Inhalt
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Berliner Liebe
Auf dem Potsdamer Platz gackern ja die Hühner
9 Berlin! Berlin! 12 In der Provinz 16 Kleiner Mann vor der Weinstube 18 »Manoli linksrum –!« 21 Dorf Berlin 25 Wat heißt hier Romantik! 27 Affenkäfig 30 Ein Betrunkener in der Wilhelmstraße 34 Die Weiße mit’m Schuß 37 In aller Eile
Mit meine Würde paß ick nich in den modernen Schwof
39 Berolina … Claire Waldoff 40 Motzstraße 38 42 Kaiserallee 150 45 Die Obdachlosen 47 Berliner Sonntag 48 »Machen S’ halt eine Eingabe!« 51 Abends nach sechs 54 Der Lautsprecher 58 Scheinwerfer durch die Nacht 58 Die Sonne, hoch zwei 62 Treptow
In den Lichtbogen schlurcht eine Schlampe in Schwarz
65 Dantons Tod 66 Plötzensee 68 Dada 70 Valeska Gert 72 Berliner Mutterlaut 75 Der Fall Knorke 77 Berlins Bester 83 »’n Augenblick mal –!« 86 Die Parole 90 Berliner Theater 91 Berlin und die Provinz 96 Bert Brechts Hauspostille
Berlin hat eine Gesellschaft, aber keine exklusive
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Presseball Geßler Couplet für die Bier-Abteilung Quaquaro Raffke Die Nachgemachten Hat Berlin eine Gesellschaft? Der Mann mit der Mappe Berlin! Berlin! In Weißensee Alte Bäume Ein älterer, aber leicht besoffener Herr Abschiedsgesang
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Kleines Personenerinnerungslexikon Tucholsky und Berlin
Berliner Liebe Steht dir der Sinn nach Liebe in den Ohren Westend bis Köpenick: dann senk den Blick und unterscheide im Objekte die der Sorten: Da gibt es Frauen mit den Scheitelhaaren, gepunztes Silber auf dem falschen Busen, teils im Reformkleid, teils in Eigenblusen,
die einmal – ach, wie weit! – fast reinlich waren (jetzt dunkelweiß). Bei Sturm und Regen Gehen diese gern durch Wald und Flur allein, das Lodenhütchen keck auf einem Ohre, und sprechen mit sich selbst und mit Tagore … Soll die es sein –? Sie sagen Feuilletons, eh man sie legt. Sie sind sehr edel. Aber nicht gepflegt. Da gibt es solche, untenrum aus Seide, im samtnen Mantel mit dem Waschbärkragen – nach ihren Eltern musst du sie nicht fragen. Sie ist euch treu – und so liebt ihr drei beide. Groß ausgehn nennt der Fachmann dein Getue. Führ sie ins Kino, ins Theater ein!
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Sie tanzt den neusten Schritt, kennt alle Paare, hat jeden Monat frisch gefärbte Haare … Soll die es sein –? Sie spricht nicht viel. Doch was sie spricht, ist Kitt. Und sie nimmt alle süßen Ecken mit. Willst du die Jüngerin Thaliens küren? Sie offenbart, wenn sie mit dir im Bund ist, was ihr Direktor für ein Schweinehund ist: er wollt sie alle in Versuchung führen – Das tät sie nie. (Fast nie.) Es rinnt die Rede: Von Proben, Premierieen, Klatscherein – Sie meistere Spiel und Sprache wie nur wenige, sie spiele Olala und Iphigenie … Soll die es sein –? Beim Papa Rickelt! Süß in allen Phasen: Sie liebt. Und bringt dich zeitig untern Rasen. So geh, du Liebeswanderer, von Haus zu Haus. Berlin ist groß. Nun such dir eine aus! 1921 ( Theobald Tiger)
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damer Platz Auf dem Pots Hühner gackern ja die
Berlin! Berlin! Über dieser Stadt ist kein Himmel. Ob überhaupt die Sonne scheint, ist fraglich; man sieht sie jedenfalls nur, wenn sie einen blendet, will man über den Damm gehen. Über das Wetter wird zwar geschimpft, aber es ist kein Wetter in Berlin. Der Berliner hat keine Zeit. Der Berliner ist meist aus Posen oder Breslau und hat keine Zeit. Er hat immer etwas vor, er telefoniert und verabredet sich, kommt abgehetzt zu einer Verabredung und etwas zu spät – und hat sehr viel zu tun. In dieser Stadt wird nicht gearbeitet –, hier wird geschuftet. (Auch das Vergnügen ist hier eine Arbeit, zu der man sich vorher in die Hände spuckt, und von dem man etwas haben will.) Der Berliner ist nicht fleißig, er ist immer aufgezogen. Er hat leider ganz vergessen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind. Er würde auch noch im Himmel – vorausgesetzt, dass der Berliner in den Himmel kommt – um viere ›was vorhaben‹. Manchmal sieht man Berlinerinnen auf ihren Balkons sitzen. Die sind an die steinernen Schachteln geklebt, die sie hier Häuser nennen, und da sitzen die Berlinerinnen und haben Pause. Sie sind gerade zwischen zwei Telefongesprächen oder warten auf eine Verabredung oder haben sich – was selten vorkommt – mit irgend etwas verfrüht – da sitzen sie und warten. Und schießen dann plötzlich, wie der Pfeil von der Sehne – zum Telefon – zur nächsten Verabredung.
