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Edition 19 Berliner Festspiele 2015 Jens Ullrich Refugees In A State Apartment
Die Edition ist eine Publikation der Berliner Festspiele.
Biografie JENS ULLRICH geboren 1968 in Tukuju/Tanzania, studierte an der Kunstakademie Düsseldorf und lebt seit 2008 in Berlin. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt, u.a. im Kunstverein Hannover, in der Tate Modern London, dem Museum Sztuki Łódź, der Glucksman Gallery Cork und dem Museum Abteiberg Mönchengladbach. Gemeinsam mit Freunden hat er viele Jahre private Ausstellungsräume betrieben. Jens Ullrich geht oft von vorgefundenem Bildmaterial aus, um dann einzelne Teile daraus zu neuen Motiven zusammenzufügen. Für seine Arbeit „Refugees In A State Apartment“ hat er Aufnahmen von Geflüchteten in Berlin-Moabit mit historischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen einer Bremer Industriellenvilla kombiniert. born in Tukuyu/Tanzania in 1968. He studied at the Düsseldorf Academy of Art and has been living and working in Berlin since 2008. His work has been shown at numerous museums, including Kunstverein Hannover, Tate Modern London, the Museum Sztuki Łódź, the Glucksman Gallery Cork and the Museum Abteiberg Mönchengladbach. Jens Ullrich and his friends ran private exhibition spaces for many years. Jens Ullrich’s work often originates in found image material. Individual elements are then reassembled to form new motifs. For his series „Refugees In A State Apartment“ he combines fotos of refugees in Berlin-Moabit with historical black and white photos of the interior of an industrialist’s villa near Bremen.
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Jens Ullrich
REFUGEES IN A STATE APARTMENT
We live and work very close to the agency where all the people arriving in Berlin have to register first. Thousands are waiting outside the building, to be called up by number. Some of them wait for more than 30 days. Our studio is situated in a house where refugees can get clothes and food. The public parks nearby are full of tents and mattresses. Streets around my area have changed a great deal. When I first started to take pictures in front of the registration office, I had the opportunity to talk with refugees from various countries. Getting an increasingly genuine sense of their situation made me reflect on my own existence as an artist. Looking at my photos, I would like to see people who have arrived, but in fact I see people waiting in a dusty, trampled down no-man’s-land and I realise that their arrival is far from being accepted. The situation is precarious. Every day, new journalists and photographers come along. The refugees are totally exposed. Some of them try to hide their faces behind scarves and hoods. I have often heard them say “This is not a good picture!” which is true when an inevitably undignified behaviour is captured under these extraordinary circumstances. Taking my photo-documentation as a starting point, I felt the need for a more affective picture of arrival, an imagery that is both respectful and strong enough to express disparate emotions. The conflict is about a natural habitat that has to be shared. This new place for refugees to live in has to be found now, but it is not yet in sight. This undefined space is abstract and causes unease on all sides.
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Looking for a concrete image for this space, I came across historical photos (ca. 1929) of a building near Bremen. Interior photos of a splendidly furnished house with one hundred rooms – totally devoid of people! After the original owner’s wool-company went bankrupt, the house was converted into a rest home for mothers, then used as British officers’ mess, a hospital, a refugee hostel and finally a rehab-clinic. Today, the building is offered for sale on the internet. The metaphoric ambiguity of a house between being a refuge, a place to live, an intimate situation or even a cultural monument somehow seems apposite. In this house, arrival is both very close and far away. Seen from another perspective, the old things receive new meaning and our unaffected world loses its sense of protection. Initially, it isn’t important to know that these images show refugees. My point is the strange and quiet atmosphere surrounding these people who sat down in these interiors for a brief moment. Although this is a meeting of two extremes, I hope that I have managed to create a calm or passive mood which enables an unbiased contemplation of the images. * Wir leben und arbeiten ganz in der Nähe der Behörde, bei der sich alle Menschen, die in Berlin ankommen, zunächst registrieren lassen müssen. Tausende warten vor dem Gebäude darauf, nach Nummern aufgerufen zu werden. Manche warten länger als 30 Tage. Unser Atelier liegt in einem Haus, wo sich Geflüchtete mit Kleidung und Essen versorgen können. Die öffentlichen Parks in der Umgebung sind voller Zelte und Matratzen. Das Straßenbild in dieser Gegend hat sich sehr verändert. Als ich anfing, vor der Meldestelle zu fotografieren, ergaben sich Gespräche mit wartenden Menschen aus verschiedensten Ländern. Je präziser der Eindruck ihrer Situation wurde, um mehr musste ich an meine eigene Situation als Künstler denken. Wenn ich meine Fotos ansehe, würde ich darauf gerne Menschen sehen, die angekommen sind. Tatsächlich aber sehe ich Menschen, die man in einem staubigen, zertrampelten Niemandsland warten lässt, und deren Ankommen noch lange nicht akzeptiert ist. Die Situation ist prekär.
