Foreign Affairs - 2014 Abendprogramme

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FOCUS: MUSÉE DE LA DANSE

20 DANCERS FOR THE XX CENTURY

Fr 27. Juni 2014, 17:00 Uhr Sa 28. Juni 2014, 17:00 Uhr

Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park

AATT ENEN TIONON

Mo 30. Juni 2014, 22:00 Uhr Mo 7. Juli 2014, 22:00 Uhr ST. AGNES

HÉÂTRE-ÉLÉVISION

1. – 13. Juli 2014 täglich 11:00 – 19:00 Uhr Einlass jeweils zur vollen Stunde Martin-Gropius-Bau

EIGN AIRS 13.7.14 –

LEVÉE DES CONFLITS

Mi 2. Juli 2014, 20:00 Uhr

Haus der Berliner Festspiele, Große Bühne

EXPO ZÉRO

Sa 12. & So 13. Juli 2014, 12:00 – 17:00 Uhr Kunstsaele Berlin

CHOREOPOLITICS

Gespräch Sa 28. Juni 2014, 15:30 Uhr

Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park

HOW TO DANCE WITH ART

BORIS CHARMATZ

Boris Charmatz ist Tänzer und Choreograf, zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen „Aatt enen tionon“ (1996) und „enfant“ (2011). Neben seinen ausgedehnten Tourneen nimmt er regelmäßig an Improvisationsevents teil (mit Tino Sehgal, Anne Teresa De Keersmaeker, Médéric Collignon) und arbeitet auch als Performer. Unter seiner Leitung ist das Nationale Zentrum für Choreografie Rennes und Bretagne seit 2009 in das Musée de la danse umgewandelt worden. Zu den bisherigen Projekten zählen „préfiguration“, „expo zéro“, „héliogravures“, „rebutoh“, „service commandé“, „brouillon“ (Rohfassung), „Jérôme Bel en 3 sec. 30 sec. 3 min. 30 min et 3 h“, „Danse-Guerre“ und „Petit Musée de la danse“. 2011 war Charmatz Associate Artist des Festival d’Avignon, 2013 präsentierte er sein Projekt „Musée de la danse: Three Collective Gestures“ im MoMA. 2012 war er mit seiner Choreografie „enfant“ bei Foreign Affairs zu Gast, 2013 eröffnete er mit dem gemeinsam mit Anna Teresa De Keersmaeker inszenierten Stück „Partita 2“ das Festival. Sein neues Werk „manger“ wird am 23. September 2014 im Rahmen der Ruhrtriennale uraufgeführt.

MUSÉE DE LA DANSE Aus einer anti-natürlichen Kreuzung von Museum, Ort der Konservierung, mit Tanz, Kunst der Bewegung, sowie choreografischem Zentrum, Ort und Heim­ statt der Produktion, entstand das Musée de la danse, ein Paradoxon, das seine Dynamik aus eben diesen Widersprüchen bezieht: ein experimenteller Raum, um zu denken, zu üben und die Grenzen dieses Phänomens, das man Tanz nennt, zu verschieben. Das Musée de la danse ist ein Projekt, das sich mit jeder seiner Veranstaltungen selbst auf einen neuen Stand bringt. Einerseits befindet sich das Musée de la danse an einem fixen Ort, in Rennes, andererseits stellt es eine nomadenhafte Idee dar, die sich in andere Dimensionen bewegen kann: eine Zuflucht für die Zeit („prefigu­ration“), Leere und Sprache („expo zéro“), Nacktheit, politische Aspekte, Diskussionen („Grimace du réel“), Werke und Fantasien („héliogravures“, „Service commandé“) und manchmal sogar in alle diese Dimensionen zur selben Zeit („brouillon – rough draft“). Die verschiedenen Veranstaltungen dieser vom Choreografen Boris Charmatz geleiteten Unternehmung bilden ein kombinatorisches Spiel, das die Möglichkeiten der Kreuzung von Ausstellung, performativem Gestus und Artikulation der Sprache auslotet: ein Sagen, ein Tun und ein How-to-do zugleich. Workshops, Debatten, Aufenthaltsorte für Künstler und Forscher; un­konventionelle Vorschläge und fantastische Sammlungen werden direkt aus der Reflektion darüber geboren, was dieses spielerische, hybridartige Museum werden könnte. Indem es die etablierten Bezüge zwischen Publikum und Kunst sowie zu ihren physischen und imaginären Territorien auf den Kopf stellt, vereint das Musée de la danse das Lebende mit dem Reflektierenden – Kunst und Archiv, Kreation und Transmission.

Symposium Mi 2. Juli 2014, ab 17:00 Uhr

Haus der Berliner Festspiele, Rangfoyer Mit Unterstützung von Institut français im Rahmen des Programms IntégraleS und mit Unterstützung der Convention Institut français / Stadt Rennes / Rennes Métropole. Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes Foto: © Ivar Veermae

GESPRÄCH MIt BORIS Charmatz

Ursprünglich wurde das Projekt „20 Dancers for the XX Century“ für die Champs Libres in Rennes konzipiert, danach wurde es im MoMA in New York realisiert. Im Rahmen des Festivals Foreign Affairs zeigen Sie nun eine weitere Version, und zwar auf dem Gelände des Sowjetischen Ehrenmals in Berlin-Treptow. Eine Bibliothek, ein Museum und jetzt ein Ehrenmal. Wie hat sich dieses Projekt entwickelt? Wir haben diese Idee zunächst während der Veranstaltung „Un dimanche aux Champs Libres“ (Ein Sonntag in den Champs Libres) ausprobiert, ohne recht zu wissen, was dabei herauskommen würde: Die Tänzer, die im gesamten Gebäude verteilt und nur mit einem Ghettoblaster ausgestattet waren, zeigten verschiedene Sequenzen, die in der Tanzgeschichte in sehr unterschiedlichen Genres zu verorten sind: von Valeska Gert über Charlie Chaplin bis hin zu Michael Jackson. Das Ergebnis war eher ermutigend: Wir schufen etwas sehr Freies und gleichzeitig ziemlich Spektakuläres. Während wir am Projekt für das MoMA arbeiteten, zeigte uns das Festival Foreign Affairs verschiedene Orte in Berlin, und zwar erst einmal nur so, ohne eine konkrete Idee zu diesem oder jenem Projekt… Dabei haben wir das Sowjetische Ehrenmal entdeckt, das größte sowjetische Ehrenmal in Berlin. Ich habe sofort die Kraft dieses Ortes gespürt und mir gedacht, dass das Musée de la danse hier etwas zu tun hat – und dass sich das Projekt „20 Dancers for the XX Century“ in diesem Kontext neu erfinden könnte. Es ist das gleiche Projekt, aber durch die Verschiedenheit der Orte kann es nicht auf dieselbe Art und Weise realisiert werden. Die Champs Libres sind ein sehr heterogener Ort des Kommens und Gehens: sowohl große Halle als auch Bibliothek, ein Ort der Wissenschaften, ein Kunst­ museum und eine Art Heimat­museum volkstümlicher Traditionen… Davon ausgehend hat sich das Projekt in zwei sehr gegensätzliche Richtungen entwickelt: einerseits das MoMA, ein reines Kunstmuseum, in dessen Räumen sich „20 Dancers for the XX Century“ als ephemerer, beweglicher, mobiler und fragiler – durch die Erinnerung der Tänzer veränderter – Teil einer streng organisierten Sammlung ausnimmt. Andererseits hatten wir bereits damit begonnen, das Projekt im Rahmen des Sowje­tischen Ehrenmals zu denken – und wieder sind wir mit einer totalen Neuorientierung des Ganzen konfrontiert. In einem Ausmaß, dass ich mich gefragt habe, ob das Projekt trotzdem noch denselben Titel tragen soll. Schlussendlich handelt es sich wohl eher um ein Arbeitsprotokoll als um ein endgültig definiertes Objekt. Das Sowjetische Ehrenmal erinnert an die Soldaten der Roten Armee, die während des Zweiten Welt­krieges gefallen sind. Wie wollen Sie sich diesen Raum erarbeiten? Welchen ästhetischen und politischen Heraus­ forderungen müssen Sie sich hierbei stellen? Dieser Ort hat allein räumlich nichts mit einem Museum gemein. Es ist draußen unter freiem Himmel, es ist riesengroß und ein gewaltiges Ganzes. Es handelt sich um eine monumentale Struktur mit neorealistischen Skulpturen: eine kniende Frau und ein Soldat, der ihr Kind festhält… und dann gibt es auch noch diese Stelen. Das alles führt zu einer veränderten Ge­wichtung der Frage nach der Erinnerung. Wir wenden uns ab von der „künstlerischen“ Erinnerungskultur des MoMA hin zur „historischen“ Erinnerung: das 20. Jahrhundert gesehen unter sowjetischem Blick­ winkel, der Zweite Weltkrieg, der Kalte Krieg… der Ort vergegenwärtigt vergessene Gesten der Soldaten, traumatische Erinnerung(en). Dieses Projekt könnte dem Verschwinden bestimmter Gesten und dem Vergessen einen bedeutenderen Platz einräumen. Wie dem auch sei, es ist schwierig, sich diesen Raum anzueignen und ihn zu bespielen; einerseits diese monumentale Komponente und die daraus resultierende Sym­bolik,

andererseits der „erdrückende“ Aspekt dieses Teils der Geschichte, und zum Teil ist an diesem Ort wirklich alles „offen“. Jetzt müssen wir uns ernsthaft überlegen, wie die 20 Tänze miteinander in Verbindung treten können. Stehen Sie hier vor ähnlichen Problemen wie bei „expo zéro“ im Life in Saint Nazaire? Ja, und wir werden von diesem Projekt quasi sprichwörtlich verfolgt. Einer der spannenden Aspekte von „expo zéro“ ist ja die Möglichkeit des Kommens und Gehens und des sich Versteckens in verborgenen Ecken. In diesem riesengroßen, leeren Hangar für U-Boote war das unmöglich. Da die Interventionen in diesem Stück auch nicht so spektakulär sind, hat das Ganze nicht funktioniert, alles war verschwommen. „20 Dancers for the XX Century“ ist a priori spektaku­ lärer, allerdings ist uns im MoMA schon klar geworden, dass die Aufteilung und Nutzung eines Raumes mit­ unter sehr kompliziert sein kann. Ursprünglich sollten vier oder fünf Tänzer im Atrium performen, allerdings stellte sich ziemlich schnell heraus, dass die verschiedenen Ansätze nicht wirklich auf interessante Art und Weise koexistieren würden. Jeder erforderte schließlich seinen eigenen Platz. Die Herausforderung besteht also darin zu entscheiden, wer wo sein wird, wie die Tänzer über den Ort verteilt sein werden; umso mehr, da wir nicht überall sein können – einige der Rasen­flächen des Sowjetischen Ehrenmals sind Gräber! Das wirft ganz andere Fragen auf. Einerseits wollen wir eine Kontextualisierung des Projekts, d.h. Auseinandersetzung mit dem Krieg. Anderseits handelt es sich immer noch um ein künstlerisches Projekt des Musée de la danse. Wir stehen vor einer doppelten Heraus­forderung: die Tänze an diesem Platz zu verorten und gleichzeitig eine Form der Freiheit beizubehalten. Eigentlich ist dieses Projekt ziemlich heikel, voller potentieller Missverständnisse… Das Risiko besteht darin, an diesem riesigen Ort unsichtbar zu bleiben, es nicht zu schaffen, angemessen mit der Geschichte dieses Ortes umzugehen… Dieser Ort stellt die Frage nach der Beziehung von „Geschichte einer Kunstform“ und Geschichte schlechthin. Mit welchen „Tänzen“ kann man auf Geschichte zurückblicken? Und was erzählt uns der Tanz über dieses 20. Jahrhundert? Ich glaube, dass letztendlich die Arbeit der eingela­ denen Tänzer das Projekt entscheidend beeinflussen wird – die Art, mit der sie sich ganz individuell mit der Frage ihrer Präsenz an diesem Ort auseinandersetzen werden. Welchen ihrer Repertoires und Interessen kann dieser Ort entsprechen? Sie sind in gewisser Weise KoKuratoren dieses Ereignisses. Wir haben sie eingeladen, weil wir denken, dass sie den Herausforderungen dieses Ortes gewachsen sind. Da ist zum Beispiel ein Text von Tim Etchells über das Verschwinden, das Auslöschen von Gesten; vielleicht als roter Faden für das Projekt. Charlie Chaplins Tanz aus „Modern Times“ an diesem Ort – er war schon in den Champs Libres präsent – bekommt wahrscheinlich einen ganz anderen Sinn. Er bezieht sich u.a. auf die industrielle Maschine und verweist auf die Kondition der Arbeiter in Russland, aber auch auf die Frage des Entertainments in Amerika. Olga Dukhovnaya, Interpretin dieses Tanzes, kommt ursprünglich aus der Ukraine und hat lange in Russland gelebt… Ihre An­wesenheit könnte sowohl mit den Attributen „Osten“ und „Westen“ konnotiert werden… Wir möchten uns an diesem Ort auch mit der Dimension der Folklore beschäftigen… Wir arbeiten mit einem slowenischen Tänzer, der Partisanenlieder kennt. Vielleicht hat er eine Vergangenheit als Folkloretänzer und könnte dies in diesem Zusammenhang nutzen. Es gibt eine Reihe von Verbindungen, einige sind informell und verzweigt, andere direkt und klar…

Die Auseinandersetzung von Künstlern mit der Frage von Ehrenmalen und Denkmälern hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt, hin zu Konzepten des Anti-Mahnmals, des unsichtbaren Denkmals, usw. Werden Sie inmitten dieses massiven Ehrenmals, wo die Erinnerung auf dramatische Art und Weise heraufbeschworen wird, versuchen, mit einer Anti-Mahnmal-Geste ein Zeichen zu setzen? Das ist eine berechtigte Frage, die uns auch beschäftigt. Wir hatten anfangs darüber nachgedacht, „20 Dancers for the XX Century“ an diesem Ort nicht als Kontinuum mit 20 permanent aktiven Tänzern zu realisieren, sondern eine diskretere Form mit sporadischen Aktionen zu entwickeln: Von Zeit zu Zeit würde sich ein Tänzer in Bewegung setzen. Es hätte Raum gegeben für unbestimmte, vage Erinnerungen und die Möglichkeit, Leerstellen und Fehlendes sichtbar zu machen, also eine leichtere und flüchtige Inszenierung. Gleichzeitig geht es um die Eröffnung des Festivals Foreign Affairs und es muss in diesem Kontext einen Sinn er­geben. Also schwebt uns vor, die „konzentrierte“ Form beizubehalten, die sich schon im MoMA und in den Champs Libres bewährt hat, und sie vielleicht noch konzentrierter, dichter zu gestalten: eine „spektakulärere“ Aufführung mit einer Dauer von 2 h 30. Wir dürfen den Outdoor-Aspekt nicht vergessen – und damit einhergehend das Wetter und die Kälte. Berlin wird oft mit der Erinnerung an die Mauer und andere geschichtliche Narben, die immer noch im Körper der Stadt präsent sind, in Verbindung gebracht. Deshalb hat sich für uns die Frage gestellt, ob „20 Dancers for the XX Century“ an einem Ort wie diesem und in einer Stadt wie Berlin nicht eine Art Wiederholung darstellen könnte. Aber ich glaube nicht. Wir können eine interessante Dimension zum Leben erwecken, aber es ist auch nicht vonnöten, das Ganze zu überstrapazieren. Unser Projekt muss sich auch seine Autonomie bewahren. Und natürlich wohnt der Stadt diese geschichtliche Dimension bereits inne. Das Musée de la danse hat sich bereits mehrfach mit den Verbindungen zwischen Tanz, Geschichte und Politik auseinandergesetzt, u.a. mit der Ausstellung „Danse-Guerre“ (Tanz-Krieg), die das „politische Unterbewusstsein“ des Tanzes aufzuzeigen versuchte. Ist Ihr Projekt eine Fortführung dieser Recherche? Für mich ist die Verbindung zu „Danse-Guerre“, ku­ratiert von Cosmin Costina und Bojana Cvejic, offensichtlich. Bojana Cvejic hat sich mit Merce Cunningham auseinandergesetzt und eine veränderte Lesart seiner Arbeit ermöglicht. Cunningham er­scheint uns vorrangig als unpolitischer Choreograf, aber wenn man seine Arbeit kontextualisiert, erscheint die Abstraktion als vollständige künstlerische Geste, die es ihm während des Kalten Kriegs erlaubt hat, sich nicht instrumentalisieren zu lassen. Sein ästhetisches Projekt lässt sich nicht patriotisch vereinnahmen, und kann also nicht als Vitrine des amerikanischen Im­perialismus missbraucht werden. Das hat mich auf die Idee gebracht, einen Tanz von Cunningham auf dem Gelände des Ehrenmals zu zeigen. Für mich ist es sehr interessant, an diesem geschichtsträchtigen Ort die Arbeit eines Choreografen öffentlich zu machen, der sich bewusst der Abstraktion und des Zufalls bedient hat. Ihre letzten Arbeiten „expo zéro“ und „20 Dancers for the XX Century“ können an unterschiedlichen Orten mit verschiedenen Aufführungsmöglichkeiten stattfinden. Fast könnte man von einem nomadischen Musée de la danse sprechen. Im Rahmen von Foreign Affairs werden beide Projekte gezeigt. Warum sind sie so wichtig für Sie?

Wenn wir über Stücke on tour sprechen wollen, müssen wir auch „brouillon“ und „session poster“ nennen. Es handelt sich um relativ offene Projekte, die einfach zu adaptieren sind und in Bezug auf Kontext und Teil­ nehmende verändert werden können. Außerdem sind „expo zéro“ und „20 Dancers for the XX Century“ Projekte ohne „Werk“, die allein von den beteiligten Akteuren leben – also sind sie leichter und beweg­licher. Für mich geht es dabei aber auch um eine künstlerische Linie: Innerhalb eines Kollektivs arbeiten Individuen an einer Sache, einem Thema. Diese Projekte gehören zu den Arbeitsprotokollen des Musée de la danse. Im MoMA hätten wir übrigens auch gern eine „expo zéro“ oder „session poster“ gemacht. Ob der Beschaffenheit des Ortes war es unmöglich. Die Akustik hätte nicht mitgespielt, und auch nicht der Pub­ likumsverkehr. Wir konnten diese eher „theoretischpraktischen“ Formate nicht dort umsetzen, da beide Projekte echtes Zuhören verlangen. In Berlin wird es dagegen möglich sein, eine breitere Palette unserer Arbeit zu zeigen und mit den unterschiedlichen Lesarten und Aufmerksamkeitsniveaus zu spielen. „expo zéro“ wird in den Kunstsaelen Berlin stattfinden, mit Tim Etchells, der bereits an mehreren Projekten des Musée de la danse teilgenommen hat; der Theoretikerin Claire Bishop, Spezialistin im Bereich der „Partizipation“ – wobei sie einen kritischen Standpunkt vertritt; Rabih Mroué, auch teilnehmender Künstler von „Danse-Guerre“; Meg Stuart… Eigentlich müsste ich jetzt alle nennen, dieses Team ist wirklich unglaublich. Ich bin sehr glücklich darüber, zwei meiner großen kollektiven Projekte in Berlin zeigen zu können, denn diese Chance gibt es nicht oft. Zudem sind beide relativ komplementär. In „20 Dancers for the XX Century“ gibt es weniger Platz für informellen Austausch, denn ich sagte ja schon, dass es sich um eine eher „spek­ takuläre“ Form handelt. Dafür sind wir in „expo zéro“ mit einer anderen Zeitlichkeit konfrontiert, das Projekt ist insgesamt diskursiver angelegt und breiter in der Artikulation. Werden während des Festivals andere Stücke des Musée de la danse präsentiert? Es werden einige meiner Stücke gezeigt: „Levée des conflits“ in der Theaterfassung und „Aatt enen tionon“, sowie die Pseudoperformance „héâtre-élévision“, die für mich das repräsentativste Stück der Idee des Musée de la danse darstellt, obwohl ich sie vor der Gründung des Museums schuf. Bei dieser Form handelt sich gleichzeitig um eine Installation und eine Performance, die ihren Platz weder im Theater – denn es ist ja immer nur für einen Zuschauer – noch im Museum hat, da man sich um das Projekt wirklich kümmern muss… im Gegensatz zu einem Video, das man immer wieder von vorne laufen lassen kann. Dennoch handelt es sich um ein Objekt, ein ziemlich komplexes, manipulatives Objekt sogar. „Levée des conflits“ ist auch eine Arbeit, bei der Verbindungen zum Musée de la danse bestehen: Es gibt diese Energie, die von ihr ausgeht; wir behandeln Fragen von Mobilität, beschäf­tigen uns mit der Immobilität, die durch dieses Stück besetzt wird. Außerdem konnte auch dieses Stück bereits in verschiedenen Kontexten unterschiedlich präsentiert werden: im Theater, unter freiem Himmel, jetzt gibt es einen Film… Eigentlich wurde „expo zéro“ als Gründungsprojekt für die weitere Entwicklung des Musée de la danse konzipiert. Nun ist es ein „Protokoll“, eine Serie geworden. Wie analysieren Sie dieses Paradox? Das war wirklich eine Überraschung! Anfangs war „expo zéro“ wirklich als Ausstellung „null“ gedacht, um die Idee des Musée de la danse zu lancieren. Es sollten Ausstellung eins, zwei, drei, etc. folgen. Schlussendlich sind wir uns jedoch bewusst geworden, dass es sich bei „expo zéro“ um den Nullpunkt des Museums handelt – also nicht um seinen Ursprung, sondern um den existentiellen Ausgangs- und Reflexionspunkt seines Daseins. Es handelt sich um einen ständig

FORE AFFA 26.6.

aktualisierbaren Nullpunkt, der auch noch in zehn Jahren stattfinden kann… Es geht nicht nur darum, wie man ein Tanzmuseum beginnen kann. Die Idee des Nullpunkt evakuiert quasi die Idee eines Beginns, einer Entwicklung und eines Endes. Die erste Frage, die „expo zéro“ sowohl an die Teilnehmer als auch an die Zuschauer stellt, ist tatsächlich: Was ist das Musée de la danse? Was könnte es sein, was würden Sie dort gerne machen, was repräsentiert es für Sie? Aber eigentlich sind diese Ausgangsfragen schon das Museum! Wenn man die „expo zéro“ besucht, besucht man auch automatisch das Musée de la danse und nicht nur einen Entwurf dessen, was eines Tages vielleicht und eventuell ein Museum des Tanzes sein könnte… Davon ausgehend kann man sagen, dass alle weiteren Begegnungen und Projekte von „expo zéro“ ausgingen bzw. hier ihren Ursprung haben. Für Raphaëlle Delaunay ist „expo zéro“ ein Arbeitstag mit Aufwärmübungen, Proben, das Produzieren und Zeigen eines Stücks… Dieser Ansatz hat auch zur Idee geführt, dass permanent Tänzer während des Petit Musée de la danse anwesend sind. Tim Etchells‘ Projekt des Photomusée de la danse wurde während der Diskussionen zur Premiere von „expo zéro“ geboren. Und bei jeder „expo zéro“ gibt es immer wieder diese Freude und Begeisterung, Architekten, Philosophen und Tänzer zusammenzuführen und ausgehend von diesem Protokoll alles neu zu definieren… Das ist also „eine“ Möglichkeit, das Musée de la Danse zu betreiben, es gibt auch andere… Genau, mehrere Aspekte des Museums können gleichzeitig existieren. Wenn man in dieser Logik bis zu Ende denkt, ist „expo zéro“ nicht nur eine Ausstellung des Musée de la danse, sondern gleichzeitig Teil seiner Sammlung. Das Protokoll ermöglicht das gleichzeitige Sprechen über Bruce Nauman und Isadora Duncan und darüber, was sie in einem Tanzmuseum tun würden oder nicht. Mit Hilfe des Protokolls können wir Proto­ typen in der Gegenwart testen und gemeinsam mit dem Zuschauer überlegen, welches Werk ins Museum kommen soll. Wir können uns mit Archäologie und der reellen Zeit befassen, in die Zukunft blicken. All diese Aspekte machen es „leicht“, das Projekt in verschiedene Richtungen zu entwickeln: die Möglichkeit, Bruce Nauman zu evozieren und ihn dann auch wieder zu „löschen“, sich anderen Dingen zuzuwenden – wie eine Zaubertafel, deren verschiedene Schichten im Geist der Zuschauer weiterleben und präsent sind. In „expo zéro“ weiß man eigentlich sowieso nie genau, wer gerade Akteur und wer Zuschauer ist… im Gegensatz dazu besteht „20 Dancers for the XX Century“ aus kleinen autonomen Teilen, jeder mit einem Ghetto­ blaster ausgestattet. Naja, eigentlich möchte ich diese Trennung für die Realisierung am Ehrenmal nicht so eindeutig betonen, denn es gibt dort diese getrennten Räume nicht. Die offenen Protokolle ermöglichen es Ihnen, mit Institutionen wie Schulen, Museen, Festivals, etc. zusammenzuarbeiten, denn es handelt sich sowohl um Kunstprojekte als auch um institutionelle „Minimodelle“, die sich an andere Funktionsweisen anpassen können… Ja. Und deshalb ist das Musée de la danse nicht nur ein Ort, den man besucht um ihn zu besichtigen, um zu lernen etc.; sondern auch ein Ort, der auf Reisen geht, der besichtigt, der lernt, der sich mit anderen Funktionsweisen auseinandersetzen möchte… Das Musée de la danse reist und importiert Ideen, setzt sich selbst im Inneren seiner Institution mit anderen Formaten auseinander – so zum Beispiel im Zuge der Ausstellung „Retrospective“ von Xavier Le Roy oder während „Danse-Guerre“. In Berlin arbeiten zwei Teams zusammen: Wenn uns Foreign Affairs das Ehrenmal nicht vorgeschlagen hätte, wären wir niemals spontan an diesen Ort gegangen, um dort zu arbeiten. Wir hätten uns allein nicht auf dieses Terrain gewagt, wären das Risiko nicht unbedingt eingegangen. Für uns ist die

Teilnahme am Festival auch eine Möglichkeit, andere Künstler zu treffen und neue Orte zu entdecken. Und schließlich ist es ein relativ neues Festival – naja, die Transformation eines älteren Festivals; und in dieser neuen Form eben jünger als wir.

Im Grunde genommen arbeiten Sie daran, eine Institution plastisch erscheinen zu lassen: das Museum gilt gemeinhin als festgefahren, bei Ihnen wird es zu einem „leeren Zentrum“, das immer wieder von verschiedenen Intensitäten durchquert wird… und so erlauben Sie ebenfalls ein Hinterfragen aller möglichen Institutionen und das Hervorheben der eigenen Schwerpunkte. Ich habe den Eindruck, dass wir uns zurzeit an einer Schnittstelle befinden. Ausgehend von „institutioneller Kritik“, die glücklicherweise weiterhin existiert, bewegen wir uns auf eine „institutionelle Erfindung“ zu. Ihr wohnt eine Form der Kritik inne, allerdings äußert sie sich in der Schaffung neuer Formate, neuer Heran­ gehensweisen an die Schaffung der Institution und neuer Formen der Zusammenarbeit mit ihr. Das Musée de la danse ist eine Institution, die auf „soliden“ Elementen aufbaut: das Museum besitzt eine Sammlung, wir stellen in diesem Jahr Werke des Centre national des arts plastiques (CNAP) (Nationales Zentrum für bildende Kunst in Frankreich) aus. Im Grunde genommen geht es darum, die strenge Terminologie des Begriffs Museum „durchlässiger“ zu machen, indem wir den Tanz hinzufügen: weil wir nämlich kein Museum betreiben, sondern ein Tanzmuseum. Manchmal kommt es vor, dass man uns fragt, warum wir eine Sammlung anlegen wollen, wir sollten das doch lieber den richtigen Museen überlassen. Aber hinter der Idee der Sammlung steckt nicht etwa der Wille, Museen zu kopieren, sondern die Ausweitung der Logik, die einem Tanzmuseum inne wohnen könnte – so wie bei meiner Beschreibung von „expo zéro“, dass es sich eigentlich um ein Sammlungsstück handelt. Es geht nicht darum, sich den Regeln eines Museums der modernen Kunst zu unterwerfen noch denjenigen eines Theaters etc. Allerdings kann die Existenz des Musée de la danse zur Öffnung klassischer Museen und anderer Orte beitragen, indem es Formen hineinträgt, die man dort normalerweise nicht vorfindet. Es mag paradox klingen, aber die Bewahrung unserer Durchlässigkeit erlaubt uns den Aufbau einer relativ soliden Institution – oder ausreichend solide, um ins MoMA eingeladen zu werden. Außerdem glaube ich, dass große und bedeutende Institutionen und Museen wie zum Beispiel das MoMA oder die Tate Modern in London derzeit den Versuch unternehmen, sich zu bewegen und ihren Rahmen zu sprengen. Diese Institutionen, die zu den schwerfälligsten und unbeweglichsten zählen, sind unmerklich dabei, ihr Betätigungsfeld zu erweitern bzw. zu verschieben. Die zwei größten Museen in New York, das MoMA und das Guggenheim, haben nicht umsonst je eine ihrer Ausstellungen Tino Sehgal und Marina Abramovic gewidmet und damit ein Zeichen des Paradigmenwechsels gesetzt. Die Schaffung der Abteilung „Medien und Performance“ innerhalb des MoMA ist ebenfalls Ausdruck dieser Transformation: Sie kreieren zudem einen neuen Raum innerhalb des Museums, in dem Installationen und Performances stattfinden können. Weder „white box“ noch „black box“ – sondern ein „grauer“ Raum mit seiner eigenen Anordnung und Akustik. Man spürt, dass das Museum nicht mehr nur Gemälde-, Foto­grafieoder Videomuseum sein kann. Das Museum versucht als Museum von Ideen und Performances und als Ort der Produktion zu fungieren. Diese Museen werden gerade wieder zu Orten des kreativen Schaffens­ prozesses, zu Arbeitsorten für Künstler jeglicher Herkunft, für die es Residenzen einrichtet. In dieser Hinsicht befinden wir uns meiner Meinung nach in einer interessanten Epoche des Aufbruchs… Interview: Gilles Amalvi, Januar 2014 Übersetzung: Franziska Albrecht

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

Maison Fondée en 1851 à Saumur

BOUVET LADUBAY BRUT

DE

LOIRE



VAN DEN VOS

Theater Deutsche Erstaufführung

Do 26. Juni 2014, 21:00 Uhr Fr 27. Juni 2014, 20:00 Uhr, Artist Talk im Anschluss an die Vorstellung

Haus der Berliner Festspiele, Große Bühne Für Zuschauer ab 16 Jahren Dauer 105 min

Mit: Stef Aerts, Joé Agemans, Bart Hollanders, Thomas Verstraeten, Marie Vinck, Viviane de Muynck, Gregory Frateur, Dirk Roofthooft, Wim Verachtert, Bent Simons, June Voeten Von FC Bergman: Stef Aerts, Joé Agemans, Bart Hollanders, Thomas Verstraeten, Marie Vinck Musik: Michael Rauter, Daniella Strasfogel, Paul Valikoski – Solistenensemble Kaleidoskop und Liesa Van der Aa Live-Musik: Solistenensemble Kaleidoskop: Dea Szűcs, Paul Valikoski, Ildiko Ludwig, Yodfat Miron, Boram Lie, Michael Rauter, Caleb Salgado, Magnus Andersson Text: Josse De Pauw Text des Schlussliedes: Gregory Frateur, Craig Ward Kostüme: An D’Huys Licht: FC Bergman e.c.a. Ken Hioco Ton: Alex Fostier Bewegungscoach: Ken Hioco Produktionsmanagement: Celine Van der Poel Technischer Leiter: Diederik Hoppenbrouwers Tontechnik: Maarten Meeussen Effekte, Make-Up & Masken: Saskia Verreyken Schnitt: Kevin Leunis Video: Ben Smets Set: Niels Antonissen Produktionsassistenz: Eveline Verbist Hospitanz Regieassistenz: Hanne Roofthooft Statisten: Peter Dluzewski, Ulrich Engelke, Hartmut Fleischmann, Wolfgang Hendewerk, Ulrich Kemnitz, Rüdiger Lehmann, Herbert Reuter, Claus Steppi, Volker Suberg, Christian Zacker Filmteam: Kamera: Maarten Vanden Abeele, David Williamson Ton: Arne Winderickx Tonschnitt & Soundeffekte: Lynn Van Oijstaeijen, Senjan Jansen Stunts: Matt en John – Skye Adventures und Boris Kennis Hospitanz Produktion: Marieke Smits Kostüm: Monique van Hassel Bühnenbau Toneelhuis decor atelier: Pieter Beckers, Dries Cleiren, Kobi Gruyaert, Patrick Jacobs, Frederik Liekens, Jan Palinckx, Karl Schneider, Maarten Wagemans Kostüme Toneelhuis costume atelier: Christiane De Feyter, Erna Van Goethem Produktion: Toneelhuis / Muziektheater Transparant / Solistenensemble Kaleidoskop In Zusammenarbeit mit: Stadsschouwburg Amsterdam / Kaaitheater / Le Phénix – Scène nationale de Valenciennes / Wiener Festwochen / Operadagen Rotterdam / Stichting Theaterfestival Boulevard / Berliner Festspiele/Foreign Affairs Unterstützt von: AMADEA / VRANCKX / FLOOR GRES / GAVRA / Agfa-Gevaert N.V. / Boudewijn Sea Park Mit Unterstützung von: Programm Kultur der Europäischen Kommission

EIGN AIRS 13.7.14 – In deutscher Sprache

FC Bergman dankt: Diego Dezuttere, Tile Vos, Edwin Hullak, Nikolaos Evgenikos en Jeanne, Nathalie Tabury, Hendrik Moonen, Philippe Marchalle, Wim Simmons, Suzanne Fonck, Frank en Anke Van den Abeele, Eefje Van Horenbeeck, Filip Vanes, Chantal Vermeir, Sander Van der Heul, Sabrina, Thomas, Brechtje, Liesbeth Garramone, Bort Janssen, Walter Frans, In ‘t zonneke, Jan Rubens, Liesbeth Van Rooij, Karel Albrechts, Groendienst Antwerpen, Walter Frans, Wim Hertoghs, Léon Leenders, Helena Verbeeck, Anne Floren, Hugo Wouters, Alexandra van Damme, Hanne Holvoet, Bart van den Eynde, Abattoir Fermé, DeTijd, Philippe Marchal, Marc Van Oijstaeijen, Robin Pront, Matteo Simoni, Maarten Mertens, Jan Peter Gerrits, Stijn Kums, Steven Peeters, Rosas, Katrien Brack, Toneelhuis u.v.a. Die Eröffnung wird unterstützt durch die Flämische Repräsentanz (Belgische Botschaft). Foto: © Frieke Janssens

Do 26. Juni 2014, 24:00 Uhr

Kaleidoskop – B-Sides

Songs, Skizzen und Outtakes von und mit Kaleidoskop und Viviane de Muynck

FC BERGMAN

Die belgische Theatergruppe FC Bergman besteht aus sechs Schauspielern/Theatermachern/Künstlern: Stef Aerts, Joé Agemans, Bart Hollanders, Matteo Simoni, Thomas Verstraeten und Marie Vinck. Zusammen haben sie eine ganz eigene theatrale Sprache entwickelt, die anarchisch und leicht chaotisch, vor allem aber visuell und poetisch ist. In den früheren Produktionen stand häufig der sich ewig abstrampelnde Mensch im Mittelpunkt. 2009 erhielt FC Bergman für die Adaption von Harold Pinters „Heimkehr“ den Young Theatre Prize bei Theater Aan Zee. Mit „Walking along the Champs-Elysées with a tortoise so as to have a better look at the world, but it is difficult to drink tea on an ice floe if everyone is drunk“ war die Gruppe in der engeren Auswahl für das Niederländische Theaterfestival. Bei Foreign Affairs 2012 präsentierten sie ihr Stück „300 el x 50 el x 30 el“.

SOLISTENENSEMBLE KALEIDOSKOP Das Solistenensemble Kaleidoskop ist ein Kammerorchester, das sich zur Aufgabe gemacht hat, traditionelle Konzertformen zu durchbrechen und verschiedene Künste in inszenierte Konzerte, Musiktheater oder Installationen einzubeziehen. 2006 in Berlin gegründet, hat es sich unter der künstlerischen Leitung von Michael Rauter und Daniella Strasfogel vom klassischen Ensemble zu einer Künstlergruppe entwickelt, deren szenische Musikproduktionen weit über die Grenzen Berlins hinaus bekannt sind. Im Laufe der Jahre hat sich das Ensemble stetig gewandelt und immer wieder innovative Formen der Musikvermittlung erprobt. In Zusammenarbeit mit Künstlern aus anderen Bereichen (z.B. Architektur, Tanz, Literatur, Schauspiel oder Lichtdesign) sucht Kaleidoskop nach neuen Aufführungs- und Vermittlungsformen. Im Kern besteht das Ensemble aus 15 Streichern und wird je nach Programm durch Gastmusiker ergänzt. Dass sich die Ensemblemitglieder gleichwohl als Solisten verstehen und in Kammermusikformationen ebenso zum Einsatz kommen, ist das besondere Markenzeichen von Kaleidoskop. Neben der exzellenten musikalischen Qualifikation ist es vor allem die Offenheit, das persönliche Engagement und die Risikobereitschaft der Musiker, die das Ensemble charakterisieren. Die vielfältige Erfahrung der Musiker, sowohl auf dem Gebiet der historischen Aufführungspraxis wie auch im zeitgenössischen Repertoire, ermöglicht ein Aufeinanderprallen und Ineinanderfließen unterschiedlichster Klang- und Musiksprachen.

LIESA VAN DER AA

Liesa Van der Aa,geboren 1986, ist eine belgische Schauspielerin und Sängerin. Im Jahr 2008 schloss sie ihr Studium der Kleinkunst am Herman Teirlinck Institute ab. Als Schauspielerin ist Van der Aa vor allem am Theater tätig, mit Toneelhuis arbeitete sie für den letzten Teil der Musil-Trilogie zusammen. Auch durch ihre Rollen in diver­sen TV-Serien ist Van der Aa sehr populär. Neben ihrer Karriere als Schauspielerin ist Van der Aa auch als Musikerin tätig, 2012 erschien ihr im Studio der Einstürzenden Neubauten aufgenommenes Soloalbum „Troops“. Van der Aa wurde als beste Musikerin des Jahres bei den Music Industry Awards 2012 nominiert.

JOSSE DE PAUW

Josse De Pauw, geboren 1952 in Asse, Belgien ist ein flämischer Schauspieler, Regisseur und Autor. De Pauw studierte am Koninklijk Conservatorium in Brüssel unter namhaften Lehrern und zeitgleich mit weiteren bekannten belgischen Schauspielern. Mitte der 70er Jahre begann er in Brüssel im Künstlerkollektiv Schaamte zu arbeiten, welches der Vorläufer des späteren Kaaitheaters war. Seit 1999 ist er als fester Stückeschreiber am Victoria in Gent tätig und hatte verschiedentlich Führungspositionen in Theatern inne. Doch De Pauw war nicht nur im Bereich Theater tätig, sondern wirkte auch in etwa 50 Filmen in Kino und Fernsehen mit. Er ist einer der erfolgreichsten und bekanntesten Filmstars in den Beneluxländern. De Pauw schrieb selbst auch Drehbücher dreier Filme und führte zweimal auch Regie. Für seine Werke und sein Wirken wurde er mit einer Vielzahl von Preisen ausgezeichnet.

