten sie, elegante Geschäfte lockten mit ihren Auslagen, sodass Emilie immer wieder stehen blieb und über das Einkommen ihres Mannes seufzte. Es herrschte ein unglaubliches Gewühl – und der übliche Lärm. Damen und Herren der besseren Gesellschaft ließen sich in ihren Equipagen über die für hiesige Verhältnisse breite Straße kutschieren oder spazierten über das Trottoir, umschwärmt von zahllosen Scugnizzi, Lazzaroni, Ciceroni oder wie immer man sie nannte oder sie sich nennen mochten, daneben englische, französische und deutsche Touristen, Carabinieri und Polizisten, Eis-, Wasser- und Maronenverkäufer, fliegende Händler, Bettler und Tagediebe. Während sie sich am Arm ihres Mannes durch die Menge schob – oder vielmehr geschoben wurde –, lugte Emilie in ihren Guide, was sofort dazu führte, dass Männer, Jünglinge, sogar Kinder mit einem »Can help, can help!« ihre Dienste anboten. Ständig hörte man von allen Seiten ein »Perdonate!« oder »Scusate!«, weil man von allen Seiten angerempelt oder gestoßen wurde. Im Caflisch am Largo Spirito Santo zwängten sich die Touristen an kleine runde Tische, und ein babylonisches Stimmengewirr erfüllte das Kaffeehaus. Doch Fontanes fanden nicht nur einen freien Tisch, sondern sogar einen in der Nähe eines Fensters. Kaum hatten sie Platz genommen, als ein junges Mädchen mit Spitzenschürzchen und gestärktem Häubchen herbeieilte und sich mit einem »I signori desiderano?« nach den Wünschen der Herrschaften erkundigte. »Tja?« Fontane blickte seine Frau an. »Kaffee, Eis und dann Absinth?« »Aber Théodore, Absinth am Nachmittag!« Emilie schüttelte den Kopf. Sie hatte bei einem fliegenden Händler jene handkolorierten Ansichtskarten erworben, deren Verschi-

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ckung in die Heimat einfach erwartet wurde, und sich für die üblichen Motiven entschieden: für arme, aber glückliche Neapolitaner beim Makarroni-Essen oder beim Tanz der Tarantella. Sie reichte ihrem Mann die Fotografien. »Steckst du sie bitte für mich ein? Die Innentaschen deines Gehrocks haben genau die richtige Größe.« »Woher weißt du das?«, fragte Fontane schmunzelnd und nahm die Karten entgegen. »Weil ich deine Gehröcke zu bürsten und bei Bedarf auch auszubessern pflege.« »I signori desiderano?«, wiederholte das Mädchen ein wenig ungeduldig seine Frage. Fontane schob die Bilder in den Gehrock. Dann erbleichte er. »Mein Portefeuille ist fort«, sagte er mit erstorbener Stimme. »Um Gottes willen!«, rief Emilie. Der von mehreren aufgeregten Gästen herbeigerufene Polizist verstand sofort. Nachdem sich Fontane gefasst hatte, hatte er zwar das Vocabolario konsultiert, um das Wort für Diebstahl parat zu haben, aber das war gar nicht nötig, denn um ihn her raunte es: »Un furto!« oder »N’arruòbbo!« Der Beamte hörte das Geraune auch, trat mit betrübter Miene an ihren Tisch, deutete eine Verbeugung an und fragte: »A theft, Sir?« Fontane nickte. »Where?« »Via Toledo.« Der Uniformierte nickte wissend. »When?« »About thirty minutes ago?« Der Polizeibeamte wiederholte seine leichte Verbeugung, diesmal ausschließlich in Emilies Richtung. »The lady is …?« »My wife.«

