Inhalt
Vorwort 9 Friedenauer Geschichte(n) Vom Wachsen und Werden Friedenau im Widerstand Friedenau und seine Dichter The Berlin Disco Bomb
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Hans Baluschek
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Ernst Barlach
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Max Bruch
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Bully Buhlan
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Marlene Dietrich
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Werner Finck
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Harry Frommermann
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Otto Geb端hr
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Joseph Goebbels
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Günter Grass
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Brigitte Helm
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Elly Heuss-Knapp
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Kurt Hiller
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Luise Kautsky
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Friedrich Luft
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Rainer Maria Rilke
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Kurt Tucholsky
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Anhang Anmerkungen Gräber berühmter Persönlichkeiten in Friedenau Rundgänge Auf einen Blick – Prominente in Friedenau Abbildungsnachweis Danksagung Der Autor
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Vorwort
Lauchhammerpumpe in der Schmargendorfer Straße.
Friedenau ist gemütlich, Friedenau ist Familie, Friedenau ist anschmiegsam. Dieser Faszination kann sich niemand entziehen, es sei denn, ihm fehlen die sensiblen Antennen für einen der schönsten Orte Berlins. »Mir gefällt ziemlich viel hier bei uns in Friedenau, wie zum Beispiel, dass man immer jemanden trifft, den man kennt oder schon länger nicht mehr gesehen hat. Hier kennt sich eigentlich jeder und alle haben immer kurz Zeit für einen Plausch … Wir sind wie eine große Familie in unserem Haus. Und im Sommer sitzen wir bei uns im Hof und schlürfen Tee … Ein kleines Ritual, was wir bei uns in der Nachbarschaft pflegen, ist, dass wir uns alle am Sonntagabend zum ›Tatort‹ schauen treffen. Jeder bringt eine Kleinigkeit zu essen mit oder auch mal Freunde oder Verwandte. Nach dem Film wird noch einmal gequatscht, was die letzten Tage passiert ist. Das ist immer ein schöner Start in die neue Woche.«1 Sicherlich hat Friedenau, hier in einem schönen Stimmungsbild von der sechzehnjährigen Schülerin Birthe Gehrmann beschrieben, nicht das alleinige Copyright für die Pflege bester nachbarschaftlicher Beziehungen, das gibt es halt auch in Niederschönhausen und Rudow, aber es ist der Ausdruck einer absoluten Kiez-Normalität, wie sie flächendeckend eben nur in Friedenau zu beobachten ist. Friedenau ist ein kleiner Flecken, auf der Stadtkarte Berlins beinahe verschwindend klein. Rund anderthalb Kilometer in der Nord-Süd- wie auch in der Ost-West-Ausdehnung. Vergleichbar vielleicht mit Monaco. Und hätte es der Zwergstaat an der Riviera nicht geschafft, dem fried lichen Mittelmeer und dem übermächtigen Nachbarn Frankreich im Laufe der Jahrzehnte etwas mehr Landfläche abzutrotzen, die Quadrat9
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meterzahl wäre mit der Fläche Friedenaus beinahe identisch. Und doch kann Friedenau dem mondänen Fürstentum in Sachen »Promidichte« gut und gern fünfzehn Punkte vorgeben. Steuerflüchtlinge, Milliardäre, Bootsbesitzer, ein paar versprengte Rennfahrer dort, Dichter, Schriftsteller, Maler, Politiker, Schauspieler, Bildhauer und Sänger hier – also hat Friedenau gewonnen! Und, Friedenau hat noch viel mehr zu bieten. Absolut empfehlenswert ist ein Spaziergang durch die von wilhelminischer Architektur beherrschten kleinen Nebenstraßen rund um die Haupt- und Rheinstraße, ein Besuch des Breslauer Platzes, dem trotz seiner schlichten Einfachheit dennoch ein ganz überraschender Zauber innewohnt und den Besucher mit einer nicht leicht zu erklärenden Faszination überrascht. Ebenso wohl fühlt sich der Spaziergänger am Friedrich-Wilhelm-Platz mit der dominanten evangelischen Kirche zum Guten Hirten, die dem Areal das Gesicht gibt, sich aber trotz seiner wuchtigen Baumasse beinahe unauffällig in das Gesamtensemble des Platzes einfügt. Beinahe folgerichtig ist bei soviel eindrucksvoller Anmut eine bedeutende Vielzahl an Büchern und anderen Veröffentlichungen über Friedenau. Während der Recherchearbeiten zum vorliegenden Buch wurde ganz schnell auffällig, dass es über keinen Berliner Stadtbezirk oder Ortsteil mehr Literatur gibt als über Friedenau. Und die Werke der verehrten
Friedrich-Wilhelm-Platz, 2009.
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Blick auf die »Kaisereiche«, 2002.