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Diese Stadt zieht mit gefurchter Stirne – sit venia verbo! – ihren Karren im ewig selben Gleis. Und merkt nicht, dass sie ihn im Kreise herumzieht und nicht vom Fleck kommt. Der Berliner kann sich nicht unterhalten. Manchmal sieht man zwei Leute miteinander sprechen, aber sie unterhalten sich nicht, sondern sie sprechen nur ihre Monologe gegeneinander. Die Berliner können auch nicht zuhören. Sie warten nur ganz
gespannt, bis der andere aufgehört hat, zu reden, und dann haken sie ein. Auf diese Weise werden viele berliner Konversationen geführt. Die Berlinerin ist sachlich und klar. Auch in der Liebe. Geheimnisse hat sie nicht. Sie ist ein braves, liebes Mädel, das der galante Ortsliederdichter gern und viel feiert. Der Berliner hat vom Leben nicht viel, es sei denn, er verdiente Geld. Geselligkeit pflegt er nicht, weil das zu viel Umstände macht – er kommt mit seinen Bekannten zusammen, beklatscht sich ein bißchen und wird um zehn Uhr schläfrig. Der Berliner ist ein Sklave seines Apparats. Er ist Fahrgast, Theaterbesucher, Gast in den Restaurants und Angestellter. Mensch weniger. Der Apparat zupft und zerrt an seinen Nervenenden, und er gibt hemmungslos nach. Er tut alles, was die Stadt von ihm verlangt – nur leben … das leider nicht. Der Berliner schnurrt seinen Tag herunter, und wenns fertig ist, dann ists Mühe und Arbeit gewesen. Weiter nichts. Man kann siebzig Jahre in dieser Stadt leben, ohne den geringsten Vorteil für seine unsterbliche Seele. Früher war Berlin einmal ein gut funktionierender Apparat. Eine ausgezeichnet angefertigte Wachspuppe, die selbsttätig Arme und Beine bewegte, wenn man zehn Pfennig oben hineinwarf. Heute kann man viele Zehnpfennigstücke hineinwerfen, die Puppe bewegt sich kaum – der Apparat ist eingerostet und arbeitet nur noch träge und langsam. 10
Denn gar häufig wird in Berlin gestreikt. Warum –? So genau weiß man das nicht. Manche Leute sind dagegen, und manche Leute sind dafür. Warum –? So genau weiß man das nicht. Die Berliner sind einander spinnefremd. Wenn sie sich nicht irgendwo vorgestellt sind, knurren sie sich in der Straße und in den Bahnen an, denn sie haben miteinander nicht viel Gemeinsames. Sie wollen voneinander nichts wissen, und jeder lebt ganz
für sich. Berlin vereint die Nachteile einer amerikanischen Großstadt mit denen einer deutschen Provinzstadt. Seine Vorzüge stehen im Baedeker. In der Sommerfrische sieht der Berliner jedes Jahr, dass man auch auf der Erde leben kann. Er versuchts vier Wochen, es gelingt ihm nicht – denn er hat es nicht gelernt und weiß nicht, was das ist: leben – und wenn er dann wieder glücklich auf dem Anhalter Bahnhof landet, blinzelt er seiner Straßenbahnlinie zu und freut sich, dass er wieder in Berlin ist. Das Leben hat er vergessen. Die Tage klappern, der Trott des täglichen Getues rollt sich ab – und wenn wir nun hundert Jahre dabei würden, wir in Berlin, was dann –? Hätten wir irgend etwas