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»Please, follow me!« Entschlossenen Schrittes begab sich der Polizist zur Tür und trat hinaus auf den Largo Spirito Santo, wo er einem Kutscher winkte. Mit einer Handbewegung wurden Fontane und Emilie gebeten, in die Droschke zu steigen. Der Beamten hielt ihnen die Tür auf, dann stieg auch er ein, schloss den Schlag und gab dem Kutscher einen Befehl, der aus einem einzigen Wort bestand: »Questura!« Der Kutscher hob die Peitsche. Emilie zuckte unwillkürlich zusammen. Auf dem Toledo beugte sich der Polizist aus dem Wagen und rief immer wieder »Pulizzìa! Pulizzìa!« in die Menge. Viel erreichte er damit nicht; unbeeindruckt von seinen Rufen wälzten sich die Menschen durch die Straße, weil ihnen gar nichts anderes übrig blieb. Fontane wurde Himmelangst, wenn er daran dachte, dass plötzlich eine Panik oder eine Stampede ausbrechen könne. Oder wenn der furore di piazza die Leute ergriff, die immerhin vier anti-bourbonische Revolutionen hinter sich hatten: Sie würden alles niederrennen, die Polizei, die Carabinieri, ihre Mitbürger, Esel, Hunde, Pferd und Wagen. Die Questura von Neapel befand sich in einem neoklassizistischen Palast, dem Palazzo San Giacomo, gelegen an der Piazza Municipio gegenüber dem Neuen Kastell. Er beherbergte nicht allein die Zentrale der Öffentlichen Sicherheit, sondern auch die Stadtverwaltung und die Intendenza di Finanza. Fontane, der das hässliche und aus mehreren Gebäuden zusammengestoppelte Polizeipräsidium am Berliner Molkenmarkt gut kannte, war überrascht, wie fürstlich die Polizei hier residierte: in einem Bau von klaren Linien, der so preußisch wirkte, wie von Schinkel und Stüler gemeinsam erbaut. Der Beamte führte sie in eine Galerie mit glatten, hohen Säulen auf riesigen Podesten und mit verglastem Dach, die Galleria vetrata, in der die Menschen trotz ihrer Zahl klein

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und verloren wirkten. Es ging eine königlich breite Treppe hinauf, einen langen Gang entlang und schließlich in einen Seitenflügel, der schon vertrauter wirkte mit seinen verwinkelten Fluren, blakenden und zischenden Gaslampen an den Wänden, mit Faktoten, die Aktenwagen schoben, mit eiligen Beamten, bleichen Verbrechern und bleichen Opfern. Fontanes wurde in einen Raum gebeten, in dem hinter einem Holztresen zwei Uniformierte auf Drehstühlen an ihren Schreibtischen saßen und in Bücher pinselten, vielleicht Wachbücher. Fontane kam zu dem Schluss, dass die Bürokratie überall das gleiche Gesicht hatte. Einer der Uniformierten bedeutete ihm und Emilie, auf zwei unbequemen Holzstühlen Platz zu nehmen, man werde sich augenblicklich um sie kümmern. Es wurde ein langer Augenblick. Ein Herr trat in den Raum, der sofort als höherer Beamter zu erkennen war. Der Mann trug einen schwarzen Gehrock, schwarze Hosen und auf Hochglanz polierte schwarze Schuhe, einen hohen weißen Kragen mit schwarzer Fliege und weiße Manschetten, die aus den Ärmeln ragten. Er war nicht sehr groß und glatt rasiert, hatte ein kantiges Kinn, leicht vorspringende Wangenknochen und von Müdigkeit umflorte Augen. Durch seine runde Metallbrille warf er einen Blick auf die Fontanes. Er hatte die Tür noch nicht geschlossen, als die beiden Uniformierten aufsprangen und ihn mit einem »Buongiorno, signor ispettore!« begrüßten. Der Ispettore winkte ab. Er trat hinter den Tresen, wechselte leise ein paar Worte mit seinen Untergebenen, schaute noch einmal zu den Fontanes, gab seine Anweisungen und ging zurück zur Tür. Dort wandte er sich ein letztes Mal Fontane und Emilie zu. »Viel Glück«, wünschte er auf Deutsch, dann war er fort. Nun endlich gelang es, eine Anzeige, la denuncia, aufzugeben, aber auch das brauchte Zeit, weil es nur unter größten