Autorenkollegen haben mich schlicht fasziniert. Gudrun Blankenburgs »Künstlerort und Wohnidyll« hat mir Friedenau auf eine sehr sympathische Weise nahe gebracht, nach der Lektüre von Hermann Eblings mehrbändiger Edition »Friedenau erzählt« war ich dem Kiez völlig erlegen, und das Buch »Straßen, Häuser, Menschen«, eine meisterhafte Fleißarbeit von Alfred Bürkner, ließ mich meinen gedachten Hut gleich dreimal ziehen. Stefan Eggert und Evelyn Weissberg soll für ihre Arbeiten hier gedankt werden, auch Christel und Heinz Blumensath, Gertrud Köditz, Susanne zur Nieden, Günter Wollschlaeger und noch etlichen Nichtgenannten. Und schon könnte sich beim geneigten Leser die ganz logische Frage anschließen: Wenn’s halt doch schon so viele gute Friedenau-Bücher gibt, warum denn nun noch eins? – Und der wenig verblüffte Autor antwortet: Friedenau gibt’s eben her! Aber es gibt noch einen anderen Grund. Das vorliegende Buch ist das mittlerweile sechste der überaus erfolgreichen und beliebten Reihe über die »Prominenten in Berlin und ihre Geschichten«. Los ging es 2005 mit dem Titel »Eine noble Adresse«, in dem die Home Stories der Prominenten des Zehlendorfer Ortsteils Dahlem erzählt wurden. In kurzer Folge erschienen dann die Wannsee-, Grunewald-, Westend- und Lichterfelde11
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Bände, und an den »Prominenten in Friedenau und ihren Geschichten« konnte und wollte nun wirklich niemand vorbeigehen. Nicht der Verlag, nicht der Autor, und ganz gewiss nicht ein hoffentlich großer Leserkreis. Und vielleicht ist das sogar die bessere Antwort auf die oben gestellte Frage. Auch dieses Buch unterliegt – wie seine Vorläufer-Bände – einer nicht unbedingt strengen, sondern eher lockeren, aber hilfreichen Gliederung. Einigen »Geschichten aus der Geschichte« folgen ausgewählte Porträts berühmter Friedenauer Bewohner, denen sich eine Namens- und Adressliste mit kurzen Texten zu den jeweiligen Personen anschließt. Ganz bestimmt sind hier – wieder einmal – nicht alle Prominenten aufgeführt, und ganz bestimmt sind erneut ein paar klangvolle Namen unter den Tisch gerutscht, die dann in diversen Leserbriefen wieder hervorgeholt werden. Das lässt sich, wie ich schon seit dem Dahlem-Buch feststelle, nicht vermeiden. Ich berufe mich daher auf Loriots klassischen Lehrsatz »Das kann passieren, Hildegard, darf es aber nicht« und sehe reumütig ein, um mit Curt Goetz zu sprechen, dass ich Strafe verdient habe und bitte um eine angemessene – und nicht zu heftige – solche. Oder eben nicht.
Walther-Schreiber-Platz mit Blick in die Rheinstraße, 1961.
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Niedstraße/Ecke Handjerystraße, 2013.
Am Ende des Buches und nach einem hoffentlich kurzweiligen Lese- Erlebnis werden insgesamt sieben Rundgänge durch Friedenau angeboten. Erinnern wir uns: Friedenaus Quadratmeterzahl ist nicht nur überschau-, sondern auch leicht begehbar. Das sollten Sie nutzen, am besten mit diesem Buch in der Hand. Doch Vorsicht! Hüten Sie sich vor dem unerbittlichen »Puristus territoriensis«, einem gnadenlosen Vertreter der Spezies »Heimatverbundener Kopfmauer-Erbauer«, vornehmlich anzutreffen rund um den Bahnhof Friedenau, am Südwestkorso und an der Laubacher Straße! Er achtet strengstens auf die »Reinheit der Bewegung« und verbietet Ihnen, zu manchen Häusern zu gehen, da diese sich nicht mehr in den eigentlichen Gemarkungsgrenzen von Friedenau befinden. Und es ist ihm egal, dass es sich dabei manchmal nur um zehn und noch weniger Meter oder um die nächste Straßenkreuzung handelt. Mein Tipp: Ignorieren Sie seine ausgebreiteten Arme und seine ständigen »Halt, Halt«-Rufe und lassen Sie sich auf Ihrer Pilgerreise zu den Prominenten in Friedenau nicht aufhalten. Harry Balkow-Gölitzer
Berlin, im Juli 2013
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Berlin und Umgebung, Plan von 1889.