GESPRÄCH MIT FC BERGMAN

In „Van den vos” sehen wir auf der Bühne einen Terrassenpool, die Natur, den Wald – es gibt offensichtlich eine Verbindung zwischen innen und außen, zwischen Kultur und Natur. Bei „300 el x 50 el x 30 el“, 2012 zu Gast bei Foreign Affairs, gab es noch eine Art Dorf, die Beziehung zwischen der Zivilisation und der Natur war aber auch dort schon präsent. Ist „Van den vos“ der nächste Schritt? Was ist zwischen „300 el x 50 el x 30 el“ und „Van den vos“ passiert? Stef Aerts: Dazwischen haben wir ein weiteres Stück produziert, die „Terminator Trilogie”. Ich glaube, die beiden Projekte stehen eher in einem formellen Zusammenhang. Die Geschichte bleibt eigentlich immer dieselbe, wir erzählen sie nur anders. Die „Terminator Trilogie“ wurde Open-Air gespielt, an einem sehr beeindruckenden, rohen Spielort. Danach wollten wir ein komplexes ästhetisches Projekt ent­ wickeln. Der Konflikt zwischen Natur und Zivilisation ist aber immer präsent in unserer Arbeit. „Van den vos” ist eine sehr alte Geschichte, die seit Jahrhunderten in zahllosen Varia­tionen erzählt wird. Sie verbindet ein anthropomorphisches Element: Tiere verkörpern jeweils eine bestimmte menschliche Eigenschaft. War das Ihr Ausgangspunkt? Marie Vinck: Wir haben die Tiere gleich weggelassen. Es gab lange Diskussionen mit unserem Dramaturgen, weil er meinte, das ginge bei dieser Geschichte nicht. Aber genau das interessierte uns: Die menschlichen Elemente sind viel wichtiger als die tierischen. Also haben Sie die Tiere übersprungen und nur die Eigenschaften verwendet, für die sie stehen. Marie Vinck: Die Geschichte ist eine Allegorie und wir haben versucht, sie zu vertiefen und den arche­ typischen Figuren weitere Facetten zu verleihen. Stef Aerts: Ein bisschen mehr Psychologie. Der Titel „Van den vos” verführt dazu, nach den Tieren zu suchen. Wenn man zu Beginn des Stücks Dirk Roofthooft sieht, fragt man sich sofort „Ist er der Wolf oder nicht?“ Stef Aerts: Das ist ja auch die Frage des Stücks: Wer ist der Wolf und wer ist der Fuchs? In der Geschichte verkörpern die Tiere ganz spezifische Eigenschaften. Der Fuchs ist clever und betrügt die anderen, der Wolf ist brutal. Ich war sehr damit beschäftigt, diese Eigenschaften zu suchen und mich zu fragen, ob es relevant war, dass jemand auf bestimmte Weise den Fuchs verkörperte und dann plötzlich wieder alles anders war. Mir war nicht klar, wer wen darstellte. Marie Vinck: Genau darum ging es uns. Am Ende soll man nicht mehr wissen, wer auf der guten und wer auf der bösen Seite ist, wer der Fuchs und wer der Wolf ist. In der Vorlage sind die beiden Komplizen, aber unsere Geschichte spielt zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben. Der Wolf hat sich für den rationalen, moralisch korrekten Lebensweg entschieden und verteidigt diese Entscheidung. Aber, wie Sie schon sagten, die Grenzen verschwimmen. Es gibt zwei Szenen am Königshof. In der ersten beschweren sich die Tiere über den Fuchs. Sie sollen ihn suchen, kriegen ihn aber nicht zu fassen, weil er

sie wieder hereinlegt und zum Hof zurückkehrt. Und dann gibt es die zweite Szene. Warum diese beiden Hofszenen? Stef Aerts: Unsere Bearbeitung ist zwar recht radikal, aber die Struktur ist fast unverändert geblieben. Die Originalgeschichte beginnt mit einer großen Szene bei Hof, bei uns aber gibt es nur eine Audienz zwischen der Königin, dem König und dem Wolf. Bär und Katze kommen auch vor. Eine sehr reduzierte Version des Tages bei Hof. Dann gibt es die unterschiedlichen Versuche, den Fuchs zu fangen, und schließlich kommt der Fuchs zurück und besingt sich selbst. Die Struktur ist fast identisch mit der Originalversion, wir haben sie nur anders angefüllt. Das ist das Schöne an diesen großen alten Geschichten wie der Arche Noah bei „300 el x 50 el x 30 el“ oder der „Göttlichen Komödie“, auf deren Grundlage wir vor einigen Jahren am Champs-Élysées-Projekt gearbeitet haben – und diesmal eben „Van den vos“. Sie sind so oft und in so unterschied­lichen Versionen erzählt worden, dass man mit den verschiedensten Elementen und Perspektiven der Geschichte arbeiten kann. Und es ist eine sehr europäische Geschichte: Es gibt „Van den vos“, „Reineke Fuchs“ und den „Roman de Renart“. Auch in Italien gibt es zahlreiche Versionen. Sie sind alle völlig verschieden und es ist herrlich, in einen solchen Reichtum von Erzählung einzutauchen. Sie sind Teil einer etablierten Gruppe, für dieses Projekt haben Sie Kaleidoskop, Josse de Pauw und die beiden Schauspieler Viviane de Muynck und Dirk Roofthooft dazu gebeten. Was war Ihr Ausgangspunkt? Marie Vinck: Es war wie ein Puzzle verschiedener Impulse und Ideen, aus denen wir eine einzige Performance gebaut haben. Stef Aerts: Der wahre Ausgangspunkt war Liesa Van der Aas Angebot vor vier oder fünf Jahren, eine Oper für uns zu komponieren. Wir stimmten zu und begannen dann langsam, dieses Projekt zu entwickeln. Als wir einen Autor für den Text brauchten, fragten wir Josse. Liesa ist eine sehr gute Musikerin, aber sie ist Autodidaktin und brauchte deshalb Begleitung von anderen Komponisten. Unser Koproduzent Transparant schlug das Solistenensemble Kaleidoskop vor. Sie trafen sich, verliebten sich sofort ineinander und begannen, an der Musik zu arbeiten. Wir entwickelten währenddessen das Szenario, noch ohne Worte, nur mit Bildern und den großen Handlungslinien. Gleichzeitig schrieb Josse ein Libretto. Alle Beteiligten arbeiteten sowohl nebeneinander als auch miteinander; das war ein anstrengender Prozess. Bart Hollanders: Jeder Künstler arbeitete für sich, aber wir waren im Zentrum des Geschehens. Dann brachten sie uns ihre Ergebnisse und wir haben sie zusammengenäht und -gebaut. Zu diesem Zeitpunkt waren die Schauspieler noch nicht involviert? Stef Aerts: Als die Schauspieler dazukamen, waren das Szenario, die Musik und der Text so gut wie fertig. Aber wir arbeiteten noch daran, also war es nicht so, dass sie sich nur hätten hinstellen und alles umsetzen müssen. Sie sind ein Kollektiv. Teilen Sie die Arbeit so auf, dass sich einer von Ihnen zum Beispiel um die Musik

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Lied kümmert und die anderen um die anderen Elemente, oder arbeiten Sie zusammen? Bart Hollanders: Jeder hatte eine Aufgabe, zum Beispiel die Tanzelemente, die Musik, das Video. Am Ende muss jedoch alles zusammenkommen. Wie treffen Sie zum Beispiel auf der Probe die Entscheidungen? Stef Aerts: Es gibt eine Art Aufteilung. Wir wissen, dass Joé der technische Kopf bei FC Bergman ist. Er setzt die künstlerischen Ideen in die technische Realität um. Sie arbeiten mit einer Live-Kamera und wechseln zwischen Live-Bildern und vorproduzierten Filmen. Wussten Sie schon vorher, welche Bilder im Stück zu sehen sein würden? Stef Aerts: Zu Anfang hatten wir nur die großen Bildteile in ihrer Reihenfolge. Es ergab sich bald eine Art Handlung, aber wir entschieden uns, keine allzu klare Geschichte zu erzählen. Anfänglich entwickelte sich eine Art Kriminalgeschichte und das wollten wir nicht. Für uns ist viel wichtiger, wie sich die Figuren fühlen und verhalten, was in ihren Köpfen vorgeht. Marie Vinck: Das Publikum soll seine eigenen Geschichten erfinden können. In manchen Momenten des Abends scheint die Zeit zu vergehen und wir verfolgen diesen Prozess. Gleichzeitig ist es mitunter so, als betrachte man ein Kunstwerk, vor allem mit der sich wiederholenden Musik. Dann wieder gibt es fast statische Momente, wo man ein Bild oder eine Ansicht sieht, sich aber in Bezug auf die Handlung nichts abspielt. Beschäftigen Sie sich mit dieser Beziehung zwischen dem Vergehen und Anhalten der Zeit? Stef Aerts: Es gibt keine chronologische Erzählung in dem Stück. Dinge ereignen sich und kommen später wieder vor. Marie Vinck: In der Erzählung ist eine Schleife. Stef Aerts: Ja, aber keine eindeutige Schleife. Die Dinge passieren vor- und nacheinander und werden dann absichtlich durcheinander gebracht. Wir wollten diesen Mann an einem bestimmten Punkt seines Lebens betrachten, seine Gedanken von innen und außen ansehen. Dabei ist die Reihenfolge, in der er die Dinge fühlt, tut oder denkt nicht so wichtig. Viele der Szenen führen nicht direkt irgendwohin oder bringen die Handlung nicht einmal voran. Es gibt zum Beispiel diesen Moment, wo er dasteht und zusieht, wie das kleine Mädchen in den Pool steigt. Das ist unsere Umsetzung eines kurzen Moments: Man sieht jemanden und dieser Anblick wird zu einem Bild. Bart Hollanders: Es ist die Spiegelung eines Gefühls. Das erinnert mich an die Momente, in denen sich das Video stark verlangsamt oder sogar stillsteht, sodass die Leinwand beinahe wie ein Gemälde aussieht. Arbeiten Sie mit Bezug auf bestimmte Bilder? Stef Aerts: Wir haben uns unter anderem von David Hockney und den englischen roman­tischen Malern inspirieren lassen. Aber auch von Filmen, Bildern und der Malerei im Allgemeinen. Manchmal passiert das

gar nicht so bewusst. Wir bauen ein Bild und ein befreundeter Maler weist uns darauf hin, dass es von diesem oder jenem Gemälde beeinflusst ist. Und wenn wir darüber nachdenken, dann kennen wir zwar das Bild, aber der Bezug erscheint uns nicht so klar. Mich hat folgender Satz stutzig gemacht: „Der Wolf ist doch ein Denkmal, das geschützt werden soll.” Worum geht es da? Stef Aerts: Das ist ein kleiner Scherz: Die Katze ist verliebt in diesen Typen und betet ihn förmlich an. Wir suchten nach einem völlig übertriebenen Ausdruck dieses Gefühls, nach einem Superlativ. Er ist wie ein geschütztes Denkmal, wie eine große Kathedrale oder Statue. Bart Hollanders: Es klingt auch ein wenig konservativ; der Wolf ist eine sehr moralis­tische, gesetzestreue Figur: „Man sollte alles zusammenhalten und besser nicht zu viel Freiheit gewähren“, denn der Fuchs verkörpert die Freiheit. Also ist es gut, ein Denkmal zu sein, gut, dass es diese alten Werte noch gibt. Der Wolf wird von seiner Frau, der Königin und seinem Chef völlig missachtet. Er fühlt sich als totaler Verlierer und wir dachten, es wäre doch schön, wenn es jemanden gäbe, der zu ihm emporschaut. Der Wolf sehnt sich vergeblich nach Respekt und Liebe von den anderen. Aber den einzigen, der ihm all das geben will, schickt er weg, weil er es nicht aushält. Wenn wir von Vorbildern sprechen: Welchen Künstler würden Sie gerne in Verbindung mit Ihren nächsten Projekten kennenlernen? Stef Aerts: Als wir mit „300 el x 50 el x 30 el” in Berlin waren, hatten wir Gelegenheit, „enfant” von Boris Charmatz zu sehen. Das hat uns völlig umgehauen. Wir waren nach der Vorstellung alle total… Marie Vinck: … gestresst und unglücklich, weil wir am nächsten Abend spielen sollten. (lacht) Bart Hollanders: Es war eine der eindrücklichsten Produktionen, die ich je gesehen habe. Marie Vinck: Es geht uns oft so, dass wir Tanzperformances sehen und danach völlig deprimiert sind. Im Tanz wird so organisch gedacht und gearbeitet, dass wir mitunter sehr neidisch sind. Denn wir tendieren dazu, sehr viel nachzudenken. Wir produzieren und produzieren, dabei möchten wir eigentlich diese organische Arbeitsweise ausprobieren. Stef Aerts: Und auch diese sehr direkte Kommunikation mit dem Publikum. Wir sind oft sehr frustriert, weil die Leute im Theater immer nach einer Bedeutung oder einer Handlung suchen. Das ist so schade, denn man könnte doch auch einfach dasitzen und zuschauen und sich darauf einlassen und dann etwas damit machen oder auch nicht. Sich einfach darauf einlassen und sich in den Bildern und der Musik ver­ lieren. Genau das versuchen wir immer wieder zu erreichen.

Interview: Carolin Hochleichter Übersetzung: Elena Krüskemper Transkription: Vera Hölscher

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

Hier bin ich Hier bin ich Ohne Erbarmen Hier bin ich Geifer und Galle, verdrehte Worte, Ekel und Qual, entstellte Werte, Mach Schluss, zieh’s Messer! Der Wind blies durchs Tal, und es regte sich kein Blatt Ein kalter Wind blies durch das Tal, kein Blatt regte sich Kein Zweig, kein Strauch, kein Halm, kein Schilf regte sich Er pfiff durch Spalten und Ritzen, ließ dumpfe Fürze ab, der Wind Er fluchte und schnaubte, heulte, toste, doch das Land blieb stumm Alles hatte Angst, schon seit sehr, sehr langer Zeit hatte alles Angst Die Glieder am Leib, der höchste Baum, der dünnste Zweig, Versteinert vor Furcht vergaß das Gras zu wachsen, Legten sich die sprießenden Halme flach nieder, Wollte das Schilf aus törichter Scheu nicht mehr rauschen Das Leben wurde da erniedrigt, zum Gespött gemacht Großer Kummer stieg wie Nebel vom Boden auf, Schwebte in Schwaden ziellos zwischen dem Blattwerk, Die Welt trug die Schamesröte auf den Wangen Ob so viel Angst, wie nie in all den Jahrhunderten zuvor Und der Eiswind blies weiter böig durchs Tal Kühlte gar die Knochen des hitzigsten Liebhabers Gefror Tadel an den Zungen zu Zapfen Die Herzen kalt, in allen Räumen raue und bittere Kälte, Bis der Verstand zu einem eisigen Klumpen erstarrte Hier bin ich Hier bin ich Ohne Erbarmen Hier bin ich Mach Schluss mit dieser zehrenden Geschichte Von Geifer und Galle, verdrehten Worten, Von Ekel und Qual, entstellten Werten, Mach Schluss, zieh’s Messer! Dass ich mich brüllend in den Wind stellte War eine Beleidigung für die Vegetation insgesamt Ich, der – mit entblößter Brust – in die frostige Kälte zog, Leugnete und verriet unsere wahre Natur Ein Nestbeschmutzer bin ich, treulos und elitär Ich, der dem Wind den Weg zu einem Erdloch wies, Um dort das Feuer, das die Welt wärmt, zu schüren Ich, der glühende Funken mit bloßen Händen zu Euch brachte Der Nacht und Finsternis in liebliches Morgendämmern wandeln wollte Ein Scheißkerl bin ich, ein Vergewaltiger des Wahren Feigheit ist die warme Decke, unter der wir unruhig schlafen Und Argwohn der Grund für unser kalt-verwirrtes Erwachen Missgünstig und lästernd trotten wir gebückt durch dunkle Tage Während der kalte Wind im Tal freies Spiel hat, Schmieden wir Pläne für einen letzten Mord Auf mein Wort! Ich werde nicht jammern angesichts des Messers Keine Klage kommt angesichts des Messers über meine Lippen Keine Träne wird an so viel Missverständnis verschwendet Was sein muss, muss sein. Auch wenn’s mein eigenes Blut sein muss, Das die Rücken gerade biegt, die Mauern niederreißt. Mein Blut, das sagt: Hier bin ich Hier bin ich Ohne Erbarmen! Hier bin ich Denn Wenn keiner Wenn keiner noch Wissen will, wie alt die Welt ist Wenn keiner Wenn keiner noch Berge besteigen will, um zu sehen Wenn keiner, wenn keiner noch Hören will, wie die Wahrheit klingt Wenn keiner Wenn keiner noch Keiner noch länger dieses Leben verdient

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ENDE EINER LIEBE Theater

Do 26. Juni 2014, 18:00 Uhr Sa 28. Juni 2014, 20:00 Uhr, Artist Talk im Anschluss an die Vorstellung Haus der Berliner Festspiele, Seitenbühne Dauer 130 min In deutscher Sprache

PASCAL RAMBERT

Pascal Rambert, geboren 1962, ist französischer Autor, Regisseur und Choreograf. Seit 2007 ist er Leiter des Théâtre de Gennevilliers / T2G, einem Zentrum für zeitgenössische französische Dramatik. Seine eigenen Gedichte, Theaterstücke und Erzählungen sind in 12 Sprachen übersetzt. Als Regisseur und Choreograf ist Pascal Rambert in Europa, Nordamerika und Asien tätig. Für das Stück „Clôture de l’amour“, das er nun erstmals in deutscher Sprache inszeniert, erhält er 2013 den Autorenpreis des Palmarès du théâtre, ehemals „Molière“. Sein Abgesang auf eine Liebe, 2011 auf dem Festival d’Avignon erstmals aufgeführt, wurde bereits in Moskau und Tokio, in New York, Italien und Zagreb gezeigt und unter anderem mit dem Grand Prix de Littérature dramatique ausgezeichnet. 2013 ist er beim Festival d’Avignon mit „Avignon à vie“ in den Ehrenhof des Papstpalastes eingeladen.

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Mit: Marina Galic, Jens Harzer und dem Kinderchor Canzonetta Regie, Ausstattung: Pascal Rambert Ausstattungsmitarbeit: Christoph Rufer Dramaturgie: Susanne Meister Regieassistenz: Helge Schmidt Souffleuse: Rose Skutnik-Pinckernelle Regiehospitanz: Emily Sophie Klinge Dramaturgiehospitanz: Male Günther Produktion: Thalia Theater Hamburg Deutsche Erstaufführung: 26. April 2014, Thalia Theater Hamburg Aufführungsrechte: S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main Der Originaltext „Clôture de l’amour“ ist bei Les Solitaires Intempestifs erschienen. Deutsche Übersetzung: Peter Stephan Jungk Mit freundlicher Unterstützung von: Institut français Foto: © Patrick Imbert

GESPRÄCH mit Pascal Rambert Monsieur Rambert, ich habe „Clôture de l’amour” als sehr politisch empfunden. Sollte das Theater einen Bezug zur realen Situation der Gesellschaft haben, in der wir leben? Ich interessiere mich als Künstler eher für die ästhetische als für die politische Seite des Theaters. Die Revolution liegt für mich eher darin, wie wir den Gedanken Form geben. Unsere Theaterleitung in Gennevielliers ist sehr engagiert. Die Künstler, die aus der ganzen Welt eingeladen werden – Japaner, Amerikaner, Deutsche und viele andere – stehen den Künstlern, die hier bei Foreign Affairs spielen, sehr nahe. Meiner Meinung nach verändern diese Künstler die Welt viel wirkungsvoller als diejenigen, die behaupten, die politische Welt zu verändern. „Clôture de l’amour” beschäftigt sich nicht mit Themen, wie wir sie laufend in den Nachrichten sehen. Was war Ihr Antrieb, diesen Stoff zu entwickeln? Das Theater ist mein ganzes Leben. Ich habe mit 16 Jahren angefangen, Theater zu machen; seitdem schreibe ich und leite meine eigene Gruppe. In mittlerweile 35 Jah­ ren gab es keinen einzigen Tag, an dem ich nicht geprobt, im Flugzeug gesessen oder irgendwo auf der Welt gearbeitet hätte. Ich höre nie auf zu arbeiten und ich bin immer mit einem neuen Projekt beschäftigt. Aber so etwas wie „Clôture de l’amour“ zu entwickeln bedeutet, darüber nachzudenken, was Thea­ ter ist. Wenn ich an meinen Stücken arbeite, ist die Frage nach dem Wesen des Theaters meistens mein Hauptthema. In „Clôture de l’amour“ geht es um die Trennung eines Mannes und einer Frau. Schaut man aber genauer hin, dann geht es um etwas Wichti­ geres. Es geht darum, wie das Theater heute sein könnte, wie wir diese Kunst weiterent­ wickeln können, die auf sehr einfachen Ele­ menten basiert. Wenn Sie Theater machen, dann haben Sie ein sehr kleines Bühnenbild ohne Video. Alles basiert auf der mensch­ lichen Präsenz und das finde ich sehr, sehr politisch. Worauf es mir in vielen Produk-

tionen ankommt, ist die menschliche Präsenz in ihrer größten Wirksamkeit. Mich interessie­ ren weder Vortäuschung noch geschminktes Theater. Ich beobachte, was es bedeutet, zu leiden, sich zu verlieben, sich nach tiefer Liebe, nach Gefühlen zu sehnen. Das ist sehr, sehr einfach, aber glauben Sie mir, es ist das Schwierigste überhaupt, über den Kern des Menschen zu reden, die Liebe zu zeigen, den Wunsch nach Liebe, die Einsamkeit, die Sehnsucht danach, zu zweit zu sein. Ganz einfache Dinge, aber sie sind für einen Autor und Regisseur ungeheuer schwierig. Die einfachsten Dinge sind immer die schwierigsten. Könnten Sie noch näher auf Ihre Beschäftigung mit dem Wesen des Theaters eingehen? Ich bin auf der Suche nach der einfachsten und dabei stärksten Wirkung auf das Publi­ kum. Auch bei der Inszenierung von „Une (micro) histoire économique du monde, dansée“, einem Stück mit einem Ensemble von 50 Personen auf der Bühne, war das mein Anliegen. Darin geht es um Politik und Wirtschaftsgeschichte und darum, wie wir auf diesen Markt reagieren, mit dem wir nicht klarkommen und von dem wir nicht wissen, ob wir drinnen oder draußen sein wollen. „Clôture de l’amour“ ist mein Vor­ schlag, was zeitgenössisches Theater sein könnte. Manchmal sehen wir Stücke, die uns sehr, sehr alt vorkommen. Aber für mich sind diese Stücke am Ende viel moderner als die­ jenigen, die auf den ersten Blick zeitgenös­ sisch erscheinen. Ich stehe meiner Arbeit und meiner Liebe zum Theater sehr kritisch gegenüber. Jede neue Arbeit ist für mich ein Anlass, meine eigenen Vorstellungen zu hin­ terfragen, und auch die anderer Theater­ künstler. Meine Position ist immer die des Streits. Mit „Clôture de l’amour“ wollte ich zeigen, dass wir etwas sehr Neues mit etwas sehr Altem produzieren können: Zwei Men­ schen auf der Bühne, die einander zuhören, ganz elementar. Das ist für mich als Künstler eine revolutionäre Position.

Sie sprachen von der menschlichen Präsenz. In unserer mediatisierten Welt ist das Theater mit seinen real anwesenden Menschen und dem gemeinsamen Raum per se politisch. Wenn man diesem Paar dabei zuschaut, wie es einander zuhört und diesen schmerzhaften Prozess erduldet, sagt das einiges über unsere Zeit aus, in der so etwas nicht mehr ohne weiteres geleistet wird. Vor allem nicht zwischen Mann und Frau. In der Theatergeschichte findet man weitaus weniger Rollen für Frauen als für Männer. Ich schreibe viel für Frauen und das tue ich sehr gerne. Ich schreibe nicht das, was man Literatur nennt, ich schreibe gesprochene Sprache. „Clôture de l’amour“ ist eine Art Unterhaltung. Es ist kein Roman, sondern es sind Leute, die miteinander reden; das ist das Instrument, das die Sprache strukturiert. Um einmal ein politisches Statement zu machen: In „Clôture de l’amour“ geht es darum, dass wir immer wieder Geschichten von Frauen hören, die von ihren Männern ver­ lassen wurden. Manchmal sagen sie Sätze wie: „Ich komme nie wieder auf die Beine. Werde ich je wieder kämpfen und existieren können?“ Und ich denke dann: „Ja, das kannst du!“ In „Clôture de l’amour“ wird die Figur von Marina Galic durch die Worte der Figur von Jens Harzer völlig zerstört. Aber im Laufe des Stückes sehen wir eine Frau, die sich aufbäumt, genau in dem Moment, wo wir innerlich völlig fertig sind, gesellschaft­ lich und moralisch fertig. Ich will nicht zeigen, dass Frauen in der Welt einen neuen Stellen­ wert brauchen – es hätte auch die umge­ kehrte Geschichte sein können: Eine Frau verlässt einen Mann und wir sehen, wie der Mann taumelt und sich aufbäumt. Der Punkt ist: Auch wenn wir glauben, es ist alles vorbei – und das glaube ich auch für mein eigenes Leben – können wir die Probleme doch über­ winden. Mir sind die Energie und die Kraft des Lebens sehr wichtig. Ich zeige immer Figuren, die am Ende ihre Probleme über­ winden. Daran glaube ich und ich möchte, dass die Leute das Theater mit diesem Gefühl verlassen.

Hier könnte man von einer Übertragung vom Individuum zur Gesellschaft sprechen. In Berlin gab es eine Diskussion über eine gegenwärtige Biedermeier-Atmosphäre. Man hat seine Familie und versteckt sich darin vor dem unbequemen politischen Leben. Die Frauen sind Akademikerinnen, vielleicht sogar promoviert, sie haben zwei Kinder und machen höchstens nebenher ein bisschen Kulturarbeit. Dann geht alles schief, man trennt sich und plötzlich bleibt ihnen nichts mehr. Sie sind zwar Akademikerinnen, aber sie stehen vor dem Nichts. Wie kommen sie wieder auf die Beine? Die Menschen glauben sich in einer Komfortzone sicher, die es letztlich gar nicht gibt. (lacht) Nicht mehr! Diese Komfortzone gibt es nirgends mehr… Ihr Theater berührt die Menschen auf klassische Weise. Ich möchte nicht von Katharsis reden, aber etwas Ähnliches scheint sich abzuspielen. Ich habe das Stück 2010 geschrieben und überall, wo wir es zeigen, unter anderem beim Festival d’Avignon, gibt es Standing Ovations. Wenn wir in Russland oder in Japan auftreten, ist es genauso. In Frankreich gelte ich als sehr polemischer und keineswegs akademischer Künstler. In diesem Stück erkennt das Publikum eine Art Krieg wieder, der seit Jahren herrscht. Ich verstehe nicht viel von Katharsis, darum geht es mir über­ haupt nicht. Eine Sache ist mir besonders in der Arbeit mit Jens Harzer klar geworden: Es ist kein Wettbewerb, kein Zirkus, wo zwei Menschen zwei Stunden lang zuhören und reden. Was die Leute begeistert, sind die Arbeit und die richtig gewählten Worte. Ich habe sieben Versionen des Stücks in der gan­ zen Welt gemacht, die sich sehr ähneln und gleich­zeitig sehr verschieden sind. Zuletzt sah ich mehr als die Geschichte einer Trennung von zwei Menschen, die sich sehr geliebt haben. Es ist eine eigene Kraft. Und diese Kraft ist für mich immer die Arbeit, die ich mit Freude den Künstlern schenke, mit denen ich arbeite.

Sie schneiden schwierige Themen an, hauptsächlich durch Ihre Sprache. Sie erscheint mir sehr zeitgenössisch und berührt uns dadurch anders, als es ein Text mit einem „literarischeren“ Ansatz täte. Ich arbeite viel an der Form, denn meiner Meinung nach liegt das Revolutionäre darin, dass die Form Ausdruck starker Ideen ist. Alle Künstler, deren Stücke in mein Theater in Gennevilliers eingeladen werden, arbeiten an neuen Formen, Toshiki Okada zum Beispiel. Philippe Quesne, der im letzten Jahr bei Foreign Affairs war, war „artiste associé“ in Gennevilliers. Boris Charmatz‘ Einladung zu Foreign Affairs ist sehr wichtig. Form ist auch eine Art von Poesie, und für mich ist Poesie revolutionär. Es ist einfach, eine Geschichte zu schreiben; die Kunst liegt in ihrer Poesie. Die Poesie der Form liegt in ihrer Fähigkeit, geradlinige Strukturen zu erfinden. In „Clôture de l’amour“ gibt es eine sehr starke Struktur dessen, was die Schauspieler tun. Aber sie werden Ihnen bestätigen, dass sie in höchstem Maße frei sind. In meiner Arbeit versuche ich immer, sehr starke Strukturen zu finden, innerhalb derer die Schauspieler arbeiten und in Echtzeit Neues erfinden kön­ nen. Zu Beginn unserer Zusammenarbeit war es schwer für sie, das zu verstehen. Aber vor allem, nachdem sie es auf der Bühne auspro­ bieren konnten, fällt es ihnen schwer, wieder zur herkömmlichen Theaterarbeit zurückzu­ kehren, wo ihnen ein Regisseur sagt, dass sie nur eine bestimmte Tür öffnen, sich auf einen bestimmten Stuhl setzen und den Text so sprechen dürfen, wie er es ihnen vorschreibt. Ich bin zutiefst gegen diese Art von Theater. Ich liebe das Theater zu sehr und versuche es so gradlinig und trocken zu machen wie möglich – und hoffentlich auch so stark. Das ist mein politisches Statement.

Interview: Stefanie Wenner Übersetzung: Elena Krüskemper Transkription: Vera Hölscher

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

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WINNERS & LOSERS

THEATRE REPLACEMENT

Theatre Replacement nennt sich die fortlaufende Zusammenarbeit von James Long und Maiko Bae Yamamoto. Ob sie gemeinsam oder allein arbeiten – stets nutzen sie erweiterte Prozesse, um ihre Performances aus bewusst schlicht angelegten Anfängen zu kreieren. In ihrer Arbeit geht es ihnen um einen genuinen Versuch der Koexistenz. Gespräche, Interviews und Auseinandersetzungen treffen auf die Ästhetik von Yamamoto und Long, was zu authentischen, unmittelbaren und hoffnungsvollen Theatererlebnissen führt. Das Duo entwickelt seine Arbeit kontinuierlich weiter und präsentiert sie auf Tourneen. Zu den Festivals, auf denen die Künstler bereits vertreten waren, gehören das Festival TransAmériques (Montreal), das Magnetic North Theatre Festival (Ottawa & Vancouver), das Freefall Festival (Toronto), das High Performance Rodeo & Enbridge PlayRites Festival (Calgary), das Fusebox Festival (Austin), das Noorderzon Festival (Groningen), das PAZZ Performing Arts Festival (Oldenburg), das Lókal (Reykjavik), das Dublin Theatre Festival, das Aarhus Festival und das INTERsection (Terni). Auch im On the Boards (Seattle) spielten sie bereits.

Theater Deutsche Erstaufführung Do 26. Juni 2014, 23:00 Uhr Fr 27. Juni 2014, 21:00 Uhr, Artist Talk im Anschluss an die Vorstellung

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Sa 28. Juni 2014, 21:00 Uhr

Haus der Berliner Festspiele, Kassenhalle Dauer 90 min

In englischer Sprache

Von und mit: Marcus Youssef & James Long Regie: Chris Abraham Produktionsmanagement: Elia Kirby Licht: Jonathan Ryder Produktion: Theatre Replacement und Neworld Theatre in Zusammenarbeit mit Crow’s Theatre Mit Unterstützung von: Canada Council for the Arts, BC Arts Council Foto: © Simon Hayter

NEWORLD THEATRE Das Neworld Theatre, das im Jahr 1994 von Camyar Chai gegründet wurde, produzierte bis in die späten 90er Jahre hinein eigene Shows, die auf persischen Volkssagen beruhten. Im Jahr 1999 begann das Ensemble, sein Schaffen auf eine zeitgenössischere, eher vom Varieté beeinflusste Arbeit auszudehnen – eine Arbeit, die zugleich in Diversität und Multikulturalität wurzelte, was zum damaligen Zeitpunkt ein relativ neues Phänomen in der professionellen Theaterszene darstellte. In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends lud Camyar Künstler wie Marcus Youssef ein, Neworld als Heimat für ihre eigenen Produktionen in Erwägung zu ziehen. Als Camyar das Ensemble 2005 verließ, wurde Marcus Youssef künstlerischer Leiter. Seit 2005 legt Neworld seinen Fokus auf die kreative Zusammenarbeit mit Künstlern, Ensembles und Veranstaltern, um sowohl die potentiellen Zielgruppen als auch die ästhetische Dimension zu erweitern. Adrienne Wong trat über ihre „PodPlays“, ein Audio-Storytelling-Projekt auf den realen Straßen der Stadt, in Kontakt mit verschiedenen Communities von Vancouver. Im Jahr 2009 tat sich Neworld mit The Electric Company, dem Rumble Theatre und Boca Del Lupo zusammen, um das Progress Lab 1422 in einem gemeinsam genutzten Bürogebäude mit einer 175 m² großen Studiofläche zu gründen. Seit seiner Einrichtung dient das PL1422 als kreatives Zentrum für Künstler aus Vancouver, als Raum für neue Ideen und Praktiken sowie als Modell für Räume, die gemeinschaftlich betrieben werden.Gemeinsam mit dem Duo Theatre Replacement kreierte Neworld „Winners and Losers“, was für Neworld das Debüt auf der internationalen Bühne bedeutete: Die Produktion wurde in Island, Dänemark, Irland und Großbritannien gezeigt, auch in den Vereinigten Staaten und in Deutschland gab es Aufführungen.

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GESPRÄCH MIT MARCUS YOUSSEF UND JAMES LONG Sie haben sich für „Winners & Losers“ aus unterschiedlichen Hintergründen zusammengetan. Inwieweit würden Sie Ihre Arbeit dem klassischen Theater zuordnen? Marcus Youssef: Ich glaube, einer der Gründe für unsere Zusammenarbeit war, dass Jamie und seine Company Theatre Replacement häufig eher konzeptuelle Arbeit machen und meine Gruppe Neworld Theatre eher von einer klassischen Perspektive in Bezug auf Autorenschaft und Dramaturgie ausgeht. Wir fanden es beide spannend, diese Arbeitsweisen miteinander zu konfrontieren. Ich glaube, diese Produktion ist ein interessantes Hybrid aus etwas recht klassisch Strukturiertem – unser Regisseur Chris Abraham vom Crow‘s Theatre aus Toronto ist ein bekannter kanadischer Regisseur, der mit klassischen und eher tra­ditionellen Formen arbeitet – und etwas ziemlich Konzeptuellem. Ein Spiel ist der Kern der Arbeit, sie kann sich jederzeit verändern und lebt zwischen uns, den Darstellern. James Long: Schauen Sie die klassischen Themen des Theaters an – Interessen, Beziehungen usw. – sie sind die Grundlagen des Stücks. Die Interessen verschärfen sich im Laufe des Stücks, die Beziehung wird zunehmend angespannt und fokussiert. In dieser Aufführung funktionieren viele Grundwerte des Theaters. Ist es ein Spiel oder ein Narrativ? James Long: Wenn Sie es als eine klassische narrative Struktur ansehen, nach dem Motto „eine Katze sitzt auf einem Baum fest und im Rest der Geschichte geht es darum, die Katze aus dem Baum zu befreien“, dann ist unsere ‚Katze im Baum‘, dass wir beschlossen haben, ein Spiel zu spielen. Und dann sehen wir 90 Minuten lang zu, wie sich das Spiel langsam auflöst. Das Spiel beginnt, sich selbst zu spielen und wir haben keine Kontrolle mehr darüber. Marcus Youssef: Am Anfang macht es noch Spaß und dann wird es, wie James gesagt hat, zur narrativen Grundannahme, dass es immer weniger Spaß macht und gefährlich wird.

„Gefährlich”, das ist eine interessante Kategorie. Für wen ist es gefährlich? Marcus Youssef: Ich glaube, es wird für die Figuren Marcus und Jamie gefährlich. Eine der grundlegenden Fragen dieses Stücks – sowohl für das Publikum als auch für uns – ist die, wie weit Marcus und Jamie Figuren sind und wie weit ‚Marcus und Jamie‘ Marcus und Jamie sind. Sie sind beides gleichzeitig; diese Grenze wird im Spielen aktiv verwischt. Das heißt, dass es ganz bestimmt für die Figuren gefährlich wird und manchmal auch für uns als Schauspieler. Wir spielen das Stück jetzt seit ein paar Jahren und sowohl der Stil als auch der Inhalt sind ganz schnörkellos und einfach. Wir sagen Dinge zueinander, sowohl improvisierend als auch im Skript, die Freunde normalerweise nicht anschneiden, zumindest nicht in Kanada. Damit entsteht für das Publikum ein echter Eindruck von Gefahr: „Ach du Scheiße, das besprechen die jetzt miteinander und ich sitze hier neben meinem Freund und meiner Mutter. Und das sind genau die Dinge, über die wir nicht reden, weil das riskant wäre.“ Wenn man an Konkurrenz denkt, an Kapitalismus, ans Gewinnen um jeden Preis, Überleben oder was auch immer – in diese gefährlichen Bereiche wollten wir uns hineintreiben. Wie ist das Theater für die Gesellschaft relevant? Wie ist Ihr Theater für die Gesellschaft relevant? Und noch einen Schritt weiter: Ist es notwendig, dass das Theater für die Gesellschaft relevant ist? James Long: Das hoffe ich, denn für diesen Weg haben wir uns entschieden. Unterhaltung muss ein Stück weit relevant sein, weil wir auch staatliche Gelder annehmen. Aber ich würde sagen, dass diese Produktion besonders relevant ist, denn es geht um eine Frage, die bei so vielen alltäglichen Unterhaltungen mitspielt. In Kanada – und ich glaube auch in Deutschland – ist es etwas Unaus­ gesprochenes: Ich nehme an, auch hier unterhalten Sie sich nicht mit Ihren Freunden darüber, wieviel sie regelmäßig verdienen. Ja, das ist hier genauso.

James Long: Und ich glaube – Marcus ist da nicht ganz meiner Meinung –, dass Konkurrenzdenken angeboren ist. Wir können nicht anders, als miteinander zu konkurrieren. In diesem Stück wird dieses Thema auf die Bühne gebracht. Ich finde, in der Art und Weise, wie Konkurrenz und Themen wie Privilegien und Reichtum hier aufkommen, schwingt die Unmenschlichkeit dieser Realität mit; in diesem Gespräch gibt es eine reale Gewalt, auf die wir uns innerhalb der Auf­führung einlassen. Das gibt es nicht allzu oft. Diese Reaktion haben wir jedenfalls schon von einigen Zuschauern gehört; das Stück hat manche Leute sehr, sehr, sehr aufgebracht, weil es einen Nerv trifft. Finden Sie, Theater sollte politisch sein? Marcus Youssef: Ich bin derjenige mit dem offensichtlich politischen Background. Ich glaube nicht, dass es politisch sein sollte, aber ich weiß, dass mich das am meisten interessiert. Ich weiß, dass, wenn ich eine künstlerische Arbeit sehe, ich etwas sehen möchte, dass ich nicht allzu leicht in eine Schublade legen kann und denken, das ist die Lösung. In Kanada gibt es sicher ein Publikum, das so etwas lieber nicht erleben möchte. Aber es gibt auch Leute, die sich auf Kunst einlassen, um sich provozieren oder herausfordern zu lassen, wenn es um Fragen geht, bei denen sie sich noch nicht festgelegt haben oder die sie noch nicht verstanden haben. James Long: Ich finde, es kann auch Skurriles geben, man darf im Theater auch Spaß haben. Aber ich finde es auch befriedigender, wenn ich beim Rausgehen Probleme und Fragen habe. Gob Squad waren gerade mit „Kitchen“ und „Super Night Shot“ hier in Vancouver – und beide Stücke haben mir keine Probleme bereitet, aber ich hatte viel Spaß und das bleibt genauso wertvoll. Wie geht das zusammen, einerseits vom Staat unterstützt zu werden und andererseits provokante Fragen über die Gesellschaft zu stellen, in der Sie leben und die Ihnen ja schließlich auch Geld gibt?