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Mühen gelang. Die Beamten verstanden ein wenig Französisch, kaum Englisch und gar kein Deutsch. Am meisten Schwierigkeiten bereitete es Fontane, die Besonderheiten seiner Brieftasche zu beschreiben, denn sie war ein dermaßen alltäglicher Gegenstand, dass er sie normalerweise kaum beachtete. Auskunft über den Inhalt zu geben fiel ihm schon leichter: Sie hatte dreißig Francs enthalten und ein paar Centesimi, zwei Briefe von Theo, die er nun wirklich im Hotel hätte lassen können, einen Satz italienischer Postmarken als nachträgliches Geburtstagsgeschenk für seinen Sohn und zwei Schreibfedern, die er auf dem Weg zum Caflisch bei der Post erworben hatte. Das war alles. Nachdem seine Angaben in ein Formular von enormer Größe eingetragen worden waren, unterzeichnete Fontane das Schriftstück, natürlich ohne es zu lesen. Die Beamten erhoben sich zum Abschied und standen sogar ein wenig stramm, aber dass die Menschen in einem Land, in dem es immerhin drei verschiedene Möglichkeiten gab, bitte zu sagen, ausgesprochen höflich waren, verstand sich von selbst. Sie waren entlassen. Etwas ratlos standen sie vor dem Palazzo und hofften auf eine Mietdroschke. »Ein Bier, Théodore?«, fragte Emilie. »Ein Bett«, lautete seine Antwort. Kein Auge hatte Fontane zugetan, als er sich zwei Stunden später mit Emilie zur Table d’hôte begab, um wenigstens einen Bissen zu essen. Sein Ärger über den frechen Diebstahl am helllichten Tage war jedoch beinahe verflogen: Postmarken und Federn waren zu ersetzen, nur die Briefe nicht. Allein der geldliche Verlust wurmte ihn noch; schließlich waren dreißig Francs kein

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Pappenstiel, aber es war auch keine Summe, die einen in Armut stürzte. Im Hoteltresor hatte er noch hundert Francs deponiert, außerdem befand sich ein Wechsel in seinem Gepäck, den er als Notreserve mit sich führte und jederzeit einlösen konnte. Als sie den Speisesaal betraten, stellten sie fest, dass Baurat und Baurätin fehlten, doch dann fiel Emilie ein, dass die beiden nach Paestum gefahren waren und erst am nächsten Vormittag zurückkehren würden. Für den Abend hatten sie zum Austernessen geladen, ohne schon ein bestimmtes Restaurant ins Auge gefasst zu haben. Die Baurätin liebte Austern, und in jeder Stadt am Meer, in der sie sich aufhielt, musste sie welche bekommen. Der fast schon unvermeidliche Strassmann war allerdings da. Emilie blieb nichts weiter übrig, als wie gehabt zwischen ihrem Mann und dem Rentier Platz zu nehmen. Der erkundigte sich sogleich, wie ihnen die Cremetörtchen im Caflisch gemundet hätten, woraufhin Emilie ihm von dem Taschendiebstahl berichtete. Fontane schwieg. Strassmann war bestürzt. Dass Fontanes bei ihrem ersten Besuch in seinem geliebten Neapel eine so schlechte Erfahrung hatten machen müssen, entrüstete ihn über die Maßen. Dies sei eben die Kehrseite der Napoletanità, sagte er, und in seiner Erregung die Sprachen mischend, nannte er diese Kehrseite einmal Malanapoli, einmal Napoli catastrofica, das es im Gegensatz zu Napoli nobilissima eben leider auch gäbe. Desgleichen sprach er davon, dass in politischen und journalistischen Kreisen längst die Rede von der Miseria di Napoli sei, ja sogar von il suicidio di Napoli. »Schon immer lagen in Neapel Himmel und Hölle näher beieinander als in jeder anderen Stadt«, dozierte er, während die Kellner eine Speise auftrugen. Emilie musste sofort an die Arbeiterquartiere Berlins denken und konnte sich nicht vor-