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Marlene Dietrich 1901 Berlin – 1992 Paris Schauspielerin
Fregestraße 70, Kaiserallee 135 (heute: Bundesallee) »Als sie nach Berlin kamen, haben Sie die Orte ihrer Kindheit besucht? Das Haus in dem Sie aufgewachsen sind? Darf ich wissen wo es war?«, fragte Maximilian Schell die achtzigjährige Filmlegende in ihrem selbst erwählten Pariser Exil. Aber Marlene Dietrich hatte scheinbar all die Gegenden ihrer frühen Jahre in Berlin vergessen: »Nein, nein, keine Ahnung, wo ich geboren war oder so. Das weiß ich alles gar nicht. Ja, das lesen Sie in den alten Magazinen, die haben da irgend etwas gefunden, aber das ist alles nicht wahr. Ich interessiere mich nicht für die Vergangenheit.«90 Marlene Dietrichs sonderbare Amnesie mag schon 1930 eingesetzt haben, auf dem Vierschrauben-Schnelldampfer »Bremen«, der sie in eine ungewisse Hollywood-Zukunft entführte. Warum nicht ein paar Wahrheiten über Bord werfen, die der Karriere möglicherweise schaden könnten? Schon das drohende dreißigste Lebensjahr, nicht gerade vorteilhaft für einen aufstrebenden Film-Star, ließ sie fortan mit Jahreszahlen und Legenden »um sich werfen wie mit Konfetti«.91 Ihre »Erinnerungen«, die sie mit knapp achtzig Jahren herausbrachte, versiegelte sie endgültig in einer eigenwilligen Auto-Hagiographie. Vater und Stiefvater verschmelzen zu einer Person, eine Schwester gab es angeblich nie, ihr Mann, der sie wie ein Bruder ein Leben lang begleitete, wird kaum erwähnt, und selbst ihre Tochter ist ihr nur noch eine Marginale wert. Und Stummfilme hatte sie sowieso nie gedreht. Aber selbst wenn sie immer das Bild der wohlhabenden, aristokratischen Offizierstochter stilisierte, hin und wieder ließ sie doch durchschimmern, dass ihre Jugend in Berlin nicht nur rosig gewesen ist.92 72
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Ihr leiblicher Vater starb an Syphilis, Marlene wird daraus später einen »Reitunfall« machen. Ihre Mutter musste lange Schwarz tragen, dreizehn Trauerfälle waren in der Familie durch den Ersten Weltkrieg zu beklagen, darunter der Tod von Marlenes Stiefvater. Büchsenfleisch war in den Kriegsjahren ein weihnachtlicher Luxus, der den Kohlrübenwinter bereicherte. Der bürgerliche Auf- und Abstieg der Dietrichs lässt sich schon an den zahlreichen Wohnungsumzügen während Marlenes Kindheit erahnen. Schöneberg, Tiergarten, Westend, Charlottenburg, Wilmersdorf, dann Dessau, und als verwaiste Frauengemeinschaft mit Mutter und Schwester zogen sie 1917 zurück nach Berlin, ins Friedenauer Mietshaus Kaiserallee 135.93 Ihr Reich dort in der vierten Etage schrieb sich die sechzehnjährige Marlene schön: »Endlich habe ich einen Platz, wo ich allein bin. Die haben mir den Hängeboden über dem Badezimmer mit den weißen Kinderstubensachen eingerichtet. Einen großen Teppich hab ich drin u. rote Gardinen am Fenster. Elektrisches Licht, es ist sehr gemütlich abends.« Aus ihrem Hängeboden lugte sie in ein Haus, »wo so viele drin wohnen u. wo man nur auf die Straße geht, um sich die Leute anzusehen und wo man immer nur denkt, ob man auch fein und modern angezogen geht.«94 Es wird zum Lebensideal: fein und modern angezogen zu erschei-
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Luise Kautsky 1864 Wien – 1944 Konzentrations lager Auschwitz-Birkenau Kommunalpolitikerin, Übersetzerin
Saarstraße 14 1890 hatte Luise Ronsperger, die stille und bescheidene Wienerin, Karl Kautsky geheiratet, den Theoretiker und Parteiintellektuellen der deutschen Sozialdemokratie, den Freund von Marx, Engels und Bebel. In ihm hatte sie endlich den Gefährten gefunden, den sie zwar nicht gesucht, sich aber immer gewünscht hatte. Die gemeinsame Arbeit, die »gemeinsame Freude an der Auseinandersetzung«204 hatten sie eng zusammen geschweißt. Ihr Ehemann schien das ebenso zu empfinden: »… Wie ich sehe, hat Luise ganz dasselbe geschrieben wie ich – zwei Seelen und ein Gedanke.«205 Und Luise, immer noch überwältigt, voller Liebe und Dankbarkeit, schrieb 1894: »Ich frag mich ja so oft, wieso es gerade mir beschieden war, in dieser Welt voll Nieten einen solchen Haupttreffer zu machen.«206 Dabei war Karl, der Haupttreffer, anfangs nur Luises zweite Wahl. Lange bevor sie mit ihrem späteren Ehemann ein gemeinsames Leben aufbaute, war dessen Bruder Hans Joseph Wilhelm ihr Favorit, ein freundlicher, kunstliebender Schöngeist, der zunächst in Wien, später in Berlin als Landschaftsmaler arbeitete und um 1906 zum königlich-preußischen Hoftheatermaler aufstieg. Hans Joseph Wilhelm Kautsky hatte einen wohlklingenden Namen in der preußischen und europäischen Theaterwelt. Und auch seine – 1891 und 1895 – geborenen Söhne Hans und Robert setzten die Tradition des Vaters fort. Robert war als Ausstattungschef der Wiener Staatsoper weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt, Hans lehrte als Professor für anorganische Chemie an den Universitäten Prag, Heidelberg und Leipzig. 120