Marcus Youssef: Ich finde es faszinierend, dass man in Kanada garantiert Zuschauer anlockt, wenn man behaupten kann – ob durch echte Beweise oder auch nur Indizien – dass die Regierung wegen des Inhalts eines Stückes ihre Unterstützung zurückgezogen hat. Wenn Sie das veröffentlichen, haben Sie volle Häuser; wenn die Leute den Eindruck haben, es herrsche Zensur und Kontrolle, wird es damit nachdrücklich und authentisch. Aber meiner Meinung nach liegt die echte Tücke der Förderung darin, dass die Förder­ institutionen uns coachen wollen hinsichtlich der Vorstellungen von Innovation, Relevanz oder Engagement; diese Sprache, die wir konstruieren um die Frage herum, was unsere Arbeit lohnend oder nicht lohnend macht. Wir verknoten uns alle, um uns in diese Sprache einzupassen. Genauso müssen diese Leute sich ständig neue Argumente aus­ denken, um die Gelder zu rechtfertigen, die sie als Förderinstitutionen bekommen – und dann müssen sie sich verbiegen, um diesen Argumenten zu entsprechen. Sollten wir kritische Fragen also besser nicht anschneiden, weil sie sonst wieder in die Gesellschaft eingeschrieben werden? Helfen wir mit dieser Art von künstlerischer Arbeit dem System nicht, zu funktionieren? Marcus Youssef: So wie ein Sicherheitsventil? Im Sinne von: Es geschieht im Theater und deshalb findet der kritische Diskurs eigentlich nicht statt? Ja, wie ein „als ob“. Marcus Youssef: Das ist interessant. James Long: Also sind wir Teil des Problems. Die Leute kommen ins Theater und werden mit dieser Frage konfrontiert und haben den Eindruck, dass wir diesen Streit für sie ausfechten, dass sie also nicht darüber reden müssen. Wie eine schlechte Form der Katharsis. Marcus Youssef: Das ist eine wirklich spannende Frage, über die ich ein bisschen

nachdenken muss. Ich kann nur soviel sagen: Warum will ich mich zwei Jahre meines Lebens mit dem beschäftigen, woran wir arbeiten? In diesem Fall war es diese Frage, die zwischen Jamie und mir aufkam. Was auch immer die gesellschaftliche Funktion sein mag, es war eher etwas Egoistisches, im Sinne von: „Ich möchte gerne mit Jamie ein paar Jahre um diese Sache ringen“. Die Frage ist aber gut, weil ich tatsächlich eine kleine Stimme in meinem Kopf höre, die sagt: „Oh, du bist ja so clever, du bist ja so klug, du bist ja so ein guter Mensch, dass du dich mit dieser Sache rumschlägst, mit der sich deiner Meinung nach die anderen nicht rumschlagen.“ Ich klopfe mir bei diesen Gedanken selbst auf die Schulter und lobe mich ausgiebig, also ist es wirklich eine spannende Frage.

und Nicht-Kontrolle hinterfragt werden, das Stück hat ein Leben und eine Dynamik. Ich glaube, das ist grundlegend politisch, denn wenn Sie sich das gegenwärtige Theater der Politik ansehen, wie es in unserem Parlament oder im Bundestag oder in Pressemitteilungen oder im Medienrummel stattfindet, spielt dort die Beziehung zwischen Kontrolle und Nicht-Kontrolle eine wesentliche Rolle. Wir sind mittlerweile in einer Situation, in der die Sprache streng kontrolliert ist und dennoch durch die Medien, durch das Internet jederzeit rasend schnell verbreitet werden kann. Deshalb ist für mich die Frage der Authenti­ zität, wer ist echt und wer nicht, wer sagt die Wahrheit und wer nicht, so enorm wichtig, dass für mich diese Arbeit ein bisschen in dieser Welt lebt.

James Long: Mehr als bei irgendeiner anderen Arbeit, die ich gemacht habe, gehen hier die Leute raus und sagen: „Oh ja, ich habe über das Stück nachgedacht, wir haben beim Essen danach noch ein tolles Gespräch darüber gehabt”, oder „Ich denke immer noch darüber nach” oder „Das kenne ich aus meinem Alltag, dass man etwas zum Sieger oder Verlierer erklärt”.

James Long: Es erscheint vielleicht simpel, aber ich finde es wichtig, dass die Leute unsere Arbeit sehen. Ich bin mir sehr bewusst, dass ich einem möglichst breiten Spektrum an Zuschauern Zugang zu unserer Arbeit verschaffen will, aber ich will auch meinem eigenen künstlerischen Impuls folgen. Vor zehn Jahren war ich noch der Meinung, dass das Publikum keine Rolle spielt. So lange ich als Künstler zufrieden war, war mir das Pub­ likum egal. Aber damit zerschlägt man die eigene künstlerische Wirkung – wenn die Leute die Arbeit nicht sehen, ist sie mir nicht so wichtig. Ich glaube heute mehr an mein Publikum als früher, und ich lege Wert darauf, nett zu ihnen zu sein. Schauen Sie „No Dice“ vom Nature Theatre of Oklahoma an: Das ist eine wahnsinnig abstrakte Arbeit, die dabei großzügig und liebenswürdig bleibt. Der Gedanke der Gastgeberschaft ist in diesem Stück implizit, bis hin zu den Sandwiches und den Getränken. Von der Perspektive des konventionellen Theaters gesehen ist es ein schwieriges Stück – aber was für ein Spaß!

Glauben Sie, dass das Theater die Welt verändern kann? James Long: Kann das Theater die Welt verändern, Marcus? Marcus Youssef: Meiner Meinung nach leben wir in einem ganz klar post-utopischen Klima, deshalb ist dieser Gedanke für uns eher korrupt. Mich interessiert das, was Sie über die Beziehung zwischen Wissen und Nichtwissen gesagt haben, zwischen Kontrolle und NichtKontrolle im Leben dieser Arbeit. Es ist wirklich spannend, wie verschiedene Leute das Stück interpretieren. Leute, die nicht viel Erfahrung mit dem Theater haben, denken, dass der komplette Abend improvisiert ist. Andere, die sich gut mit Theater und Performances auskennen, erkennen besser, wo wir improvisieren und wo nicht, und stören sich deshalb manchmal an der Struktur der Arbeit. Es gibt eine Ebene darin, auf der Kontrolle

Interview: Stefanie Wenner Übersetzung: Elena Krüskemper Transkription: Vera Hölscher

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

Maison Fondée en 1851 à Saumur

BOUVET LADUBAY BRUT

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„WHAT IS THIS HEART ?“ Musik / Performance Uraufführung

So 29. Juni 2014, 21:00 Uhr Haus der Berliner Festspiele, Große Bühne

EIGN AIRS 13.7.14 – Dauer 70 min

Musik: How To Dress Well Arrangements: Minna Choi Violine: Ayumi Paul, Sara Silva Bratsche: Shasta Ellenbogen Cello: Phoebe Scott Choreografie: Brendan Fernandes mit Simon Portigal Tänzer: Robert Kingsbury, Jefferson Arce Rodríguez, Jorge De Hoyos, Simon Portigal, Brendan Fernandes Kostüm: Eckhaus Latta Produktion: Berliner Festspiele / Foreign Affairs Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds Foto: © Zackery Michael

HOW TO DRESS WELL

How To Dress Well ist der Bühnenname des 1984 geborenen amerikanischen Künstlers Tom Krell. Seit 2009 veröffentlicht Krell online kostenlose EPs. Sein Debütalbum „Love Remains“ wurde 2010 in den Vereinigten Staaten von Lefse sowie in Europa und Asien von Tri Angle herausgebracht. Von der Musikrezensions-Website Pitchfork Media erhielt es einen Score von 8,7 und wurde als „Best New Music“ ausgezeichnet. Die Seite Stereogum wertete ihn als eine der „40 Best Bands of 2010“. Das Magazin Spin gab ihm 8 von 10 Sternen und bezeichnete ihn als „ebenso meditativ wie assoziationslastig … [Das Album] beschwört bruchstückhafte Erinnerungen an Shai und TLC herauf.“ Auf Krells Debütalbum „Love Remains“ sind die besten seiner frühen EPs versammelt. Nach seiner EP „Just Once“ – eine Suite aus vier „Suicide Dream“-Songs in Begleitung eines Streicherquartetts – kehrte Krell im Jahr 2012 mit „Total Loss“ zurück. Darüber hinaus arbeitete Krell bereits mit Active Child, Forest Swords, Schlohmo und Jacques Greene zusammen, außerdem coverte er R. Kelly, Elite Gymnastics, Xiu Xiu und Janet Jackson. Sein neues Album „What Is This Heart?“ erschien am 23. Juni 2014.

BRENDAN FERNANDES Im Jahr 1989 emigrierte der Kenianer indischer Abstammung Brendan Fernandes nach Kanada. Er nahm am Independent Study Program am Whitney Museum of American Art teil (2007), zuvor hatte er seinen Bachelor of Fine Arts an der kanadischen York University (2002) und seinen Master of Fine Arts an der University of Western Ontario (2005) abgeschlossen. Landesweite und internationale Präsenz zeigte er unter anderem mit Ausstellungen im Solomon R. Guggenheim Museum, im Museum of Art and Design New York, im Art in General, im Musée d‘art contemporain de Montréal, in der National Gallery of Canada, in der Art Gallery of Hamilton, im The Studio Museum in Harlem, im Mass MoCA, im The Andy Warhol Museum, in der Art Gallery of York University, im Deutsche Guggenheim Berlin, in der Bergen Kunsthall, bei der Manif d’Art: The Quebec City Biennial, bei der Third Guangzhou Triennial und bei der Western New York Biennial in der Albright-Knox Art Gallery. Darüber hinaus war Fernandes häufig als Artist in Residence eingeladen, unter anderem bei der Canada Council for the Arts International Residency in Trinidad and Tobago (2006), bei den Programmen Work Space (2008) und Swing Space (2009) des Lower Manhattan Cultural Council sowie beim Gyeonggi Creation Center des Gyeonggi Museum of Modern Art, Korea (2009) und beim ZKM, Karlsruhe (2011). Im Jahr 2010 war er Finalist beim Sobey Art Award, Kanadas wichtigster Auszeichnung im Bereich der zeitgenössischen Kunst, im Jahr 2013 stand er auf der Shortlist. Kürzlich erhielt er ein Aufenthaltsstipendium von der Robert Rauschenberg Foundation. Fernandes lebt in Toronto und New York.

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GESPRÄCH MIT TOM KRELL Unser Gespräch findet rund einen Monat vor Veröffentlichung Ihres dritten Albums und Ihres Auftritts bei Foreign Affairs in Berlin statt. Wie sieht momentan Ihr Tagesablauf in Chicago aus? Nach dem Frühstück gebe ich am Vormittag Interviews, Medien aus aller Welt rufen mich an oder verabreden sich mit mir auf Skype, um über „What Is This Heart?“ zu sprechen. Nach dem Mittagessen gehe ich in die Bibliothek, um drei bis vier Stunden an meiner Dissertation zu arbeiten. Es folgen Sport, Abendessen, Basketball im Fernsehen und mein Bett, das war’s dann. Und so sieht es gerade original jeden Tag aus. Wie sind die Reaktionen auf Ihr neues Album? Einhellig und sehr gut, was mich natürlich überaus glücklich macht. Beim zweiten Album, „Total Loss“, hatte ich das Gefühl, mich noch viel mehr erklären zu müssen, ich sah mich mit Fragen konfrontiert, die in etwa so lauteten: „Was wollen Sie eigentlich mit Ihrer Musik? Wo ist die Weiterentwicklung?“ Jetzt sind die Fragen wesentlich einfühlsamer, positiver und unterstützender. Könnte das auch etwas mit der Musik zu tun haben, die jetzt viel selbstbewusster als früher klingt? Zwei Faktoren spielen eine Rolle: das Selbstbewusstheit der Musik und die Tatsache, dass der Vorgänger eben „Total Loss“ war und nicht „Love Remains“, mein Debüt. Das war ein sehr merkwürdiges Album, wohingegen „Total Loss“ wesentlich zugänglicher war. Das wiederum hilft jetzt dem neuen Album. War es eine bewusste Entscheidung, „What Is This Heart?“ weniger verschroben anzulegen?

Ich schrieb den ersten Song, der auch das Album eröffnet, „2 Years on (Shame Dream)“ am Südkreuz, in Berlin. Zufälligerweise fand ich in der Wohnung, in der ich wohnte, eine Gitarre und begann zu spielen. Sofort beschloss ich, von nun an mit der Gitarre zu arbeiten, was dem Album eine ganz neue Klangfarbe gab. Bei Foreign Affairs arbeiten Sie nun mit einem Choreografen, mit Tänzern, klassischen Musikern sowie Modedesignern zusammen – was war der Auslöser? Als Ihre Anfrage mich 2013 erreichte, unterhielt ich mich bereits seit ungefähr einem halben Jahr mit dem Choreografen Brendan Fernandes über eine mögliche Zusammen­ arbeit. Wir wollten im PS1 auftreten und überlegten, wie wir die finanziellen Mittel akquirieren sollten und, schwupps, kam eine E-Mail aus dem schönen Berlin! Sie treten ja seit Jahren mit einem konven­ tionellen, wenn auch immer wieder über­ wältigenden Set-up auf: Sie sind der Sänger und Entertainer, hinter Ihnen steht eine Band oder eine Maschine, welche die Musik mehr oder weniger originalgetreu abspielt. Letztlich machen es 90 Prozent aller Popmusiker so. Ungewöhnlich in Ihrem Fall ist eher die enorme Präsenz, die sie mit Ihrer Stimme ausüben. Aber limitiert ist das Ganze schon, oder? Absolut! Wobei ich auch bei einem ‚normalen‘ Auftritt versuche, dem Publikum ein Erlebnis zu bieten, das aus Performance, Bildern und Klang besteht, im Gegensatz zu dem sehr direkten Rock-Modus: „Männer in Jeans auf Bühne spielen Gitarre, fahren mit dem Auto zum nächsten Konzert, spielen Gitarre…“ Ich sehe dieses Projekt also einerseits als fantastische Möglichkeit, von der Schinderei ‚on the road‘ wegzukommen, gleichzeitig sehe ich es

aber auch als logische Fortführung meiner Anstrengungen, größtmögliche künstlerische Kontrolle über die Live-Darbietung zu haben, um dem Publikum etwas Besonderes zu bieten, das mehr als nur ein normales PopKonzert ist. Wie sind Sie auf Brendan Fernandes gestoßen? Wir wurden durch gemeinsame Freunde einander vorgestellt und sind schon seit Jahren befreundet. Wir lebten in den Nuller-Jahren beide in New York und unsere Karrieren nahmen zum selben Zeitpunkt Fahrt auf. Ich interessiere mich für seine Arbeit, er sich für meine, es war nur eine Frage der Zeit, bis wir zum ersten Mal zusammenarbeiten würden. Uns war sehr wichtig, dass der Tanz nicht einfach nur nach ‚Musikvideo‘ aussieht, viel mehr soll das Endergebnis sich so anfühlen, als ob die Tänzer die Musik kreieren! Tänzer als reine Staffage, wie es so viele Bands praktizieren – es gibt kaum etwas Schlimmeres! Mit Minna Choi, die einige Ihrer neuen Songs für den Abend für ein klassisches Instrumentarium arrangiert hat, haben Sie bereits zusammen gearbeitet, richtig? Im Jahr 2011 veröffentlichte ich eine EP namens „Just Once“, um einem Freund zu gedenken, der gestorben war. Gleichzeitig gingen Teile der Einnahmen an MindFreedom. org, eine Organisation, die sich um Menschen mit psychischen Problemen kümmert. Ich bat meinen Manager, einen Arrangeur zu suchen, der für Orchester schreiben kann. Er kannte Minna Choi, die schon für Death Cab For Cutie gearbeitet hatte, aus San Francisco. Wir skypeten, verstanden uns auf Anhieb und arbeiten seitdem zusammen, ihre Kunst­ fertigkeit ist sowohl auf meinem neuen Album als auch auf dem Vorgänger zu hören.

Uns allen war es sehr wichtig, einen Abend zu gestalten, der einerseits einzigartig ist, andererseits aber auch parallel zum ‚normalen‘ How To Dress Well läuft. Man kennt die Musik, vielleicht, mein Album erscheint kurz vor dem Auftritt in Berlin, gleichzeitig hat man die Arrangements so noch nie gehört und wird sie auf Platte auch so niemals wieder hören… Können Sie sich vorstellen, den Berliner Abend weiter in die Welt zu tragen? Ja, ins PS1 oder ins Centre Pompidou, natürlich! Wir haben bereits Angebote von tollen Orten bekommen, obwohl wir nichts weiter getan haben als den Abend zu beschreiben. Haben Sie mal überlegt, nur noch solche Projekte anzugehen und das normale Touren ganz sein zu lassen? Ich verrate Ihnen jetzt mal, was mein wirklich großes Ziel ist: beide Formen des Auftritts, den Club-Gig im Berghain und den Auftritt im Haus der Berliner Festspiele, zu vereinen. Ich muss versuchen, noch mehr Zuschauer zu meinen Club-Gigs zu locken, in Berlin und New York kommen immerhin fast 1000 Menschen, wenn ich live spiele… Wenn ich es schaffe, dass regelmäßig 2000 Leute kommen, dann wiederum bieten sich fast automatisch finanzielle Mittel, mit denen wesentlich elaboriertere Shows auf die Beine ge­stellt werden können, so wie jetzt für Foreign Affairs. Ich denke hier auch an Antony, der genau diesen Pfad eingeschlagen hat. Ich habe vor kurzem auf Tour ein altes Plakat gesehen, wo er mit den Johnsons noch als Vorgruppe für eine Band aufgetreten war, deren Namen heute niemand mehr kennt. Lustig. Heute spielt er im Opernhaus von Sydney. Was macht Ihre Doktorarbeit?

Oh! Ich arbeite dran. Tun Sie das, weil Sie angefangen haben zu studieren und das jetzt entsprechend abschließen wollen, oder tun Sie das auch, um eine Berufsalternative zu haben, falls die nächste Platte keine einzige Einheit verkauft? Auch hier ist mein großer Traum, beide Pfade, Philosophie und Musik, zu hybridisieren, sie zusammen zu bringen. Es gibt große Kunsteinrichtungen in Chicago, Vancouver, ach, überall auf der Welt, in denen junge Menschen sich mit der Geschichte der Philosophie beschäftigen, gleichzeitig aber auch Interesse an Musik haben – wenn ich hier also meine beiden Hintergründe entsprechend einsetzen könnte, das wäre schon toll! Worum geht es in Ihrer Doktorarbeit? Um den Strang des Nihilismus und die Möglichkeit nicht-nihilistischer Metaphysiken bei Jacobi und Hegel. Jacobi war der erste Philosoph, der, nach einem portugiesischen Dichter aus den 1760er Jahren, das Wort ‚Nihilismus‘ benutzte, 1799 war das. In meiner Dissertation geht es letztlich um das komplette philosophische Gebilde Jacobis und dessen Einfluss auf Hegel…

so baten sie und Mike Eckhaus mich, einen Song für ihr Lookbook-Video zu schreiben. Die Vorgabe war sehr ungewöhnlich: Ich bekam eine 5 Seiten lange Liste mit Wörtern und Zitaten, auf die ich spontan reagieren sollte. Das Endergebnis war toll, der Film sah sehr gut aus, deswegen wollte ich sie unbedingt in Berlin dabei haben. Sie werden Uniformen für die Musiker und die Tänzer herstellen, die einerseits sehr hübsch, andererseits sehr merkwürdig aussehen. Mich interessiert an ihnen, dass sie wiederum sich anscheinend sehr wenig für Trends interes­ sieren und einen überaus idiosynkratischen Stil haben. Man könnte auch sagen, dass Ihr neues Album wiederum sehr untrendig und sehr nach Tom Krell klingt. Es ist wohl so, dass sowohl Eckhaus Latta als auch ich durch bestimmte Zufälle Tropen finden, Figuren, Ausdrücke, die uns faszinieren, an denen wir festhalten, mit denen wir uns über lange Zeiträume hinweg beschäf­ tigen. Die Arbeit kommt aus uns heraus, sie ist frei und neuartig und nicht kalkuliert und am Reißbrett entworfen.

… was uns wiederum zum New Yorker Designerduo Eckhaus Latta bringt, die sich um die Kostüme für den Abend gekümmert haben. Haha, genau! Vor ein paar Jahren freundeten wir uns über das Internet an. Ich fand ihre Bekleidung faszinierend, ich hatte zum ersten Mal in einem Interview-Magazin namens „Bad Day“ über sie gelesen, sie mochten meine Musik, manchmal kann sowas ja ganz schnell gehen… Zoe Latta berichtete mir, dass sie während der Gestaltung einer ihrer letzten Kollektionen „Total Loss“ hörten und

Interview: Martin Hossbach

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

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PLEASE, CONTINUE (HAMLET)

YAN DUYVENDAK

Yan Duyvendak, geboren in Holland, studierte an der École supérieure d’art visuel in Genf und lebt in Genf und Marseille. Seit 1995 ist er als Performance-Künstler tätig. Seine Performances wurden u.a. aufgeführt an der Fondation Cartier in Paris („Soirée Nomade“, 1995), am Festival for performing arts EXIT, Helsinki (2001), an der Art Unlimited Basel (2002), am Museo Reina Sofia de Madrid („Don’t Call It Performance“, 2003), an der Gwangju Biennale (2004), am Image Forum, Tokio (2005), an der Ménagerie de verre, Paris (2006-2009), am Vooruit, Gand (2007), am Festival d’Avignon (2008), sowie am Theaterspektakel Zürich (2009). Seine Werke im Bereich Video sind inzwischen Bestandteil zahlreicher öffentlicher und privater Sammlungen, etwa am Musée des Beaux-Arts de Lyon sowie am Museum für Kommunikation in Bern. Yan Duyvendak wurde drei Mal in Folge mit dem Swiss Art Award ausgezeichnet (2002, 2003, 2004), sowie u.a. mit dem Namics Kunstpreis für Neue Medien (2004) und dem Network Kulturpreis (2006) geehrt. Im Jahr 2010 erhielt er die prestigeträchtigste Auszeichnung für Gegenwartskunst in der Schweiz, den Meret Oppenheim Preis. Mehrere Artist in Residence-Stipendien führten ihn nach Paris (Cité des Arts), Berlin (Atelier Schönhauser) und Kairo (Swiss Artistic Studio, Pro Helvetia, 2007, 2008, 2009).

Theater

Mo 30. Juni 2014, 19:00 Uhr Di 1. Juli 2014, 19:00 Uhr Haus der Berliner Festspiele, Seitenbühne

ROGER BERNAT

Dauer 180 min In deutscher Sprache Mit Hamlet: Maximilian Brauer Ophelia: Ana Berkenhoff Gertrude: Monica Budde sowie Fachleuten der Berliner Strafgerichte

Roger Bernat studierte Regie und Dramaturgie am Institut del Teatre in Barcelona. Zum Studienabschluss im Jahr 1996 erhielt er den „Premio extra­ ordinario 1996“. Zwischen 1997 und 2001 gründete und leitete er zusammen mit Tomàs Aragaydas das General Elèctrica, ein kreatives Zentrum für Tanz und Theater in Barcelona. Als Autor und Regisseur erarbeitete er die Stücke „10.000 kg“ (Spezialpreis der Kritiker 96/97), „Confort doméstic“, (Preis der Theaterkritik 97/98), „Album“, „Trilogie 70“, „Bons gens“, „LALALALALA“, „Amnèsia de fuga“, „Tout est parfait ou Das Paradies Experiment“. Im Bereich Video führte er Regie bei Werken wie „Polaire“, „la Tribu“, „Vero ou Ce que chacun sait mais personne n’ose dire“. Zurzeit ist er auf Tournee mit „Domini Public“, „Le sacre du printemps“, „Pending Vote“ und „Please, Continue (Hamlet)“.

EIGN AIRS 13.7.14 –

Konzept: Yan Duyvendak & Roger Bernat Bühne in Zusammenarbeit mit: Sylvie Kleiber Produktionsmanagement: Nataly Sugnaux Hernandez Administration: Catherine Cuany Kommunikation: Ana-Belen Torreblanca Technik: Gaël Grivet Übersetzung Strafakte: Sonja Korspeter, Martin Striegel Juristische Beratung: Hans Korspeter Produktion: Dreams Come True Genève Koproduktion: Le Phénix – Scène nationale de Valenciennes / Huis a/d Werf Utrecht / Théâtre du GRÜ Genf Residencies: Montévidéo, Marseille, Le Carré / Les Colonnes, Scène conventionnée, Saint-Médard-en-Jalles / Blanquefort Mit Unterstützung von: Ville de Genève / République et canton de Genève / Pro Helvetia Fondation suisse pour la culture / Migros pour-cent culturel / Loterie Romande / Ministerio de Cultura-INAEM / Le Nouveau théâtre de Montreuil – centre dramatique national / CORODIS Mit herzlichem Dank an alle Mitwirkenden, die Pressestelle der Berliner Strafgerichte und die Rechtsanwaltskammer Berlin.

Interview mit Yan Duyvendak

Yan Duyvendak, Sie touren mit „Please, Continue (Hamlet)“ derzeit nach Lausanne, nach Wien und nach Deutschland. Müssen Sie das Stück für jedes Land anpassen, weil das Gerichtssystem anders ist? Wir übersetzen den Text der Strafakte jedes Mal in die Sprache des Landes und dann be­arbeiten wir ihn mit Juristen – meistens sind das Anwälte, Staatsanwälte und Richter. So passen wir den Stoff für jedes Land an, das ist sehr viel Aufwand, aber es ist auch sehr lehrreich. Der Ablauf, wie viele Geschworene oder Schöffen es pro Land gibt, ist sehr unterschiedlich, zum Beispiel sind es in Wien zwölf Geschworene und in Berlin nur zwei. Das heißt, dass Sie jetzt Spezialist für die verschiedenen Rechtssysteme sind. Ein Beispiel: In der Schweiz gibt es seit 2012 keine öffentliche Jury mehr, aber die Juristen, mit denen wir gearbeitet haben, kannten das System noch, und wir haben es für unsere Performance noch einmal revitalisiert. Der Aspekt, dass Teile des Publikums als Geschworene am Prozess beteiligt sind, ist also zentral für Ihre Performance? Ich empfange die Zuschauer am Anfang der Performance, gebe ihnen Notizbücher und sage ihnen, sie sollen sich Notizen machen, weil sie am Ende des Prozesses als Schöffe ausgewählt werden können. Das ist wie ein Vertrag, den ich mit jedem schließe. Und weil alle wissen, dass sie am Ende ausgewählt werden können, hören sie sehr intensiv zu. Es ist zwar ein beschleunigtes Gerichtsverfahren, aber es bleibt ein Gerichtsverfahren, und da gibt es viel Leerlauf, manchmal geht es nur um Details, die viel ausmachen. Es wäre eigentlich nicht so spannend – wenn man nicht den Druck hätte, dass man eventuell am Ende selbst entscheiden muss, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht. Gerichtsverfahren sind offenbar per se auch faszinierend: Es gibt in Deutschland Menschen, die setzen sich einfach in einen Prozess, um zuzuhören – die Verfahren sind ja zumeist öffentlich. Alle kennen die amerikanischen Serien und Gerichtsfilme – und benutzen daher vor Gericht Ausdrücke, die es hierzulande gar nicht gibt, ‚Euer Ehren‘ zum Beispiel, oder ‚Einspruch‘. Aber es kommen auch viele Juristen, oder Menschen, die selbst schon mal als Schöffe gearbeitet haben – wer immer mit der Gerichtswelt in Berührung kam, ist davon sehr

bewegt. Als wir angefangen haben, uns mit diesem Thema zu befassen, haben wir uns einen Dokumentarfilm angesehen, und da gab es eine Dame, die erzählt hat, dass sie, bevor sie Geschworene war, immer dachte, dass die Urteile viel zu leicht seien und seit sie Geschworene war, findet sie alle Urteile viel zu hart. Und wir dachten: Wenn uns das gelingt, dass man sich Gedanken macht, wie würde ich urteilen, dann wäre das super. Hat sich Ihre Haltung gegenüber der Justiz durch Ihr Projekt geändert? Meine Meinung der Gerichtswelt gegenüber hat sich tiefgreifend verändert, von sehr kritisch zu ziemlich respektvoll. Am Anfang waren wir geprägt durch die Dokumentarfilme von Raymond Depardon, der eine Gerichtswelt zeigt, die sehr kalt und steril ist und sehr grausam sein kann. Aber jetzt waren wir in so vielen Ländern, und ich habe gesehen, dass die Justiz überall versucht, sich dem Leben anzupassen. Die Menschen, die an unserem Projekt mitgewirkt haben, machen sich alle Gedanken darum, wie man das Rechtssystem verändern kann. Alle sind sich einig, dass Gefängnisse nicht funktionieren und dass es keine ideale Justiz gibt. Sie finden es völlig okay, dass bei uns an verschiedenen Abenden unterschiedliche Urteile gefällt werden, weil sie wissen, dass es eine menschliche Justiz ist. Es ist keine exakte Wissenschaft. Gab es Widerstände von Seiten der Justiz gegen Ihr Projekt? Es hat an mehreren Orten Probleme gegeben. In Zürich hat der Oberste Richter gesagt, er will es verbieten. Irgendwie ist es uns dann trotzdem gelungen, und am Ende waren die Echos sehr positiv, und so ist es eigentlich an allen Orten. Es gibt in Deutschland eine Tradition des Doku­mentartheaters – Rimini Protokoll, die mit den „Experten des Alltags“ arbeiten, zum Beispiel, oder Milo Rau, der reale Gerichts­ prozesse nachstellt, in seinen „Moskauer Prozessen“. Fühlen Sie sich dieser Tradition verbunden? Dokumentartheater beschäftigt mich schon, und insbesondere die Arbeit von Milo Rau interessiert mich, aber dort geht es immer um das spezifische Verfahren, den Einzelfall. Wir wollen eher die Infrastruktur zeigen. Die Experten bei uns machen zwar ihre Arbeit, aber sie agieren in einer Fiktion – es ist und bleibt „Hamlet“. Die Distanz zu ihrer Arbeit, die sie durch diese Fiktion bekommen, hilft ihnen

so vollständig wie möglich über alle Boote zu reden, die sinken. Es gibt bei Foreign Affairs in diesem Jahr den „Focus: Empowerment“, in dem es um gesell­ schaftliche Formen des Veränderns und der Teilhabe geht. Aktivisten wie John Jordan sagen, dass sie nicht mehr wissen, was sie überhaupt noch verändern sollen.

und auch dem Publikum, sich weniger für den realen Fall zu interessieren und mehr dafür, wie die Justiz funktioniert. Auch die Schauspieler müssen jeden Abend improvisieren, weil sie jedes Mal auf neue Juristen treffen. Wie proben Sie mit ihnen?

Ich bin nicht so pessimistisch: Das Projekt, das ich nach dem Musical machen möchte, ist eine fiktive App, die man im Theater kaufen kann, in den Institutionen, die uns einladen. Da gibt es Mikroveranstaltungen wie z.B. Selbstverteidigungskurse im Theater. Oder man wird aufgerufen, an einem bestimmten Tag in eine Shopping Mall zu gehen und dort eine transparente Plastiktüte mit einem Kleidungsstück drin auf den Boden zu legen. Wenn eine Person das tut, ist es komisch. Wenn fünf Personen das machen, dann wird es verdächtig. Wenn hundert Personen das machen, dann haben wir ein Problem.

Wir haben ja für jedes Land andere Schau­ spieler, damit es so aussieht, als ob sie wirklich vor Ort leben könnten. Ich arbeite normalerweise einen Tag mit ihnen, wir zeichnen den Grundriss der Wohnung auf den Boden und stellen die 48 Stunden um den Mord herum nach. Aus dieser Erinnerung heraus können sie alle Fragen vor Gericht beantworten. Ich sage den Schauspielern aber auch: Sie müssen im wörtlichen Sinne ein Spiel spielen – sie müssen gewinnen wollen. Das heißt, sie setzen alle schauspielerischen Fähigkeiten ein, um das Publikum zu überzeugen, dass sie Recht haben.

Nervt es Sie manchmal, dass Sie „nur“ im Theater arbeiten, dass es nur Spiel ist?

Sie haben sich einmal auf das antike Theater als politische Bühne bezogen. Inwieweit ist Ihr Theater ein politisches Theater?

Die Frage ist, ob man mit Theaterperformances andere Leute erreicht als die TheaterLeute, die sowieso schon gewonnen sind. Ich habe die Hoffnung, dass es uns gelingt, Leute ins Theater zu holen, die normalerweise nicht kommen. Vor kurzem waren wir in den Banlieues von Paris, es waren kleine Strukturen, die uns gesagt haben, dass sie zwar weder Mittel noch Leute haben, um es zu organisieren, es aber trotzdem zeigen wollten. Und wir dachten „Okay, da gehen wir hin.“ Und es war Horror, weil nichts funktionierte. Aber die Leute, die kommen, sind keine Profis, es ist ein richtiges Publikum. Das finde ich spannend.

Politisch meint für mich Polis, die Stadt. Wie lebt man zusammen in einer Stadt? Alles, was ich im Theater mache, orientiert sich daran. Das ist sehr politisch, weil wir diesen Austausch mit dem Publikum teilen, wir lassen das Publikum aktiv darüber nachdenken. Das erleben wir auch bei „Please, Continue (Hamlet)“: Die Leute sagen nachher öfters, dass sie während dieser drei Stunden fünf Mal tiefgehend ihre Meinung verändert haben. Gibt es jenseits der Justiz ein anderes Teil­ system unserer Welt, über das Sie gern arbei­ ten würden?

Sie haben „Please, Continue (Hamlet)“ gemeinsam mit Roger Bernat entworfen. Wie sind Sie zusammen gekommen für das Projekt?

Ich bereite ein Musical vor, für nächstes Jahr. Es basiert auf der Idee, dass ich mir vorstelle, ich sei ein Violinist auf der Titanic. Das eiskalte Wasser steht mir schon bis zu den Knien, ich weiß, dass das Boot untergehen wird, aber ich spiele weiter, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll. Ich glaube, dass dieses Gefühl ziemlich verbreitet ist, dieses Boot, das sinkt, ist ein Bild für ganz viele Elemente, zum Beispiel die subventionierte Kultur oder die Ökologie, die Ökonomie oder die Welt überhaupt.

Ich habe in Barcelona gelebt und habe Rogers Arbeit gekannt, als er noch seine Theatergruppe hatte, da gab es immer schon sehr interessante Beziehungen zum Publikum. Dann habe ich ihn gefragt, warum wir nicht was zusammen machen, und er hat zugesagt. Die Produktionszeit war sehr spannend: Wir haben ganz viel ausprobiert, nichts hat funktioniert. Wir haben probiert, Texte der Justizwelt ins Theater zu bringen und sie vom Publikum beurteilen oder spielen zu lassen. Es ging immer total schief, es war wie eine Telerealität. Zweieinhalb Monate vor der Premiere waren wir hoffnungslos und haben uns gefragt, ob wir nicht versuchen sollten, statt der Realität in die Welt der Fiktion lieber die Fiktion in die Wirklichkeit zu bringen. Die Justizwelt

Oder die EU beziehungsweise Europa. Genau, oder der Rechtsstaat. Meine Idee ist, ein Musical zu machen, in dem die Texte aus der Wirklichkeit kommen, wahrscheinlich verwenden wir einfach Nachrichtentexte. So wie es jetzt aussieht, werden wir versuchen,

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nach­zustellen bringt nichts, sie ist so poliert und ausgearbeitet. Sie ist so interessant, warum zeigen wir nicht, wie sie ist? Wenn Sie jetzt noch mal auf die Anfänge zurückblicken: Wie hat das Stück sich verändert?

Es hat ein paar Anpassungen gegeben, aber der Stoff hat sich nicht verändert. Er ist verbessert worden, aber wir versuchen, die Strafakte so offen wie möglich zu halten, damit es wirklich von einem Freispruch bis zur Höchststrafe gehen kann. Das heißt, dass Sie keinen Einfluss nehmen bei der Auswahl der Juristen? Es ist ein Dispositiv, eine Maschine. Alle, die im Saal sind, sind in dieser Maschine drin, die Maschine läuft und alles, was passiert, gehört zu dieser Maschine. Es gab schon Staatsanwälte, die eindeutig extrem rechts waren, die auch ihre Meinung zu Ausländern geäußert haben. Ich hatte Angst, dass man meint, ich würde das denken. Aber die Maschine ist so klar, man versteht sofort: Das ist diese Person, die das sagt, in dieser Maschine. Gibt es ein Justizsystem, das Sie besonders gut oder schlecht finden? Oder funktionieren sie alle gleich gut? Ich finde es spannend, die Unterschiede zu sehen. Es hat z.B. in Holland nie eine öffent­ liche Jury gegeben. Da ist es so, dass alles über Akten läuft, alles muss im Vorhinein aufgezeichnet werden, die Zeugen kommen nie zu Gericht, nur der Angeklagte ist da und wird konfrontiert mit dem geschriebenen Material. Die Niederländer finden offenbar, dass es zu unkontrollierbar wäre, wenn man auf das zählen müsste, was jemand vor Gericht sagen wird. Wenn aber alles aufgeschrieben ist, ist alles klar, dann kann man urteilen. Interessant. Ja, interessant, aber mein Gott, wie ist das trocken, hart und unmenschlich. Gab es einen Abend, der Sie besonders über­ rascht hat?

Publikum hat nichts gemerkt und sie hat ihre Arbeit gemacht. Man fragt sich, ob sie das immer so macht.

Das hat man mir danach bestätigt. Interessant war auch, dass vor kurzem, nach mittlerweile drei Jahren, ein Anwalt in seinem Plädoyer während des Stücks darüber spricht, was in der Strafakte alles nicht funktioniert. Zwischen den Fotos und dem Grundriss der Wohnung gab es Widersprüchlichkeiten. Ich dachte: „Mein Gott, was sagt er da!“ Dann habe ich die Strafakten ans Publikum ausgeteilt und habe selbst in eine reingeschaut – und dachte nur: „Der hat ja Recht! Das geht nicht! Der Fall ist unmöglich!“ Auf der einen Seite gibt es das System, die Maschine, das differenzierte Gerichtssystem. Und auf der anderen Seite gibt es jeden Abend die persönliche Begegnung mit einem individuellen Menschen. Was ist stärker? Sehen Sie mehr System oder mehr Einzelcharakter? Es ist beides. Ich finde es immer schön, wenn es Anwälte sind, die keine guten Schauspieler sind, die sich auf der Bühne nicht gut bewegen, die sich nicht wohlfühlen und sehr gestresst sind, die nicht gut reden können, keine gute Methodik und eine sehr schwache Stimme haben. Die aber alle Argumente haben und dann trotzdem gewinnen. Dann siehst du, dass das die Gerichtswelt ist, dass es nicht nur Theater ist, nicht nur eine Frage von… …wer die beste Show hat, gewinnt. Genau, zum Glück! Sie haben jetzt schon so viele Vorstellungen gehabt: Können Sie voraussehen, wie der Abend ausgeht? Nie! Das sagen die Anwälte selber auch, du weißt es nie. Du kannst wie ein Gott dein Plädoyer vorbringen, du kannst alle Argumente haben, du weißt aber nie, was hinter diesen Türen passiert. Es gibt Orte, an denen die Leute traditionell gegen Autorität sind. Das hat dann den perversen Effekt, dass die Richter wissen, dass die Jury probiert herauszufinden, welche Meinung der Richter hat, um dann das Gegenteil zu tun. Weshalb die Richter dazu übergehen, die entgegengesetzte Meinung vorzuspielen, um das zu erreichen, was sie wollen. Das ist wirklich pervers, dann merkt man, dass das System nicht funktioniert.