geschafft? gewirkt? Etwas für unser Leben, für unser eigentliches, inneres, wahres Leben, gehabt? Wären wir gewachsen, hätten wir uns aufgeschlossen, geblüht, hätten wir gelebt –? Berlin! Berlin! Als der Redakteur bis hierher gelesen hatte, runzelte er leicht die Stirn, lächelte freundlich und sagte wohlwollend zu dem vor ihm stehenden jungen Mann: »Na, na, na! Ganz so schlimm ist es denn aber doch nicht! Sie vergessen, dass auch Berlin doch immerhin seine Verdienste und Errungenschaften hat! Sachte, sachte! Sie sind noch jung, junger Mann!«
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Und weil der junge Mann ein wirklich höflicher junger Mann war, wegen seiner bescheidenen Artigkeit allgemein beliebt und hochgeachtet, im Besitze etwas eigenartiger Tanzstundenmanieren, die er im vertrauten Kreise für gute Formen ausgab, nahm er den Hut ab (den er im Zimmer aufbehalten hatte), blickte gerührt gegen die Decke und sagte fromm und fest: »Gott segne diese Stadt!« 1919 (Ignaz Wrobel)
In der Provinz Ich komme von einer kleinen Reise aus der deutschen Provinz zurück. Kennt ihr die deutsche Provinz? Die Provinz, wo sie am dicksten ist, lebt von der Abneigung gegen Berlin und von seiner heimlichen Bewunderung. Sie schimpfen auf Berlin, soweit es politisch ist – und sie sehnen sich nach Berlin, soweit es sich um das Berlin handelt, das wir Berliner gar nicht so sehr schätzen: um das zwischen zehn und zwölf Uhr. Die Revolution, oder das, was die Deutschen so nennen, gilt für die Provinz nicht. Sie gilt vor allem für Mitteldeutschland da nicht, wo die Arbeiter nicht das politische Übergewicht haben. Da regiert etwas anderes. Da regiert der Bürger in seiner übelsten Gestalt. Da regiert der Offizier alten Stils. Da regiert der Beamte des alten Regimes. Und wie regieren sie! Keine Erkenntnis hat sich da Bahn gebrochen. Kein Luftzug einer neuen Zeit weht da herein. Da ist alles noch beim alten. Da ist noch der Krieg verloren worden, weil die verräterische Heimat die edle Front erdolcht hat – als ob die Front nicht aus Deutschen, aus Söhnen dieser Heimat bestanden hätte! –, da we-
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paß ick nich e rd ü W e in e Mit m en Schwof in den modern
Berolina … Claire Waldoff Bei mir – bei mir – da sind sie durchgezogen: die Lektrischen, der Omnibus, der Willy mits Paket. Und eh – se hier schnell um de Ecke bogen, da ham se ’n kleenen Blick riskiert, ob SIE noch oben steht. Nu stelln die Hottentotten mir in ein Lagerhaus; ick seh mank die Klamotten noch wie Brünhilde aus … Ick stehe da und streck die Hand aus – der Alexanderplatz, der is perdü! Ick seh noch imma ’n Happen elejant aus, Ick hab nur vorne hab ick zu viel Schüh …! Ick laß se alle untern Arm durchziehn –: ick bin det Wappen von die Stadt Berlin –! Bei mir – bei mir – da denk ick: Nu verzieh’ dich! Mit meine Würde paß ick nich – in den modernen Schwof. Denn fier – Berlin da war ick jrade richtich: pompös, verdreckt un anjestoobt und hinten ’n bisken doof.