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Luise empfand eine sehr innige Zuneigung zu Hans Joseph Wilhelm, aber auch zu Karl fühlte sie sich hingezogen. Wie sich der »Bruderkrieg« um die charmante Luise im Einzelnen darstellte, lässt sich heute nur noch schwer ermitteln. Aber er wurde durch Luises »Schiedsspruch« entschieden. Sie wählte Karl, lernte ihn lieben und achten, bediente zunächst eifrig das damalige Frauenbild der perfekten, ihrem Gatten untertanen Hausfrau und gebar zwischen 1891 und 1894 ihre drei Söhne, Felix, Karl jun. und Benedikt. Den Kontakt zu Hans Joseph Wilhelm allerdings ließ sie nie abbrechen, sie konnte es auch nicht, denn über der ganzen Familie schwebte »der berühmte Onkel Karl (Kautsky) wie ein dicker, bärtiger Heiliger«.207 1908 sollte es dann doch beinahe zum Bruch zwischen Luise und Karl Kautsky kommen. Luise hatte ernsthaft erwogen, Karl zu verlassen und sich endlich mit Hans Joseph Wilhelm eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Offene Ohren fand sie in diesem Vorhaben bei ihrer Freundin Rosa Luxemburg, die sie in ihren Emanzipationsplänen vehement unterstützte. Kein Wunder, denn Rosa Luxemburg hatte sich bereits damals mit Karl Kautsky aufgrund tiefgehender Meinungsverschiedenheiten nachhaltig überworfen, bis es 1910 zwischen den beiden zum endgülti-
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gen Bruch kam. Rosas Ratschläge für Luise konnten natürlich nur in eine Richtung gehen, aber letztendlich wollte Luise ihrer Freundin nicht folgen, sie hatte sich für die Fortsetzung ihrer Ehe entschieden. »Die gemeinsame Freude an der geistigen Auseinandersetzung war es wohl … gewesen, die Luise und Karl im innersten zusammengeschweißt hatte, so dass Luise ihre kurzzeitige Trennung überdachte und zu ihrem Ehemann zurückkehrte.«208 In dieser Entscheidung erfuhr sie auch von Julie Bebel, der Ehefrau des Begründers der deutschen Sozialdemokratie, wertvolle Unterstützung: »Ihr werdet an der gemeinsamen geistigen Arbeit Euch wieder emporrichten und vergessen, was Euer eheliches Glück zu vernichten drohte. Daß die geistige Arbeit überhaupt Dich am Zugrundegehen hindert, ist ein Beweis, wie sehr Du an ihr hängst und Dich mit ihr immer inniger befreundest, um mit der Zeit etwas tüchtiges zu leisten; das muß Dir aber auch zu denken geben, dass Du in einer anderen Sphäre nicht mehr Befriedigung finden wirst.«209 Luise Kautsky, die mittlerweile als Übersetzerin arbeitete, und Rosa Luxemburg hatten sich Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin kennengelernt und schnell angefreundet. »Luise Kautsky hatte gerade den engen Kontakt mit Eduard und Regina Bernstein verloren … Grund dafür war die Revisionismusdebatte, die die Freunde Karl Kautsky und Eduard Bernstein entzweit hatte.«210 Die Freundschaft zwischen den beiden Frauen wuchs stetig, und beide schienen aus ihr viel Kraft zu schöpfen. Rosa verlegte ihren Wohnsitz in die Wielandstraße 23, nur wenige Meter von Luises und Karls Haus entfernt, sie unternahmen zahlreiche Reisen, verbrachten einen gemeinsamen Urlaub am Vierwaldstätter See und besuchten Clara Zetkin, die in Stuttgart die Redaktion der sozialdemokratischen Frauenzeitung leitete. Am 18. Februar 1915 musste Rosa Luxemburg eine einjährige Haftstrafe wegen einer in Frankfurt am Main gehaltenen Rede gegen den Krieg antreten, kurz nach ihrer Entlassung wurde sie 1916 erneut verhaftet, zu zweieinhalb Jahren Sicherungsverwahrung verurteilt und in das Zuchthaus Wronke, dem heutigen Wronki in Westpolen, eingeliefert. Aus der Haft schrieb sie an Luise Kautsky: »Wenn ich aber wieder bei Euch bin, dann nimmst Du mich, wie üblich in deinem großen tiefen Sessel auf den Schoß, ich vergrabe meinen Kopf an Deiner Schulter … Dann wird alles wieder gut …«211 Mit der Zeit wurden jedoch Rosas Briefe immer schärfer. Offensichtlich versuchte sie, aus ihrer Freundin Luise ein Ebenbild zu schaffen. Sie selbst konnte während ihrer Haft weder publizieren noch Reden halten, also hatte sie Luise für diese, ihre Rolle auserwählt. »… Rosa war bewusst, dass sie von dem wirklichen Leben abgeschnitten war.«212 In harschem Befehlston gab sie Luise schriftliche Anweisungen: 122
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Gedenktafel am Haus Saarstraße 14.