Jeder Abend ist total anders. Normalerweise müssen die Teilnehmer zwei Stunden vorher kommen, damit alles vorbereitet werden kann. Einmal ist eine Richterin nicht gekommen, ich habe sie angerufen und habe Nachrichten hinterlassen, aber sie kam einfach nicht. Sie ist dann fünf Minuten nach Spielanfang gekommen, stockbesoffen. Ich sagte zu ihr: „Kein Mikrofontest, auf die Bühne, los!“ (lacht) – Interview: Christian Tilmann wie Gena Rowlands in „Opening Night“ – und: sie war super! Das Ding ging vier Stunden, das Transkription: Vera Hölscher

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

Maison Fondée en 1851 à Saumur

BOUVET LADUBAY BRUT

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LOIRE



MAGNIFICAT/ REQUIEMASZYNA

Theater

Do 3. Juli 2014, 20:00 und 22:00 Uhr

Fr 4. Juli 2014, 22:00 Uhr, Artist Talk nach der Vorstellung Sa 5. Juli 2014, 22:00 Uhr

EIGN AIRS 13.7.14 –

Haus der Berliner Festspiele, Seitenbühne

In polnischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Konzept, Libretto, Regie: Marta Górnicka Partitur: IEN Choreografie: Anna Godowska Literarische Konsultation: Agata Adamiecka Beratung Chorleitung: Marta Sulewska Bühne: Anna Maria Karczmarska Inspizienz: Marek Susdorf Produktion: Instytut Teatralny im. Zbigniewa Raszewskiego

Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes Mit Unterstützung von: Polnisches Institut

Alles hat mit dem Wunsch begonnen, den Chor für die Bühne und für die Frauen wiederzugewinnen. Ein Theater ohne Chor erscheint mir tot. In dem Maße, in dem das Theater sich auf das Individuum konzentriert hat, hat es ein gewisses Maß an Tragik verloren und aufgehört, mit dem Zuschauer zu kommunizieren. Ich wollte eine neue Form des Theaters entwickeln und fühlte, dass man bei denen ansetzen sollte, die am wenigsten Stimme besitzen – dem Chor der Frauen. Der Chor sollte auf der Bühne der einzige Protagonist sein. Ein Chor, der nicht länger eine leere Menge, eine Masse ohne individuelle Eigenschaften sein sollte, sondern eine Ansammlung von Individuen, „eine Ansammlung von unterschiedlichen Teilchen“.

Die Rolle eines politisch-gesellschaftlichen Kommentars ist für uns selbstverständlich. Im antiken Theater war der Chor quasi ein Kommentator von außen und hat die Hauptfiguren auf der Bühne begleitet. In unserem Fall steht der Chor eigenständig auf der Bühne – er ist die Hauptfigur. Doch bezüglich der Antike erinnere ich daran, dass das Theater damals eine für Frauen verschlossene Sphäre war. Im griechischen Theater traten ausschließlich Männer auf, der Chor war männlich und er führte Texte auf, die durch Männer geschrieben waren, sehr wahrscheinlich setzten sich die Zuschauer auch ausschließlich aus Männern zusammen... Die politische Botschaft, die heutzutage durch den Chor ausgedrückt wird, muss sich auf das hier und jetzt beziehen und darf die Antike nicht als Ideal betrachten.

Warum haben Sie sich in „Requiemaszyna“ entschieden, auch Männer in den Chor aufzunehmen? Der Chor hat Frauen für sich „wiederge­won­ nen“ und ihnen eine Art neuer Bühnenpräsenz gegeben. Diese Aufgabe schien irgendwie erfüllt. Ich konnte – ich musste weitergehen. „Requiemaszyna“ ist eine Show über Arbeit, Arbeitslosigkeit, Erschöpfung, soziale und politische Fragen, über die in der Gesellschaft in der letzten Zeit viel debattiert wurde. Ein Satz lautet: „Ich werde dir nichts über Politik erzählen”. Ist das wirklich wahr? Der Chor benutzt Ironie, klammert Sachen aus. Spielt mit Sprache und Zitaten. Übertreibt. Und er interessiert sich wenig für Politik... (lacht)

Ihre Chöre haben die Tendenz, recht aggressiv auszufallen: Welche Art von Kraft bzw. Ermächtigung steckt in ihnen? Der Chor „spielt“, aber der Chor „stellt sich auch selbst zur Schau“, er ekelt an, zeigt seine Tierhaftigkeit... Was macht seine revolutionäre Stärke aus? Ich glaube, dass mit ihm eine Tragik auf der Bühne erwächst, die es im zeitgenössischen Theater nicht gibt. Und dass der Chor durch seinen politischen Charakter und seine Bühnenstärke ein immenses kathartisches Potential besitzt. Die Stimme besitzt eine revolutionäre Kraft. Selbstverständlich wirkt der Chor durch mehrere Schichten. Er hat immer eine intensive körperliche Dimension – durch den Text und die Stimme, die tief in den Körper hineindringt. Wir sind Roboter des Wortes – dieser Satz von Władysław Broniewski ist mir wichtig – wir müssen das aussprechen, was andere nicht aussprechen können. Was ist die Verbindung – und der Unterschied – zwischen einem musikalischen und einem theatralen Chor? Was ist die Verbindung zwischen Sprache und Musik? Der Chor hat in unserer Kultur nur in seiner populären Form überlebt als Kirchenchor, Hochzeiten, Begräbnisse und religiöse Feierlichkeiten begleitend. Der Chor im Theater wird stets auf diese Form bezogen werden. Das sind jedoch zwei unabhängige Universen. Der Musikchor ist beschränkt durch seine

Mit: Antoni Beksiak, Bartosz Dermont, Maciej Dużyński, Michał Głowacki, Paweł Góralski, Bartosz Grędysa, Anna Jagłowska, Katarzyna Jaźnicka, Borys Jaźnicki, Ewa Konstanciak, Adam Konowalski, Wiesław Kowalski, Grzegorz Kuraszkiewicz, Piotr Antoni Kurjata, Janusz Leśniewski, Kamila Michalska, Grzegorz Milczarczyk, Magda Roma Przybylska, Anna Rączkowska, Paulina Sacharczuk, Dominika Stefańska, Kaja Stępkowska, Dawid Wawryka, Anna Wodzyńska, Łukasz Wójcicki, Marcin Zarzeczny Konzept, Libretto, Regie: Marta Górnicka Nach Texten von Władysław Broniewski Partitur: IEN Choreografie: Anna Godowska Literarische Konsultation: Agata Adamiecka Bühne: Robert Rumas Kostüm: Arek Ślesiński Produktion: Instytut Teatralny im. Zbigniewa Raszewskiego Koproduktion: La Filature – Scène Nationale / Théâtre National de Strasbourg / Le Maillon – Théâtre de Strasbourg / Ringlokschuppen Mülheim an der Ruhr Mit Dank an Mary Pijanowski-Broniewska und Eva Zawistowska für die Erlaubnis zur Verwendung der Texte von Władysław Broniewski. Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes Mit Unterstützung von: Polnisches Institut Foto: © Oiko Petersen

Gespräch mit Marta Górnicka

Im antiken Theater wurde der Chor als Stimme des Volkes begriffen, eine Art gesell­ schaftlicher oder politischer Kommentar. Sehen Sie das auch so?

Dauer 45 min In polnischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Mit: Ewa Chomicka, Paulina Drzastwa, Violetta Glińśka, Alicja Herod, Anna Jagłowska, Natalia Jarosiewicz, Katarzyna Jaźnicka, Barbara Jurczyńska, Ewa Konstanciak, Agnieszka Makowska, Kamila Michalska, Katarzyna Migdalska, Jolanta Nałęcz-Jawecka, Magdalena Nowakowska, Natalia Obrębska, Magda Roma Przybylska, Anna Rączkowska, Anna Rusiecka, Paulina Sacharczuk, Kaja Stępkowska, Karolina Szulejewska, Agata Wencel, Karolina Więch, Anna Wodzyńska, Anna Wojnarowska

Sie sind mit zwei Produktionen bei Foreign Affairs 2014, „Magnificat“ und „Requiemaszyna“. Warum arbeiten Sie immer wieder mit Chören?

REQUIEMASZYNA

Haus der Berliner Festspiele, Seitenbühne

Dauer 45 min

Natürlich tue ich das. Durch das, was ich mache, beteilige ich mich stark an der aktuellen feministischen Debatte. Ich habe dem Chor eine weibliche Stimme verliehen, die eine politische Botschaft mit sich bringt. Ich setze eine Frauengemeinschaft ein, die allein durch ihre ostentative Bühnenpräsenz eine Herausforderung gegenüber der traditionellen Ordnung darstellt. Gleichzeitig ist das aber eine Gemeinschaft, die stets der Gefahr ausgesetzt ist, zu zerfallen. Ununterbrochen arbeite ich in einer symbolischen Dimension, ich hinterfrage und zeige Stereotypen auf, die sowohl Frauen, als auch Männer betreffen, ich vermische Mythen, ich verursache theatrale Explosionen.

Marta Górnicka, Regisseurin und Sängerin, Absolventin der Fakultät für Drama-Regie der Aleksander Zelwerowicz Theaterakademie in Warschau und der Warschauer Musikhochschule Frédéric Chopin, studierte außerdem an der Universität Warschau und an der Staatlichen Theaterhochschule in Krakau. Ihr Film „Gier. Versuch einer Aufzeichnung“ nach Sarah Kane wurde auf dem Odkryte/Zakryte-Festival im Dramatischen Theater in Warschau erstmals gezeigt. Bei der Warschauer Inszenierung von „Symptoms/Akropolis“ von Gabriella Maione und Stanisław Wyspianski arbeitete Marta Górnicka mit Robert Wilson zusammen. Als Sängerin absolvierte sie zahlreiche Solokonzerte und nahm für das Polnische Radio ein Album mit Liedern von Astor Piazzolla auf. Marta Górnicka leitete Workshops in Tel Aviv, London, Dresden, Tokio, Berlin, Salzburg, Kiew und Rom. Seit Dezember 2009 arbeitet sie mit dem Theaterinstitut Warschau zusammen, wo sie in den Aufführungen des Chór Kobiet (Der Chor der Frauen) Regie führt und eine neue, eigene Form des Chortheaters entwickelt. Ihre erste Chor­ produktion wurde vom Magazin „Teatr“ als beste alternative Theaterproduktion 2010/ 2011 ausgezeichnet. Auch „Magnificat“ und „Requiemaszyna“ wurden mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Im Jahr 2013 hatte ihre Produktion „The Chorus of Roma People“ in Košice als Teil des X – Apartments Project Premiere.

Theater

MAGNIFICAT

Sehen Sie Ihre Arbeit als feministisches Statement?

MARTA GÓRNICKA

einseitige Nutzung der Stimme, es fehlt ihm die Intensität, mit dem Körper zu arbeiten, er versucht nicht zu diskutieren, sondern „singt“ lediglich schön. Dieser Chor – darin besteht das Paradoxon – ist zwar mächtig, aber tot. Die Beziehung von Sprache und Musikalität ist die Basis unserer Arbeit. Dank der Musikalität kann sich ein Chor einer stereotypen Sprache bedienen. Er benutzt sie, stülpt das Innere nach außen, zieht ihr den Boden unter den Füßen weg. Das Komponieren von Sprache ermöglicht uns auch, die theatrale Illusion zu durchbrechen. Das ist etwas wirklich Großes! Ich kann Theater schwer ertragen, das sich der Sprache bedient, als wäre sie einer Soap-Opera entsprungen… Können Sie ein Beispiel geben? Worte wie „Revolution“ kann ein Chorist umwandeln, sie „umarbeiten“ durch Tonhöhe, Glissando oder Lachen. Er kann auf verschiedene Weisen sprechen: HeavyMetal-artig, opernhaft oder einfach die Worte ausspuckend. Der Chor spricht als Mutter Gottes: „Ich bin ein nationales Heiligtum…“, aber wenn er die gleichen Worte mit der Stimme von Darth Vader röchelt oder sie mit piepsiger Stimme vorträgt wie die kleinen LEGO-Roboter, eröffnet das jedes Mal neue Kontexte… In den ersten Stücken ging es mir darum, die Sprache zu kompromit­ tieren, um eine radikale Demonstration der ideologischen Mechanismen zu erreichen, die die Worte zersetzen. Das führt dazu, dass sie allein durch das laute Aussprechen denunziert werden. In „Requiemaszyna“ ist die Sprache roboterartig, künstlich. Sie wird selbst zur Maschine, eine sinnliche, menschliche Maschine. Der Chor hat, um den politischen Charakter der Sprache, ihre Toxizität zu demonstrieren, eine spezielle Art von Sprechen entwickelt – eine Sprache, die ein bisschen an das Geräusch eines Computers, einer Maschine erinnert… Was ist die Rolle der Einzelstimme gegenüber der Kollektivstimme? Gibt es weiterhin Indivi­ dualität in Chören? Der Chor entsteht erst durch die individuellen, konkreten Biografien und Stimmen der Schauspielerinnen, mit ihren unterschied­ lichen Erfahrungen und verschiedenen Lebens­altern. Ich bin weit davon entfernt, an den Chor als Masse zu denken. Deswegen erklingt die Stimme des Chors nicht immer im Einklang, sondern auch in Duetten, Terzetten und Soli. Ein Chor ist ein „vielseitiger Körper“ und als solcher öffnet er sich dem Diskurs über Gemeinschaft, doch zeigt er gleichzeitig auch die Reibeflächen auf

zwischen dem, was als individuell und dem, was als gemeinschaftlich gilt. Man könnte sagen, dass der Chor eine Ansammlung von Individuen ist, die um die Entstehung einer Gemeinschaft auf der Bühne kämpfen. Es scheint auf der Bühne eine Renaissance der Chöre zu geben, wenn man an Einar Schleef, Rene Pollesch, Alain Platel denkt. Was verbin­ det Sie mit ihnen? Nach dem Zweiten Weltkrieg existierte der Chor im polnischen Theater so gut wie gar nicht – es scheint, als ob die Gemeinschaft auf der Bühne unterbewusst Kriegsbilder hervorrief. Der Chor schien im kollektiven Gedächtnis in Beziehung zu Holocaust und Faschismus zu stehen und wurde deswegen verbannt... Wiederum war die Form, mit der ich während des Studiums Kontakt hatte, das durch Einar Schleef entwickelte Theater in Deutschland, etwas, das ich radikal durchbrechen wollte. Schleefs Theater entstand in den 80ern und war für mich musikalisch zu eindimensional. Formal war der Chor sehr monolithisch, davon habe ich mich stark distanziert. Für mich waren die Überlegungen Sarah Kanes über Sprache und Dramaturgie wichtig. In ihren späteren Texten fand ich jene Chorstimme, an die ich selbst gedacht habe. Als ich meine Arbeit mit dem Chor in Polen anfing, hatte ich das Gefühl, dass ich eine Leiche reanimiere. In „Magnificat“ angeschnittene Themen sind Religion, Kirche, Stereotypen von Weiblichkeit, die Jungfrau Maria – gibt es da einen speziel­ len polnischen Einfluss, berücksichtigt man die hohe Anzahl an Katholiken in Ihrem Land? Als ich „Magnificat“ geschrieben habe, dachte ich im Grunde genommen ausschließlich an Polen. Es sollte ein Essay über die Macht der katholischen Kirche über den weiblichen Körper sein. In unserer Kultur stellt die Mutter Gottes ein wunderbares Bild dar – halbgeschlossene Augen, Alabasterhaut, schweigender Mund. In dieser Gestalt wurde die weibliche Kraft der Lebensgabe vollkommen von der weiblichen Sexualität getrennt. Maria ist ein Pflichtmuster der Weiblichkeit – ein unerreichbares Ideal, also ein perfektes Werkzeug der ideologischen Kontrolle über Frauen. Ich wollte darüber sprechen, wie dieser Mechanismus in der polnischen Kultur funktioniert und was er für die heutigen Frauen bedeutet. Aber überall in Europa sieht es ähnlich aus: eine Frau ist entweder ein körperloses Sein oder ein Körper zum Gebrauchen. Als wir „Magnificat“ in Sarajevo auf­ geführt haben, konnte man Frauen in blickdichten Kopftüchern oder in GucciImita­tionen mit mega-hohen Absätzen auf den Straße beobachten. Du bist ein Körper oder du existierst nicht.

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Sie sind als Sängerin ausgebildet worden – was gab den Impuls, Regisseurin zu werden?

Ich habe mehrere Jahre gesungen und als Schauspielerin und Musikerin gearbeitet. Mein Singen war Sprechen und umgekehrt, die Beziehung Worte/Töne hat mich schon immer beschäftigt. Ich rezitierte, sang Texte von Eliot, Cummings, Gombrowicz; die Konkrete Poesie, Lautpoesie war für mich ein Universum, zudem habe ich ein bisschen komponiert. Dennoch wollte ich immer Regie führen. Wie schreiben Sie Ihre Libretti? Welche Auto­ ren interessieren Sie? Im Grunde genommen schreibe ich sehr schnell, expressartig. Ich schöpfe aus der Popkultur und aus Texten der Hochliteratur. Ich benutze Zeitungszitate, Fragmente aus Videoclips und Werbung, Märchen, Filme sowie Opernlibretti... Ich lasse Texte aufeinanderprallen, mische Musiksorten und -gattungen, Popsongs, Kirchenklänge, aber auch Computerrauschen... Aber in jedem Projekt hat ein antiker Text eine besondere Rolle und ist eng mit den zeitgenössischen Texten verflochten. Eine Schlüsselfigur in „Magnificat“ ist Agaue aus den „Bakchen“ von Euripides, die aus dem bacchischen Wahn erwachend erkennt, dass sie in ihren Händen den blutenden Kopf ihres Sohnes hält. Sie ist die ältere Schwester der Mutter Gottes – eine Frau, die in den Händen eines Gottes zum Werkzeug wird und ihren Sohn opfert, um den „Plan Gottes“ zu realisieren. Agaue und Maria sind Vorder- und Kehrseite ein und derselben Figur. In „Requiemaszyna“ beziehen Sie sich auf Texte von Władysław Broniewski… In diesem Stück nutze ich eine neue Strategie und mische fast ausschließlich poetische Sprache der 30er Jahre, Gedichte von Władysław Broniewski. Der Chor steigert die sprachliche Maschine an ihr Extremum, treibt sie in den Wahnsinn. Broniewskis Sprache schießt wie ein Gewehr, die Worte sind wie Kugeln, die Silben gehen in roboterartige Register ein, sie knirschen. Auf der anderen Seite hat er jedoch das Gefühl der Unzulänglichkeit von Worten, er schreit: „ich bin stumm.“ Dieses Paradoxon beschreibt fantastisch, was der Chor ist. Diese grundlegende Widersprüchlichkeit im Denken über Sprache und deren Erfahrung, die Rhythmik der Texte und die individuelle Dimension des Schicksals von Broniewski – die Verstrickung und der Kampf mit unterschiedlichen politischen Systemen, der Zusammenhang zwischen Ideologie und Geschichte –, reimt sich auf unglaubliche Weise mit meiner Vorstellung von Chor. Dieses Geflecht in Bezug zu setzen zur heutigen Wirklichkeit, der Terrorisierung durch Arbeitslosigkeit und der

Verstrickung jedes Einzelnen in ein System, in dem „jeder geschätzt werden will und jeder seinen Preis hat“, erschien mir aufregend. Werden Sie weiterhin mit Chören arbeiten, oder denken Sie daran, etwas anderes zu machen?

Ich glaube, dass die einzige Arbeit, die für mich einen Sinn ergibt, entweder mit dem Chor oder mit einem einzelnen Schauspieler auf der Bühne zu tun hat. Ich habe kein Interesse an einer dialogischen, filmischen Matrix. Für mich ist Chor ein sehr breiter Begriff, vor allem in seinem gesellschaftlichen Aspekt. Das Verleihen der Stimme an diejenigen, die sie gar nicht haben – die „Anderen“, Ausgeschlossenen – hat für mich eine enorme Kraft. Das macht die Macht und den Sinn zeitgenössischer Theaterprojekte aus. In Kaschau in der Slowakei, wo sich das größte RomaGhetto in Europa befindet, habe ich den Keim zu einem Roma-Chor gelegt. Derzeit arbeite ich an einem dreiteiligen Projekt. Der erste Teil des Projekts wird zunächst mit Beteiligung von 50 Juden und Arabern im Museum der Modernen Kunst in Tel Aviv aufgeführt, danach auch in Deutschland und Polen. Sie waren mit Ihren Arbeiten international unterwegs: Erleben Sie die gleichen Reak­ tionen, Diskussionen und Fragen überall? Oder gibt es Unterschiede? Wir haben dutzende Vorstellungen in der ganzen Welt gespielt. Und überall wurde der Chor sehr emotional wahrgenommen. Ich erinnere mich an Frauen in Neu-Delhi, die die Texte des Chors während der Vorstellung geflüstert und wiederholt haben! In Frankreich, Deutschland, den Niederlanden oder der Schweiz wird unser Theater als ein politisches wahrgenommen. „Magnificat“ wurde in Frankreich als ein großes Essay über Religiosität und ihren Einfluss auf den heutigen Menschen aufgenommen. In Polen dagegen, in Stettin, gab es einen Zwischenfall. Ich wurde angespuckt und als Hexe bezeichnet. Einmal haben wir eine Vorstellung für 2000 Personen in der Kongresshalle gegeben, während eines Frauenkongresses. Das Publikum applaudierte nach jeder Szene wie auf einem Rockkonzert, und die Vorstellung wurde ein bisschen wie eine politische Kundgebung aufgenommen. Der Chor hat auf den Zuschauer manchmal eine heftige, körper­liche Wirkung. Ich glaube, diese ist unabhängig von der Kultur.

Interview: Christina Tilmann Übersetzung: Gabriela & Ireneusz Radko

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

Maison Fondée en 1851 à Saumur

BOUVET LADUBAY BRUT

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LOIRE



TANDY

(CYCLE OF THE RESURRECTIONS) Theater Uraufführung Do 3. Juli 2014, 21:30 Uhr Fr 4. Juli 2014, 21:30 Uhr ST. AGNES

EIGN AIRS 13.7.14 – Dauer 60 min

ANGÉLICA LIDDELL

Die Autorin, Regisseurin und Schauspielerin Angélica Liddell wurde 1966 im spanischen Figueres in der Provinz Girona geboren. 1993 gründete sie das Atra Bilis Teatro, mit dem sie seitdem mehr als 20 Produktionen erarbeitete. Ihre Theaterstücke sind in diverse Sprachen übersetzt worden, darunter Französisch, Englisch, Russisch, Deutsch, Portugiesisch und Polnisch. „La falsa suicida“ (2000), „Once upon a time in West Asphixia“ (2002), „Y cómo no se pudrió Blancanieves“ (2005), „Perro muerto en tintorería: los Fuertes“ (2007) oder „Ping Pang Qiu“ (2012) sind nur einige der Titel. Ihre Produktionen „La casa de la fuerza“ (2009) und „Maldito sea el hombre que confía en el hombre“ (2011) wurden bei den Wiener Festwochen und im Théâtre de l’Odéon in Paris uraufgeführt. 2011 präsentierte Angélica Liddell beim Berliner Performing-Arts-Festival In Transit mit „El año de Ricardo“ (2005) als Richard III ein furioses Solo. 2012 wurde sie für „La casa de la fuerza“ mit dem Nationalpreis für Dramatische Literatur ausgezeichnet, der vom spanischen Ministerium für Bildung, Kultur und Sport verliehen wird, 2013 erhielt sie den „Leone d‘argento per il Teatro“ auf der Biennale in Venedig. Ihr Stück „Yo no soy bonita“ war bei Foreign Affairs 2013 zu sehen.

In spanischer Sprache mit deutschen/englischen Übertiteln

Mit: Leonor Caso, Fabián Augusto Gómez Bohórquez, Lola Jiménez, Angélica Liddell, Sindo Puche Musikensemble: Andreas Arend, Christoph Burmester, Julian Millán, June Telletxea, Josu Yeregui Statisten: Wolfgang Bradler, Peter Dluzewski, Hartmut Fleischmann, Ahmet Namik Gürsoy, Siegesmund Klee, Rüdiger Lehmann, Helmut Lück, Volker Suberg, Michael Wiedorn, Christian Zacker Regie, Ausstattung: Angélica Liddell Inspiriert von „Winesburg, Ohio“ von Sherwood Anderson Text: Sherwood Anderson, Angélica Liddell Übersetzung ins Spanische: Miguel Temprano García, © Quaderns Crema 2009 Bühne: Trasto Decorados Licht: Carlos Marquerie Lichttechnik: Octavio Gómez Ton: Antonio Navarro Technische Leitung: Marc Bartoló Produktionsassistenz, Logistik: Mamen Adeva Produktionsleitung: Gumersindo Puche Übertitel: KITA Produktion: Iaquinandi, S.L. Koproduktion: Berliner Festspiele /Foreign Affairs / Temporada Alta 2014 – El Canal Mit Unterstützung von: Ministerio de Educación, Cultura y Deporte – INAEM Mit Unterstützung von: Instituto Cervantes , Teatros de Canal Madrid In Zusammenarbeit mit: ST. AGNES Foto: Angélica Liddell

FORE AFFA 26.6.

Gespräch mit Angélica Liddell Im Jahre 1993 gründete die spanische Künst­ lerin Angélica Liddell in Madrid die Theatergruppe Atra Bilis Teatro. Der Name der Gruppe ist eine Referenz auf den schwarzen Humor, anhand dessen man sich in der Antike der Melancholie erwehrte. Mit mehr als zwanzig Stücken, die sie nicht nur selbst geschrieben, sondern bei denen sie auch Regie und dramaturgische Leitung übernommen hat, hat Angélica Liddell ein vielschichtiges, aber dennoch in sich geschlossenes Gesamtwerk geschaffen, in dem ihre eigene Melancholie in jene der Welt eintaucht, der persönliche Schmerz sich mit dem kollektiven Leid vereint und das Bekenntnis zu einer Leidenschaft wird. In ihrer Arbeit verschwimmen die Grenzen zwischen dem Autobiografischen, dem Dokumentarischen und der Fiktion, jeder Teil nimmt Elemente des anderen an und erhält auf diese Weise völlig neuen Wert und Sinn. Die Grenze zwischen Person und Persönlichkeit, genauso wie jene Grenze zwischen der Künstlerin und ihrem Werk werden durch die völlige und aufopfernde Hingabe ihrer Person, ihrer Worte und ihres Körpers auf der Bühne aufgelöst. 2013 startete Angélica Liddell den „Cycle of the Resurrections“. Hieraus ist „Tandy“, inspiriert von Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“, das zweite Stück. Bis vor kurzem konnte man auf der Startseite Ihrer Homepage Folgendes lesen: „Angélica Liddell, 1966–2008“. Derzeit arbeiten Sie am „Cycle of the Resurrections“ – handelt es sich um Ihre eigene Auferstehung? Menschen wie ich, die – wie Anne Sexton es ausdrücken würde – tot geboren wurden, erwachen ununterbrochen aus dem Tod. Dies ist allerdings ein sehr anstrengender, kräftezehrender Akt, denn die Auferstehung bedeutet nicht den Sieg des Lichts über die Finsternis, sondern vielmehr den Eintritt in die ewige Finsternis. Die Auferstehung ist keine Wiedergeburt. Was ich mit meinem Zyklus zu erreichen versuche, ist der Triumph des Geistes über das Fleisch. Es handelt sich hierbei um das Bedürfnis, ein regelrechtes Verlangen nach Wundern, die Notwendigkeit, dass sich die Finsternis in Licht verwandelt, dass ein Wunder geschieht inmitten all der Hoffnungslosigkeit. Den angegebenen Jahreszahlen zufolge waren Sie in all den Jahren tot. Dennoch war

es das Jahr 2008, in dem Ihre Arbeit außerhalb von Spanien bekannt wurde. Seitdem haben Sie ununterbrochen an weiteren Projekten gearbeitet und sind damit um die Welt gereist. Betrachten Sie Ihr Schaffen als einen „Akt des Widerstandes gegen den Tod“? Meine Arbeit ist vergleichbar mit dem Morden eines Psychopathen. Jedes Mal, wenn ich Biografien oder Dokumentarfilme über Mörder lese oder schaue, kann ich mich problemlos mit diesem zerrissenen und fürchterlichen Innenleben identifizieren, der massakrierten Kindheit, dem Zorn, dem Hass, der Abwesenheit von Liebe, dem Groll, der Unfähigkeit zum Glücklichsein, der Soziopathie. Ich habe mich zum Beispiel immer sehr verbunden mit Travis Bickle gefühlt, dem Protagonisten des Films „Taxi Driver“. Glücklicherweise kann ich diese Gefühle in eine Art zwanghafte, kreative Brutalität transformieren. Anstatt jemanden zu erschießen, schreibe ich, das Wort bewahrt mich davor, einen Mord zu begehen. Ein Mörder und ein Dichter sind nichts anderes als verletzte Wahnsinnige, die der Welt die Strafe zurückgeben, die womöglich Gott selbst auf ihre Schultern gelegt hat. Es handelt sich hierbei um etwas, das die Frage nach der Arbeit außerhalb von Spanien oder der Bekanntheit meiner Kunst übersteigt. Es handelt sich um das Außenleben. Das Innenleben ist ein Aufzug, aus dem ein Meer aus Blut entweicht. In einem früheren Interview erzählen Sie, dass das Theater schon als Kind ein Teil Ihres Lebens war, in Form von zahlreichen Unterhaltungen, die Sie mit Gott geführt haben. Der erste Teil des Zyklus, „Brief des Heiligen Paulus an die Korinther“, beinhaltet mehrere „Fragen an Gott“, in „Tandy“ scheinen Sie sich an ein immaterielles geliebtes Wesen zu wenden. Ist Ihr Theater immer schon eine Art Dialog mit Gott gewesen, obwohl Sie nicht an ihn glauben? Genau genommen rührt die Notwendigkeit Gottes von seiner Nichtexistenz her. Das spirituelle Leben nährt sich von diesen fundamentalen Fragen, auf die niemand eine Antwort hat, und die unsere Beklemmung und unsere Angst weiter aufrechterhalten. In Ihrem aktuellen Zyklus reklamieren Sie die Häresie und zitieren Antonin Artaud mit den

Worten: „Die Kirche ist eine Institution mit ihren eigenen Regeln. Ich bin nicht dazu da, um Regelwerke einzuhalten. Ich muss allein und selbstständig die Bedeutung des Worts HEILIG herausfinden.“ Wenn es nicht die Kirche ist, ist das Theater der Ort, an dem es möglich ist, die Bedeutung des Wortes HEILIG herauszufinden? Das Theater ist eine Form des Heiligen, denn man ist auf den Glauben der Zuschauer angewiesen. Theater ist eine Zeremonie, die vom Glauben und der Opferbringung bestimmt wird. Der Künstler ist wie Abraham, der seinen Sohn Isaak in die Berge bringt, mit der Absicht, ihm aus Liebe zu Gott die Kehle durchzuschneiden. Doch es erscheint ein Engel, der die Bluttat verhindert, Isaak wird gerettet – ein Akt, der ebenso aus Liebe geschieht. Theater ist dasselbe, ein Opfergang. Damit es kein Blut gibt, ist Glaube unabdingbar. Der einzige Unterschied ist, dass das Theater das Heilige aus dem Schoße der Häresie heraus sucht. Die Einsamkeit ist ein Thema, das Ihr gesamtes Werk durchzieht. Auch in Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“ sowie in Emily Dickinsons Œuvre spielt sie eine zentrale Rolle. Zwei der fünf Teile Ihres „Cycle of the Resurrections“ wurden von den Werken dieser beiden Autoren inspiriert. Wieso haben Sie diese nordamerikanischen Erzählungen als Grundlage für Ihren Zyklus ausgesucht? Zu den Dingen, die ich am meisten liebe, gehört die nordamerikanische Literatur. Sie steigt bis in die tiefsten apokalyptischen Abgründe hinab und schafft dabei eine Poetik des Kampfes zwischen Gut und Böse, die mich fasziniert. Das Alltägliche existiert nicht, vielmehr befindet es sich in der Transzendenz und in der Kraft des Geistes, der allein die einzig mögliche Erklärung des Menschen ist. Sie haben Gott nicht getötet, sondern befinden sich weiterhin auf der Suche nach ihm, denn sie brauchen ihn. „Winesburg, Ohio“ ist zusammen mit „Moby Dick“ und „Der scharlachrote Buchstabe“ eines meiner Lieblingsbücher, das ich immer und immer wieder lese. Ich könnte eine der Figuren sein, die Anderson in seinen Geschichten beschreibt. Emily Dickinson ist wie ein Leuchtturm für mich, diese in Weiß gekleidete Frau, abgeschieden von der Außenwelt, die jedoch paradoxer-

weise der Seele des Menschen viel näher ist als irgendein weltlicher Schwachkopf. Ich habe diese Frau immer für ihre Entscheidung, ein Leben in Zurückgezogenheit zu führen, bewundert. Der Prophezeiung des Fremden zufolge, der sowohl in Sherwood Andersons Erzählung sowie in Ihrem Stück auftaucht, bedeutet Tandy zu sein „Stärke zu besitzen, um geliebt zu werden […] und tapfer und mutig zu sein“. Stärke macht ein bedeutendes Thema Ihrer Arbeit aus. In „La casa de la fuerza“ (Haus der Gewalt) haben Sie Gewichte gestemmt, um sie zu finden. Wo suchen Sie nach ihr im „Cycle of the Resurrections“? In jener umgekehrten Mystik? Das Massaker des Körpers und die Isolation verleiten dich unwiederbringlich zur Mystik. Dadurch, dass man die Liebe aus fremden, unwirklichen Dimensionen heraus erfährt, löst man sich von seinem Körper sowie von der Enttäuschung und der Demütigung, die ein Körper mit sich bringt. Man entledigt sich des physischen Teils von einem selbst, jedoch manifestiert sich das Bedürfnis, geliebt zu werden, weiterhin auf brutale Weise. Die Mystik entspringt schließlich dem Verlangen, einem sexuellen und tödlichen Verlangen. Eine meiner ersten Kindheitserinnerungen ist ein Kruzifix zwischen meinen Beinen, mit dem ich mich im Alter von fünf oder sechs Jahren selbst befriedigt habe. Damals glaubte ich noch an Gott und sprach danach mit ihm. Heute ist es ein wenig ähnlich. Wenn dein Körper bis zum Äußersten gegangen ist, um sein Geschlecht zu befriedigen, empfindest du plötzlich das Bedürfnis, das Verlangen in etwas Höheres zu verwandeln, es mit der Liebe zu vereinen, einer mystischen Liebe, eine Liebe, die dich in den Wahnsinn treibt. In einen solchen Wahnsinn, dass ich in dem aktuellen Zyklus die Kraft der Ekstase – ich ziehe den Begriff der Ekstase dem Begriff des Wahnsinns vor – inszeniere. Der Fremde sagt außerdem zu dem Mädchen: „Sei mehr als bloß ein Mann oder eine Frau. Sei Tandy.“ Ist es möglich, auf der Bühne „mehr als bloß ein Mann oder eine Frau“ zu sein? Auf der Bühne bist du immer mehr als ein Mann oder eine Frau. Auf der Bühne verschmelzen Jesus Christus und Dionysos zu

einem Wesen, das weder Mann noch Frau, sondern das Mysterium ist. „Tandy“ beginnt mit einer von Andersons Erzählung inspirierten Prophezeiung und einem Dialog. Das Stück wird anhand einer Reihe von Texten fortgesetzt, die alle in der ersten Person verfasst sind. Ist es Angélica, die von diesem Moment an zum Zuschauer spricht? Ja, alle Texte sind meinen Tagebüchern entnommen und dramaturgisch aufbereitet. In anderen Texten greifen Sie zur Vermittlung des Texts nicht auf eine Bühnenfigur zurück, sondern sprechen in Ihrem eigenen Namen. Dennoch versammelen Sie in Ihren Stücken regelmäßig fiktive Figuren wie Tandy, Wendy in „Todo el cielo sobre la tierra (El síndrome de Wendy)“ (Der ganze Himmel über der Erde (Wendy-Syndrom)) oder, in „La casa de la fuerza“, Tschechows „Drei Schwestern“. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur Fiktion beschreiben? Ich betrachte die Fiktion nicht als Fiktion. Ich sage also nicht „ich werde jetzt Fiktion lesen“ oder „das ist Fiktion“. Ich bin schlichtweg sowohl Tandy als auch Wendy, die drei Schwestern und Kapitän Ahab. In „Yo no soy bonita“ (Ich bin nicht schön), das im vergangenen Jahr bei Foreign Affairs präsentiert wurde, haben Sie die Fiktion durch das Bekenntnis ersetzt und waren allein auf der Bühne. In „Tandy“ geht dieses Bekenntnis mit der Anwesenheit anderer Schauspieler einher. Wie gelingt es Ihnen, die Darsteller in diese privaten und autobiografischen Texte mit einzubeziehen? Das geschieht bei mir über Vertrauen. Es sind keinerlei Erklärungen nötig, wir sprechen kaum miteinander. Für mich sind die Schauspieler Werkzeuge, mithilfe derer ich versuche, etwas Schönes zu schaffen. Es ist dieser Versuch, über den sie Eingang in die Texte finden. Sie arbeiten schon seit Jahren mit diesen Schauspielern zusammen, manchmal hinterlassen sie Spuren in Ihren Texten, so tauchen z.B. ihre Namen in den Dialogen auf. Haben Sie Ihre letzten Arbeiten für Ihre Darsteller

geschrieben, mit dem Gedanken daran, dass sie es sind, die das jeweilige Stück interpretieren werden? Ganz so ist es nicht, ich verlange von ihnen nicht, dass sie irgendwelche Figuren spielen. Ich bitte sie darum, auf der Bühne zu leben, nichts weiter. Das einzige, was sie tun müssen, ist glauben. In Ihrem Blog trifft man auf eine weitere Facette Ihrer Arbeit, ein fotografisches Œuvre, das schon seit einigen Jahren parallel zu Ihrer dichterischen und inszenatorischen Arbeit entsteht. So wie in Ihren Theaterstücken entsagen zahlreiche Fotos der Fiktion, sie zeigen Sie selbst, nackt, in einem der Hotelzimmer, in denen Sie während einer Tournee leben. Andere Fotos wiederum zeigen Sie als inszenierte Figur, ausgestattet mit Kostüm und Requisiten, manchmal auch mit einem anderen Namen. Stellen diese Fotos eine andere Form des Theaters dar? Nein, dies ist eine total andere Sprache. Wenn ich die Fotos mache, arbeite ich mit einer enormen Freiheit, da ich während­ dessen alleine bin. Das ist etwas, das ich brauche, auf niemanden angewiesen zu sein, um ein Gefühl oder einen Gedanken aus­ drücken zu können. Beim Theater ist man immer von vielen Menschen abhängig, Technikern, Schauspielern… Manchmal bin ich davon erschöpft und denke dann sogar daran, mit all dem aufzuhören, da du niemals den Zustand der Perfektion oder der Unvollkommenheit erreichen wirst, den du anstrebst. Ich ertrage weder Fehler noch Unaufmerksamkeit, dass jemand einer Sache nicht dieselbe Bedeutung zuschreibt wie ich es tue. Das sind alles so absurde Probleme, die ich einfach hasse, die nichts mit dem Akt der Schöpfung zu tun haben, das macht mich wütend und traurig zugleich. Beim Fotografieren bin ich auf niemanden angewiesen, und das ist eine Erleichterung für mich.