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stellen, dass sich anderswo Himmel und Hölle noch enger berühren konnten. Der Himmel bestand aus Schloten, der Rest war Hölle. »Sie sind neu hier und haben noch nicht viel von der Stadt gesehen«, fuhr Strassmann eifrig fort, »Sie werden aber rasch bemerken, es ist eine sehr lebhafte, aber auch eine fiebrige und kranke Stadt. Diese entsetzliche Übervölkerung wird ihr eines Tages das Genick brechen. Und dann, nach der italienischen Einheit, der Sturz von der Hauptstadt eines zwar rückständigen, aber doch glänzenden Königreiches zur Provinzhauptstadt! Das Gewerbeleben stürzte gleich mit. Ins Bodenlose wäre übertrieben, aber … es liegt am Boden. Was meinen Sie, um nur ein Beispiel zu geben, warum es nur noch eine Brauerei in Neapel gibt?« »Walther & Caflisch«, warf Fontane ein. »Ah, Sie wissen.« Strassmann nickte anerkennend. Die Kellner trugen Teller und Terrinen fort. »Ja, Caflisch scheint alles zu überleben. Cremetörtchen sind krisensicherer als Bankpapiere. Apropos!« Er räusperte sich. Andere Kellner brachten Platten und Schüsseln. »Wenn ich helfen kann, wenn Sie Geld benötigen … Scheuen Sie sich nicht, es anzunehmen. Es darf Ihnen nicht peinlich sein. Denken Sie einfach, dass für Karl Heinrich Strassmann der italienische Spruch nicht gilt: Più denaro, più preoccupazioni.« »Scusate?«, fragte Emilie. »Je mehr Geld, desto mehr Sorgen.« Fontane erwiderte: »Danke für Ihr freundliches Angebot, aber es wird nicht nötig sein. Mehr als eine Woche bleiben wir ohnehin nicht, und notfalls lasse ich mir einen Wechselbrief schicken.« »Nein, wirklich«, Strassmann blieb beharrlich, »Sie können es mir ja in Berlin zurückgeben. Besuchen Sie mich doch in Lichterfelde. Es würde mich freuen. Was haben Sie morgen vor?«

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»Wir überlegen, es noch einmal mit dem Kartäuserkloster zu versuchen, diesmal aber mit einer Droschke.« »Kommen Sie doch mit nach Pompeji«, schlug Strassmann vor. »Ich will es Gianluigi zeigen. Der Junge ist in Neapel geboren, da muss er es doch einmal gesehen haben.« »Ein so großer Ausflug … nach den heutigen Ereignissen«, versuchte Emilie einen vagen Widerspruch. »Das ist kein großer Ausflug. Wir nehmen die Bahn. Es ist die älteste Eisenbahnstrecke Italiens, wissen Sie. Und ich kann Ihnen vieles zeigen und erklären.« Davon waren sowohl Emilie als auch Fontane überzeugt.

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Drittes Kapitel 4. November 1874 Es war schier unmöglich, Strassmann zu entkommen. Als Fontane und Emilie am Morgen in den Speisesaal eilten, um sich nach einem rasch verzehrten Frühstück aus dem Hotel zu stehlen, saß er bereits auf einer Couch in der Lobby und lächelte ihnen erwartungsfroh entgegen. Auf seinen Knien ruhte der Corriere del Mattino, in dem er wohl während des Wartens geblättert hatte, links von ihm lag ein dickes Buch, aus dem eine Vielzahl von Lesezeichen ragte. »Buongiorno, i signori!«, grüßte Strassmann aufgeräumt. »Wünsche wohl geruht zu haben.« »Was ist das?«, fragte Emilie und deutete auf das Buch. »Das vielleicht bedeutendste Werk über die Ausgrabungen von Pompeji.« Strassmann schmunzelte. »Ich gedenke, Ihnen vor Ort die wichtigsten Passagen vorzutragen.« Emilie bemühte sich um einen neutralen Gesichtsaudruck. Fontane war in den Speisesaal vorausgegangen. »Und wo ist Gianluigi, Ihr Perigetes?« »Oh«, Strassmann strahlte, »Sie haben es sich gemerkt. Er kümmert sich um eine Droschke.« »Der Mann ist verrückt«, sagte Emilie, während sie und Fontane das Frühstück einnahmen. »Und wenn wir den ganzen Tag mit ihm verbringen, sind wir es auch«, ergänzte Fontane. Aber was ließ sich tun, ohne unhöflich zu erscheinen? Es würde anstrengend werden, aber zweifellos auch lehrreich.