»Ich möchte, dass Du Deine Zeit und Kraft von Anfang an systematisch auf zwei Dinge konzentrierst: Schriftstellerei und Agitation in Frauenzirkeln, was eine gute Vorbereitung für weiteres ist … Mich ärgert überhaupt, dass Du Dir eine öde Übersetzung nach der anderen aufladen lässt. Was hast Du davon? Was lernst Du bei dieser mechanischen Viechsarbeit? Wirklich Schade um Deine Zeit und Kräfte.«213 Rosa Luxemburg wurde 1918 aus dem Zuchthaus entlassen, aber ihre Freundschaft zu Luise hatte aufgrund von Rosas »Zuchtmeisterei« gelitten. Luise Kautsky versuchte eine Erklärung hierfür zu finden. Bei ihrer Freundin, schrieb sie, gab es einen Bereich, »… wo alle Menschenliebe, Nächstenliebe und Freundschaft versagte, wenn sie sich unverstanden oder gar enttäuscht sah – das war die Politik … Nichts hat vielleicht unsere Freundschaft so fest gekittet, als der Umstand, dass ich niemals Fragen an sie stellte, sondern sie gewähren ließ, ohne je ihrem Kommen und Gehen oder ihren Gefühlen nachzuspüren.«214 Am 15. Januar 1919 wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg von einer »Bürgerwehr« unter dem Kommando des Hauptmanns Waldemar Pabst vor dem Berliner Hotel Eden ermordet. Der am Haupteingang bereitstehende Jäger Otto Wilhelm Runge schlug Rosa Luxemburg beim Verlassen des Hotels mit einem Gewehrkolben bis zur Bewusstlosigkeit. Sie wurde in einen bereitstehenden Wagen geworfen. Der Freikorps-Leutnant Hermann Souchon sprang bei ihrem Abtransport auf das Trittbrett des Wagens auf und erschoss sie mit einem aufgesetzten Schläfenschuss. Rosas Leiche wurde in den Landwehrkanal geworfen. 123
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Seit Rosas Haftentlassung hatten sich die beiden Freundinnen nicht wieder gesehen. Während der Novemberrevolution überwachte Luise das Haupttelegrafenamt, später war sie Stadtverordnete von Berlin, aber seit Rosa Luxemburgs Ermordung war es ihr Plan, die Erinnerung an ihre Freundin aufrechtzuerhalten. Ein Gedenkbuch wollte sie herausbringen, bis dahin vergingen jedoch noch fünf Jahre. Anfang der Zwanzigerjahre verlor Karl Kautsky, der nie ein politisches Amt ausübte, in der Berliner Sozialdemokratie immer mehr an Einfluss. Nachdem er bereits 1917 die Leitung der »Neuen Zeit«, der wöchentlich erscheinenden theoretischen Zeitschrift der SPD, aufgegeben hatte, geriet er zunehmend zwischen die verschiedenen ideologischen Strömungen innerhalb der Partei. Seine Arbeiten wurden kritischer denn je betrachtet, er wurde nicht mehr mit redaktionellen Arbeiten beauftragt, schließlich verließ er gemeinsam mit seiner Familie 1924 die Reichshauptstadt und kehrte nach Wien zurück. Luise fand sich zunächst nicht zurecht in ihrer Heimatstadt. Ihr fehlte das pulsierende, rege Berliner Leben, ihr fehlten die Freunde und die vielen Besucher aus dem In- und Ausland, die sie in ihrer Friedenauer Wohnung begrüßen konnte. Hieran erinnerte sich später auch Henriette Anna Roland Holst, die berühmte niederländische Dichterin und Sozialistin: »Ihr Haus war der Mittelpunkt des internationalen Marxismus und mehr noch als ihr Mann war Luise die Seele dieses Kreises. Ihr lebhaftes Temperament, ihr Geist, ihre Fröhlichkeit und Herzlichkeit, ihr warmes Interesse für alle, mit denen sie in Berührung kam, bewirkten, dass sich jeder bei den Kautskys sofort zuhause fühlte.«215 Bald jedoch hatte der Wiener Charme auch Luise und Karl Kautsky wieder eingefangen, ihre gemeinsame politische Arbeit gestaltete sich immer enger und auch fruchtbarer. Karl, der die Zeit nach der russischen Oktoberrevolution und die sich abzeichnende Entwicklung in der noch jungen Sowjetunion mit größter Skepsis betrachtete und dies in seiner Schrift »Die Diktatur des Proletariats« auch deutlich machte, arbeitete intensiv an einem neuen Programm für die SPD. Dieses bildete unter dem Namen »Heidelberger Programm« viele Jahrzehnte die Grundlage für die politische Ausrichtung der Partei und wurde erst 1959 durch das »Godesberger Programm« abgelöst. Luise, die »Seele des internationalen Marxismus«,216 erinnerte in zahlreichen Schriften an wichtige europäische Sozialistinnen, schrieb ein Handbuch der Frauenarbeit in Österreich und nahm an mehreren internationalen Arbeiterkonferenzen teil. Und sie veröffentlichte ihr Rosa-Luxemburg-Gedenkbuch. Dies war ihr Herzenswunsch. Am 15. März 1938, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen, verließ das Ehepaar Kautsky Österreich und floh über die Tschechoslowakei 124