Interview: Marion Cousin Übersetzung: Vera Hölscher

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

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SUN

HOFESH SHECHTER

Tanz Deutsche Erstaufführung Fr 4. Juli 2014, 20:00 Uhr Sa 5. Juli 2014, 20:00 Uhr, Artist Talk

Hofesh Shechter studierte an der Tanz- und Musikakademie seiner Heimatstadt Jerusalem, bevor er Mitglied der Batsheva Dance Company in Tel Aviv wurde, wo er mit dem Künstlerischen Leiter Ohad Naharin und Choreografen wie Wim Vandekeybus, Paul Selwyn-Norton, Tero Saarinen und Inbal Pinto arbeitete. Zudem erhielt er Schlagzeugunterricht, den er am Agostiny College of Rhythm in Parisat fortsetzte. Anschließend experimentierte er mit eigener Musik und nahm an mehreren Tanz-, Theater- und Percussion-Projekten in Europa teil. 2002 schloss er sich der Jasmin Vardimon Dance Company an und ließ sich in Großbritannien nieder. Sein choreografisches Debüt „Fragmente“, für das er auch die Musik komponierte, wurde auch in Finnland, Italien, Portugal, der Schweiz, Korea, den USA und Polen aufgeführt und mit dem ersten Preis des Serge-Diaghilev-Choreografiewettbewerbs ausgezeichnet. Für seine Choreografie „Cult“ erhielt Shechter den Publikumspreis der Tanzinstitution The Place. Auch die Werke „Uprising“ und „In Your Rooms“ wurden von Publikum und Presse gefeiert. Für letzteres wurde Shechter 2008 mit dem Critic’s Circle National Dance Award für die beste Choreografie ausgezeichnet. Er arbeitete als Choreograf u.a. am Royal Court Theatre und am National Theatre sowie – im Ausland – für das portugiesische Ballet CeDeCe, die Hellenische Tanzcompagnie, das Berner Ballet, das schwedische Skanes Dansteater, die norwegische Carte Blanche Tanzcompagnie und das New Yorker Cedar Lake Contemporary Ballet. Im britischen Fernsehsender Channel 4 gestaltete er für die populäre Serie „Skins“ die Tanzszene „Maxxie’s Dance“. Zusätzlich zu seinen Engagements gründete Shechter 2008 eine eigene Tanzcompagnie. Mit ihr verband der Choreograf die Tanzabende „Uprising“ und „In Your Rooms“ und erweiterte beide zu einem Rockkonzert – ein Konzept, das er auch in „Political Mother: The Choreographer’s Cut“ erfolgreich anwendet. Dieses geht zurück auf sein erstes abendfüllendes Stück „Political Mother“, das im Mai 2010 auf dem Brighton Festival Premiere feierte. Derzeit ist er Associate Artist bei Sadler’s Wells und mit seiner Gruppe als Resident Company am Brighton Dome zu sehen.

im Anschluss an die Vorstellung

Haus der Berliner Festspiele, Große Bühne Dauer 70 min 4. & 5. Juli 2014, 18:30 Uhr Einführung TanzScout Mit: Maeva Berthelot, Chien-Ming Chang, Frederic Despierre, Neus Gil Cortes, Paula Alonso Gomez, Bruno Karim Guillore, Philip Hulford (Probenassistenz), Yeji Kim, Kim Kohlmann, Erion Kruja, Merel Lammers, Sita Ostheimer Tänzer in Ausbildung: Attila Ronai, Diogo Sousa

EIGN AIRS 13.7.14 –

Choreografie und Musik: Hofesh Shechter Performance: Hofesh Shechter Company Set Design: Merle Hensel Licht: Lee Curran Kostüme: Christina Cunningham Arrangement: David Cresswell (Music Masters Ltd.) Streicher: Christopher Allan, Rebekah Allan, Nell Catchpole Gitarre: Joseph Ashwin, Joel Harries, Vinz Szenaristin: Kirsty Glover Puppen: James Ward (jimbobart), Rebecca Cusack, John I. Gordon, Framestore Technische Leitung: Lawrie McLennan Re-Lighter: Alan Valentine Ton: Mike Bignell Produktionsleitung: Sam Wood Assistenz Produktionsleitung: Joanne Woolley

Tannhäuser WWV 70: Einzug der Gäste auf der Wartburg Komposition: Richard Wagner

Hofesh Shechter Company Direktoren: Robin Woodhead (Vorsitzender), Andrew Hillier QC, Richard Matchett MBE, Karen Napier, Leigh Thomas, Jules Burns Patrons: Angela Bernstein CBE, Robin Pauley, Bruno Wang Künstlerische Leitung: Hofesh Shechter Geschäftsführung: Helen Shute Management: Colette Hansford Assistenz Künstlerische Leitung: Bruno Guillore Entwicklung: Katya Evans Produktionsleitung: Ed Trotter Participation Producer: Lucy Moelwyn-Hughes Tourmanagement: Silvia Maroino Technische Leitung: Lawrie McLennan Company-Management: Helen Bonner Assistenz der Geschäftsführung: Fionna McPhee Technik: Sam Wood Assistenz Administration: Lilith Brewer

Sigur 1 Komposition: Sveinsson/Birgisson/Holm/Dyrason Universal Music Publishing Ltd.

Die Hofesh Shechter Company wird gefördert durch National Lottery und Arts Council England. Hofesh Shechter ist Associate Artist bei Sadler’s Wells und die Hofesh Shechter Company ist Resident Company am Brighton Dome.

Abide With Me The Queen’s Royal Irish Hussars Traditional, Arrangement: David Cresswell Music Masters Ltd.

Das Quercus Dancer Health and Wellbeing Programme wird ermöglicht durch Quercus Trust, mit Dank an Showtime Health: Specialising in Health, Wellbeing, Dance and Sports Medicine for the Performing Arts and Entertainment Industry.

Produktion: Hofesh Shechter Company im Auftrag von Bruno Wang

Zusätzliche Musik:

Let’s Face The Music And Dance Komposition: Irving Berlin Universal Music Publishing Ltd.

Gefördert von: The Columbia Foundation fund of the London Community Foundation Koproduktion: Brighton Dome & Brighton Festival / Sadler’s Wells London / Melbourne Festival / Les Théâtres de la Ville de Luxembourg / Théâtre de la Ville Paris / Festspielhaus St. Pölten (Residency) / Berliner Festspiele – Foreign Affairs / Roma Europa Mit Unterstützung von: Mercat de les Flors / Theatre Royal Plymouth

Musiker im Soundtrack:

Streicher: Christopher Allan, Rebekah Allan, Nell Catchpole Gitarren: Joseph Ashwin, Joel Harries, Vinz

Mit Unterstützung von: British Council Foto: © Jake Walters

FORE AFFA 26.6.

HOFESH SHECHTER ÜBER EINEN TYPISCHEN ARBEITSTAG Ich stehe um acht Uhr auf, mache Tee und schalte meinen Laptop an. Ich gerate oft in Panik vor dem Tag, der vor mir liegt. Vor allem, wenn ich an einem neuen Tanzstück arbeite, schwanken meine Gefühle rapide zwischen Freude und Angst. Ich lebe mit meiner Freundin Helen in Stoke Newington. Wenn der Tee fertig ist, frühstücke ich, dusche, krame ein sauberes T-Shirt, meine CarharttHose und meine Turnschuhe hervor. Wir proben gerade im Sadler‘s Wells Theater; dort bin ich einer der Associate Artists. Die Fahrt zum Theater dauert nur etwa zehn Minuten. In meiner Company sind 14 Tänzer und sie fangen um 10 Uhr an, zu trainieren. Ich komme so gegen 11 Uhr und dann reden wir über den Teil des Stücks, an dem wir arbeiten. Wenn ich an einer Choreografie arbeite, spielt sich ein schrecklicher Kampf zwischen meinem Herzen und meinem Kopf ab. Einerseits möchte ich, dass die Bewegungen der Tänzer und ihre Verbindung zur Musik (die ich zum größten Teil selbst elektronisch komponiere) von Emotionen diktiert werden. Aber dann fängt mein allzu aktives Hirn an, alles zu analysieren und sagt: „Was bedeutet das? Willst du damit etwas aussagen?“

In meinem Stück „Political Mother“ war der emotionale Ton von Wut, Unterdrückung und Verwirrung geprägt. Es war intensiv, roh und unerbittlich, aber dahinter stand eine Absicht. Ich wollte untersuchen, wie beschränkt und primitiv die Menschen immer noch sind und wie leicht man sie manipulieren kann. Und wie Staaten und politische Führer dies ausnutzen, um die Kontrolle zu behalten, egal, ob sie Ergebenheit einfordern oder Angst verbreiten. Wir tun immer noch sinnlose Dinge, wir schlachten immer noch Menschen ab und meine Frage war: Haben wir uns überhaupt weiterentwickelt? Hier ist der Tanz ein wirkungsvolles Instrument. Mir gefällt am zeitgenössischen Tanz besonders, dass man nie weiß, was passieren wird. Das macht ihn ungewöhnlich, unberechenbar. Wenn ich einen Hollywood-Film ansehe, weiß ich, noch bevor ich mich hingesetzt habe, was mich erwartet. Hier weiß man es nie. Um 14 Uhr machen wir eine Mittagspause. Ich esse oft ein Panino mit Käse und Thunfisch und unterhalte mich mit Helen. Sie ist nicht nur meine Freundin, sondern auch unsere Geschäftsführerin. Ich nenne sie „unser Genie“, denn es war ihre Idee,

vor fünf Jahren die Company zu gründen. Gleich zu Anfang hatten wir das Glück, vom Arts Council £ 200.000 zu bekommen und wir werden auch heute noch regelmäßig von dieser Insti­tution gefördert.

Meine erste Begegnung mit dem Tanz waren die pflichtmäßigen VolkstanzStunden in der Schule, am Freitagnachmittag. Sie machten mir keinen Spaß, aber mein Lehrer sagte, ich sei talentiert und ermutigte mich, vorzutanzen. Mit 18 bekam ich einen Platz in der Batsheva Dance Company, der wichtigsten Tanzcompany in Israel. Wie alle Israeli in dem Alter leistete ich meinen Militärdienst.

Wenn wir nicht an neuem Material arbeiten, gehen wir auf Tournee. Wir sind gerade aus Australien zurückgekommen, wo die Premiere unseres neuesten Stücks, „Sun“, stattfand. Die Idee dazu kam mir bei einer Stehparty. Ich stand da herum und fand alles schrecklich. Später wurde mir klar, dass mich die Heuchelei dort so aufgeregt hatte.

Wir machen meistens gegen 18 Uhr Schluss im Studio und ich fahre nach Hause. Wenn Helen und ich nicht zu müde sind, kochen wir so etwas wie Lachs, Reis und Gemüse. Wir reden meistens über die Arbeit und ich fange gleich wieder an, mir Sorgen darüber zu machen, ob sie gut genug ist.

Mich faszinieren die Widersprüche und Konflikte des menschlichen Verhaltens. Sie scheinen nie sehr weit entfernt zu sein, egal ob wir sie auf der weltpolitischen Bühne beobachten oder in unserem Leben, in unserem Wohnzimmer.

Gegen 24 Uhr gehe ich ins Bett und normalerweise geht dann das Kopfzerbrechen wieder von vorne los.

Ich wurde 1975 in Jerusalem geboren. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich zwei Jahre alt war, und als ich sieben war, brach der Krieg mit dem Libanon aus. Ich weiß noch, dass die Kinderstunde im Fernsehen durch eine Aufzählung von Namen der Toten ersetzt wurde. Während ich aufwuchs, zerstörte der Krieg nicht nur meine Familie, sondern das ganze Land.

Erschienen am 20. Oktober 2013 im „Sunday Times Magazine“. Basierend auf einem Interview von Ria Higgins. Übersetzung: Elena Krüskemper

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

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WE HAVE NEVER BEEN HERE BEFORE

JOHN JORDAN

John Jordan ist Kunstaktivist. Er ist Mitbegründer der Aktionsgruppen „Reclaim the Streets“ und „The Clowns Army“, wirkte als Kameramann an Naomi Kleins Film „The Take“ mit und ist einer der Herausgeber des Bands „wir sind überall. weltweit.unwiderstehlich. antikapitalistisch“ (Nautilus, 2007). Er hält Vorträge über Theater und Bildende Kunst.

ISABELLE FReMEAUX

Performance Uraufführung

war Senior Lecturer am Birkbeck College der University of London von 2002 bis 2011, bis sie sich entschloss, aus dem akademischen Leben zu desertieren. Ihre Aktionsforschung untersucht Volksbildung, Erzählkunst und kreative Formen des Widerstands. Zusammen gründete sie mit John Jordan The Laboratory of Insurrectionary Imagination. Sie sind Autoren des Film/Buch-Projekts „Pfade durch Utopia“ (Nautilus, 2012). Zurzeit bauen sie eine Schule für Kunstaktivismus und Permakultur innerhalb des neuen Kollektivs La r.O.n.c.e. (Resist, Organise, Nourish, Create, Exist) auf einem Bauernhof in der Bretagne auf.

Fr 4. Juli 2014, 20:00 Uhr Sa 5. Juli 2014, 20:00 Uhr

THE LABORATORY OF INSURRECTIONARY IMAGINATION

Workshops 5. Juli 2014, 10:00–18:00 Uhr 6. Juli 2014, 10:00–18:00 Uhr

EIGN AIRS 13.7.14 –

Haus der Berliner Festspiele, Kassenhalle

In englischer Sprache

Mo 7. Juli 2014, 19:00 Uhr

Art Empowering Politics

The Laboratory of Insurrectionary Imagination (Labofii), das sich zwischen Kunst und Aktivismus, Poesie und Politik bewegt, ist berüchtigt für Aktionen wie das Schüren von massenhaftem Widerstand auf Fahrrädern während des Klimagipfels in Kopenhagen, das Rekrutieren einer Armee von Clowns im Rahmen einer Tour durch Großbritannien und das Veranstalten von Kursen in postkapitalistischer Kultur. Labofii ist dafür bekannt, sich in Utopien zu verlieben. Labofii ist keine Institution und keine Gruppe, weder ein Netzwerk noch eine NGO, sondern ein loser Zusammenschluss von Freunden, die die Schönheit des kreativen Widerstands erkennen. Sie behandeln die Revolte als Kunst, und Kunst wiederum gilt ihnen als Mittel, die kommende Revolte vorzubereiten. Die Kunstschöpfung und der Widerstand sind die ineinander verschlungenen DNA-Stränge ihrer Arbeit. Labofii betrachtet Kunst und Aktivismus als untrennbar vom Alltagsleben. Ihre Experimente zielen nicht darauf ab, Kunst zu erschaffen, sondern die Realität zu formen, nicht darauf, die Welt zu zeigen, wie sie ist, sondern sie gemeinsam zu verändern. Im Zentrum der Experimente von Labofii stehen neue Methoden, sich zueinander in Beziehung zu setzen und sich zu organisieren: ohne Hierarchien zu arbeiten, unmittelbar Maßnahmen zu ergreifen, Selbstverwaltung auszuüben und ökologisch zu leben. Es geht um den Versuch, trotz des Kapitalismus zu leben, anstatt lediglich sein Ende abzuwarten.

Gespräch in englischer Sprache Haus der Berliner Festspiele, Rangfoyer Eintritt frei

Konzept: The Laboratory of Insurrectionary Imagination (Labofii) Performance: John Jordan Workshop: Isabelle Fremeaux Live-Soundtrack: Jack Jordan Design: Audrey Bouvier & Jonathan Vidal (vom MIT Collective) Film: Kyp Kyprianou Inszenatorische Beratung: Sascha Flocken Licht: Olivier Bourguignon Skype-Gespräche mit: David Graeber, Naomi Klein, Paul Mason, Rebecca Solnit u.a. Produktion: Berliner Festspiele/Foreign Affairs Koproduktion: Kaaitheater Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes Mit freundlicher Unterstützung der Stadt Larré Foto: © Labofii

Gespräch mit JOHN JORDAN und ISABELLE FReMEAUX

Wie schaffen Sie es, gleichzeitig ein Bühnenprojekt vorzubereiten und auf Ihrem Bauernhof zu düngen, zu pflanzen und zu ernten? Isabelle Fremeaux: Man wechselt ständig zwischen den Welten. Manchmal ist es anstrengend, aber gleichzeitig verleiht es den künst­ lerischen Projekten buchstäblich Wurzeln und eine Verbindung zum wirklichen Leben. Das war der Gedanke hinter unserem Umzug hierher. Wir wollten ein Leben führen, in dem unser Alltag mit dem, was wir in der Welt erreichen wollen, in enger Verbindung stehen. John Jordan: Für mich ist das auch Teil einer politischen und ästhetischen Entscheidung. Beim Pflanzen sagte ein Bäcker, der mit uns zusammen lebt, kürzlich: „Ich vertraue keinem Philosophen, der nicht mit den Händen arbeitet“. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Kunst und Philosophie früher Lebenskonzepte lieferten. Für mich bedeutet eine postkapitalistische Ästhetik, dass man aufmerksam mit seinem Alltag umgeht, dass das alltägliche Leben selbst zu einem Kunstwerk wird, das nicht in einem Museum eingeschlossen ist. Der Alltag selbst wird gestaltet, durchdacht, achtsam und bewusst konstruiert, eingebettet in ein ethisches System. Wir planen für dieses Projekt die Gründung einer Schule für kreativen Widerstand und Sozialökologie, basierend auf einer selbstgeführten Autowerkstatt und einer mobilen Küche. Seit wann arbeiten Sie schon auf Ihrem Bauernhof? Isabelle Fremeaux: Wir haben das Land vor zwei Jahren gekauft und leben seit eineinhalb Jahren hier. Der Boden war vor 15 Jahren aufgegeben worden, wir mussten ganz von vorne anfangen. Das Haus muss saniert werden, das Land muss wieder erschlossen werden und das braucht Zeit. Wir haben schon immer eine Spannung empfunden zwischen der Dringlichkeit des politischen Aktivismus und der Langsamkeit, die ein Leben im Kontakt mit den eigenen Bedürfnissen erfordert. Einerseits ist die Lage so dramatisch und dringlich, dass wir sofort handeln müssen. Wenn man aber andererseits in engerer Beziehung zum Land lebt, merkt man, dass man den Boden nicht hetzen kann, das funktioniert nicht. Diese Spannung ständig aushalten zu müssen, gibt dem Projekt eine ganz eigene Beschaffenheit. Wie? John Jordan: Wir unterscheiden drei verschiedene Zeitverläufe. Der erste ist die drängende ‚Zeit des Aktivisten‘. Dann gibt es die ‚Zeit der Kunst‘, dabei richten wir uns mit unserem

Tempo nach dem Material – der Schöpfungsprozess ist erst dann beendet, wenn wir die endgültige Form für das Projekt gefunden haben. Und zuletzt die ‚Zeit der Landwirtschaft‘, in der völlig anders mit Zeit und Jahreszeiten umgegangen wird. Die Beziehung zur Zeit und zu den Jahreszeiten ändert sich grundlegend, wenn man die Großstadt verlässt. Der Kapitalismus ist tief in unser affek­ tives und subjektives Leben eingeschrieben, nicht nur bezüglich unseres Konsumverhaltens, sondern auch unserer Gefühle. In der Großstadt ist es sehr schwer, die Sinne aus dem kapitalistischen Gefängnis zu befreien, das alle Beziehungen vergiftet. In der Stadt teilt man seine Welt nur mit den Menschen und nicht mit anderen Kreaturen. Eines der Schlüsselthemen der politischen Ökologie und Ästhetik ist es, andere Kreaturen und Arten, also auch eine Pflanze oder einen Stein, nicht nur als Dinge zu behandeln. Wie lange wird es angesichts dieser drei Zeitverläufe noch dauern, bis Sie die Schule eröffnen? Und haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, wie sie aussehen wird? John Jordan: Manchmal beschreiben wir das Projekt als eine Mischung zwischen Bauhaus und der Highlander Folk School. Das Bauhaus hat die Beziehungen zwischen Künstlern, Kunst und Gesellschaft neu definiert und die Grenzen zwischen Kunstformen, Kunst und Leben eingerissen. Die Highlander Folk School wurde in den 30er-Jahren in Tennessee als ländliches Experiment gegründet und existiert noch heute. Ihre beiden pädagogischen Hauptthemen waren Konflikt und Gemeinschaft. Die Menschen sollten in die Schule kommen und dort lernen, zusammen zu leben. Das war der erste Lernprozess. Im zweiten ging es um den Konflikt. Die Studierenden arbeiteten in sozialen Bewegungen und sollten vom Arbeitsprozess solcher Bewegungen in Konflikten lernen. Highlander wurde vor allem in der Bürgerrechtsbewegung bekannt: Rosa Parks war eine der Studierenden. Sie lernte dort neue Formen von Aktivismus und Ungehorsam und weigerte sich schließlich in einer epochemachenden Aktion, ihren Sitzplatz im Bus einer weißen Person zu überlassen. Isabelle Fremeaux: Die Schule soll ein Ort der Begegnung und des Austauschs werden. Sie könnte zu einer spannenden Brücke zwischen unserer sehr internationalen Arbeit der letzten Jahre und dem viel stärker geerdeten Leben werden, das wir jetzt hier führen. Glücklicherweise sind viele Anwohner hier politisch sehr aktiv, vor allem, wenn es in Auseinandersetzungen um Land und gegen oktroyierte

geändert hat. Und was sollen wir jetzt tun?“ Ein Teil des Workshops wird sein, zu untersuchen, warum wir eigentlich nicht das tun, von dem wir wissen, dass es getan werden muss.

industrielle Infrastruktur geht. Das Stück „We Have Never Been Here Before“ sehen wir gewissermaßen als den Samen für den Anfang der Schule. Wir wollen damit auf Tournee gehen und für die UN-Klimakonferenz in Paris 2015 mobilisieren.

John Jordan: Es ist faszinierend, was sich alles unter dem Label Postanarchismus findet: Verweigerung politischer und ästhetischer Repräsentation, die Bedeutung horizontaler Entscheidungsprozesse, neue Formen von Protestaktionen und Ungehorsam. Occupy ist ein klassisches Beispiel für eine solche Bewegung, in der alle diese Dinge normalisiert wurden. Man gründet nicht eine Partei, um die Regierung zu übernehmen, sondern man macht Raum für das, was die spanischen M15-Bewegungen „echte Demokratie“ nennen. Aber wir müssen noch viel lernen. Viele dieser Bewegungen zerstören sich selbst, weil es ihnen nicht gelingt, tatsächlich hierarchiefreie Räume zu schaffen. Und ich glaube, dass viele Aktivisten insgeheim das glauben, was der Kapitalismus uns eingebläut hat: dass wir nie gewinnen werden, dass es gar keine Alter­ native gibt, egal, was wir tun. Und es gibt immer noch einen liberalen Schwerpunkt auf Bewusstseinsveränderung. Wir müssen nur das Denken der Menschen verändern, wir verbessern die Bildung, wir machen tolle Medien­ stunts und dann werden die Leute schon merken, dass sich etwas ändern muss. Aber so wird Geschichte nicht geschrieben. Änderungen vollziehen sich erst, wenn diejenigen, die die Maschine steuern, gezwungen werden, anzuhalten und wenn ein „weiter so“ unmöglich wird. Direkte Protestaktionen haben nicht nur Symbolcharakter. Es geht nicht nur darum, eine Botschaft zu vermitteln, sondern darum, Ansatzpunkte zu finden, die es dem System unmöglich machen, weiter zu funktionieren. Das ist seit 2001 unglaublich schwierig, denn sobald man effektive Taktiken gefunden hat, wird man sofort kriminalisiert. Nur unwirksame Taktiken sind erlaubt. In der Kunstwelt gibt es einen Überfluss an wunderschönen, aber nicht sehr wirksamen Taktiken. Das Problem ist, dass viele Künstler keinen Staub aufwirbeln wollen, wenn dadurch ihre Karrieremöglichkeiten beeinträchtigt werden.

John Jordan: Ja, das Ziel der Schule ist es unter anderem, praktische, ökologisch gerechte Lösungen mit Aktionen des Ungehorsams zu vereinen. Die Leute werden in dieses ländliche Umfeld kommen, um zu lernen, wie man Alternativen und Widerstand zusammen entwickeln kann. In der Kunstwelt sehen wir einen starken Schwerpunkt auf praktischen Lösungen. Viele Künstler experimentieren mit Lösun­gen und das ist toll; aber nur sehr wenige politisieren diese Lösungen. Das Leben auf diesem Planeten wird nicht zerstört, weil es nicht genug künstlerische Gemeinschaftsgärten gibt. Es wird zerstört, weil Regierungen und multinationale Konzerne Profite machen wollen und bereit sind, dafür unsere Biosphäre zu vernichten. Es besteht die echte Gefahr, dass ein Großteil des Aktivismus und der ökologischen Arbeit in der Kunst zu einer kostengünstigen Entwicklungsforschung für neue Formen des grünen Kapitalismus verkommt, oder sogar zu einer Strategie, den Konzernen, die die Kunstinstitutionen fördern, einen grünen oder coolen Anstrich zu geben. Wir hoffen, dass die Schule Teil einer postkapitalistischen Bewegung wird, die sich weigert, die Ökologie zu entpolitisieren. Wenn ich mir ansehe, was seit der Konferenz in Seattle vor 15 Jahren im politischen Aktivismus geschehen ist, dann scheinen die Entwicklungen vor allem im Bereich der Formen vorangeschritten zu sein und darin, wie effektiv sie genutzt werden. Und jetzt bin ich verzweifelt, weil diese Entwicklungen weiter gekommen sind, als ich für möglich gehalten habe, dies alles aber zu nichts geführt hat.

Wie könnte man das „weiter so” unterbrechen?

Isabelle Fremeaux: Dieses Gefühl war gewissermaßen der Anstoß zu „We Have Never Been Here Before”. Denn das Labofii hat zehn Jahre lang versucht, Künstlern und Aktivisten Raum dafür zu geben, neue Formen des kreativen Widerstands zu entwickeln. Manche Projekte waren interessant, andere haben nicht funktioniert. Und schließlich haben wir uns gefragt: „Was ist dabei herausgekommen?“ Das war der Anstoß dazu, die bittere Pille zu schlucken und nicht einfach weiter zu machen wie in den letzten zehn Jahren, sondern innezuhalten und nachzudenken. Unser sehr persönliches Narrativ ist: „So ist das Ausmaß des Problems, hier sind unsere Versuche, etwas zu unternehmen und hier sehen wir, was sich alles nicht

John Jordan: Man muss es wie Akupunktur betrachten: Wenn man akupunktiert, dann bezieht sich jeder Punkt auf einen anderen. Hier in diesem kulturellen Kontext wäre es ein enorm wichtiger erster Schritt, unsere Kulturinstitutionen aus dem Interessenbereich der Lobby für die fossilen Brennstoffe zu lösen. Isabelle Fremeaux: Auch für uns gab es kein „weiter so”. Wir haben uns von dem Gedanken verabschiedet, dass man sein schönes Leben haben kann, seine schöne Karriere, weiter von einem Festival zum nächsten, von einer Aktion

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zur nächsten reisen kann, dann nach Hause fahren und denken, das würde nun etwas bewirken. Wir entschlossen uns, alles zu ändern, die Stadt und unsere Universitätsjobs hinter uns zu lassen und uns auf dieses Experiment einzulassen. Ich finde, wir müssen aufhören, uns selbst zu belügen und zu denken, wir können einfach weitermachen und dann wird sich alles wie durch Magie ändern. Irgendwann müssen wir akzeptieren, dass wir nur dann einen Ausweg aus der Kapitalismuskrise finden, wenn wir alles in Frage stellen, das uns bisher selbstverständlich erscheint. Ich habe das Gefühl, dass man nur auf der lokalen Ebene agieren kann. Wenn ich konsequent dem folge, was Isabelle sagt, muss ich in einem anderen Umfeld leben. Was mich davon abhält, ist das Gefühl, dass es sich dabei um einen Rückzug handeln würde. Ich weiß nicht, was der Ausgleich für den Verlust an politischem Einfluss durch diesen Rückzug sein könnte.

John Jordan: Der Schlüssel liegt in einer sukzessiven Bewegung und einem Rückzug von jeder Form von Kapitalismus, den man selbst als erdrückend empfindet. Es ist der Versuch, sich von allen Mechanismen zu entfernen, die die kapitalistische Logik reproduzieren. Aber während dieses Rückzugs entwickelt man Orte, Knotenpunkte und Argumente, die zu neuen Fronten für den Angriff werden. Wie in einer Guerilla zieht man sich zurück, nicht um zu trauern und aufzugeben, sondern um wieder anzugreifen. Wir fliehen nicht vor der Welt, um uns auf unsere egozentrischen ChakraPunkte zu konzentrieren. Wir finden neue Positionen und verbinden uns mit vielen ver­ schiedenen Welten, um im Kampf gegen die Energie-Branche und das zerstörerische Finanzsystem stärker, autonomer und durchhaltefähiger zu werden.

bedeutet „nirgends“. Also sind wir von überall nach nirgends gereist. Das aktuelle Projekt heißt „We Have Never Been Here Before“. Das „hier” ist wichtig: Wir brauchen ein Gefühl der Verortung, denn wir verbringen einen großen Teil unseres Lebens im Internet, in Maschinen. John Berger sagt, dass eines der Probleme der Linken ist, dass sie eine globale Lösung sucht. Aber, sagt er, um etwas zu ändern, muss man seine Beschaffenheit genau kennen. Die Kunst zeigt uns, wie man sein Material gründlich erkundet. Und ich glaube, davon kann der Aktivismus lernen. Um auf die Zapatisten zurückzukommen: Subcommandante Marcos hörte vor dem Aufstand von 1994 18 Jahre lang zu. Er versuchte, herauszufinden, wie man eine postmoderne, städtisch geprägte Politik mit einer indigenen, ländlichen Kosmologie zusammenführen kann. Er arbeitete fast zwanzig Jahre daran, diese beiden Dinge zusammenzubringen und eine ganz neue Art und Weise zu entwickeln, über Politik nachzudenken. Nur, angesichts der Klimakatastrophe haben wir nicht mehr 18 Jahre Zeit, zuzuhören. Wozu brauchen wir dabei überhaupt noch die Kunst? Isabelle Fremeaux: Kunst, oder vielmehr der Kunstprozess, bricht neue Möglichkeiten auf und ist sehr gut darin, zu beobachten. Wir brauchen eine Kultur des Widerstands und eine Kultur des Widerstands braucht Künstler.

Isabelle Fremeaux: Für mich geht es hier um die Verortung unseres Lebens und darum, ein Gefühl der Erdung zu bekommen. Ohne Erdung wird man leicht umgeworfen. Viele der kämpferischen Bewegungen haben trotz verschwindend geringer Aussichten enorme Stärke gezeigt, zum Beispiel die Zapatisten, die schwarze Bürgerrechtsbewegung, Südafrika oder die irische Unabhängigkeitsbewegung. Sie alle waren politische Bewegungen mit einem starken Element der Verortung und Erdung. Sie wussten, wer sie waren und was sie wollten. Mir geht es auch darum, dieses Gefühl zurück zu gewinnen. Also kein Rückzug im Sinne von „Mir reicht’s, ich höre auf“, sondern eher ein Widerruf meines Einverständnisses.

John Jordan: Für mich liegt die Kunst in der Art und Weise, wie ich etwas tue. Man schafft keine postkapitalistische Kultur, solange es noch eine Trennung zwischen Kunst und Alltag gibt. In einer postkapitalistischen Kultur ist jeder am leidenschaftlichen Ausdruck seiner Wünsche beteiligt, nicht nur die Künstler, jede Arbeit wird zum leidenschaftlichen Ausdruck des Ichs und ist gleichzeitig der Gesellschaft nützlich. In einer Welt, wo jeder Künstler ist, verschwindet die Kunst. Was aber zurückbleibt, ist der Geist der Kreativität. Dabei handelt es sich ganz einfach um Aufmerksamkeit, eine Art der Liebe. Denn letztlich geht es darum, zu lieben, was man tut und die Welt tief zu empfinden. In der Übergangsphase zu einer postkapitalistischen Welt brauchen wir eine Kultur des Widerstands und dazu gehören auch die hergebrachten Vorstellungen davon, was ein Künstler ist. Aber das Wichtigste ist es, die Künstler dazu zu bringen, aus der Kunstwelt zu desertieren und ihre Fähigkeiten und Kreativität aufständischen Aktionen zu widmen. Macht keine Bilder oder Stücke mehr über die Rebellion, sondern gestaltet sie! Wir sehen das Laboratory of Insurrectionary Imagination als Rekrutierungsbüro für Deserteure.

John Jordan: Im Jahr 2003 habe ich das Buch „wir sind überall” mit herausgegeben und 2007 gab es unser Buch/Film-Projekt „Pfade durch Utopia”. Das griechische Wort „utopia“

Interview: Matthias von Hartz Transkription: Vera Hölscher Übersetzung: Elena Krüskemper

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

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RETROSPECTRES – PHANTOMS AND GHOSTS

(1999–2014 )

Musik/Performance Uraufführung Mo 7. Juli 2014, 21:00 Uhr Haus der Berliner Festspiele, Große Bühne Dauer 80 min

EIGN AIRS 13.7.14 –

In englischer und deutscher Sprache

Musik & Performance: Phantom Ghost Bühne: Cosima von Bonin Kostüme: Augustin Teboul Puppenspiel: Tucké Royale, Rike Schuberty Vortrag: Eike Wittrock Inszenatorische Beratung: Johannes Müller, Philine Rinnert Produktion: Berliner Festspiele / Foreign Affairs Koproduktion: Internationales Sommerfestival Hamburg Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds Foto: © Cosima von Bonin / Michael Straßburger / Dejan Saric

Wir waren zügellos und mochten uns gern, deswegen gründeten wir eine Band. Das geschah damals oft. Vermutlich existieren wir noch, weil wir gern weitschweifig parlieren. Wir haben einfach immer weiter geplaudert. 2. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Hape Kerkelings legendäre Kunstlied-Persiflage „Hurz!“ Sie schwer beeinflusst hat Was ist so inspirierend an dem Sketch von Hape Kerkeling und Achim Hagemann? Eine schwere Frage. Wir ziehen einen Haiku-Generator hinzu: In the Hurz Hurz these Hurz Hurz A Hurz Hurz Das kommt einer richtigen Antwort nahe. 3. Ein weiteres Duo scheint für die Musik von Phantom Ghost wichtig zu sein: die Londoner Gilbert and Sullivan. Das Komponisten-Librettisten-Duo ist in Deutschland kaum bekannt, die britische Comic Opera des 19. Jahrhunderts sowieso nicht – bitte erzählen Sie ein wenig von den beiden. Die Comic Operas von Gilbert and Sullivan hüpfen im viktorianischen Gewand mit grosser Leichtfüßigkeit ins Groteske, die Melodien sind schön und die Texte witzig und wegen ihrer dialogischen Diktion oft erstaunlich zeitgenössisch. Oft stellen sie Sachverhalte und Klischees auf den Kopf und beziehen daraus ihre Energien: Topsy-Turvy! Das lieben wir! In England werden ihre Stücke bis heute aufgeführt und sie sind etwa so bekannt wie Hape Kerkeling in Deutschland. Für ihre Werke laufen nach und nach die Urheberrechte aus, hat uns jemand erzählt. Wir haben es nicht überprüft. 4. Mittlerweile hat Phantom Ghost fünf Alben veröffentlicht. Könnten Sie kurz zusammenfassen, wie sich die Alben voneinander unterscheiden und wo sich eventuell ein roter Faden ausmachen lässt? 2000 war es für uns das Schönste, in Clubs

wie im WMF, der alten Panoramabar, dem Studio 672, dem Click oder dem Robert Johnson aufzutreten. Wir liebten Remixes, feierten das Subjektverschwinden und das Stroboskop und versuchten, diese Techniken auf das Liederschreiben zu übertragen. Unsere Schallplatten sollten essayistische Gesamtwitze zu Themenstellungen wie „Das Namenlose Grauen“ oder „Yves Saint Lawrence Of Arabia“ sein. Gesichtsbilder auf unseren Plattenhüllen waren tabu.2014 ist es für uns das Schönste, einige Freunde ins Haus der Berliner Festspiele einzuladen und uns in Gesang und Spiel zu vermengen. Das Performative ist die neue Kostbarkeit und gern präsentieren wir uns und räkeln uns im Licht, so lange Interesse besteht. Gesichts­ bilder: Ja, gern (aber bitte auf den Winkel achten). Immer begleitet hat uns unser schon beschriebener Dampfplaudermotor. 5. Die Zusammenarbeit mit Cosima von Bonin ist erprobt, gleichzeitig markiert die gemeinsame Arbeit an „Retrospectres“ doch einen neuen Grad bzw. eine neue Intensität. Wie sahen die bisherigen Zusammenarbeiten aus? Cosima gestaltet unsere Albumhüllen und wir nehmen an ihren Arbeiten im schönsten Frondienst als Musiker, Zeichner und Statisten teil, wann immer sie uns zu sich ruft. 6. Und wie gestaltet sich die Zusammenarbeit für den Abend bei Foreign Affairs? Was sehen wir von Cosima von Bonin? Sie kümmert sich um die Gestaltung der Bühne und bezieht dabei einige ihrer Kunstwerke ein. Außerdem gibt es eine Sonderanfertigung, die hier noch nicht verraten sei. Der geneigte Leser dieser Zeilen wird das Ergebnis ja gleich selbst begutachten können. 7. Relativ früh stand fest, dass die Berliner Haute-Couture-Schneiderinnen Augustin Teboul die Kostüme entwerfen sollten. Wie kam es zu dieser Wahl? „Schwarz ist meine Zuflucht.” Yves Saint Laurent Sie machen schöne Kleider und arbeiten vorwiegend mit schwarzen Stoffen. Da wir uns naturgemäß der Dunkelheit verbunden fühlen und die ornamentale Sexiness ihrer Designs uns gut geeignet schien, unsere

Das stimmungsvolle, gespenstische, mysteriöse und filmbesessene Gemeinschaftsprojekt Phantom Ghost besteht aus Dirk von Lowtzow (aka Phantom, der auch die Stimme der Band Tocotronic ist) und Thies Mynther (aka Ghost, der auch an den Bands Stella und Superpunk beteiligt war). Die beiden deutschen Künstler lassen sich von Widerklängen aus der Vergangenheit betören und beschäftigen sich damit, wie diese die Gegenwart beeinflussen – und genau das spiegelt sich in ihren elektronischen Produktionen wieder, bei denen organische Instrumente wie Klaviere und Saiteninstrumente zum Einsatz kommen. Im August 2001 veröffentlichten Phantom Ghost ihr gleichnamiges Album bei Ladomat 2000. Ergänzt wurde die Veröffentlichung von „Phantom Ghost“, in dessen Zentrum der epische, grüblerische Vocal-Track „Perfect Lovers“ steht, durch zwei EPs mit jeweils diesem Song auf der A-Seite. Mit der Veröffentlichung des Nachfolgealbums „To Damascus“ haben sich beide Künstler 2003 entschieden, das relativ lose Projekt zu einem festen Duo werden zu lassen, es folgten die Alben „Three“ (2006), „Thrown Out Of Drama School“ (2009) und „Pardon My English“ (2012).