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Nu blasen die Musieker,
geschieden, das muß sein … sogar die Akademieker, die setzen sich für mir ein … Ich stehe da und streck die Hand aus; der Alexanderplatz, der is perdü! Ick seh noch alle Tage elejant aus – ick hab nur vorne hab ick zu viel Schüh! Nu muß ick jehn. Nu wert a balde lesen: Mir hamse injeschmolzn. Laßt ma ziehn! Ick hab euch jern. Es wah doch schön jewesen: als Wappen von die olle Stadt Berlin –! 1929 ( Theobald Tiger)
Motzstraße 38 Darf ich einmal sagen, daß diese Angelegenheit mir in Berlin reichlich überschätzt zu werden scheint? Und daß wir nun genug davon haben? Und daß es wirklich nicht so wichtig ist? Der zuständigen Stelle im Polizeipräsidium ist diese Reklame ja wohl zu gönnen – aber was zu viel ist, ist zu viel. Was ist
denn eigentlich geschehen, was ist vorgegangen, daß eine ganze Behörde vor der Öffentlichkeit den Anschein erweckt, als habe sie nun einen ganz großen Coup gemacht, und als habe sie weiter nichts zu tun? In einer Privatwohnung haben sich ein Mann und eine Frau bereit gefunden, Zuschauer bei einer Szene zu dulden, die sich sonst im allgemeinen privat abzuspielen pflegt. Aber nun Berlin –! Aber nun die Biederen in allen Richtungen der Windrose –! Unerhört sei das! Und nun werde wohl nächstens der Him40
t ogen schlurch In den Lichtb in Schwarz e p m la h c S e ein
Dantons Tod Bei Reinhardt wogte der dritte Akt. Es rasten sechshundert Statisten. Sieh an – wie das die Berliner packt! Es jubeln die Journalisten Mir aber schien das Ganze wie eine kleine Allegorie. Es tost ein Volk: »Die Revolution! Wir wollen die Freiheit gewinnen!« Wir wollten es seit Jahrhunderten schon – laßt Herzblut strömen und rinnen! Es dröhnt die Sirene. Es dröhnt das Haus. Um neune ist alles aus. Und ernüchtert seh ich den grauen Tag. Wo ist der November geblieben? Wo ist das Volk, das einst unten lag, von Sehnsucht nach oben getrieben? Stille. Vorbei. Es war nicht viel. Ein Spiel. Ein Spiel. 1920 (K aspar Hauser)
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Gesellschaft, Berlin hat eine lusive aber keine exk
Presseball Das war der erste Presseball der Republik. In den feinen Logen saßen die Minister und ließen sich anstaunen, saßen die Filmschauspielerinnen und ließen sich anstaunen, saßen die Ministerfrauen und ließen sich anstaunen. Die Filmschauspielerinnen
sahen hübsch aus. Die gesellschaftliche Stellung unsrer neuen Minister ist noch nicht ganz klar. Die reichen Leute Berlins behandeln sie mit einer ulkigen Mischung von Verehrung und Verachtung: Verehrung – es sind immerhin Minister, und sie haben die Macht; Verachtung – sie kommen von der Straße. Wenn der reiche Herr O. Herrn Minister N. zu Tisch lädt, so ist noch nicht ganz entschieden, auf wessen Seite die Ehre ist. Keine Angst, Herr reicher Mann! Kamen sie von der Straße? Aber sie sind im besten Zuge, es zu vergessen. Davon spricht man nicht. So wie es ja auch nicht fein ist, den Sohn der zweiten Generation daran zu erinnern, daß sein Vater noch … Es ist ein bißchen peinlich, daran erinnert zu werden, daß wilde Tage mit Kerlen, die offene unordentliche Soldatenmäntel trugen, dazugehört haben, bis man in der Wilhelmstraße saß. Gleiten wir darüber hinweg. Der Deich hat sich wieder geschlossen, dieser scheinbar undurchdringliche Deich, der sich damals öffnete, als die graue Woge sie hochspülte: die Welle ist abgeebbt, und hilflos, einsam und von dem Grund und Boden, aus dem sie stam98
men, abgeschnitten, treiben die Emporgewirbelten dahin. Sie fühlen sich nicht allzu behaglich, denn sie haben fremden Boden unter den Füßen. Sie fühlen sich allzu behaglich: Rotwein ist eine von den besten Gaben. Was ich sagen wollte: und sehr viel Uniformen waren da. Alte gute, auf neu gebügelte Friedensuniformen, mit der Gardestickerei, mit den alten guten kaiserlichen Kriegs- und Friedensorden; graue Uniformen; grüne Sicherheitsuniformen; auch ein Admiral war da: der Chef des deutschen Kriegsschiffs. Herrschende Diener. Und dann standen und promenierten die vielen herum, die dagewesen sein mußten; man zeigte mir unter andern: (ach bitte, lesen Sie das in den Zeitungen