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in die Niederlande. Bis zum Jahresende erlebte Luise einen Schicksalsschlag nach dem anderen. Im August emigrierte ihr Sohn Felix nach England, die beiden anderen Söhne Karl jun. und Benedikt wurden verhaftet. Benedikt verbrachte bis zum April 1945 sieben Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern. Karl Kautsky war bereits während der Flucht todkrank. Er litt an Bauchspeicheldrüsenkrebs und starb an den Folgen eines Schlaganfalls am 17. Oktober 1938. Jetzt war Luise allein, und obwohl die britische Labour Party, bei deren Führung sie ein hohes Ansehen genoss, ihr einen Aufenthalt in England möglich machte, blieb sie in Amsterdam. Auch als die Niederlande von deutschen Truppen besetzt wurden, lehnte sie eine weiteres britisches Angebot ab. Eine schwere, aber auch verhängnisvolle Entscheidung. Wenige Tage vor ihrem achtzigsten Geburtstag wurde Luise Kautsky verhaftet, in das Sammellager Westerbork eingeliefert und im September 1944 in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Sie wusste, dass ihr Sohn Benedikt nur fünf Kilometer von ihr entfernt war, in Auschwitz-Monowitz, dem Lager der IG Farben. Sie sollten sich jedoch nie wiedersehen. Am 1. November 1944 starb Luise Kautsky im Krankenrevier des Konzentrationslagers in den Armen der jüdischen Häftlingsärztin Dr. Lucie Adelsberger. »Luise Kautsky … schlief ein, gegen Mittag, so friedlich, dass ich kaum die genaue Zeit auf dem Totenschein vermerken konnte. Sie lag noch einen Tag aufgebahrt auf ihrem Lager. Am nächsten Morgen haben wir, die Blockälteste und deren Vertreterin, die Pflegerin und ich, sie persönlich zur Leichenkammer getragen.«217 Als Benedikt Kautsky 1945 aus der KZ-Haft befreit wurde, schrieb er über seine Mutter: »Sie war ein Mensch von eigenem Recht und eigenen Gnaden; sie war kein Mond, der sein Licht von einer fremden Sonne borgen musste.«218
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Kurt Tucholsky 1890 Berlin – 1935 Göteborg (Schweden) Schriftsteller, Journalist
Kaiserallee 79 (heute: Bundesallee) Die Superlative, die ihm nach seinem kurzen, aber intensiv gelebten Erdendasein angeheftet wurden, haben sich auch nach über fünfundsiebzig Jahren nicht überholt. Immer noch wird er in der Literaturkritik als einer der »bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik«246 bezeichnet, gleichzeitig gilt er noch heute als der »produktivste, populärste und zugleich wohl beste Lieder- und Chansondichter«247 für das Kabarett der Zwanzigerjahre, eine Wertschätzung, die ihm nicht unbedingt gefallen hätte. Selbst Arnold Zweig, der angesehene Germanist, Philosoph und Schriftsteller, erkannte in Tucholsky den »besten Chansonnier der Republik«248. Dabei gehörte das Kabarett nicht unbedingt zu Tucholskys beliebtesten Spielfeldern, selbst empfand er es als die »allerübelste Arbeit der Welt«249. Damit musste er leben, und dies tat er nicht schlecht, und er musste es sich auch gefallen lassen, dass zahlreiche Schreiberkollegen ihn um seine Meinung über ihre eigenen Werke baten. Dies war äußerst schwierig für ihn, denn zum »Literaturpäpstlein« fühlte er sich nicht berufen, obwohl er als Literaturkritiker zu den einflussreichsten Persönlichkeiten seiner Zeit zählte. Mit dem Erscheinen seiner meisterlichen Novelle »Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte« im Jahre 1912 war der damals zweiundzwanzigjährige Student der Rechtswissenschaften zum ultimativen Liebling einer ganzen Lesergeneration geworden. Die wunderschöne Liebesgeschichte von Wolfgang und Claire rührte vor allem das Teenagerpublikum, was in Tucholsky den pfiffigen Marketingmanager weckte. Gemeinsam mit Kurt Szafranski, seinem Freund und Illustrator, eröffnete er am Berliner Kurfürstendamm eine verkaufsfördernde Bücherbar, in der jeder Käufer des 136