COSIMA VON BONIN Die 1962 im kenianischen Mombasa geborene Cosima von Bonin lebt und arbeitet in Köln. Im Jahr 2010 präsentierte das österreichische Kunsthaus Bregenz „The Fatigue Empire“, eine umfassende Einzelausstellung ihrer zu der Zeit aktuellen Werke. Ihre darauf folgende Wanderausstellung, die „Lazy Susan Series“, wurde im Witte de With, Rotterdam (Oktober 2010 bis Januar 2011), im Arnolfini, Bristol (Februar bis April 2011), im MAMCO, Genf (Juni bis September 2011) und im Museum Ludwig, Köln (Juli bis Oktober 2011) gezeigt. In den USA feierte von Bonin ihren ersten großen Erfolg 2007 mit ihrer Ausstellung „Roger and Out“ im Museum of Contemporary Art, Los Angeles. Weitere Einzelausstellungen präsentierten unter anderem der Kölnische Kunstverein (2004), der Kunstverein Hamburg (2001), der Kunstverein Braunschweig (2000) und die Kunsthalle St. Gallen, Schweiz (1999). Darüber hinaus nahm von Bonin an Gruppenausstellungen im Museum of Modern Art in New York und im Les Abbatoirs im französischen Toulouse sowie an der Documenta XII in Kassel und vielen weiteren teil. Ihre Werke sind in zahlreichen angesehenen Sammlungen auf der ganzen Welt vertreten, unter anderem in der Tate Britain in London, im Museum für Neue Kunst im ZKM in Karlsruhe und im Stedelijk Museum in Amsterdam sowie im Museum of Contemporary Art in Los Angeles, im Museum of Modern Art in New York und im Mildred Lane Kemper Art Museum.

3 Limericks For Liberty Asked for Tristan Chord or a tritone All that you have is a single trombone The ceiling´s art deco So just use the echo Hope it will blow them right off their throne When asked to repaint the golden fleece Only one color is left for your piece You should just use the sun She will get it all done Patterns of light will fall through the trees When all eyes fixed on the wunderkind The milk of all human reason was thinned Once they all were raptured You saw you were captured Words shine bright when you write on the wind

FORE AFFA 26.6.

Phantom Ghost, 2012

13 FRAGEN AN PHANTOM GHOST 1. Wie kam es zur Gründung Ihres Projektes? Sie waren im Jahr der Gründung ja bereits in anderen Gruppen tätig. Phantom Ghost klang und klingt doch recht anders, verglichen mit z.B. Tocotronic oder Superpunk bzw. Stella.

PHANTOM GHOST

burleske Kauzigkeit zu komplementieren, lag die Wahl recht nah. Dass sie bis dato noch keine Kleidung für „Männer“ entworfen haben, schien uns eher Reiz als Hindernis. 8. Bei den Vorgesprächen war neben der Beteiligung von Augustin Teboul schnell klar, dass zusätzliche Akteure auf der Bühne zu sehen sein sollten. Warum? Und wie fiel dann die Wahl auf Rike Schuberty, die dann später wiederum Tucké Royale mit ins Boot holte? Was interessiert Euch am Puppenspiel? Freunde und verwandte Geister zur Kollaboration einzuladen, war schon immer Teil des Spaßes. Und auch notwendig, weil wir manches nicht können. Zum Beispiel Handpuppenspiel. Wir lieben es, wenn der Trick sichtbar ist. Rike hatte gerade Patti Smiths Buch „Just Kids“ in einer Puppenversion auf die Bühne gebracht, als wir in diese Richtung suchten. Wir kannten uns aber auch schon über die Musik. Sie hat ja auch schon in einigen Bands gespielt, die unsere Wege kreuzten. Da es aber eine Weile nicht ganz klar war, dass sie dabei sein würde, brachte sie selbst Tucké als mögliche Vertretung ins Spiel. Da dann aber beide Lust hatten, mitzumachen, haben wir natürlich ja gesagt und freuen uns über die Plaudergesellschaft. 9. Was fasziniert die Gruppe Phantom Ghost so an Yves Saint Laurent? Er taucht immer wieder in Songs auf… Wie ist es möglich, nicht fasziniert zu sein von der Mischung aus Dünnhäutigkeit und Eleganz, die er verkörpert? Sein offensiver, inszenatorischer Umgang mit seinen Dämonen und Schwächen und die Leichtigkeit seiner Entwürfe, die so emblematisch geworden sind, sollten noch viel mehr Einfluss haben. Wir haben ihm drei Stücke gewidmet, von denen wir heute nur eins spielen. Dafür werden wir ihn selbst zu Wort kommen lassen. 10. Eine Intervention der beiden Puppenspielerinnen wird das Rezitieren des Gedichts „Song“ von John Donne beinhalten. Im Anschluss soll die Phantom-Ghost-Komposition „Tannis Root“ gespielt werden, „die eine satanische Aneignung von Donnes metaphysischen Versen ist“, wie Dirk mir einmal sagte. Wie findet man solche Referenzen, wie genau sieht eine „satanische Aneignung” aus?

Das Okkulte war uns schon immer ein liebes Stilmittel, um Kontexte auf den Kopf zu stellen. Hier hat es dieses auch ins Positivum gewandte schöne Gedicht von John Donne getroffen, das wir mit Referenzen an „Rosemary‘s Baby“ gekreuzt haben. TopsyTurvy! Ist ganz einfach. Das Gedicht wird übrigens in einer interessanten deutschen Übersetzung vorgetragen. 11. Eine weitere Konstante im Œuvre von Phantom Ghost ist die Serie „Buffy The Vampire Slayer“. Spielt sie an dem Abend im Haus der Berliner Festspiele auch eine Rolle? Sie hat sich ja schon 2003 zurückgezogen, aber obwohl Buffy und ihre Freunde heute nur kurz auftauchen, war gerade die legendäre Musicalfolge „Once More With Feeling“ ein großer Einfluss und eine Initialzündung. 12. Bei den ersten inhaltlichen Gesprächen war er oft dabei, heute Abend wird er einen Gastauftritt haben: Eike Wittrock. Worüber redet er bei „Retrospectres”? Passend zu den Motive des Mollusken und Maritimen erwarten wir einen seiner reizenden Vorträge. Versprochen wurden uns federnhafte Seeanemonen und Korallen­ ballette und ein Überblick über UnterwasserNummern des 19. und 20. Jahrhunderts. 13. Last but not least: Philine Rinnert und Johannes Müller. Ich sah ihre grandiose Regiearbeit „Herculaneum“ in den Sophiensaelen, bei der auch der bereits erwähnte Eike Wittrock als Dramaturg mitwirkte, und holte sie ins Boot. Könnt Ihr beschreiben, warum für solch einen Abend eine, wie wir es nun genannt haben, „inszenatorische Beratung“ hilfreich ist? Nun, wir haben Umzüge, eine Art Dramaturgie, eine große Bühne mit Kunstwerken, zu denen wir uns in Beziehung setzen und einige Gäste. Da schien es uns eine gute Idee, noch einen Blick von vorn zu haben, auch weil wir durch unsere Theatererfahrungen ein gutes Licht und ein offenes Wort zu schätzen gelernt haben.

Interview: Martin Hossbach

Diskografie Perfect Lovers Pt.1 (with remixes by Alter Ego, Superpitcher & Tobias Thomas) 12“-Vinyl Single Ladomat 2001

Three Album, CD/LP Lado/Dial Records 2006 Guests: Michaela Meise Artwork: Cosima von Bonin

Perfect Lovers Pt.2 (with remixes by Lawrence & Carsten Jost and Alter Ego) 12“-Vinyl Single Ladomat 2001

Relax (It‘s Only A Ghost) (with remixes by Efdemin/Carsten Jost and Pantha Du Prince) 12“-Vinyl Single Dial Records 2006 Artwork: Alexander Rischer

These Days/Jean/Technicolor Split-12“-Vinyl Single with Efdemin Dial Records 2001 Phantom Ghost – Same Album CD Ladomat 2001 Electronic Alcatraz (with a Glove Remix and a cover version of „Good Night Lovers“) 12“-Vinyl Single Ladomat 2002 To Damascus Album CD/DoLP Ladomat/ Mute 2003 Guests: Justus Köhncke, Ebba Durstewitz Artwork: Cosima von Bonin Nothing Is Written (with remixes by Coloma and Tobias Thomas & Superpitcher) 12“-Vinyl Single, Maxi CD Ladomat 2003 Born With A Nervous Breakdown (with remixes by Rework and Swayzak) 12“-Vinyl Single Ladomat/Mute 2003

DIAL 40 („You´re My Mate“) (with Jost & Klemann, Sten, Rndm, Pigon, Pantha Du Prince) Double 12“-Vinyl Single St. Lawrence 7“ Single Clouds Hill Recordings 2009 Thrown Out Of Drama School Album, CD/LP Dial Records 2009 Guests: Michaela Meise Artwork: Cosima von Bonin Live At Clouds Hill (Four early works for piano, with signed artwork by Annette Kelm) Vinyl EP, limited edition 0f 100 En/Of 2009 Dial 2010 („My Secret Europe“) CD Compilation Dial Records 2010 Four Shadows (with remixes by Pantha Du Prince, Efdemin, Carsten Jost) 12“-Vinyl Single Dial Records 2010 Pardon My English Album, CD/LP Dial Records 2012

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

Maison Fondée en 1851 à Saumur

BOUVET LADUBAY BRUT

DE

LOIRE



ZOO

MANUELA INFANTE

Theater

geboren 1980 in Santiago de Chile, hat einen Bachelor of Arts von der Universidad de Chile und einen Master of Arts in Kulturwissenschaft von der Universiteit van Amsterdam. Mit ihrer Gruppe „Teatro de Chile“ hat sie als Autorin und Regisseurin „Prat“ auf die Bühne gebracht, das auf dem Festival Víctor Jara im Jahr 2002 den ersten Preis in den Kategorien Stück und Regie gewann, des weiteren Stücke wie „Juana“ (2003), „Rey Planta“ (2006), „Ernesto“ (2010) und „Loros Negros“ (2011). Alle Arbeiten wurden vom Nationalen Fonds für die Künste FONDART gefördert. Sie inszenierte außerdem „Fin“ (2008), eine Koproduktion mit dem VIE Scena Contemporanea Festival in Modena, Italien, und „What‘s He Building In There?“ (2011), entwickelt im Rahmen einer Residenz in Robert Wilsons Watermill Center. Im Jahr 2012 zeigte sie „Don‘t Feed The Humans“ am Hebbel am Ufer, Berlin. Drei ihrer Stücke sind in Chile und anderen Ländern als Buch erschienen. Manuela Infante lehrt an verschiedenen Theaterfakultäten in Santiago de Chile. 2014 wurde sie Künstlerische Leiterin der vom Consejo Nacional de la Cultura y las Artes organisierten XVI. Playwright Selection.

Di 8. Juli 2014, 20:00 Uhr, Artist Talk im Anschluss an die Vorstellung

Mi 9. Juli 2014, 20:00 Uhr Haus der Berliner Festspiele, Seitenbühne

TEATRO DE CHILE

Dauer 65 min

EIGN AIRS 13.7.14 –

In spanischer Sprache mit deutschen/englischen Übertiteln

Das Kollektiv Teatro de Chile wurde 2001 von Schauspielern und Bühnenbildern der Theaterfakultät der Universität von Santiago de Chile gegründet. Seine erste Inszenierung „Prat“ (2002) war dem Leben des chilenischen Nationalhelden Arturo Prat gewidmet und wurde äußerst kontrovers aufgenommen. Spätere Inszenierungen basierten auf den Biografien historischer Figuren wie Jeanne d’Arc oder Jesus von Nazareth. Im Jahr 2009 erhielt das Kollektiv eine der höchsten Fördersummen, die das Chilenische Ministerium für Kultur und die Künste jemals vergab. Aufgrund der konstant hohen Qualität seiner Arbeit sollte somit die Finanzierung der Arbeit des Kollektiv über einen Zeitraum von zwei Jahren gesichert werden. „Zoo“ ist die elfte Inszenierung von Teatro de Chile.

Mit: Cristián Carvajal, Ariel Hermosilla, Héctor Morales, Rafael Contreras

Regie: Manuela Infante Dramaturgie: Manuela Infante und Teatro de Chile Video: Nicole Senerman Bühne: Claudia Yolin und Rocío Hernández Sounddesign, Musik: Diego Noguera Schauspielcoach: María José Parga Produktion: Katy Cabezas Grafisches Design: Javier Pañella Mit Unterstützung von: Goethe Institut Foto: © Patricio Imbrogno

FORE AFFA 26.6.

GESPRÄCH MIT MANUELA INFANTE Sie nennen Ihren Ansatz, Theater durch Philo­ sophie zu erschaffen, unverantwortliche Philosophie – warum? Ich verwende Ideen, die ich in einem Text gelesen habe und kombiniere sie mit meiner eigenen Unwissenheit und meiner alltäglichen Weisheit. Würde ich einen Essay schreiben, dann müsste ich mich auf jedes Konzept beziehen, das ich verwende, und müsste für das, was ich sage, Verantwortung übernehmen. Sie müssen sich in diesen Korpus von Zitaten integrieren. Genau. Und man muss jeden Schritt in dieser geschichtlichen Entwicklung zurückverfolgen. Ich denke philosophisch, ohne mich korrekt in die Tradition der Konzepte und Ideen einschreiben zu müssen. Das ist spielerischer und erlaubt mir ein gewisses Maß an Poesie. Deshalb mag ich die Texte von Jean-Luc Nancy so sehr. Wie er integriert eine ganze Reihe zeitgenössischer Denker die poetischen Aspekte der Sprache freier in ihre Arbeit. Vielleicht bezieht sich die Unverantwortlich­ keit nicht auf die Erschaffung von etwas, das gesellschaftlich relevant ist, sondern eher darauf, dass diese Art, mit unverantwort­ licher Philosophie Theater zu machen, sich nicht an die Regeln der akademischen Welt hält. Nur so kann das Theater überhaupt auf die Gesellschaft reagieren. Das stimmt. Ich glaube auch, dass es darum geht, mehr philosophische Konzepte in das Leben eindringen zu lassen. Das ist überaus verantwortlich, weil es sehr politisch ist. Ich erlaube es einem Gedanken, zu wirklichen Körpern und echter Interaktion auf der Bühne zu werden; die Ideen finden eine Verkörperung in der Zeit. Das ist der verantwortliche Akzent, die politische Geste. Wenn man das Wort „unverantwortlich“ im philosophischen Sinne sieht – vielleicht ken­ nen Sie Levinas’ Konzept des Antwortens – ist der Wortkern „antworten“ darin enthalten. Verantwortlich hieße hier, dass man ständig darauf bedacht sein müsste, die Regeln die­ ses Spiels zu beachten, die Regeln der Philo­ sophie oder der akademischen Theorie, die uns auf das beschränken, was bereits exis­ tiert. Man antwortet darauf und bleibt

damit stets innerhalb desselben Rahmens. Ich sehe in Ihrer Arbeit den Versuch, neue Arten der Wahrnehmung zu eröffnen. Vor allem in „Zoo“ geht es um diese Grenzen. Sie sprechen von Spiegelneuronen. Was spiegeln wir, worauf antworten wir? Das Publikum muss darüber nachdenken, was auf der Bühne eine Illusion und was echt ist. Wobei wir ja wissen, dass auf der Bühne letztlich nichts echt ist. Dieses Thema möchte ich bei meinem nächsten Projekt untersuchen. Auf der Grundlage der Konzepte von Bruno Latour und Jane Bennett möchte ich mich mit der Wirkung nicht-menschlicher Kräfte auf soziale Ereignisse beschäftigen. Von Kräften wie Wind oder Elektrizität. In Jane Bennetts wunderbarem Buch „Vibrant Matter“ stellt sie die Frage, wie es wäre, wenn man nicht-menschliche Kräfte als Subjekte unserer Narrative über Ereignisse in der Gesellschaft sehen würde. Mir wurde klar, dass sich unsere theatralen Narrative stark auf Menschen konzentrieren. Was würde es bedeuten, eine theatrale Situation nicht anthropozentrisch zu verstehen? Natürlich wirken auf der Bühne echte Kräfte: Es gibt die Schwerkraft, elektrische Beleuchtung, diese Dinge finden tatsächlich statt – es ist eine neue Dimension. Ich habe bei dieser Produktion sehr gerne mit dem Thema Illusion gearbeitet und wollte damit die übliche Konfrontation zwischen Bühne und Publikum hinterfragen. Können Sie das etwas genauer erläutern? In „Zoo“ gibt es zahlreiche Aspekte, die mit einer akademischen Struktur spielen. Und es findet eine unverantwortliche Vermischung von echter und falscher Information statt. Wir haben eine ethnische Gruppe erfunden, eine ganze Weltanschauung, ökonomische Systeme, einen Gott, eine Sprache und Rituale. Das macht übrigens wirklich Spaß. In diese Erfindung wurden Fakten über echte ethnische Gruppen im chilenischen Teil Patagoniens gemischt. Darwin wird zitiert, Dinge werden beschrieben und es wird nie unterschieden zwischen echter akademischer Information und von uns erfundenem Quatsch. Ich finde, dass man noch mehr daran arbeiten müsste, diese Grenze zu verwischen. Darin liegt neben der Struktur der Stücke ein weiterer Aspekt der Unverant­ wortlichkeit: Ich nehme Inhalte aus der

Philosophie, vermische und verschränke sie miteinander und mache sie so zu Poesie. Allerdings kämen wir in die Klemme, wenn jemand das Stück völlig für bare Münze nehmen würde, denn man kann die echte Information von der fiktiven nicht unterscheiden.

Vor vier Jahren hätte ich das bejaht, aber ich glaube, es verändert sich da etwas. Damals war ich sehr von meinem Studium an der Universität von Amsterdam geprägt. Es gab dort einen sehr poststrukturalistischen Ansatz, ich war quasi einer Gehirnwäsche unterzogen. Ich habe mich lange für den Gedanken der Realität als Konstrukt interessiert. Aber dann wurde mir bei dem Konzept der Relativität der Realität langsam unbehaglich. Zu dieser Zeit kam mir der Gedanke an die Pflanzen. Ich schreibe schon ewig an einem unvollendeten Stück namens „Konferenz für die Pflanzen“. Ich stelle mir eine Konferenz vor, bei der ein Mensch zu einem Publikum aus Pflanzen spricht und versucht, mit ihnen zu kommunizieren, als wären sie eine Art stabiler äußerer Realität. Jetzt geht meine Arbeit einem anderen Gedanken nach – ich glaube, das gilt auch für „Zoo”. Auf ironische Weise schlägt auch diese Arbeit eine andere Annäherung an den Prozess des Wissens vor.

Es gibt ein berühmtes Zitat von Donna Haraway: „Die Grenze zwischen Realität und Science Fiction ist eine Illusion“. Daran hat mich Ihre Produktion erinnert. Ja, natürlich. Als Sie von „Illusion“ sprachen, fiel mir dieser Gedanke ein. Wenn wir Donna Haraway ernst nehmen und diese Grenze zwischen Realität und Science Fiction tatsächlich nicht existiert, dann blei­ ben nur noch Prozesse zur Schaffung sinnvol­ ler Rahmenkonzepte. Genau! (lacht) Deshalb sehe ich Theater­ machen und „Theorien-Machen“ auch als analog. Ich verstehe die beiden Prozesse nicht als getrennt. Das meinte ich, als ich sagte, dass für mich ein Theaterstück ein Essay ist. Wenn ich an der Universität unterrichte, versuche ich, den Studenten zu vermitteln, dass eine Szene eher als ein Argument verstanden werden kann, als eine Perspektive oder eine Stufe in einem theoretischen Narrativ, und nicht unbedingt von Figuren vorangetrieben werden muss. Das bezieht sich auch auf den Gedanken, dass die Kräfte in einem Narrativ nicht unbedingt von einem subjektiven Willen angetrieben werden. Manchmal passieren die Dinge jenseits einzelner subjektiver Willen. Wir haben mit der Company anfangs eine Reihe von Stücken über historische Figuren gemacht. Zuerst ein Stück über Arturo Prat, einen Nationalhelden aus einem unserer Kriege gegen Peru und Bolivien am Ende des 19. Jahrhunderts. Danach kamen Stücke über Jeanne d’Arc und Jesus. Es ist eine alte Idee, aber wir waren noch jung. Es geht um den Gedanken der Geschichte als narratives Konstrukt und darum, die Geschichte zu verste­ hen als ein Narrativ, mit dem die Gegenwart verstanden werden kann.

Wie haben Sie sich bei den Vorarbeiten zu „Zoo“ dem Thema genähert? Alles begann mit einem Darwin-Zitat. Ich beschloss, ein Stück über Kulturgruppen zu machen, die in Patagonien leben. Ich war in Patagonien gewesen und hatte mich in die Natur dort verliebt. Dann las ich Darwin, der zufällig mit FitzRoy nach Patagonien gereist war. Dort waren sie dem Volk der Yaghan begegnet. Darwin war überrascht, wie gut diese Menschen imitieren konnten. Mir kam der Gedanke, dass die Mimesis vielleicht ein alternativer Entwurf sein könnte, in der Welt zu sein. Eine Alternative (und das ist wiederum das unverantwortliche Element) zum eher modernistischen Ansatz, den ich „Gewinnung von Wissen“ nenne. Wie könnte die Mimesis eine Alternative darstellen? Wir begannen, uns mit dieser Idee zu beschäftigen. Ich beschloss, dass wir eine ethnische Gruppe erfinden würden, deren Lebensweise auf der Mimesis beruht. Diese Leute kämpfen nicht ums Überleben, sondern sie verschwinden. Sie überleben, indem sie die Welt um sich herum imitieren. Auch wenn wir nicht spezifisch über das Thema sprechen, so denken wir doch darüber nach, ob auch wir als Menschen verschwinden werden. Stehen wir vielleicht kurz vor unserer eigenen Vernichtung? Und mich interessiert es, dass der Gedanke an unser Verschwinden – ich glaube,

Würden Sie sagen, dass der politische Aspekt Ihrer Arbeit darin liegt, neue Narrative zu konstruieren und neue Perspektiven auf die Narrative zu öffnen, die wir kennen und die wir als wahr und real ansehen?

das ist ein Wunschgedanke – endlich das anthropozentrische Herangehen an die Dinge aufbricht, das seit der Moderne herrscht. Sie haben sich wegen Ihres Unbehagens ange­ sichts des poststrukturalistischen Verständnis­ ses der Realität als Konstrukt nun der Materie zugewandt. Dazu gehören die Fragen nach dem Rang des Menschen in der Welt und dem Übergang zum Posthumanismus. Vor zehn Jahren ging es beim Posthumanismus um virtuelle Realität, um Roboter. Damals fürch­ teten wir uns, heute aber sehnen wir uns danach. In jener Periode der historischen, charakterorientierten Stücke ging es um die soziale Konstruktion der Realität und um den Unterschied oder den nicht-vorhandenen Unterschied zwischen Fiktion und Realität. Aber nun hat sich das Interesse auf eher posthumanistische Ideen verlagert. Und auf das Mystische. Es geht auch um die Faszination des Mysteriums, in dem Sinne, dass das Mysterium ein Hinweis auf das ist, was jenseits unserer selbst liegt. Früher nannte man es Gott, aber man könnte es auch Natur nennen oder ähnliches. Es gibt ein Zitat von Latour, das ich sehr liebe: „Warum tue ich nie, was ich tun will?“ Ich verstehe das so, dass meine Absicht nie mit dem übereinstimmt, was am Ende herauskommt. Ich habe viel über das Scheitern gelesen, darüber, wie mit dem Scheitern gearbeitet und gelebt wurde. Ich glaube, im Scheitern können wir ver­ stehen, dass etwas, das wir wollen, nicht erreicht werden kann. In diesem „Nicht-erreichen-können“ liegt ein Geheimnis und dieses Geheimnis hat zwangsläufig mit etwas zu tun, das nicht menschlich oder zumindest dem Wissen der Menschen nicht zugänglich ist. Gott ist tot und es ist doch interessant, dass Sie ein Stück über Christus gemacht haben und jetzt mit Pflanzen diskutieren. Ja, mir ist klar, dass es um einen religiösen Aspekt geht, der in unserem Leben fehlt. In Valparaíso gab es im April einen Großbrand. Ich war genau in dieser Woche dorthin gezogen. Die öffentliche Diskussion hat mich sehr überrascht, denn es ging eigentlich nur darum, wer Schuld hatte – der Bürgermeister oder sonst jemand. Und als die Untersuchung abgeschlossen war, stellte sich heraus, dass

das Feuer durch zwei Vögel verursacht wurde, die auf einem Stromkabel gesessen hatten. Sie wurden durch einen Stromschlag getötet und fielen brennend zu Boden. Ein starker Wind blies das Feuer über die Autobahn hinweg in die Stadt und das Feuer brannte, bis der Wind nachließ. Ich fand es interessant, dass im Narrativ der Leute nie davon die Rede war, dass das Feuer durch die Kraft des Windes oder diese beiden brennenden Vögel verursacht worden war. In einer antiken Kultur wäre dieses Feuer Gott gewesen. Auch in „Zoo“ gibt es eine Verbindung mit Kosmologien, die sich als Teil eines größeren Geflechts sehen, dem auch die Götter des Feuers, des Regenbogens und des Wassers angehören. Welche Beziehung hat „Zoo“ zu Deutschland und hiesigen Kolonialismusdiskussionen? Das ganze Projekt entstand, weil ich nach Deutschland eingeladen wurde. Im Jahr 2010 fanden in vielen südamerikanischen Ländern Unabhängigkeitsfeiern statt und ich wurde eingeladen, in Deutschland ein Stück über Erinnerung und Unabhängigkeit zu machen. Und dann zerschlug sich das ganze Projekt und dieses Stück blieb übrig. Die erste Vorstellung fand in Bremen statt, vor nur etwa 20 Zuschauern. Aber ich habe das Stück vor dem Hintergrund gemacht, dass es in Deutschland gezeigt werden sollte und nicht in Chile. Im deutschen Kontext hatte es eine noch unbehaglichere Wirkung. In Chile wissen die Zuschauer, dass da auf der Bühne Schauspieler stehen, die sie vielleicht schon aus dem Fernsehen kennen. Aber ich wollte nicht als chilenische Künstlerin meine Arbeit in Deutschland zeigen, ohne selbstreflexiv auf die Bewegung der patagonischen Völker zu verweisen. Ich begann, mich mit der Geschichte der Menschenzoos zu beschäftigen. Carl Hagenbeck, ein Deutscher, hatte die Idee, Menschen in Zoos auszustellen, um mehr Publikum anzulocken. Also wurden exotische Afrikaner und Eskimos importiert. Ich habe viel darüber nachgedacht, was es für mich bedeuten würde, im deutschen Kontext für ein deutsches Publikum eine Arbeit über Unabhängigkeit und Erinnerung zu machen.

Interview: Stefanie Wenner Übersetzung: Elena Krüskemper Transkription: Vera Hölscher

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

Maison Fondée en 1851 à Saumur

BOUVET LADUBAY BRUT

DE

LOIRE



TELL ME LOVE IS REAL Theater Deutsche Erstaufführung

ZACHARY OBERZAN

Mi 9. Juli 2014, 20:00 Uhr Do 10. Juli 2014, 20:00 Uhr, Artist Talk im Anschluss an die Vorstellung

Der 1974 geborene Zachary Oberzan, der als Filmemacher, Theaterregisseur, Schauspieler und Singer-Songwriter arbeitet, ist für seine experimentellen Werke bekannt, in die er auch das Medium Video einbezieht. Als Gründungsmitglied des New Yorker Kollektivs Nature Theatre of Oklahoma wirkte er an der Erarbeitung und Aufführung der Stücke „No Dice“ und „Poetics: a ballet brut“ sowie der One-Man-Show „Rambo Solo“ mit. Im Jahr 2007 inszenierte er den cineastischen Ein-Mann-Krieg „Flooding with Love for The Kid“ – in dem Spielfilm nach der Romanvorlage „First Blood“ von David Morrell spielt Oberzan, als Metapher für Rambos eigenen einzigartigen Kampf, nicht nur alle 26 Rollen selbst in seinem 22 m² großen Studio-Apartment in Manhattan, sondern filmt, designt und schneidet auch alles allein. Im Jahr 2010 wurde Oberzans Solo-Theater-/Filmwerk „Your Brother. Remember?“, die Geschichte einer (Wieder-) Annäherung an seinen Bruder vor dem Hintergrund des Lebens des belgischen Actionstars Jean Claude Van Damme, beim Kunsten­ festivaldesarts in Brüssel uraufgeführt. Im April 2012 erfuhr „Your Brother. Remember?“ als Kinoveröffentlichung Anerkennung bei den Kritikern. Seit Oktober 2013 tourt Oberzan mit seinem aktuellen Solo-Theaterstück/Film/Musical „Tell Me Love Is Real“ durch die ganze Welt.

Fr 11. Juli 2014, 21:00 Uhr

Haus der Berliner Festspiele, Kassenhalle Dauer 90 min

EIGN AIRS 13.7.14 –

FORE AFFA 26.6.

In englischer Sprache Konzept, Regie, Video, Performance: Zachary Oberzan Dramaturgie, Produktion, Management: Nicole Schuchardt Licht, Sound, Videotechnik: David Lang Bühnenberatung: Eike Böttcher Kostümassistenz: Eric Gorsuch Koproduktion: deSingel Antwerpen / Gessnerallee Zürich / Kunstencentrum BUDA Kortrijk / NEXT Arts Festival / Black Box Teater Oslo / BIT Teatergarasjen Bergen / Teaterhuset Avant Garden Trondheim / brut Wien Foto: © Nicole Schuchardt

GESPRÄCH MIT ZACHARY OBERZAN Das Nature Theatre of Oklahoma stand im letzten Jahr im Fokus von Foreign Affairs. Können Sie mir etwas über Ihre Zusammen­ arbeit mit der Company erzählen? Wir haben über 15 Jahre zusammengearbeitet. Der künstlerische Leiter Pavol Liska und ich lernten uns an der Universität kennen. Wir hatten ganz eigene Ansichten über das Theater und obwohl ich zu dieser Zeit viel konventionelles Theater machte, interessierte ich mich sehr für experimentelle Formen. Nach unserem Universitätsabschluss zogen wir nach New York und arbeiteten an eigenen Stücken. Wir stellten kleinere Produktionen auf die Beine, aber das brachte unsere Karrieren nicht sonderlich weiter. Ungefähr im Jahr 2004 wurden dann die Leute auf uns aufmerksam. Dann ging es plötzlich sehr schnell und die Gruppe wuchs – bis dahin waren Pavol als Regisseur und ich als Schauspieler und Mitarbeiter der Kern gewesen. Wir fingen an, eigene Stücke zu produzieren und waren vor allem in Europa erfolgreich. In dieser Zeit haben wir sehr gut zusammengearbeitet und erfolgreiche Produktionen gemacht, aber die Dinge ändern sich mit den Umständen. Es ist etwas anderes, ob man mit Freunden zusammenarbeitet oder ob man sich in einem Business bewegt: Es geht dann um Geld, Politik und ähnliches. Nachdem wir ein paar Jahre auf Tournee gewesen waren, gingen wir unsere eigenen Wege, und 2009 haben sie mich nicht mehr gefragt, ob ich beim nächsten Stück mitmachen möchte. Nachdem Sie bei Nature Theatre aufgehört hatten, haben Sie angefangen, allein zu arbeiten. Was sollte ich sonst tun? Wenn ich weiter in diesem Bereich arbeiten wollte, musste ich es allein versuchen. Ich hatte während meiner Arbeit mit dem Nature Theatre Solo-Fähigkeiten entwickelt und war zuversichtlich, dass ich als Solokünstler etwas Anständiges auf die Beine stellen könnte. Zu dieser Zeit entwickelte ich bereits eigene Filme – „Flooding with Love for The Kid“ hatte ich als Soloprojekt gemacht. Mir wurde klar, dass ich vom Theater leben kann, weil ich auf Tournee gehen kann. Vom Film kann man nur leben, wenn man einen Verleiher findet. Für die Filme, die ich bisher gemacht habe, ist es aber unmöglich, einen Verleiher zu finden, da ich Material verwendet habe, an dem ich keine Rechte habe. Seitdem habe ich drei

Theaterarbeiten gemacht. Alle drei haben Filmelemente, weil ich sehr gern mit Film arbeite. Ich mache alles selbst: Ich schreibe die Stücke, ich entwickele und inszeniere sie. Bei meinen Soloarbeiten spiele ich selbst, ich mache die Ausstattung, drehe und schneide. Ich bin so etwas wie eine One-Man-Show. Von „Flooding with Love for The Kid“ gibt es auch eine Bühnenversion: ein Stück namens „Rambo Solo“, das Sie mit dem Nature Theatre zusammen entwickelt haben. „Rambo Solo” ist ein Solostück, an dem wir zusammen gearbeitet haben. Dabei bin ich in meiner Wohnung zu sehen; ich erzähle die Geschichte von „First Blood“ so gut ich mich daran erinnern kann (ich habe den Roman viele Male gelesen und die Filmadaption „Rambo“ mit Sylvester Stallone gesehen) und spiele sie nach. Ich spiele keine Rollen, es ist kein Spielfilm, sondern man sieht nur mich auf der Bühne. Danach begann ich, nachzudenken. Seit ich das Buch als Zehnjähriger zum ersten Mal gelesen habe, wollte ich eine werkgetreue Verfilmung machen. Aber ich war als Schauspieler und Filmemacher nicht erfolgreich und niemand bot mir die Rolle des Rambo an, niemand fragte mich, ob ich eine neue Version von „First Blood“ inszenieren wollte. Also sagte ich mir: „Ich habe doch diese schäbige Videokamera. Ich könnte ‚First Blood‘ doch einfach ganz allein hier in meiner kleinen Wohnung drehen. Ich könnte alle Rollen spielen, die verschiedenen Schauplätze in meiner Wohnung nachstellen und den Ton synchronisieren.“ Also legte ich los, ohne zu wissen, worauf ich mich einließ. Ich war völlig begeistert davon, Filmemacher, Schauspieler und Ausstatter zu sein. Für mich war es eine Metapher für Rambo, der schließlich auch alles allein machen musste – so wie Rambo seinen Ein-Mann-Krieg führte, so führte ich meinen filmischen Ein-Mann-Krieg. Manche Kritiker meinten, es sei eine Art ‚Fuck you‘ in Richtung Hollywood, aber das war es nicht. „Flooding with Love“ ist aus Liebe entstanden, nicht aus Verbitterung. Mich hat an „Flooding with Love for The Kid“ beeindruckt, dass der Film überhaupt nicht ironisch ist. Ironie scheint Sie als Künstler nicht zu interessieren? Ich bin der Ironie und des Sarkasmus schon seit Jahren überdrüssig. Außer in ganz wenigen Fällen kann ich nichts damit anfangen,

ironisch zu sein oder Menschen und Dinge zu verspotten. Das ist langweilig, durchschaubar und banal. Ich wollte einfach nur die Ge-­ schichte so gut erzählen, wie ich konnte. Und ich glaube, deshalb ist die Arbeit so gut geworden. Es geht darin nicht um Theorien, sondern nur darum, dass ich meinen Traum auslebe. Ich habe das Gefühl, dass Sie Ihren Erzählungen immer weitere Ebenen hinzufügen. In „Your Brother. Remember?“ gibt es drei Ebenen, die sich alle um den Film „Kickboxer“ mit Jean-Claude Van Damme drehen. „Tell Me Love Is Real“ ähnelt noch mehr einem Puzzle. Sie arbeiten mit verschiedenen Elementen aus Popmusik und Action-Kino. Alles spiegelt sich und alles hängt zusammen, aber nicht immer ganz offensichtlich. Für „Your Brother. Remember?“ verwendete ich Filme, die ich vor 20 Jahren aus Spaß mit meinem Bruder gemacht hatte. Ich mag Vorher-Nachher-Bilder sehr und hatte Lust, mich auf ein Experiment einzulassen. Nach „Flooding with Love for The Kid“ fühlte ich mich wie ein Hollywoodstar. Meiner Einschätzung nach verdiente ich dafür mindestens vier Oscars. Ich dachte darüber nach, was ich als nächstes tun könnte und sagte mir, da ich ja nun ein Hollywoodstar bin, könnte ich doch tun, was Hollywood tut: Ungefähr alle zwanzig Jahre macht Hollywood Remakes seiner eigenen Filme. Ich entschloss mich, meine zwanzig Jahre alten Filme Einstellung für Einstellung nachzudrehen. Mein Bruder war in allen alten Filmen der Hauptdarsteller und sollte wieder mitspielen. Also fuhr ich heim nach Maine und suchte auf unserem Dach­ boden die alten Kostüme und Requisiten zusammen. Ich drehte alle Szenen nach und entschloss mich dann, auch Originalbilder zu verwenden, damit die Zuschauer auch das Quellmaterial sehen konnten. Während der Arbeit verlagerte sich der Schwerpunkt dann darauf, mich mit meinem Bruder auszusöhnen. Wir haben ein sehr problematisches Verhältnis und hatten zehn Jahre lang nicht miteinander gesprochen. Das Remake des Films trat immer weiter in den Hintergrund und es wurde immer mehr ein Stück darüber, wieder eine Beziehung – oder überhaupt erstmals eine Beziehung – zu meinem Bruder herzustellen. Das Stück hat also mehrere Ebenen. Es war eine Art Experiment; ich wollte herausfinden, ob man die Vergangenheit zurückholen kann. Ergebnis: Nein, es geht nicht.

Jean-Claude Van Damme ist auch in „Tell Me Love Is Real” als Ikone vertreten. Haben Sie diesen Bezug als Weiterführung von „Your Brother. Remember?“ gewählt?

Mit „Tell Me Love Is Real” verlassen Sie den Bereich des Action-Films und erzählen Ihre eigene Geschichte, gechannelt durch die Geschichte Whitney Houstons.

Jedes meiner Stücke ist die Fortsetzung des Vorgängers. Das Ganze ist ein einziges großes Stück. Ich kann nur Stücke darüber machen, was in meinem Leben gerade passiert. Über die Jahre hinweg habe ich Unmengen an popkulturellem Wissen angesammelt, und alle Stars, die in diesem Stück vorkommen, sind Menschen, die ich mythologisiere und imitiere und die mich beeindrucken. Aber im Kern geht es um die Frage, ob das Leben lebenswert ist oder nicht. Ich kenne das Klischee des Solokünstlers, der ein therapeutisches Stück über sich selbst macht, und diesem Klischee wollte ich auf keinen Fall entsprechen. Manche Leute finden „Tell Me Love Is Real“ ziemlich deprimierend, aber ich habe die ganz harten Sachen schon weggelassen – dies ist sozu­ sagen die jugendfreie Version.

Ich konnte nicht einfach ein Stück über meinen Selbstmordversuch machen. Der Gedanke kam mir, als ich hörte, dass Whitney und ich ungefähr zur gleichen Zeit an der Westküste waren, um dort aufzutreten. Wir nahmen beide, allerdings aus verschiedenen Gründen, eine Überdosis Xanax, eines Medikaments gegen Angststörungen. Sie starb, ich nicht – was auch daran lag, dass sie nicht versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Sie trank viel und nahm außerdem noch andere Drogen, das kann zusammen mit Xanax eine tödliche Kombination ergeben. Ich habe einfach nur eine ganze Schachtel Xanax genommen, weil ich mich umbringen wollte. Und trotzdem verbindet uns das. Ich beschloss, unsere Erfahrungen zu kombinieren, weil es so viele Parallelen gab. Also tat ich so, als sei ich Whitney und drehte ihre letzten Momente in diesem Hotelzimmer, wie ich sie mir vorstellte. So, als hätte sie sich selbst gefilmt, bevor sie in die Badewanne stieg und starb. Und daraus entstand das Stück: Ich fand zahlreiche Zufälle, die ich alle übereinander schichtete, auch wenn sie zunächst keinen Sinn ergaben. Aber wenn man der Aufführung aufmerksam folgt, beginnt man, Muster und Wiederholungen zu erkennen, die eine Bedeutung haben. Das Stück ist vielleicht nicht scharf in Anfang, Mittelteil und Ende unterteilt, aber es gibt einen Bogen, eine Geschichte.