nach!) Presse, Literatur und das andre Theater. Die Regierungsfräcke saßen noch nicht gut, mancher geklebte Schlips war den alten Assessoren ein Greul und Scheul, manche Brille rutschte, mancher Damentanz war noch Vereinskränzchen. Aber das gibt sich. Noch »eine drei, vier Pressebälle«, wie der Berliner sagt, und ihr sollt mal sehen: die alten, unbequemen Prinzipien sind beim Teufel, die Fräcke sitzen wie angegossen, die Hemdbrüste blitzen matt, die alten Orden strahlen – oder sind es schon neue? – und ihr werdet diese orkanartige Revolution nicht zu bereuen haben. Verzage nicht, du Häuflein klein … Oder kommts anders? Ganz anders? So nach der Melodie: Verzage nicht, du Häuflein klein – wie mag die nächste Wahl wohl sein? Immerhin war es hübsch, daß sich das Volk herabließ, unter die Minister zu gehen. 1920 (Peter Panter)
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Tucholsky und Berlin Dass Tucholsky Berliner war, ist unverkennbar, wenn man seine Texte liest. Der Mann kannte sich aus in der Stadt und mit den Leuten, die sie bevölkert haben – einschließlich ihres Mundwerks. Dennoch, Tucholsky und Berlin, das ist keine einfache Geschichte. Allein die Wohnadressen: Die Berliner Stadtluft atmete er erstmals am 9. Januar 1890 , da wurde er um 18.45 Uhr in der Lübecker Straße geboren. Das Haus Nr. 13 in Moabit trägt stolz eine Gedenktafel aus diesem Anlass. Doch schon zwei Jahre später zog die Familie ins Hansaviertel zum Holsteiner Ufer und im Jahr darauf übersiedelten die Tucholskys für gut fünf Jahre nach Stettin – aus beruflichen Gründen des Vaters. 1899 kehrte die Familie zurück und bezog eine Dienstwohnung der Eisenbahnbaufirma Lenz & Co. in der Dorotheenstraße in Mitte. Als Kurt 16 war, zog die Familie in die Motzstraße nach Wilmersdorf und wiederum zwei Jahre später ein Stückchen weiter, in die Helmstedter Straße. Seine erste eigene Wohnadresse hatte der 21-jährige Kurt Tucholsky in der Friedenauer Nachodstraße. Die Nachodstraße 12 war überhaupt seine beständigste Berliner Adresse, hier hielt er es ganze neun Jahre aus. Freilich mit einer knapp vierjährigen Unterbrechung, in der der Soldat im Ersten Weltkrieg nur »urlaubshalber« in die Stadt kam. Nachdem er dann im Mai 1920 zum ersten Mal geheiratet hatte, hieß die neue Wohnadresse Kaiser-Allee 79, Berlin-Friedenau. Aber bereits drei Jahre später verließ er die eheliche Wohnung wieder, um in der Charlottenburger Windscheidstraße zwei möblierte Zimmer zu beziehen. In der Zeit, die dann folgte, kann man ihn eigentlich kaum noch einen Berliner nennen, eher einen hin und her Getriebenen.
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Würde man Tucholskys Aufenthaltsorte der nächsten zehn Jahre mit Fähnchen auf einer Karte abstecken, bräuchte man sehr viele Fähnchen, doch sie konzentrieren sich auf den Bereich Deutschland, Frankreich, Schweiz, Österreich, Dänemark und Schweden, wobei auch London und Brüssel dabei sind. Ab 1924 fuhr er immer wieder als Korrespondent nach Frankreich, heiratete zwar in Berlin ein zweites Mal, aber seine nächsten Wohnadressen lagen vor allem in Paris und ab Januar 1930 – da begleitete ihn schon wieder eine andere Frau – offiziell in Schweden, wo er in Hindås eine Villa mietete, in die der aus Deutschland ausgebürgerte Tucholsky fortan immer wieder zurückkehrte. Knapp fünf Jahre später, kurz vor Weihnachten und nicht lange vor seinem 46. Geburtstag, starb er unter nicht ganz geklärten Umständen – die Michael Hepp in seiner 1993 erschienenen Biografie ausführlich beschreibt – in einem Göteborger Krankenhaus. Er hatte keinen Koffer mehr in Berlin und seine Grabplatte liegt in Mariefred in der Nähe von Schloss Gripsholm. Als Denkender und Schreibender hat der Berliner Tucholsky seine Stadt allerdings nie ganz verlassen, auch wenn er ab Mitte der 1920er-Jahre nur noch selten besuchsweise da war – zu Vorträgen, Vertragsverhandlungen, Freundesbesuchen, aber auch, um sich vor Gericht zu verteidigen. Vor allem seine scharfzüngigen Artikel gegen die Reichswehr und jeden militaristischen Gedanken brachten ihn nach Moabit – »wo die Geistigen dieses Landes so häufig und die politischen Mörder so selten« landeten – auf die Anklagebank. Seinen ersten Artikel hatte der 17-Jährige noch anonym in der Satirezeitschrift Ulk veröffentlicht, mit 22 Jahren erschien die Liebesgeschichte »Rheinsberg«, mit der ihm das Kunststück gelungen ist, aktuell und zeitlos gleichzeitig zu sein. Bis er mit 25 Jahren nicht nur endlich seine Doktorwürde als Jurist erhielt, sondern auch eine Schreiberstelle beim deutschen Militär, das