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Buches einen Gratisschnaps bekam. Nach wenigen Wochen war er seiner genialen Geschäftsidee jedoch überdrüssig geworden, die Bücherbar wurde geschlossen und ihr gut gefülltes Alkohol-Depot in Tucholskys beengter Unterkunft gebunkert. »Um Platz zum Wohnen« zu schaffen, nahmen die Schnapsvorräte sehr schnell ab. »Ein ganz einheitlicher Mensch von 21 Jahren. Vom gemäßigten und starken Schwingen des Spazierstocks, das die Schulter jugendlich hebt, angefangen bis zum überlegten Vergnügen und Mißachten seiner eigenen schriftstellerischen Arbeiten«, hatte sich Franz Kafka nach ihrer ersten Begegnung 1911 in Prag über Tucholsky notiert und ihn ermutigt, sein Berufsziel als Anwalt zu überdenken und sich eher der Schriftstellerei zuzuwenden. Ein guter Rat, den Tucholsky nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, den er als Kompanieschreiber fernab der umkämpften Fronten erlebte, beherzigen sollte. 1919 schrieb er neben humoristischen Beiträgen für den »Ulk«, das »Berliner Tageblatt« und die »Berliner Volkszeitung« auch für Siegfried Jacobsohns »Weltbühne«, deren Vorläuferin, die »Schaubühne«, bereits vor dem Krieg Beiträge des jungen Studenten veröffentlicht hatte. Fortan erschienen in jeder »Weltbühne«-Ausgabe zwei oder drei Tucholsky-Artikel, abwechselnd gezeichnet mit seinen Pseudo-
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nymen Theobald Tiger, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser oder Peter Panter. Er schrieb auch unter seinem eigenen Namen, aber »… wir stammen alle Fünf« von einem Vater ab, und in dem, was wir schreiben, verleugnet sich der Familienzug nicht. … Wir sind fünf Finger an einer Hand. Und werden auch weiterhin zupacken, wenns not tut.«250 Am 3. Mai 1920 heiratete Kurt Tucholsky, seit fünf Jahren Dr. jur., seine Jugendfreundin Else Weil. Sie war acht Jahre vorher die Claire aus »Rheinsberg«, mittlerweile arbeitete sie als Ärztin an der Berliner Charité. Bei vielen seiner Freunde löste diese Hochzeit zumindest Verwunderung aus, denn Tucholskys Privatleben war geprägt von zahlreichen Frauenbekanntschaften, Affären und lockeren Beziehungen. Besonders Mary Gerold, eine junge Baltin, von der er sich kurz zuvor getrennt hatte, ließ ihn nicht los. Schon drei Monate nach seiner Hochzeit mit Else schrieb er über Mary in seinem Tagebuch: »Und ich weiß doch heute, dass ich nur ein Mal in meinem Leben geliebt habe.«251 Mary Gerold, die später seine zweite Ehefrau wurde, hatte sich nie über Tucholskys Privatleben öffentlich geäußert, anders dagegen die Verlegerin und Journalistin Lisa Mat thias, die ihn in ihrer Autobiografie »Ich war Tucholskys Lottchen« als beziehungsunfähigen Erotomanen bezeichnete und mit recht freizügigen Geständnissen über Tucholskys Verhältnis zu Frauen verschiedensten Spekulationen Tür und Tor öffnete. Noch aber stand er am Beginn seiner ersten Ehe. Mit seiner Frau zog er in die Kaiserallee 79. An den Wänden der geräumigen Fünf-Zimmer-Wohnung hingen viele Zeichnungen des von ihm hochgeschätzten George Grosz (»… ein ganzer Kerl und ein Bursche voll unendlicher Bissigkeit. Wenn Zeichnungen töten könnten: das preußische Militär wäre sicherlich tot.«252) Er fühlte sich wohl im beschaulichen Friedenau, eine Liebeserklärung an seine neue Umgebung schrieb er im »Berliner Tageblatt« am 18. Juni 1920 mit der fiktiven und dennoch wahren Geschichte über die »Kaiserallee 150«: »Sie suchen eine Wohnung? … Sie liegt sehr gut – nun, nicht gerade im Zentrum der Stadt – man ist ja froh, wenn man überhaupt eine bekommt … Aber doch nicht sehr weit draußen – nein. Sie liegt – das Haus in dem die Wohnung frei ist, liegt auf der Grenze zwischen Wilmersdorf und Friedenau. In der Kaiserallee. … Sie sehen das Haus schon, wenn Sie vom Kaiserplatz kommen und unter der Bahnüberführung hindurchgehen. Es ist ein großer gelber Kasten – ich will Ihnen das Haus nicht besser machen, als es ist. Es ist ganz schmucklos und einfach und hat nicht einmal Stuckverzierung aufzuweisen. Man sagt, dass die Leute in England so bauen. Aber die Leute in England haben keinen Geschmack. Ich bitte Sie: ohne Stuck! Nein, da lob ich mir unsere hochherrschaftlichen Häuser im Berliner Westen! Da weiß man doch, wen 138
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Gedenktafel am Haus Bundesallee 79.