Wie bei Ihren früheren Projekten haben Sie auch für „Tell Me Love Is Real” eine Bühnenversion und eine Filmversion entwickelt. Wie erarbeiten Sie diese verschiedenen Versionen?

Normalerweise fange ich mit dem Film an, weil ich in einem winzigen Studioapartment in New York wohne und keinen Proberaum habe. Durch diese Einschränkung habe ich gelernt, ganze Produktionen in meinem Kopf zu entwickeln, vor allem die Live-Elemente. New York kann anscheinend nicht viel mit mir anfangen, aber verschiedene europäische Theater haben mir die Möglichkeiten gegeben, meine Arbeiten in Residenzen zu entwickeln Was bedeutet der Titel? und als „work-in-progress“ zu zeigen. Das ist sehr wichtig für mich. Ich brauche für die Der Titel „Tell Me Love Is Real” stammt aus Proben ein Publikum, weil meine Arbeiten dem Buddy Holly-Song „Words of Love“, den häufig auf der Interaktion mit dem Publikum ich im Stück singe. Ich habe mich gefragt: und auf seinen Reaktionen basieren. Also Warum machen wir weiter, warum leben wir nehme ich den Film mit nach Europa, zeige weiter, wenn es oft so schmerzhaft ist? Die ihn und beginne, mit den körperlichen Ideen einzige Antwort, die ich darauf habe, ist die und Elementen herumzuspielen. Für den Liebe – aber was genau ist die Liebe, gibt es Spielfilm, den ich schließlich unabhängig von sie überhaupt oder ist sie nur eine mensch­ der Bühnenperformance vorführe, lasse ich liche Erfindung oder eine chemische Reakeine Vorstellung vor Publikum mitfilmen. tion? Deshalb ist dieses Stück genauso für Danach bearbeite ich dieses Material erneut mich gemacht wie für das Publikum. „Tell Me und kombiniere es mit dem, das ich während Love Is Real“ ist kein rhetorischer Satz. Der der Vorstellung zeige. Ich mag es, dass es Titel ist sehr spezifisch: Ich stehe da auf der meine Arbeiten sowohl als Theaterstücke als Bühne und bitte das Publikum, mir zu sagen, auch als eigenständige Filme gibt. Das ist für dass es die Liebe gibt. Und die Formulierung mich die einzige Möglichkeit, das ganze Stück ist auch wichtig. Es ist nicht bewiesen, dass zu sehen, weil ich schließlich selbst mitspiele. es die Liebe gibt, sondern es geht darum, mir

zu sagen, dass es sie gibt. Das ist für mich ein großer Unterschied, denn eigentlich ist es doch egal, ob es sie gibt oder nicht, solange ich daran glaube. Also überzeugt mich, auch wenn ihr mich dafür belügen müsst! Sagt mir, dass es sie gibt und dann glaube ich es hoffentlich! Im Stück gibt es einen wunderschönen Satz: „Für euch ist es vielleicht Kitsch, aber für mich ist es die wahre Liebe.“ Das ist der Schlüsselsatz des Stücks. Ich setze alles, was ich in „Tell Me Love Is Real“ sage, in die zweite Person. Aber dennoch denke ich, es dürfte dem Publikum klar sein, dass ich über eigene, traurige Erfahrungen spreche. Ich wollte klarmachen, dass es auch im Avantgarde-Theater, das ja eher kopflastig, distanziert und intellektuell sein soll, äußerst dramatisch zugehen kann, sogar melodramatisch. Ich habe das Publikum während der Vorstellung genau im Blick. In all den Jahren, in denen ich Theater mache, beobachte ich die Zuschauer, wie sie alle zehn Minuten auf ihr Handy oder auf die Uhr schauen, während ich da oben auf den Knien liege und über eine wirklich dramatische Erfahrung rede. Also ist das eine Art Präventivreaktion: Ihr findet es vielleicht albern, aber ich rede hier über das menschliche Leben. Muss ich mich hinstellen und über verstümmelte Babys reden, damit ihr zuhört? Wo ist eure Seele? Also sage ich, ihr findet es vielleicht lächerlich, aber für mich ist es weiß Gott das echte Leben. Denn wir sind hier doch alle alberne, lächerliche, verängstigte Menschen, und was kann ich denn sonst tun, als ein paar Lieder zu singen und zu reden? Das tue ich und es ist egal, ob es eine Person in einem kleinen Stück oder hundert Leute in einer großen Produktion sind; genau das ist es, was getan werden muss.

Interview: Jochen Werner Transkription: Vera Hölscher Übersetzung: Elena Krüskemper

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

Maison Fondée en 1851 à Saumur

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LOIRE



PRAXIS MAKES PERFECT Musik / Theater Mi 9. Juli 2014, 21:00 Uhr Do 10. Juli 2014, 21:00 Uhr

NEON NEON

Im Jahr 2007 riefen Gruff Rhys und Boom Bip das Elektropop-Projekt Neon Neon ins Leben. Ihr erstes Album, das im Jahr 2008 erschienene Konzeptalbum „Stainless Style“, beruhte auf dem Leben von John DeLorean, dem Gründer der DeLorean Motor Company. Beteiligt waren an dem Album hochkarätige Gäste wie Fab Moretti von The Strokes, Har Mar Superstar, Cate Le Bon und The Magic Numbers. „Stainless Style“ war für den Mercury Music Prize nominiert. Im Jahr 2012 kehrten Neon Neon ins Studio zurück, um ihr zweites Album „Praxis Makes Perfect“ aufzunehmen, das am 29. April 2013 bei Lex Records veröffentlicht wurde. Wie schon „Stainless Style“ beeindruckte auch dieses Album mit seinen Gästen, zu denen dieses Mal unter anderen Sabrina Salerno, Josh Klinghoffer und der italienische Superstar Asia Argento sowie wiederum Cate Le Bon gehörten.

NATIONAL THEATRE WALES

Berghain Dauer 80 min In englischer Sprache Mit: Nigel Barrett, Lisa Jên Brown, Matthew Bulgo, Chris Jared, Bettrys Jones, Naomi Waring, Rhys Warrington

EIGN AIRS 13.7.14 –

Schlagzeug: Valentina Magaletti Bass: Meilyr Jones

Musik/Konzept: Neon Neon: Gruff Rhys und Boom Bip Text: Tim Price Regie: Wils Wilson Choreografie: Scott Graham Design: Chloe Lamford Licht: Natasha Chivers Video Design: Timothy Bird, Nina Dunn Animation: Moira Lam Regieassitenz: Mawgaine Tarrant-Cornish Community Cast (Berlin): Rose Beerman, Serge Fouha, Angela Hoeppner, Tero Kaipanen, Aurora Kellermann, Winfried Köller, Edvard Lammervo, Gianna Pargätzi, Citlali Huezo Sánchez, Paulina Tovo Produktion: Neon Neon & National Theatre Wales Gefördert von: Arts Council Wales / The Welsh Government Mit Unterstützung von: Anglepoise Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes

Das National Theatre Wales, das im November 2009 gegründet wurde, führte seine erste Produktion im März 2010 auf. Von seinem kleinen Anwesen im Stadtzentrum von Cardiff aus kreiert das National Theatre Wales Produktionen in ganz Wales, die jeweils eine einzigartige Beziehung zu den örtlichen Gemeinden und ihrem Publikum unterhalten. Bei ihrem Debütprogramm „Theatre Map of Wales“, das von März 2010 bis April 2011 lief, begeisterte die Kompanie monatlich mit einem neuen Stück: Insgesamt 13 Produktionen, jeweils an einem anderen Ort, bewiesen eine einzigartige Herangehensweise an die Theaterarbeit. Dabei widmete sich das National Theatre Wales stark dem Engagement für die einzelnen Gemeinden, indem die meisten Proben in örtlichen Räumen abgehalten wurden, sowie im Rahmen des TEAM-Programms, das Mitstreiter rekrutiert und schult, und der NTW Assembly, die an allen Standorten stattfand, an denen das Ensemble arbeitete – dabei wurde Theater als Medium genutzt, um über örtliche Probleme zu debattieren. Hinter diesen Aktivitäten stehen eine digitale Präsenz und eine Online-Community, mit der sich das Theater an der vordersten Front des digitalen Denkens in der Welt des Theaters etabliert hat. Im Herbst 2011 startete das Theater in die zweite Saison seines Schaffens, zu der Shows in Dorfsälen, auf großen Bühnen, in Nachtklubs, in Flughafen-Hangars und in Wäldern gehörten. Darüber hinaus wurde das WalesLab eingerichtet, eine Initiative für sich entwickelnde Theater-Ideen, die die walisische Landschaft als Inspiration und Versuchswerkstätte nutzen. Das dritte Produktionsjahr des Theaters basierte auf der Einrichtung von Niederlassungen an vier Standorten weltweit, von Anglesea bis Tokio. Zugleich nahm das Theater neue Experimente in Angriff, von der ersten Livemusik-Tour bis hin zur Übernahme von Cardiff Castle.

Mit Unterstützung von: British Council In Zusammenarbeit mit: Berghain

Foto: © Bruno Vincent

GESPRÄCH MIT GRUFF RHYS UND WILS WILSON

Gruff Rhys, wie kam es zu der Beschäftigung mit Giangiacomo Feltrinelli? Dessen Lebensgeschichte – aufgeschrieben von seinem Sohn Carlo in dem Buch „Senior Service“ – bildet die Grundlage zu dem zweiten Album Ihres zusammen mit dem nordamerikanischen Musiker Bryan Hollon alias Boom Bip betrie­ benen Projekts Neon Neon… Gruff Rhys: Schon unser erstes Album „Stainless Style“ beschäftigte sich mit der Lebensgeschichte eines Mannes. Wir setzten uns damals mit dem Amerikaner John DeLorean auseinander, der mit seiner DeLorean Motor Company futuristische Autos baute. Wir kennen das Modell DMC-12 als umfunk­ tionierte Zeitmaschine aus der Trilogie „Zurück in die Zukunft“ mit Michael J. Fox in der Hauptrolle. Gruff Rhys: Richtig! DeLoreans Leben könnte man als amerikanische „Vom Tellerwäscher zum Millionär… zum Tellerwäscher“-Geschichte beschreiben. Für das zweite Album, das Grundlage unseres Musicals „Praxis Makes Perfect“ wurde, war es uns wichtig, eine europäische Figur zu finden, dessen Leben etwas anders verlief. Bei Feltrinelli könnte man eher von „Vom Millionär zum Tellerwäscher“ reden… Man kann sich kaum ein dramatischer verlaufenes, phantastischeres, politischeres Leben als das von Feltrinelli vorstellen. Wie sind Sie auf Feltrinelli gestoßen? Gruff Rhys: Mein Apotheker hier in Cardiff ist Italiener, er schenkte mir das von Ihnen erwähnte Buch! Ich war sofort begeistert und kaufte meinem Bandkollegen Boom Bip auch eine Ausgabe. Wir beide beschäftigten uns obsessiv mit Giangiacomos Leben in all seinen Facetten. Könnte man sagen, dass Neon Neon sich ausschließlich der leicht untergegangenen Kunstform des ‚Konzeptalbums‘ annehmen? Gruff Rhys: Ja, wobei wir versuchen ein neues Sub-Genre aufzumachen, das des ‚biogra­ fischen Albums‘, um die furchtbaren Assozia­ tionen, die jeder Musikhörer beim Begriff ‚Konzeptalbum‘ hat, zu umgehen… Welche furchtbaren Assoziationen hatten Sie gerade eben? Gruff Rhys: Schattenreiche, Einhörner, Nebel, Trockeneis.

War Ihnen von Anfang klar, dass „Praxis Makes Perfect“ Bühnen- bzw. Musical­ potential hatte? Gruff Rhys: Ja. Im April 2012 sah ich im Natio­nal Theatre Wales „The Radicalization of Bradley Manning“, geschrieben von Tim Price. Dieses Theaterstück zeigt Manning als einen der großen walisischen Radikalen. Was viele nicht wissen: Manning wurde in Wales aufgezogen und ging hier auch zur Schule, bis er im Alter von 16 Jahren mit seinem amerika­ nischen Vater, der bei der Armee war, in die USA zog, um in einer „Starbuck’s“-Filiale in Oklahoma zu arbeiten. Ich war mir sicher, dass Price sich genauso wie Neon Neon für Feltrinelli begeistern würde und auch die politische Dimension seines Lebens verstünde. Gleichzeitig hatte mich das National Theatre angesprochen und nach meinem aktuellen Arbeiten gefragt. Ob ich Interesse hätte, an einem Projekt für die Bühne zu arbeiten? So ergab das eine das andere. Bevor Boom Bip und ich die Arbeit an dem Album in Angriff nahmen, fand ein Treffen mit dem Theater statt, und wir einigten uns auf eine Zusammenarbeit, die Bühnenproduktion hatten wir also von Anfang an vor Augen. Wie sahen die nächsten Schritte aus? Gruff Rhys: Auf nach Italien! Der Dramatiker Tim Price kam mit uns, als wir Carlo Feltrinelli, Giangiacomos Sohn, Autor der Biografie und Geschäftsführer des von seinem Vater ge­gründeten Verlags, und Inge Feltrinelli, Giangiacomos Witwe, besuchten. Wir nahmen einige Spoken-Word-Passagen mit der Schauspielerin Asia Argento in Rom auf, ach, und mein Apotheker aus Cardiff war natürlich auch dabei – als Dolmetscher! Hielt man Sie für verrückt? Eine amerikanisch-walisische Rockband kommt mit einem in Cardiff ansässigen italienischen Apotheker als Dolmetscher nach Italien, um an einem Konzeptalbum und einem Musical über Giangiacomo Feltrinelli zu arbeiten? Gruff Rhys: Es gab eindeutige Vorbehalte, und man wollte uns sicherlich erstmal unter die Lupe nehmen, um herauszufinden, ob wir nicht wirklich einfach nur Spinner waren. Uns wiederum war sehr daran gelegen, dass die Familie mit unserer Herangehensweise einverstanden war. Wir haben keine Musik vorgespielt, sondern uns einfach nur unterhalten und viel über Feltrinelli gelernt. Man zeigte uns das Büro, in dem er arbeitete, seine Bibliothek in Mailand, in der wir durch das Original-Manuskript von Boris Pasternaks

„Doktor Schiwago“ blättern durften, das Giangiacomo 1957 veröffentlicht hatte. Original-Ausgaben des „Kommunistischen Manifests“, eine unglaubliche Sammlung radikaler Magazine aus den Sechzigern und Siebzigern aus der ganzen Welt, die Teile der Texte der Songs auf unserem Album und auch den Titel selber beeinflussten. Wir tauchten tief in seine Welt ein.

direkte Theatererfahrung! Bei „Praxis Makes Perfect“ wird jeder Besucher des Musicals in einer vorab versandten E-Mail mit „Kamerad“ angesprochen und aufgefordert, ein rotes Kleidungsstück zu tragen sowie ein Buch mitzubringen, das an einen anderen Besucher verschenkt wird. Bei den englischen Aufführungen wurde man auch aufgefordert, über die Abschaffung der Monarchie abzustimmen. Es geht immer wieder um die Zuschauer als Gruppe und die Frage nach der Kraft, die diese Gruppe hat.

Haben Inge und Carlo Feltrinelli die Bühnenshow jemals gesehen?

Bitte erläutern Sie die politischen Aspekte an „Praxis Makes Perfect“.

Gruff Rhys: Carlo kam zu unseren Aufführungen in London.

Gruff Rhys: Mich interessieren radikale Ideen und die Möglichkeiten ihrer Umsetzungen, das Zusammenarbeiten von kleinen Interessengemeinschaften. Feltrinelli wurde aus der Kommunistischen Partei geschmissen, weil er Pasternaks Buch veröffentlicht hatte, das sich gegen den sowjetischen Staat positionierte, gleichzeitig veröffentlichte er Che Guevaras Biografie sowie alle berühmten Beat-Autoren. Unter dem Dach seines Verlags vereinte er viele gegensätzliche Ideen und Positionen, eine Strategie, die, wenn es denn eine war, man heute eher mit dem 21. Jahrhundert in Verbindung brächte. Er interessierte sich für die Staaten, die weder der NATO noch dem sowjetischen Block angehörten, für die sogenannte Dritte Welt, Afrika, Teile von Asien, Zentralamerika. Der Abend, die Show, wird zum Labor, das Austauschen von Büchern, Wörtern und Ideen kann ein sehr kraftvoller Akt werden.

Und? Gruff Rhys: Er war begeistert, gleichzeitig stelle ich es mir auch als sehr schwer vor, das Leben seines Vaters so aus­gebreitet vor einem zu sehen, inklusive des Todes. Zu welchem Zeitpunkt stiegen Sie, Wils Wilson, als Regisseurin in das Projekt ein und worin genau bestand Ihr Rolle? Wils Wilson: Ich stieß hinzu, als die Herren aus Italien zurückgekehrt waren, es gab bereits Demoversionen von den meisten Songs. Es ging Neon Neon und Tim Price darum, einen Regisseur zu finden, der sich einerseits mit Musik auskannte und andererseits mit Theater und eindringlich, aktiv, interaktiv mit dem Publikum arbeiten und es in die Mitte der Veranstaltung stellen würde. John McGrath, der das National Theatre Wales leitet, kannte einige meiner Arbeiten, in denen das Publikum einbezogen, bewegt oder integriert wird, und schlug mich deshalb vor. Wir wollten etwas erschaffen, das einerseits wie und andererseits nicht wie Theater funktioniert. In diesem Zusammenhang sollten wir kurz über Ihre Arbeit „The Strange Undoing of Prudencia Hart“ sprechen, Frau Wilson, auf die McGrath sich sicherlich bezogen hat. Wils Wilson: Es geht hier um schottische Folk-Musik, die einen Großteil des Abends einnimmt, den ich für das National Theatre of Scotland konzipierte. Weite Strecken der Geschichte werden durch die Musik erzählt. Musik als Protagonist, wo im Theater doch oft Musik als letztes kommt. Der Abend findet in Pubs und Bars und Hotels statt, letztlich überall, wo Folk-Musik zur Aufführung kommen kann. Man fühlt sich nicht wie im Theater, man fühlt sich, als ob man zufällig in diese Szenerie gestolpert wäre, eine sehr

Wils Wilson: Ein radikaler Akt sogar. Was würde wohl passieren, wenn wir einen Fremden ansprächen und mit ihm ein Buch tauschten und ihm erzählten, warum es für uns das wichtigste Buch überhaupt sei? Direkter, verbindlicher, konkreter, dringlicher kann man doch gar nicht sein! Dieser pub­ likumsverbindende Moment, der Gemeinschaft schafft, ist extrem bewegend. Passt Ihnen der Begriff Empowerment in diesem Zusammenhang? Wir zeigen bei Foreign Affairs im „Focus: Empowerment“ einige Produktionen, die sich mit diesem Begriff, mit diesem Konzept beschäftigen. Gruff Rhys: Als wir an „Praxis Makes Perfect“ arbeiteten, schrieben wir das Jahr 2012. Die Queen feierte ihr Thronjubiläum, die olympischen Spiele fanden in London statt – wir wurden mit einer großen, unverhohlenen flaggeschwenkenden Propaganda-Übung des Königreichs konfrontiert. Ich empfand das alles als sehr schmerzhaft und schrecklich. Unsere Gegenreaktion war das Schreiben von „Praxis Makes Perfect“. In Wales und London

FORE AFFA 26.6.

luden wir die Zuschauer ein, darüber abzustimmen, die Monarchie abzuschaffen, womit wir wiederum italienische Entwicklungen nach Ende des Zweiten Weltkrieg spiegelten, wo das Volk am 2. und 3. Juni 1946 mit einer knappen Mehrheit für die Republik als künftige Staatsform stimmte. Ich empfand den Vorgang als sehr ermächtigend, obwohl er gleichzeitig natürlich total sinnlos war und die Kraft des Akts innerhalb der Mauern des Aufführungsorts verblieb. Da fällt mir ein, dass wir die Abstimmung natürlich für die Aufführungen in Berlin anpassen müssen. Das wird interessant, wo Sie doch glücklicherweise kein Königshaus haben! Die Frage nach Empowerment entzündet sich auch an der Art und Weise, wie Sie das Publikum behandeln, Frau Wilson…

Wils Wilson: Absolut! Wenn ich auf ein Konzert gehe, ich bin sehr klein, sehe ich meistens immer nur den Rücken eines wesentlich größeren Mannes vor mir. In einem Konzert sucht man sich einen Ort, an dem man dann meistens stehen bleibt, es wird zu ‚meinem‘ Ort, den ich versuche, den Abend lang zu kontrollieren – im Theater stellt sich diese Frage bei einer normalen Bestuhlung nicht. Die Publikumserfahrung bei „Praxis Makes Perfect“ sollte eine demokratische sein, wir wollten uns von den üblichen Konventionen verabschieden. Wenn sich jemand also freut, dass er vermeintlich in der ersten Reihe steht, wird er, da sich die Handlung durch den Raum bewegt, ganz schnell in der letzten Reihe stehen oder am Rand. Oder in der Mitte! Jeder muss sich engagieren und mitmachen. Es gibt dir als Zuschauer eine Menge, es verlangt aber auch sehr viel. Was sehr gut ist, genau das hätte Giangiacomo sich doch gewünscht und genau das fehlt uns allen heute doch, wenn es um Politik geht: Engagement und Aktivismus. Bei unserer Show wird jeder Besucher, zumindest für eine Stunde, zum Aktivisten – und das finde ich toll. Hat Pop, hat Popmusik die Kraft, politische Verhältnisse zu ändern? Es wäre doch zu schade, wenn seine Kraft es nicht durch die Mauern des Veranstaltungsortes schafft, oder? Gruff Rhys: Oh, ich glaube absolut an die Kraft von Popmusik, obwohl es ein sehr naiver Gedanke ist, gerade wenn man an die Kommerzialisierung von Punkrock denkt und das Verwenden politischer Ikonografie durch Bands wie The Clash, um Millionen von Schallplatten zu verkaufen. Aber eine Gruppe wie Pussy Riot hat es sehr gut geschafft, die kommerzielle Maschine Popmusik zu umgehen und Menschen politisch zu inspirieren.

Gibt es Momente, die Sie an einem LiveKonzert schätzen, die das Theater nicht zu leisten vermag, Frau Wilson?

Wils Wilson: Aber ja! Die rohe Energie, der direkte Kontakt zu den Musikern, das Gefühl zu haben, hier entsteht etwas im Jetzt, genau hier, für mich, und gleich ist es wieder vorbei, der Schweiß, die Ecken, die Kanten, das Rohe, die Naturgewalt einer Live-Band, das vermisse ich oft im Theater. Und was vermissen Sie an einem Live-Konzert? Wils Wilson: Oft scheinen sich weder die Band noch die Techniker, insbesondere die vom Licht, Gedanken über das Publikum und deren Erleben gemacht zu haben. Als Regisseurin denke ich zuerst ans Publikum und dann an alles andere. Und oft fehlt natürlich auch das Narrativ, der rote Faden, da Songs an Songs gereiht werden. Dass Sie sich, Gruff Rhys, als Musiker dem Theater zuwenden, hat das auch wirtschaft­ liche Gründe? Gruff Rhys: Das Album verlangte einfach nach einer theatralischen Umsetzung. Bei der Live-Umsetzung des hier bereits erwähnten Neon Neon-Vorgängeralbums „Stainless Style“ wurde uns deutlich, dass wir in den normalen Konzertsälen diesem biografischen Album niemals gerecht werden konnten. Wir wollten in einem DeLorean auf die Bühne fahren, was kein Veranstalter möglich machen konnte geschweige denn wollte, da wir nicht zehntausende von Eintrittskarten verkaufen. Unsere Ideen waren also zu groß für die kleinen Clubs, die wir bespielten. Der Schritt ins Theater war für uns ganz natürlich. Und gleichzeitig ist es natürlich auch ein großes Abenteuer, schließlich touren wir ja schon unser halbes Leben durch die normale Popund Rockwelt, deren doch recht einfache und auch sinnlose Methodik – Albumproduktion, dann Versuch der Anfertigung eines Faksimiles, das live vorgeführt werden kann – uns zunehmend künstlerisch einschränkt. Mir fällt jetzt erst gerade auf, wie ideal das Berghain als Aufführungsort für das Stück ist. Er wurde von einem Kollektiv unbekannter russischer Architekten gebaut und sollte als Heizkraftwerk die vermeintlich schönste Straße der DDR, die Karl-Marx-Allee, mit Fernwärme und Elektrizität versorgen. Gruff Rhys: Na, wenn das nicht passt… noch so eine irre Geschichte. Interview: Martin Hossbach & Carolin Hochleichter

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

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LES PARTICULES ÉLÉMENTAIRES

JULIEN GOSSELIN

Theater Do 10. Juli 2014, 19:00 Uhr Fr 11. Juli 2014, 19:00 Uhr

Julien Gosselin, geboren 1987, hat die Schauspielschule EPSAD in Lille unter der Leitung von Stuart Seide besucht. Er war als Schauspieler für Regisseure wie Laurent Hatat, Lucie Berelowitsch oder Tiphaine Raffier tätig und arbeitete als Regieassistent für Pierre Foviau, Laurent Hatat und Stuart Seide. Mit Schauspielern seines Jahrgangs an der Hochschule gründete er 2009 das Kollektiv si vous pouviez lécher mon coeur (SVPLMC), das 2010 das Stück „Gênes 01“ von Fausto Paravidino am Théâtre du Nord in Lille inszenierte. Im Jahr drauf verfasste er zusammen mit SVPLMC die französische Bearbeitung von Anja Hillings „Schwarzes Tier Traurigkeit“, die 2012 am Théâtre de Vanves aufgeführt wurde. 2012 beteiligte er sich auf Einladung von Vincent Baudriller, damals Leiter des Theaterfestivals von Avignon, am Programm „Voyages du Kadmos“. Im Juli 2013 wurde seine Theaterfassung von Michel Houellebecqs „Les Particules élémentaires“ (Elementarteilchen) beim Theaterfestival in Avignon von SVPLMC uraufgeführt. Darüber hinaus betätigte sich Julien Gosselin als Autor und veröffentlichte im November 2012 im Verlag 10/18 sein erstes Buch „La Liste“.

Haus der Berliner Festspiele, Kassenhalle Dauer 220 min

EIGN AIRS 13.7.14 –

FORE AFFA 26.6.

In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Mit: Guillaume Bachelé, Joseph Drouet, Denis Eyriey, Antoine Ferron, Noémie Gantier, Marine de Missolz, Alexandre Lecroc, Caroline Mounier, Victoria Quesnel, Tiphaine Raffier Von: Si vous pouviez lécher mon coeur Nach Michel Houellebecqs Roman „Elementarteilchen“ Adaption/Regie/Bühnenbild: Julien Gosselin Licht: Nicolas Joubert Video: Pierre Martin Sound: Julien Feryn Musik: Guillaume Bachelé Kostüme: Caroline Tavernier Regieassistenz: Yann Lesvenan Administration, Produktion: Eugénie Tesson Tourmanagement: Claire Dupont Produktion: Si vous pouviez lécher mon coeur Französische Erstausgabe von „Elementarteilchen“: Editions Flammarion, 1998 Koproduktion: Théâtre du Nord / Théâtre National Lille Tourcoing Région Nord Pas-de-Calais / Festival d’Avignon / Le Phénix – Scène Nationale de Valenciennes / La rose des vents / Scène Nationale Lille Métropole-Villeneuve d’Ascq / Théâtre de Vanves et Le Mail / Scène Culturelle de Soissons Mit Unterstützung des Ministeriums für Kultur und Kommunikation / DRAC Nord-Pas-de-Calais, Conseil Régional Nord-Pas-de-Calais, SACD Beaumarchais, Conseil Général Pas de Calais, Stadt Lille Mit freundlicher Unterstützung von: Institut français Foto: © Simon Gosselin

GESPRÄCH MIT JULIEN GOSSELIN Julien Gosselin, Sie sind der erste französische Regisseur, der in Frankreich einen Text von Michel Houllebecq auf die Bühne bringt. Wie kann das sein? Ich hatte das Gefühl, dass viele Regisseure in Frankreich nicht das inszenieren, was sie wirklich mögen, sondern eher das, von dem sie meinen, dass es gut sei, es auf die Bühne zu bringen. Inwiefern? Es gibt manchmal eine erstaunliche Trennung zwischen dem, was Regisseure in ihrem ‚wirklichen‘ Leben mögen (Filme, TV-Serien, Bücher etc.) und dem, was sie bei der Arbeit mögen sollten. Zum Beispiel reden sie oft über zeitgenössische Literatur oder erzählen, dass sie gestern „Breaking Bad“ gesehen haben. Und dann inszenieren sie doch wieder einen langweiligen Text, weil man im Theater intelligent, klassisch und humanistisch sein muss. Deshalb habe ich versucht, auch im Theater das zu machen, was ich privat mag. Also ist das, was Sie im Privatleben interessiert, auch für Ihre Theaterarbeit relevant? Michel Houellebecq ist mein Lieblingsautor. Und warum „Elementarteilchen”? Als wir „Schwarzes Tier Traurigkeit“ von Anja Hilling machten, hatte ich das Gefühl, dass ich selbst ein Buch für die Bühne adaptieren muss, wenn wir in dieser Richtung weiter­ arbeiten wollten. Wir mussten unsere eigenen Bühnentexte finden. Mit „Elementarteilchen” haben Sie zum ersten Mal eine Romanbearbeitung inszeniert. Wo

lag der Unterschied zur Inszenierung eines Bühnentextes? „Elementarteilchen“ hat eine ganz eigene Struktur. Gedichte stehen neben theatralen Szenen; dann kommen ein wissenschaftlicher Monolog, ein lustiger Dialog und schließlich eine Art Chor. Mir erschien dieser Aufbau sehr nahe an der postdramatischen Theaterstruktur. So konnten die Schauspieler die Geschichte gemeinsam erzählen und gleichzeitig verschiedene Figuren spielen. Welche postdramatischen Arbeiten haben Sie beeinflusst? Nicolas Stemann, Jan Lauwers, Romeo Castellucci, Stanislas Nordey… Wobei dieser Einfluss eher die Ästhetik betrifft als die Struktur. Sie sagten, dass Ihre Schauspieler die Geschichte gleichzeitig erzählen und spielen. War diese Spielweise für Sie von Anfang an relevant? Mein Theater soll so umfassend wie möglich sein. Michel Houellebecq hat den Wunsch, eines Tages ein Buch zu schreiben, in dem Roman, Gedichte, Wikipedia und Wissenschaft auch etwas Umfassendes ergeben. Wie sähe ein möglichst umfassendes Theater für Sie aus? Ich weiß es nicht. Es ist ein Wunsch. Ich kann nur so viel sagen, dass meinem Empfinden zufolge „Elementarteilchen“ versucht, gleichzeitig etwas Politisches und etwas Poetisches über viele Fragen unserer Welt zu sagen – das betrifft die Form ebenso wie die Themen.

Houellebecq scheint für Ihre künstlerische Arbeit eine Art Bruder im Geiste zu sein, gehört jedoch einer anderen Generation an. War das bei der Arbeit an „Elementarteilchen“ relevant?

Haben Sie für die Arbeit an „Elementarteilchen” nur mit Houellebecqs Buch gearbeitet oder haben Sie eine Textversion erarbeitet? Wie haben Sie angefangen?

Es ist vielleicht eine andere Generation, aber die Themen – wirtschaftlicher und sexueller Liberalismus – werden in unserer heutigen Gesellschaft zunehmend virulent. Meine Generation ist davon vielleicht noch mehr betroffen als seine…

Ich habe ein Jahr lang eine neue Fassung entwickelt. Sie hatte eine sehr strenge Struktur mit kurzen Szenen, die den Rhythmus der Aufführung vorgeben sollte. Danach haben wir mit der ganzen Gruppe sowohl mit dieser Fassung als auch mit der Romanvorlage gearbeitet. Aber das Endresultat ist meiner ersten Fassung sehr ähnlich.

Noch einmal zurück zum poetischen und gleichzeitig politischen Aspekt Ihrer Arbeit: Glauben Sie, dass das Theater die Welt ver­ ändern kann?

Ihre Musiker erscheinen mir auf der Bühne fast wie eine Band. Ist die Musik ein relevanter Aspekt Ihrer Arbeit?

Ganz und gar nicht. Aber das Theater muss versuchen, über die Welt zu reden. Ich habe oft den Eindruck, dass das Theater über eine Welt spricht, die es gar nicht mehr gibt.

Bei unseren Proben entwickelt sich alles gleichzeitig: Musik, Schauspiel, Video – alle Elemente des Theaters sind gleich wichtig. Ich möchte die Mauer zwischen der Person des Schauspielers und seiner Rolle einreißen. Ich möchte, dass die Leute sagen: Das ist derselbe Mensch, egal, ob er Musik macht, seine Rolle spielt oder die Straße entlang läuft.

Wie lange arbeiten Sie schon mit Ihrem Kollektiv ‚si vous pouviez lecher mon coeur’ zusammen? Woher kommt der Name? Und haben Sie sich von Anfang an mit dieser Erzähl- und Spielweise beschäftigt? Die meisten Künstler auf der Bühne arbeiten schon von Anfang an mit mir zusammen. Der Name ist ein Satzteil aus „Shoah“ von Claude Lanzmann. Er bedeutet in etwa: „Wenn Sie mein Herz lecken könnten, dann würde sein Gift Sie töten“. Unser Lehrer in der Theaterakademie sagte das.

Warum? Es geht nicht nur um Naturalismus. Es geht um das Thema von vorhin: Das Theater muss mit der Welt in Verbindung stehen. Ich habe immer größere Probleme mit Metaphern im Theater. Man spielt etwas von Racine, man setzt eine Maske auf, man spricht merkwürdig und am Ende soll das Publikum sagen: „Wow, dieses Thema ist uns sehr nah. Phae­dra und ich haben doch irgendwie schon die gleichen Probleme…“ Ich sage nicht, dass das nicht interessant wäre. Aber ich möchte etwas anderes finden.

Wann fing alles an? Im Jahr 2010, nachdem wir die Theaterakademie in Lille abgeschlossen hatten. Sieben der zehn Schauspieler haben mit mir zusammen studiert.

Unter Elementarteilchen versteht man die kleinsten bisher entdeckten Bausteine der Materie. Ist es auch Ihr Interesse, sich der Wirklichkeit zu nähern und sie genau zu betrachten? Das ist Houellebecqs Recherche, sehr einfach über die größten Probleme unserer Zeit zu reden: Liberalismus, Moral, Sex, Liebe. Wirklich darüber zu sprechen. Deshalb finden die Leute ihn manchmal zu hart. „DEMAIN SERA FEMININ“ heißt es in der letzten Überschrift der Videoprojektion im Stück. Ist das für Sie eine echte Utopie? Darum geht es nicht. Diese Utopie ist gleichzeitig poetischer und politischer Natur. Mein Wunsch ist es, dem Publikum alles zu geben und nicht, ihnen zu sagen, ob ich einverstanden bin oder nicht. Aber ist die Abschaffung der Menschheit, die eine neue Version menschlichen Lebens ermöglichen soll, eine Form der Hoffnung? Das ist das Interessante an dieser Utopie. Manche Leute sagen, sie stelle eine Hoffnung dar und spräche von Liebe und Gerechtigkeit. Andere sagen, sie sei faschistisch. Mir gefällt die erste Version. Warum sind Sie Regisseur geworden? Ich hatte schon früh das Gefühl, dass ich gerne etwas gestalten wollte, aber Schauspieler zu sein war nicht die Lösung für mich. Welche Künstler haben Sie beeinflusst? Merkwürdigerweise sind meine Referenzen recht weit von meiner Arbeit entfernt. Nicht

so sehr in der Literatur – ich liebe die großen, umfassenden Romane: Don DeLillo, William T. Vollmann, Roberto Bolaño –, aber in der Musik. Ich höre viel zeitgenössische Klaviermusik (Nils Frahm, Olafur Arnalds) und Lo-Fi Folk Music (Bonnie Prince Billy). Post-Rock, wie wir ihn in diesem Stück viel verwenden, ist mir nicht so wichtig. Was Filme betrifft, mag ich unter anderem Eric Rohmer und Bruno Dumont. Wie wird Ihre Arbeit in Frankreich finanziert? Für die ersten beiden Stücke gab es überhaupt kein Geld. Bei „Elementarteilchen“ haben uns fünf Theater im Norden Frankreichs und das Théâtre de Vanves, das wichtigste Theater für junges Drama, unterstützt. Die Produktion war aber überhaupt nicht teuer. Ich hoffe, dass wir für das nächste Projekt Koproduktionspartner finden werden. Wie hat das Publikum auf „Elementarteilchen“ reagiert? Normalerweise lachen die Zuschauer im ersten Teil viel und im zweiten überhaupt nicht mehr. Aber manchmal sind die Leute auch von der Lächerlichkeit des ersten Teils und vor allem von der Figur des Bruno sehr berührt. Sie sind am Ende von der ganzen Aufführung berührt. Es kommt vor, dass jemand nach der Vorstellung zu mir kommt und sagt: „Es war zu viel, zu hart für mich, das zu hören…“

Interview per Facebook-Chat: Carolin Hochleichter Übersetzung: Elena Krüskemper

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

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THE FESTIVAL OF STUFF – A LAPTOP LATE-NIGHT FANTASY

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SCOTT KING

Der Grafikdesigner Scott King wurde 1969 in Goole in der englischen Grafschaft Yorkshire geboren. In der Vergangenheit sammelte er Erfahrung als Art Director der Zeitschrift i-D und Creative Director der Zeitschrift Sleazenation, wofür er mit den Preisen „Best Cover“ und „Best Designed Feature of the Year“ ausgezeichnet wurde. Er gestaltete Cover-Artworks für Alben von Suicide, Morrissey und den Pet Shop Boys. Gelegentlich arbeitet er mit dem Autor und Historiker Matt Worley unter dem Label „CRASH!“ zusammen. Kings Arbeit wurde vielfach in London und New York sowie in europäischen Galerien ausgestellt, unter anderem im ICA, im KW Berlin, im Portikus, im White Colums, im Kunstverein München und im Museum of Modern Art, New York. Derzeit wird er von der Galleria Sonia Rosso in Turin, von Herald St. in London und von Bortolami in New York präsentiert.

Musik / Performance Uraufführung Do 10. Juli 2014, 23:00 Uhr Fr 11. Juli 2014, 23:00 Uhr Haus der Berliner Festspiele, Seitenbühne Dauer 70 min In englischer Sprache Konzept: Scott King Musik & Performance: Luke Haines, Mathew Sawyer, Russell Haswell, The Karaoke Pistols, Lady Bruts of Disco, The Ian Curtis Dance Contest, Jeremy Deller Pop-Schrott: Bob Stanley Texte: Tom Morton, Bob Stanley, Matt Worley Schnitt: Toby Cornish, Jutojo Choreografie: Hakan T. Aslan Performer: Hakan T. Aslan, Kevyn Haile, Eric Minsk, Robin Kulisch, Gianni Meurer, Sebastian Stert Produktion: Berliner Festspiele/Foreign Affairs Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds Mit Unterstützung von: British Council Foto: © Steve Lazarides

FORE AFFA 26.6.