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gerade dabei war, Kaiser und Vaterland mit einem Eroberungsfeldzug zu verteidigen, hatte er schon einige Artikel unter anderen zu Berliner Ereignissen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Dies tat er unter zum Teil abenteuerlichen Namen wie zum Beispiel Horatio von Masserena. Später gesellten sich für die Öffentlichkeit zu seinem eigenen dauerhaft noch vier weitere publizistische Namen, Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel, die er auch mit eigenen Biografien ausstattete. Es war aber schnell für jedermann klar, dass es sich um Tucholskys Pseudonyme handelte, denn schließlich bekam er es mit Justitia zu tun, als beispielsweise Ignaz Wrobel seine Militaria-Serie in der Weltbühne veröffentlichte und seine Erfahrungen mit der deutschen Armee niederschrieb. Ignaz Wrobel trat auch auf Friedenskundgebungen als Redner auf. Anfang der 1920er-Jahre war Kurt Tucholsky einer der angesagtesten Publizisten in Berlin und zwar bei Freund und Feind. Vor allem für die Weltbühne, aber auch für andere Blätter des in der Weimarer Zeit boomenden Zeitungs- und Zeitschriftenmarktes war er ein wichtiger Vertreter der geschliffenen Worte. Gern griff er dabei den schnoddrigen Berliner Humor auf. Seine Chansons und Texte waren zum Beispiel im Kabarett Schall und Rauch ein Renner – Theobald Tiger gehörte dort neben Friedrich Hollaender und Klabund zum künstlerischen Beirat und Peter Panter übernahm die Schriftleitung … Berlin und die Berliner waren immer ein Thema für Tucholsky, mit deren Wesen kannte er sich bestens aus, es war ein Teil von ihm. Hätte es den Berliner nicht schon gegeben, das Telefon hätte ihn erfunden, schreibt er über die Redefreudigkeit und das innige Verhältnis der Berliner zu dem Sprechapparat. Er thematisierte auch die Großkotzigkeit der Hauptstadt, ihre Provinzialität. Er benutzte gern Volkes Stimme und Sprache, um 139
den Regierenden die Meinung zu sagen, so als ein Betrunkener in der Wilhelmstraße dem vermeintlichen Außenminister Justav seine Meinung zu dessen Politik vorlallt. Die Besonderheiten der Stadt, die in den 1920 er-Jahren zu einer wirklichen Großstadt anwuchs, hatte Tucholsky durchaus in ihrer räumlichen Dimension von Westend bis Köpenick im Blick, genauso wie die sozialen Be- und Empfindlichkeiten ihrer Ureinwohner und der Zugereisten. Vieles liest sich dabei erstaunlich aktuell, wie zum Beispiel die Geschichte mit den Wahlversprechen der Parteien, die ein leicht besoffener Herr wiedergibt, lediglich der Berliner Dialekt ist inzwischen weitgehend verschwunden. In späteren Texten Tucholskys tauchte Berlin zunehmend als Synonym für den Standort der Mächtigen in Deutschland auf und konkrete örtliche Gegebenheiten treten im Laufe der Jahre eher in den Hintergrund. Doch selbst seit er ab 1924 mehr über Paris als über Berlin schrieb, verlor er seine Stadt und ihre Eigenheiten nicht aus den Augen. Mit dem aufsteigenden Natio nalsozialismus, dem immer mehr auch seine einst von ihm so liebevoll in Szene gesetzten Berliner zujubelten, und wohl der Erkenntnis, dass sein leidenschaftlicher publizistischer Einsatz gegen Krieg und Volksverhetzung das alles nicht verhindern konnte, kam zunehmend Bitterkeit auch in den Texten auf. An den zum Schluss heimatlosen Berliner erinnert heute in der Stadt die Gedenktafel an seinem Geburtshaus, es gibt noch Erinnerungstafeln in Friedenau (Bundesallee 79) sowie in Moabit (Rostocker Straße 32), in Berlin-Mitte eine Tucholskystraße mit einer Tucholsky-Buchhandlung und eine Restauration Tucholsky, eine Kurt-Tucholsky-Grundschule – einen Publizisten, der wie er Berlin mit solcher Hingabe und spitzen Feder beschreibt, muss man lange suchen. Ingrid Feix 140