man vor sich hat. … Im ersten Stock wohnt ein Großgrundbesitzer. Dies ist seine Stadtwohnung. Er bekommt keine Sendungen von seinem Gut – nein, er empfängt hier in der Stadt seine Lebensmittelkarten und isst nur, was ihm darauf zusteht. Auf der anderen Seite im ersten Stock wohnt ein Berliner Theaterdirektor. Er gibt immer den Leuten im Haus Freikarten, ist stets für alle seine Schauspieler zu sprechen und verteilt die Rollen gerecht und richtig. Sagen seine Schauspieler. … Also im zweiten Stock wohnte bis jetzt der Herausgeber eines – ja, nicht sehr sauberen illustrierten Wochenblattes. … Das wäre also Ihre freie Wohnung. Eine schöne, ruhige Fünfzimmerwohnung mit Bad und Zentralheizung. … Die Türen schließen, die Wände sind so dick, dass sie in einem Zimmer nicht hören, was im anderen gesprochen wird; die Badewasserleitung funktioniert, die Wanne ist ganz. Solche Wohnung ist das.«253 Während seiner Friedenauer Zeit wurden seine Revuen »Tamerlan«, »Total Manoli«, »Bitte zahlen« und »Wir steh’n verkehrt« uraufgeführt. Das Publikum war außer sich, die Kritik überschlug sich vor Begeisterung, die Interpretinnen Claire Waldoff, Trude Hesterberg und Gussy Holl erlangten Kultstatus. Aber Tucholsky wurde auch zunehmend politischer. »Der deutsche politische Mord der letzten vier Jahre ist schematisch und 139
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straff organisiert. … Alles steht von vornherein fest: Anstiftung durch unbekannte Geldgeber, die Tat (stets von hinten), schludrige Unter suchung, faule Ausreden, ein paar Phrasen, jämmerliches Kneifertum, milde Strafen, Strafaufschub, Vergünstigungen – ›Weitermachen!‹ … Das ist keine schlechte Justiz. Das ist keine mangelhafte Justiz. Das ist überhaupt keine Justiz. … Balkan und Südamerika werden sich den Vergleich mit diesem Deutschland verbitten«,254 schrieb er in der »Weltbühne«. Bis zu ihrer Auflösung im September 1922 war Tucholsky Mitglied der USPD, seine kritischen Schriften brachten ihm zahllose anonyme Briefe und Anrufe ein, in denen er als »giftspeiender Jude, verdammter Bolschewik, Vaterlandsverräter«255 bezeichnet wurde. Nach der Ermordung von Reichsaußenminister Walther Rathenau konnte sich auch Tucholsky nicht mehr sicher fühlen, zumal er wegen seiner Veröffentlichungen mit Anklagen und Prozessen überzogen wurde. Das musste zwangsläufig auch Einfluss auf sein Privatleben nehmen. Die ohnehin fragile Ehe mit Else Weil zerbrach völlig. »Als ich über die Damen wegsteigen musste, um in mein Bett zu kommen, ließ ich mich scheiden«, erinnerte sich die unglückliche Ehefrau.256 Nach der Trennung sah man Tucholsky wieder öfter mit Mary Gerold, zu der er auch während seiner Ehe den Kontakt nie abgebrochen hatte, im Oktober 1920 hatte er als Peter Panter mit »Einer jungen Schrumpelhexe aus Kurland in altem Gedenken« sogar ein ihr gewidmetes Buch veröffentlicht. Am 30. August 1924 heirateten Kurt und Mary im Standesamt Berlin-Friedenau. Aber auch diese Ehe sollte nur fünf Jahre dauern. Tucholskys Friedenauer Zeit endete im August 1923, er verließ die Wohnung in der Kaiserallee und ging als Auslandskorrespondent der »Weltbühne« nach Frankreich, kam aber noch oft nach Friedenau zurück, um Else Weil zu besuchen, seine »Claire«, »… die ihn gepflegt und gehegt hat in seiner permanenten Pubertät, die seiner gedacht hat bis an ihr unseliges Ende in einem Nazi-KZ«.257 Ein gemeinsamer Urlaub mit seiner neuen Lebensgefährtin Lisa Matthias in Schweden inspirierte ihn zu seinem wohl erfolgreichsten Buch, den Kurzroman »Schloß Grips holm«. 1931 verließ er Deutschland, bis zu seinem Tod am 21. Dezember 1935 lebte Tucholsky auf einem kleinen Anwesen nahe Göteborg. »Sprache ist eine Waffe, haltet sie scharf«, steht auf der Gedenktafel am Haus Bundesallee 79.
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