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Jeden Tag kommen neue Journalisten und Fotografen nach Moabit. Die Geflüchteten sind ihnen völlig ausgeliefert. Manche versuchen, ihre Gesichter hinter Schals und Kapuzen zu verstecken. Ich höre immer wieder, wie sie sagen: „This is not a good picture!“, was stimmt, wenn ein notwendigerweise unwürdiges Verhalten unter diesen außerge wöhnlichen Umständen dokumentiert wird. Von meiner Fotodokumentation ausgehend hatte ich das Bedürfnis nach einem befindlicheren Ankunftsbild, einer abstrakteren Bildsprache, die zugleich respektvoll und stark genug ist, um auch verschiedene Emotio nen auszudrücken. Bei diesem Konflikt geht es um angestammten Lebensraum, der geteilt werden muss. Dieser neue Ort, an dem die Flüchtlinge leben wollen und nach dem man jetzt hier für sie sucht, ist nicht so leicht absehbar. Dieser undefinierte Ort ist ein Abstraktum und löst auf allen Seiten Unbehagen aus. Auf der Suche nach einem konkreten Bild für diesen Raum bin ich auf historische Fotos (ca. 1929) von einem Gebäude nahe Bremen gestoßen. Interieurfotografien eines prunkvoll eingerichteten Hundertzimmer hauses – menschenleer! Nachdem das Wollunternehmen des ursprüng lichen Besitzers Bankrott ging, wurde das Haus zunächst in ein Mütter genesungsheim umgebaut, dann als Offizierskasino, Krankenhaus, Flüchtlingsheim und zuletzt als Klinik für Drogenabhängige genutzt. Heute wird die Immobilie im Internet zum Verkauf angeboten. Die metaphorische Mehrdeutigkeit eines Hauses zwischen Zufluchtsort, Wohnsitz, intimer Situation und historischem Kulturdenkmal scheint mir zu passen. In diesem Haus ist das Ankommen im selben Moment nah und fern. Aus einer anderen Perspektive betrachtet, erhalten die alten Dinge eine neue Bedeutung und unsere bisher unbeeinträchtigte Welt verliert ihr Gefühl von Geschütztsein. Es ist zunächst nicht unbedingt wichtig zu wissen, dass diese Bilder Geflüchtete zeigen. Es geht mir vor allem um die fremdartige und stille Atmosphäre, die diese Menschen umgibt, die für einen kurzen Moment in den Interieurs Platz genommen haben. Obwohl hier zwei Extreme aufeinander treffen, hoffe ich, eine eher ruhige und sagen wir passive Stimmung getroffen zu haben, die erlaubt, die Bilder unvoreingenommen betrachten zu können.
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Impressum
Herausgeber: Berliner Festspiele, ein Geschäftsbereich der KBB Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
Intendant: Dr. Thomas Oberender Kaufmännische Geschäftsführung: Charlotte Sieben Redaktion: Christina Tilmann
Kontakt: Berliner Festspiele, Schaperstraße 24, 10719 Berlin, T +49 30 254890 www.berlinerfestspiele.de, info@berlinerfestspiele.de
Grafik: Christine Berkenhoff, Berliner Festspiele, Heidi Zimmermann / Fleck · Zimmermann nach einem Entwurf von Studio CRR, Christian Riis Ruggaber, Zürich Druck: enka-Druck GmbH, Berlin Papier: Biotop 3 100 g / Graukarton 300 g Schrift: LL Brown Regular 1. Auflage: 5000, November 2015
© 2015. Berliner Festspiele, die Künstler und Autoren. Alle Rechte vorbehalten. Abdruck (auch auszugsweise) nur mit Genehmigung der Herausgeber, Künstler und Autoren.
© Jens Ullrich und VG Bild-Kunst, Bonn 2015
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Die Editionsreihe der Berliner Festspiele erscheint bis zu sechsmal jährlich und präsentiert Originaltexte und Kunstpositionen. Bislang erschienen: Edition 1 Hanns Zischler, Großer Bahnhof (2012) Christiane Baumgartner, Nachtfahrt (2009) Edition 2 Mark Z. Danielewski, Only Revolutions Journals (2002 – 2 004) Jorinde Voigt, Symphonic Area (2009) Edition 3 Marcel van Eeden, The Photographer (1945 – 1947), (2011 – 2 012) Edition 4 Mark Greif, Thoreau Trailer Park (2012) Christian Riis Ruggaber, Contemplatio I–VII: The Act of Noting and Recording (2009 – 2 010) Edition 5 David Foster Wallace, Kirche, nicht von Menschenhand erbaut (1999) Brigitte Waldach, Flashfiction (2012) Edition 6 Peter Kurzeck, Angehalten die Zeit (2013) Hans Könings, Spaziergang im Wald (2012) Edition 7 Botho Strauß, Kleists Traum vom Prinzen Homburg (1972) Yehudit Sasportas, SHICHECHA (2012) Edition 8 Phil Collins, my heart’s in my hand, and my hand is pierced, and my hand’s in the bag, and the bag is shut, and my heart is caught (2013) Edition 9 Strawalde, Nebengekritzle (2013) Edition 10 David Lynch, The Factory Photographs (1986–2000) Georg Klein, Der Wanderer (2014) Edition 11 Mark Lammert, Dimiter Gotscheff – Fünf Sitzungen/Five Sessions (2013) Edition 12 Tobias Rüther, Bowierise (2014) Esther Friedman, No Idiot (1976-1979) Edition 13 Michaelangelo Antonioni, Zwei Telegramme (1983) Vuk D. Karadžić, Persona (2013) Edition 14 Patrick Ness, Every Age I Ever Was (2014) Clemens Krauss, Metabolizing History (2011-2014) Edition 15 Herta Müller, Pepita (2015) Edition 16 Tacita Dean, Event for a Stage (2015) Edition 17 Angélica Liddell, Via Lucis (2015) Edition 18 Karl Ove Knausgård, Die Rückseite des Gesichts (2014) Thomas Wågström, Nackar / Necks (2014)
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