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Der schöne Gianluigi wartete bei der Droschke. Er schien ein schweigsamer Jüngling zu sein, denn nicht einmal mit dem Kutscher wechselte er ein Wort. »Voilà, voilà!«, dienerte Strassmann und öffnete den Wagenschlag. Seinem Perigetes reichte er einen Reisesack, der womöglich Wegzehrung, vielleicht aber nur das Buch enthielt. Nachdem auch er und der Junge eingestiegen waren, setzte sich der Wagen in Bewegung. »Also auf in das Land, wo die Zitronen blühn, im dunklen Laub die Goldorangen glühn«, rief Strassmann in seiner gewohnt pathetischen Manier. Der Zentralbahnhof erweckte in Fontane sofort den Wunsch, die Stadtregierung möge umgehend ein Dutzend Grundstücke gleicher Größe erwerben und ihn im Handumdrehen erweitern. Auch hegte er den Verdacht, halb Neapel müsse Strassmanns Vortrag vom Vorabend mitgehört und sich entschlossen haben, vor dem Selbstmord der Heimatstadt zu fliehen. Zwischen all den Reisenden bewegten sich geschickt die ihre Ware anpreisenden Händler von Wasser, Obst, Maronen und Krimskrams – sogar einen Vogelhändler gab es, der sich Ankommenden mit Kindern in den Weg stellte. Polizisten patrouillierten mit der ihnen eigenen Gemächlichkeit, hier und da ragte der Federbusch eines Carabiniere über die Köpfe, Bahnbeamte kontrollierten mit der gleichen wichtigtuerischen Miene wie ihre preußischen Kollegen Billetts und Gepäckstücke. Der Zug nach Castellamare bestand aus drei Waggons. Da die Türen noch nicht aufgeschlossen waren, schlenderten Fontane und Emilie den Perron hinauf, während Strassmann und Gianluigi bei einer der Türen warteten. Als Mensch, der gern reiste, besaß Fontane auch ein gewisses Interesse für die Mittel der Fortbewegung, also schaute er sich die Lokomotive an, die gerade von der Ladefläche eines Pferdefuhrwerks aus mit Kohlen beschickt wurde. Auf dessen Seitenwand

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Foto: Privat

FRANK GOYKE Geboren 1961 in Rostock, arbeitete nach dem Studium der Theaterwissenschaften in Leipzig als Lektor und Dramaturg in Berlin. Seit 1997 ist er freischaffender Schriftsteller.  Goyke verfasste zahlreiche Kriminalromane, darunter die erfolgreichen historischen Hanse-Krimis. Im berlin.krimi. verlag erschien 2005 »Fersengeld«. Sein Roman »Dummer Junge, toter Junge« wurde 1996 von der Raymond-Chandler-Gesellschaft mit dem »Marlowe« als bester deutsch-  sprachiger Kriminalroman ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm im berlin.krimi.verlag die Fontane-Romane »Altweibersommer« und »Schneegestöber«.

DANKSAGUNG Mein besonderer Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Biblioteca Nazionale in Neapel, die mir trotz gelegentlich falscher Signatur jedes gewünschte Buch beschafften. Ebenfalls herzlich bedanken möchte ich mich bei Gianluca Falanga, der die italienischen Passagen kritisch gegenlas. Und auch Willi und Gudrun Meissner gebührt Dank, denn die DVD, die sie mir schenkten, inspirierte mich zu den kriminellen Hintergründen dieses Romans.

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