GESPRÄCH mit Scott King Wir haben uns vor sechs Jahren in München kennengelernt, als Sie eine Einzelausstellung im Kunstverein München hatten, „Marxist Disco (Cancelled)“. Sie kommen gerne nach Berlin und waren sofort Feuer und Flamme, als wir über Foreign Affairs sprachen. Hatten Sie das Konzept für das „Festival of Stuff“ bereits fertig in der Schublade liegen? Normalerweise läuft es so, dass ich viele halbentwickelte Ideen im Kopf habe, die dort vor sich hin wabern, und plötzlich werden sie quicklebendig, wenn sich so jemand meldet und mit einem halbwegs konkreten Angebot um die Ecke kommt. Ich tue dann gern so, als ob die Idee schon voll entwickelt wäre. Was bedeutet der Titel? Was für ein Festival erwartet uns und was genau meinen Sie mit „Stuff“, zu Deutsch „Zeug“ oder „Kram“? Ich beschäftige mich schon seit einiger Zeit mit ‚Stuff‘ und habe nie einen besseren Begriff dafür gefunden. Es ist weder hohe Kunst, ‚high art‘, noch ‚low art‘ oder ‚middle art‘, sondern hat mit populärer Kunst zu tun. Mir geht es schon länger so, dass ich mir Ausformungen populärer Kunst angucke und denke, dass das viel besser ist als der ganze Mist, den ich in Galerien sehe. Meine künstlerische Arbeit befindet sich in einer komischen Grauzone, niemals richtig Kunst, niemals richtig Grafikdesign. Mich habe die Zwischen­ räume schon immer am meisten interessiert. Das „Festival of Stuff“ ist dann aus der Idee heraus entstanden, dass man doch diese ganzen fantastischen Clips von obskuren und irren Bands, die mich so begeistern, und die theoretisch jeder auf YouTube finden kann, als ‚Theater‘ präsentieren könnte, wie eine Art Readymade, das man einfach zeigt bzw. rekontextualisiert. Ursprünglich bezeichnete ‚Stuff‘ einfach alles, was gut war, egal ob es sich um Mode, Malerei, Design oder Musik handelte. ‚Stuff‘ sollte eine Kunstform sein, die sich jeglicher Kategorisierung entzieht. Man hätte also ganz einfach behaupten können, dass diese und jene 7"-Vinyl-Single,

Filmszene, ein T-Shirt, ein Ansteckbutton oder eine Frisur besser als jeder Duchamps, Koons oder Pollock sei. Die ehrlichste Kunstform der Welt, die keinerlei Kategorisierungen kennt. Genial, oder? Die einzige Kategorisierung für diesen ‚Stuff‘, dieses ‚Zeug‘, die mir einfiel war… ‚Stuff‘, ‚Zeug‘. Ich konnte total frei sein, alles war ‚Stuff‘, ich war nicht mehr abhängig von der Meinung derer, die bestimmen, was gute Kunst ist und was nicht. Je mehr Zeit ins Land ging, desto mehr haben wir uns dann aber konzentriert, auf Rock- und Popmusik. Wir wollten einen Abend auf die Bühne bringen, der nicht viel länger als sechzig Minuten lang sein sollte. Hier noch Mode und Architektur und x andere Kategorien hineinzuquetschen, das wäre nicht sinnvoll gewesen. Musik wiederum hat in Ihrem Leben einen besonderen Stellenwert.

Sie sagten „Einige dieser Fantasien erwecken wir zum Leben“. Ich überlege mir nachts oft, dass es doch eine grandiose Idee wäre, wenn A und B zusammenarbeiten würden. Ich stellte mir vor, dass es gut wäre, zusammen mit meinem Freund Luke Haines, den einige vielleicht durch seine Bands The Auteurs oder Black Box Recorder kennen, eine Rockoper zu schreiben. Ich mailte ihm, er schrieb zurück, natürlich war er dabei, und nun kommen Auszüge aus der Oper hier in Berlin zur Uraufführung! Es geht also auch darum, bestimmte Begrenzungen abzubauen, die zwischen mir als Fan und dem ‚Stuff‘ stehen, indem ich mich selbst einschalte, mit anderen Künstlern zusammenarbeite oder sie bitte, bestimmte Kunstwerke anzufertigen, so wie z.B. Russell ­Haswell, der auf meinen Wunsch hin das Stück „Reflections“ von den Supremes covert – „Reflections“ hieß auch damals eine Lam­bretta, die ich als 17-Jähriger besaß. Wir umgehen so auch das ‚Retrohafte‘, was man möglicherweise beim reinen Lesen des Konzepts vermuten könnte. ‚Retro‘ wird hier nichts sein. Der englische Künstler Jeremy Deller, der im Rahmen von Foreign Affairs mit seinem Projekt „Acid Brass“ vertreten ist, wird eine brandneue Arbeit zeigen, die er für mich angefertigt hat: einen Fledermaus-Film!

Seitdem ich denken kann, ja. Seitdem es YouTube gibt, habe ich diese Angewohnheit – und ich weiß, dass ich damit nicht alleine bin und es mindestens jedem vierten Leser dieses Interviews genauso geht –, dass ich nachts, wenn ich aus dem Pub nach Hause komme, mir Videoclips anschaue, die ich liebe, und die ich schon seit Ewigkeiten kenne, vielleicht schon mein ganzes Leben lang. Ich gehe völlig in diesem Moment auf und denke, dass dieser und jener Clip der beste sei, den ich je gesehen habe. Die Auf­ regung, das Fantasieren und der Alkohol treiben meine Gedanken an, und ich beginne mir vorzustellen, wie es sich wohl anfühlte, wenn ich Ian Curtis wäre, der Sänger von Joy Division. Ich stehe also auf und fange an, wie Curtis zu tanzen, dieser ulkige Tanzstil, der sehr epileptisch aussieht, was wiederum nicht verwundert, da Curtis bis zu seinem Freitod tatsächlich Epileptiker war. Einige dieser Fantasien erwecken wir im Rahmen des „Festival of Stuff“ zum Leben.

Wir werden einen Tanzwettbewerb sehen, wo verschiedene Menschen wie Curtis tanzen. Eine ganz einfache Idee, wenn man nachts alleine zuhause vor dem Computer sitzt, aber das dann auch umzusetzen…? Das geht nur, wenn man die Möglichkeit bekommt, das „Festival of Stuff“ auf die Theaterbühne zu bringen.

Lassen Sie uns über die Live-Auftritte im Rahmen des „Festival of Stuff“ sprechen.

Nach welchen Kriterien haben Sie die Musik­ clips ausgewählt?

Ian Curtis, den Sänger von Joy Division, die man später als New Order kannte, wird auch nochmal thematisiert.

Oh, das sind alles Clips, die meine Freunde und ich uns schon seit Jahren immer wieder gegenseitig zeigen. Es ist unsere gemeinsame Sprache, die wir nun auch mit anderen teilen, im Rahmen des „Festival of Stuff“. Letztlich entspringt wirklich alles meinen nächtlichen Ausflügen in die Welt von YouTube, die uns eigentlich sponsern sollten. Der Großteil der Videos wurde von dem eng­ lischen Autoren und Musiker Bob Stanley ausgesucht, dessen Band Saint Etienne auch in Deutschland recht bekannt ist. Warum überließen Sie ihm das Feld? Bob guckt quasi beruflich den ganzen Tag nichts anderes als YouTube-Clips, er ist ein wandelndes, selbstständiges Archiv und schreibt Bücher über Popkultur. Außerdem wollte ich diesen Job einfach delegieren an jemanden, der sich noch besser auskennt als ich. In Bobs Kopf existierte bereits ein umfassender Katalog mit allen guten und obskuren Videos, die auf YouTube zu finden sind. Ist es nicht bemerkenswert, dass die erste Ausgabe des „Festival of Stuff“ in Berlin stattfindet und nicht in London?

Vieles von dem, was wir hier zeigen, ist super britisch, genauso wie die leicht übergewich­ tigen mittelalten Männer, welche die Clips zusammengestellt haben. Viele Berliner sprechen ja sehr gut Englisch, leider spreche ich kein Deutsch, gleichzeitig meine ich, dass man die Show einfach sehen muss und sich das meiste auch so mitteilt. Es geht hier nicht um Verstehen, und man muss sicherlich auch nicht jede einzelne Referenz verstehen. Aus vielen Clips spricht Wahnsinn, einige der Performances sind einfach unglaublich – man muss nur zwei Augen haben, um das zu erkennen. „Ein Lamento für vergessene Pop-Spinner“ lautete eine meiner Notizen, die den Abend zusammenfassen sollte, nachdem wir gemeinsam im Pub waren. Es wird auf jeden Fall wesentlich interessanter als der letzte Besuch in einer Galerie, wir zeigen eine andere Art von Galerie-Kunst: Spät abends, im Dunklen, Laser, Nebel, Bier. Hoffentlich wird es laut genug sein.

Es spricht für Berlin! Ich habe es leider nicht einfach, was Institutionen in England angeht. Man könnte sogar fast sagen, dass ich mir das „Festival of Stuff“ ausgedacht habe, um in der Lage zu sein, ein Projekt auch ohne die Unterstützung einer Galerie oder einer Institution durchziehen zu können, wobei wir hier im Haus der Berliner Festspiele natürlich auch in einer Institution sind. Ich freue mich sehr, dass Foreign Affairs mir hier die Möglichkeiten gegeben hat und spreche jetzt doch schon mit Einrichtungen in England, ob wir nicht eine zweite Ausgabe nächstes Jahr in London zeigen können. Das wiederum wäre nicht möglich gewesen ohne den ursprüng­ lichen Anschub aus Berlin. Was die Sprache angeht…

Interview: Martin Hossbach

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

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WHAT IS MonumentAL TODAY? Lehrstück Sa 12. Juli 2014, 18:00 Uhr Haus der Berliner Festspiele, Kassenhalle Dauer 60 min

CHTO DELAT

Das Kollektiv Chto Delat („Was tun?“) wurde Anfang 2003 in Sankt Petersburg von einer Gruppe von Künstlern, Kritikern, Philosophen und Schriftstellern aus Sankt Petersburg, Moskau und Nischni Nowgorod mit dem Ziel gegründet, politische Theorie, Kunst und Aktivismus mit­einander zu verschmelzen. Öffentlich trat die Gruppe das erste Mal im Mai 2003 mit der Aktion „Die Neugründung von Sankt Petersburg“ in Erscheinung. Kurz danach begann die zu diesem Zeitpunkt noch namenslose Gruppe, eine internationale Zeitung unter dem Titel „Chto Delat?“ herauszubringen. Der Name der Zeitung bzw. der Gruppe stammt aus einem Roman des russischen Schriftstellers Nikolai Tschernyschewski aus dem 19. Jahrhundert und ruft einem sofort die ersten sozialistischen Arbeiterorganisationen Russlands ins Gedächtnis, mit denen sich Lenin in seiner Publikation „Was tun?“ von 1902 beschäftigte. Chto Delat betrachtet sich als selbst-organisierte Plattform für vielseitige kulturelle Aktivitäten mit der Absicht, die „Produktion von Wissen“ zu politisieren, indem eine engagierte Autonomie für eine Kulturpraxis von Heute neu definiert wird. Die Bandbreite an Aktivitäten wird von einer Kerngruppe koordiniert, zu der die folgenden Mitglieder gehören: Tsaplya Olga Egorova (Künstlerin, Sankt Petersburg), Artiom Magun (Philosoph, Sankt Petersburg), Nikolay Oleynikov (Künstlerin, Moskau), Natalia Pershina/Glucklya (Künstlerin, Sankt Petersburg), Alexey Penzin (Philosoph, Moskau), David Riff (Kunstkritiker, Moskau), Alexander Skidan (Dichter, Kritiker, Sankt Petersburg), Oxana Timofeeva (Philosophin, Moskau) und Dmitry Vilensky (Künstler, Sankt Petersburg). In 2012 trat auch die Choreographin Nina Gasteva, die bereits jahrelang intensiv mit dem Kollektiv zusammengearbeitet hatte, bei. Seitdem partizipierten zahlreiche russische und internationale Künstler und Forscher an unterschiedlichen Projekten, die unter dem Namen des Kollektivs, Chto Delat, realisiert wurden.

In englischer Sprache

EIGN AIRS 13.7.14 –

Von und mit Chto Delat: Tsaplya Olga Egorova, Nikolay Oleynikov, Dmitry Vilensky, Nina Gasteva, Oxana Timofeeva, Alexander Skidan, Jonathan Platt und den Teilnehmern des Seminars „What Is Monumental Today?“ Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes Foto: © Chto Delat

07. – 12. Juli 2014

SEMINAR „What Is Monumental Today?“

26. Juni – 13. Juli 2014

TO RECLAIM MONUMENTALITY

An Index of the Transformation of Monuments (geöffnet täglich ab 1 Stunde vor Vorstellungsbeginn)

OUR PAPER SOLDIER

Monument vor dem Haus der Berliner Festspiele Courtesy KOW, Eine Produktion der Wiener Festwochen Umsetzung: Aliona Petit und Alfred Kohlhofer Ein Teil des Projektes „Face to Face with the Monument“ von Chto Delat Eine Produktion von Berliner Festspiele / Foreign Affairs und Wiener Festwochen Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes

11. Juli 2014, 18:00 Uhr

Bronze Soldiers Fighting

Vortrag von Mischa Gabowitsch

Gespräch mit Chto Delat

Ihr Beitrag bei Foreign Affairs ist die zweite Episode eines dreiteiligen künstlerischen Rechercheprogramms, das in diesem Sommer seinen Anfang bei den Wiener Festwochen nahm und in St. Petersburg fortgesetzt wird. Könnten Sie ihr Projekt und seinen Verlauf kurz beschreiben? Es sind sogar mehr als drei Teile. Im Juni werden wir eine Reihe von Interventionen im öffentlichen Raum und Vorstellungen in St. Petersburg organisieren und im Juli produzieren wir dort einen Film zum Thema Gedenken und zum Konzept der Monumentalität. Also werden wir bis zum Ende des Jahres ein öffentliches Kunstfestival in Wien produziert haben, ein Lehrstück in Berlin, einen Film in St. Petersburg und eine Reihe von Seminaren, Grafiken, Diskussionen und Publikationen über dieses Thema. Bei den Wiener Festwochen stand das russische Denkmal am Schwarzenbergplatz im Mittelpunkt Ihrer Arbeit. Wie haben Sie diesen Ort ausgewählt und was bedeutet er für Sie? Wir sind der Meinung, dass dieses kanonische Beispiel stalinistischer Monumentalkunst, das gleich nach Kriegsende errichtet wurde, noch immer in der Lage ist, eine kritische Diskussion über die Bedeutung der Politik der Denkmäler anzuregen und darüber, welche Formen das Erinnern an wichtige historische Ereignissen heute annehmen kann. Der Sieg über den Nazismus liegt 70 Jahre zurück. Seitdem hat sich viel verändert: Die Sowjetunion ist verschwunden und es gibt eine neue, globalisierte Welt, die sich jenseits aller Ideologien positioniert und jede historische Teleologie ablehnt. Heutzutage erscheint eine Diskussion fortschrittlicher sozialer Ideale zumindest naiv, dabei war man sehr lange selbstverständlich davon ausgegangen, dass diese Ideale allesamt bereits erzielt worden seien und dass nur noch ihre Umsetzung perfektioniert werden müsse. Allerdings stellten sich die Dinge dann doch als komplizierter heraus: Die neue Situation der Krise des freien Marktes und der zunehmend geistlichen und nationalistischen Stimmungen macht deutlich, dass der jahrelange Streit zwischen dem (vermeintlich) überholten stummen Archaismus und der wortreichen Heutigkeit keineswegs beigelegt ist. Die Künstler müssen wieder in seinen Oberlauf eintauchen um auf die Aufforderung ihres historischen Moments zu reagieren. Die Situation der sowjetischen Denkmäler hat plötzlich und völlig unerwartet durch

die Eskalation des zweiten Kalten Krieges eine neue Dynamik erlangt. Die demokratische Rebellion in der Ukraine hat klar demonstriert, dass der politische Diskurs auch heute noch unausweichlich mit einem ganzen Knoten ungeklärter politischer Traumata verflochten ist. Der Ikonoklasmus offenbart einen Wunsch nach Umgestaltung, wobei der Streit darüber, wer der wahre Held ist, noch immer nur in der bewaffneten Auseinandersetzung entschieden werden kann. Unser Projekt widmete sich von Anfang an dem Versuch, einen direkten Dialog mit der Vergangenheit aufzubauen. Wie reflektiert Ihr Projekt diese Situation? Und auf welche Schwierigkeiten sind Sie gestoßen? Die ursprüngliche Idee war einfach: Wir wollten eine Installation um das Denkmal für den sowjetischen Soldaten errichten (eine Art Gerüst, nur komplexer, mit Bezug auf Tatlins Turm) und es jedem, der wollte, erlauben, ganz nach oben zu klettern und damit der Statue von Angesicht zu Angesicht zu begegnen – einem Geist der Vergangenheit. Mit dieser einfachen und gleichzeitig spektakulären Geste hätte man auf das sowjetische Denkmal aufmerksam machen und es in einen öffentlichen Dialog mit der Stadt bringen können. Mit dieser Idee stießen wir allerdings auf heftigen Widerstand. Die russische Botschaft, in deren Zuständigkeit das Denkmal liegt, verweigerte die Erlaubnis und ohne diese Erlaubnis darf in seinem direkten Umfeld keinerlei öffentliches Kunstprojekt stattfinden. Die Reaktion der russischen Botschaft und der Regierung, die sie vertritt, war verständlich: Es darf kein Dialog – und schon gar kein kritischer – über die geheiligte Vergangenheit stattfinden. Wir mussten uns umstellen, einen Schritt zurücktreten und Abstand gewinnen. Wir waren gezwungen, unsere Ideen zu überprüfen und die Aufgaben, die mit einer kritischen Bewertung der Monumentalität einhergehen, neu zu skizzieren. Das war besonders wichtig, da unser Projekt jetzt vor dem Hintergrund der dramatischen Entwicklungen in der Eskalation des militärischen Konflikts zwischen der Ukraine und Russland stattfand. Monumente und Monumentalität werden gerade heftig diskutiert. Wie kam es zu Ihrer Entscheidung, der Monumentalität mit einem partizipatorischen Projekt im öffent­ lichen Raum zu begegnen? Und warum gerade jetzt?

Ich weiß nicht, ob man dieses Projekt wirklich partizipatorisch nennen kann, und wir stehen dieser Begeisterung für Partizipation mit Skepsis gegenüber. Ja, wir veranstalten Tanzworkshops, die offen für alle sind, und „Learn­ing Mural“ entstand auf der Grundlage einer offenen Ausschreibung zur Teilnahme, aber unsere Regeln bezüglich Produktion und Verbindung mit dem Publikum sind eher didaktisch und pädagogisch. Wir verstecken unsere Autorenschaft nicht unter der oberflächlichen Behauptung, dass wir jemandem anderen erlauben zu sprechen, sondern wir übernehmen die Verantwortung für den Aufbau, die Einladungen, die Gestaltung und die Zusammenarbeit mit Leuten, die wir ausgewählt haben. Wir richten dieses Projekt an die lokalen Gemeinschaften und an alle, die sich für unsere Ideen interessieren und wir tun, was wir können, um offenen Kommunikationskanäle zu bieten. Wie wird sich die Gestaltung der Ausstellungs-Wand „Learning Mural“ am Haus der Berliner Festspiele auf das Projekt beziehen? Der Titel ist „Transformations of Monument“; wie müssen wir Denkmäler und Monumentalität umgestalten, um ihnen neues politisches und kritisches Potenzial zu verleihen? Die Arbeit stellt unseren Index unterschied­ licher Praktiken zur Umgestaltung von Denkmälern dar. Es gibt fünf Abschnitte – Zerstörung von Denkmälern, partizipatorische Denkmäler, alternative Denkmäler, Denkmäler in Bewegung, performative Darstellung der Monumentalität – und die Zeitkapsel als Essenz des Gedanken der Monumentalität. Diese Segmente sind äußerst willkürlich und überschneiden sich, aber wir wollten die Besucher dazu herausfordern, sich den Denkmälern zu nähern und sich mit unserer Recherche zu beschäftigen. Sie sollen sehen, dass Denkmäler nicht einfach vorgegeben sind, sondern dass dieser Bereich von den Machthabern und ihren Gegnern schwer umkämpft wird. Und jeder könnte zusammen mit seiner Gemeinschaft neu darüber nachdenken, welcher Ereignisse oder Persönlichkeiten gedacht werden sollte und wie dieses Gedenken aussehen sollte. Bei unseren Projekten geht es normalerweise darum, die richtigen Fragen zu stellen und zu sammeln, dabei aber eine eigene Antwort zu liefern. Hier ist es eine Skulptur, die wir im Mittelpunkt unserer Installation aufgebaut haben – „Der Papiersoldat“. Diese Skulptur ist eine schwule Nachbildung des sowjetischen Denkmals für den unbekannten Soldaten und wir platzieren sie genau vor das Original. Man

fühlt den Unterschied: Unsere Skulptur ist im Gegensatz zum Bronze-Original aus Papier auf einem offenen Holzrahmen und sieht sehr zerbrechlich aus. Trotzdem hat sie die gleichen riesigen Maße; sie ist sechs Meter hoch und wirkt großartig und kraftvoll. Diese Kombination von Schwäche und Kraft könnte als unser maßgeblicher Beitrag zur Diskussion darüber angesehen werden, wie ein dialektisches Denkmal heute aussehen könnte. Brauchen wir heute noch Denkmäler? Worin liegt Ihr politisches Potenzial in einer Gesellschaft, die behauptet, frei von Ideologie zu sein oder die zumindest versucht, sich an der Oberfläche ihrer ideologischen Verknüpfungen zu entledigen? Die umfangreiche und leidvolle Diskussion über die Darstellung von Geschichte (über Themen wie Zeugen und Verantwortung, die ethische Wende in der Politik des Gedenkens, Trauma und Trauerarbeit, asymmetrische Gewalt, die Vielstimmigkeit des sozialen Gedächtnisses, die Universalität von Normen und die Maßregeln von Verbrechen etc.), die in Europa nach dem Krieg begann, bleibt bis heute in höchstem Maße relevant und erlaubt es uns, jeder Form der Archaisierung des Bewusstseins zu entgehen. Damit die Prak­ tiken der Monumentalität allerdings nicht banal werden, müssen wir uns daran erinnern, was Benjamin zur Bewertung von Geschichte sagt: Das Vergangene zu formulieren, bedeutet nicht, zu erkennen, „wie es wirklich war“. Es bedeutet vielmehr, die Kontrolle über eine Erinnerung zu übernehmen, die im Moment der Gefahr aufflackert. Beim historischen Materialismus geht es darum, an einem Bild der Vergangenheit festzuhalten – so, als hätte es sich unerwartet im Moment der Gefahr auf das historische Subjekt gedrängt. Die Gefahr gilt dem Bestand der Traditionen genauso wie ihren Empfängern. Sie bedeutet für beide das Gleiche: die Zurverfügungstellung als Werkzeug der herrschenden Klasse… Einen Funken der Hoffnung in der Vergangenheit kann nur derjenige Geschichtsschreiber entzünden, der davon überzeugt ist, dass nicht einmal die Toten vor dem Feind sicher sind, solange dieser Feind siegreich ist. Und dieser Feind hat niemals aufgehört, siegreich zu sein. In diesen Tagen, wo sich die Welt einer neuen, gefährlichen Grenze nähert, ruft uns Benjamin mit seiner Prophezeiung dazu auf, neue Meilensteine in der Vergangenheit zu schaffen. Wenn wir wirklich zum Kampf bereit sind, dann müssen wir vor allem ein Gefühl für uns selbst in der Geschichte aufbauen – und nicht nur in der Geschichte, sondern in der Geschichte des Kampfs. Nur dann sind wir der wichtigsten Aufgabe gewachsen: die ‚Toten zu retten‘. Nur dann bekommen die

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Gebilde aus Stein, Marmor, Stahl, die Baumgruppen (mit oder ohne blinkende Monitore) eine Bedeutung; nicht nur für die kommenden Generationen, sondern als eine aktive politische Kraft zur Umgestaltung der Welt. Darum ist es im jetzigen Moment der wachsenden Gefahr so entscheidend, neue Formen der Monumentalität zu untersuchen.

Ein Ziel Ihrer Recherche scheint es zu sein, das Gedenken als gesellschaftliche Praxis, als eine Art soziales Ritual wieder einzuführen. Was für Rituale könnten das sein?

Unsere Antwort ist die Aufforderung, eine dialektische Form der Monumentalität zu bedenken. Brecht sagte, dass das Lehrstück das ideale Format zur Einübung der Dialektik sei – ein Fitness-Studio für Dialektiker.

Warum haben Sie sich für das Format Theater entschieden? Es ist weder besonders demokratisch, noch besonders ermächtigend: Das Publikum muss dem zusehen, was auf der Bühne passiert. Hat das Theater irgendein politisches oder kritisches Potenzial? Oder wie könnte es sich für diese Art des Diskurses öffnen?

Alle Denkmäler werden unsichtbar, wenn es keine Rituale gibt, mit denen ihr Dasein gefeiert wird und die sie in Dialoge einbinden. Es könnten verschiedenste Rituale sein, wie zum Beispiel Gedächtnistage, wo die Menschen Blumen bringen, wie am Russendenkmal am Schwarzenbergplatz am 9. Mai. Es könnten subversive performative Aktionen sein, die gewisse Denkmäler delegitimieren, oder auch Vandalismus. Es gibt zahlreiche Methoden, Denkmäler sichtbar zu machen und eine Diskussion über ihre Präsenz in Gang zu setzen.

Das kommt sehr darauf an, was Sie sehen und wie es inszeniert ist. Ich bin davon überzeugt, dass Shakespeare mehr partizipatorisches Potenzial hat als alle oberflächlichen Aufrufe zur Einbindung des Publikums. Das Theater ist insofern politisch, als es auf einem ganz allgemeinen Wunsch nach Stücken basiert und eine künstliche Distanz zum Leben aufbaut, die es der Gesellschaft ermöglicht, sich selbst von außen zu betrachten und ein Gefühl der Gemeinschaft zu entwickeln.

Am Schwarzenbergplatz haben Sie Tanzworkshops für die Öffentlichkeit veranstaltet. Wie ist der Bezug zwischen Gedenken und dem Körper, sowohl dem individuellen Körper als auch dem der Gesellschaft?

Haben Sie überall nach dem Lehrstück die gleichen Reaktionen, Diskussionen und Fragen erlebt? Welche Reaktionen erhoffen Sie in Berlin? Wann würden Sie das Lehrstück als ‚Erfolg‘ ansehen?

Nina Gasteva ist ein Mitglied unseres Kollektivs und leitet den offenen Workshop „Dancing Community – Flying Monuments”. Gedenken beginnt immer als eine persönliche Handlung, die politisch wird, wenn sie mit den Wünschen anderen Menschen im Umfeld zusammenkommt. Genau dann wird der kollektive Körper geschaffen, und dabei ist der Tanz ein wichtiges Instrument.

Es ist erfolgreich, wenn die Leute weiter darüber nachdenken und angeregt werden, ein eigenes Stück zu machen.

Welche Bedeutung hat Empowerment in diesem Zusammenhang? Kann das Gedenken zur Ermächtigung beitragen oder ist, umgekehrt gefragt, das Gedenken Vorbedingung einer ermächtigten Gesellschaft?

Bildung ist das reinste Empowerment.

Meiner Meinung nach ist das Gedenken eines der Schlüsselelemente von Ermächtigung. Leider wird es von den oppositionellen Kräften eher vernachlässigt und daher ist es umso wichtiger, wieder eine Verbindung herzustellen. Welche Rolle spielt das Lehrstück bei diesen Fragen? Sie fragen „Was ist heute monumental?“ – haben Sie eine Antwort? Glauben Sie, dass Sie eine finden werden? Wie kann diese Art von Frage in einem Lehrstück gestellt werden?

In vielen Ihrer Projekte geht es um die Politisierung der Wissensproduktion. Sie haben kürzlich in St. Petersburg eine Schule eröffnet – was ist die Beziehung zwischen Bildung und Empowerment?

Gibt es einen Unterschied zwischen Kunst und Aktivismus? Es muss einen Unterschied geben, sonst verlieren beide Aktivitäten ihre Kraft. Der Hauptunterschied liegt darin, dass man sich mit Aktivismus an bestehende Gemeinschaften wendet, wobei die Kunst da beginnt, wo man mit nicht-existierenden Menschen reden will.

Interview: Annika Kuhlmann Übersetzung: Elena Krüskemper

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

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ACID BRASS

JEREMY DELLER

Konzert /Film/Party Deutsche Erstaufführung Sa 12. Juli 2014, 20:30 Uhr Haus der Berliner Festspiele In englischer und deutscher Sprache Im Anschluss Acid House Party

EIGN AIRS 13.7.14 –

Mit: Jeremy Deller, The Fairey Band (Konzert), Massonix (Solo-Live-Set von Graham Massey of 808 State), Jeremy Deller / Mike Figgis (Film) und einem Intro des englischen Autoren und DJs Dave Haslam

„Jeremy Deller: The Battle Of Orgreave (An Injury To One Is An Injury To All)“ (2001) Video, 62 min, Regie: Mike Figgis Im Auftrag von Artangel und Channel 4, The Artangel Collection Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds Mit Unterstützung von: British Council Foto: © Jeremy Deller

Ist ein 1966 geborener englischer Konzept-, Video- und Installationskünstler und Turner-Preisträger 2004. Bekannt wurde Deller mit „The Battle of Orgreave“ (2001), einem öffentlichen Re-enactment einer Auseinandersetzung zwischen Berg­ arbeitern und Polizisten während eines Streiks im Jahr 1984, für die er rund 1000 Menschen zusammenbrachte. Von 2007 bis 2011 wirkte Deller als Kurator der Tate Gallery. 1997 schloss sich Deller mit der Fairey Band aus Stockport zum Musikprojekt „Acid Brass“ zusammen. Viele seiner Arbeiten entstehen gemeinschaftlich. Sein Werk weist einen starken politischen Aspekt auf, in seinen Themen und durch die Einbindung anderer in den kreativen Prozess. So wurde das „Folk Archive“, eine Sammlung von „Kunstwerken der Leute“, in ganz Großbritannien ausgestellt. 2004 organisierte Deller für die Eröffnung der Manifesta 5 eine „Soziale Parade“ durch die Straßen von Donostia-San Sebastián, wobei er ortsansässige alternative Gemeinschaften und Unterstützergruppen zur Teilnahme motivierte. Ende 2006 initiierte er das „Bat House Project“, einen Architekturwettbewerb mit dem Ziel, ein Fledermaus-Haus am Londoner Stadtrand zu entwerfen. Im folgenden Jahr hatte der unter der Co-Regie von Nick Abrahams entstandene Dokumentarfilm „The Posters Came From The Walls” über Fans von Depeche Mode aus aller Welt beim London Film Festival Premiere. 2009 veranstaltete Deller die „Procession“, eine Parade durch das Stadtzentrum von Manchester entlang der Hauptstraße Deansgate, in Zusammenarbeit mit dem Manchester International Festival und dem Cornerhouse Manchester. Für das The Three M Project kreierte Deller „It Is What It Is: Conversations About Iraq“ und lud Experten ins Museum ein, welche die Besucher ermutigten, sich über die Probleme im Irak auszutauschen. Den Turner Prize, mit dem Deller 2004 ausgezeichnet wurde, widmete er „jedem, der Rad fährt, jedem, der in London Rad fährt, jedem, der sich um die Tier- und Pflanzenwelt kümmert, und der Quäkerbewegung.“ Zu seiner Präsentation in der Tate Britain gehörten eine Dokumentation über das Projekt „Battle of Orgreave“ und die Installation „Memory Bucket“ (2003), eine Dokumentation über das texanische Crawford, die Heimatstadt von George W. Bush. Von 2012 bis 2013 war Deller Mitglied des Kuratoriums des Foundling Museum, London.

THE FAIREY BAND

Die Band, die 1937 von Angestellten der Fairey Aviation Company in Stockport gegründet wurde, feierte unter ihrem Dirigenten Harry Mortimer über dreißig Jahre lang musikalische Triumphe. Sie gewann 16 Mal bei den British Open Championships und 9 Mal bei den National Championships of Great Britain und wurde mit Auszeichnungen wie „Best of Brass“ von der BBC und „Band of the year“ von Granada geehrt. Besonders erfolgreich war die Band in den 1990er Jahren: 1993 gewann sie sowohl die British Open Championships als auch die National Championships, 1994 siegte sie bei den European Championships. Seit ihrer Gründung arbeitete die Band unter verschiedensten Dirigenten, u.a. Harry Mortimer, Leonard Lamb, Kenneth Dennison, Richard Evans, Walter Hargreaves, Geoffrey Brand, Major Peter Parkes, Roy Newsome, James Gourlay, Howard Snell und Allan Withington. Ihre Übersee-Tourneen haben die Band nach Kanada, Hongkong, Schweden, Deutschland, Belgien und Luxemburg, in die Niederlande und in die Schweiz geführt. In den letzten Jahren erfuhr die Band auch außerhalb der Brassband-Szene Anerkennung, nicht zuletzt dank des Projektes „Acid Brass“, mit dem sie bei Auftritten auf Rock- und Popfestivals in Großbritannien und im Ausland zu Gast war.

FORE AFFA 26.6.

GESPRÄCH MIT JEREMY DELLER Die Grundlage für Ihr „Acid Brass“-Projekt, das bei Foreign Affairs zum ersten Mal in Deutschland zur Aufführung kommen wird, bildet eine Zeichnung mit dem Titel „The History of the World“. Ist es eine urbane Legende, dass die Zeichnung in einem Pub entstanden ist? Jein. Die Idee ist in einem Pub entstanden, die Zeichnung entstand ein paar Tage später an einem anderen Ort. Ihr Freund Scott King, zu dessen „Festival of Stuff“ Sie eine neue Arbeit, einen FledermausFilm, beisteuern, ist ein großer Verfechter des Pubs als Ideeninkubator. Geht es Ihnen ähnlich? Für eine bestimmte Art von Ideen ist der Pub tatsächlich sehr gut – für Ideen, die etwas komisch, die auf den ersten Blick nicht eingängig sind und nicht der Norm entsprechen. An dem Tag stimmten die Umgebung und die Stimmung, und so wurde die Idee geboren, die Geschichte der Brass Bands mit der von Acid House zu kombinieren. Können Sie sich noch an den Moment erinnern, in dem Sie die Idee hatten? Wir saßen dort in einer Runde mit alten Schulfreunden zusammen. Und sprachen, wie wir das schon unser ganzes Leben lang tun, über Musik… und, das war das Besondere, über merkwürdige musikalische Kombinationen. Irgendwann sagte ich dann „Acid House“ und „Brass Bands“ und wusste, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.

Die Umgebung, in der diese Idee geboren wurde, war eine vertraute. Sehen Sie Ihre alten Schulfreunde regelmäßig? Nicht oft genug, so wie das eben mit alten Schulfreunden ist. Aber wir kennen uns sehr gut, seit Ewigkeiten, wir haben zu Schulzeiten sogar in einer Band gespielt. In fast allen Ihrer Arbeiten spielt Musik eine große Rolle. Wann begann Ihre Beschäftigung mit Musik? Schon sehr früh, mithilfe des Fernsehens, im Alter von 5 oder 6 Jahren. Glam Rock war das erste Genre, das mir gefiel. Ich verpasste keine der Sendungen von „Top of the Pops“, eine Geschichte, die Sie sicherlich schon von vielen englischen Popmusikern und bildenden Künstlern gehört haben. Auf jeden Fall. Mein „Top of the Pops“ hieß „Formel Eins“, eine Musikvideosendung, die in Deutschland von 1983 bis 1990 ausgestrahlt wurde. Ich habe davon gehört! Slade, Sweet, Gary Glitter, Roxy Music, Marc Bolan – diese Bands begeisterten mich. Und dann gab es diese Gruppen, die Sie so begeisterten, dass Sie sie in Ihre künstlerischen Arbeiten integrierten, ich denke da nicht nur an „Acid Brass“, sondern z.B. auch an „The Uses of Literacy“, eine Installation aus dem Jahr 1997, in der Sie ‚Fan-Kunst‘ ausstell­ten, die sich mit einer Ihrer aktuellen Lieblingsrockgruppen aus Wales beschäftigte, den Manic Street Preachers.

Ganz genau. Ich kann nur empfehlen, sich als Künstler mit dem zu beschäftigen, für das man sich interessiert, das man liebt. Für mich hat sich das immer sehr natürlich angefühlt. Alles andere ergibt doch keinen Sinn!

auch so intendiert. Absurd und treffend zugleich, eine historische Bedeutung aufzeigend, ein Abbild britischer Geschichte des 20. Jahrhunderts, das herzustellen war das Ziel der Arbeit

Ist das noch immer Ihre Maxime oder hat sich das im Laufe Ihrer Karriere geändert?

Wieviel Deller steckt in der Arbeit? Waren Sie selbst Raver?

Nein, nein, ich kann nur Kunst mit, über, von Sachen machen, die mich interessieren, die ich verehre. Alles andere ist Quatsch. Und es macht es einfach, weil es eben nur diese eine Regel gibt.

Ein bisschen, ich war auf einigen Raves, aber nicht auf den großen, berühmten, eher auf den kleinen, unbekannten. Die Arbeit ist von 1996, sie ist bald 20 Jahre alt, Acid House war da gerade erst tot, es ging mir also auch um so etwas wie ‚instant nostalgia‘, umgehend eintretende Nostalgie – der Blick auf eine Bewegung, die gerade erst aufgehört hatte zu existieren. Ein nostalgischer Blick? Vielleicht! Gleichzeitig ein Blick, der die Acid-House-Bewegung einbettet in eine Geschichtsschreibung, die bis heute gültig ist und viel über das Vereinigte Königreich sagt. Ich gab der Bewegung vielleicht auch mehr Bedeutung, als sie eigentlich hatte, aber das gefällt mir sehr gut, bis heute. Es ging auch um Unterstützung!

Wie haben Sie zwei auf den ersten Blick doch sehr disparate Musikrichtungen, Blasmusik und Acid House, mithilfe eines Flussdiagramms zusammengebracht? Nehmen wir diese Zeichnung: Ich habe zwischen zwei Musikstilen Verbindungen aufgemalt, auf die noch niemand vorher gekommen war, die mir aber sofort einleuchteten, als ich begann, über sie nachzudenken. Mir fiel auf, dass die gesellschaftliche Geschichte und Verankerung beider Musikstile sich ähnelt, ihre Beziehung zur industriellen Produktion gleich ist und beides Volksmusiken sind. Hinzu kommen geografische Verbindungen, es geht hier sehr viel um ‚the north‘, den Norden Englands, in dem beide Musikrichtungen ihr Zuhause haben. Natürlich war diese Unternehmung ein großes Risiko, ich kämpfte sehr dagegen, es nicht einfach nach einem Comic aussehen zu lassen, der einen nur zum Lachen bringt – wobei die Zeichnung natürlich auch sehr lustig ist, und das muss und soll auch so sein, und wurde von mir

Woher kannten Sie sich so gut mit der Be­deutung der Brass Bands für den Norden Englands und den Bergbau aus? Ich komme aus dem Süden Englands und lebe hier noch immer. Hier spielen Brass Bands keine besondere Rolle. Im Norden hingegen sind sie extrem populär, man findet eine richtige Kultur vor, die wiederum sehr eng verwoben ist mit der Industrialisierung, denn Brass Bands traten immer in Verbindung mit Fabriken, Minen und Arbeitern auf.

Das gab es einfach im Süden nicht. Mir war die Existenz dieser Bands schon immer bewusst und ich mochte sie von Anfang an.

Wie waren die Reaktionen der Acid-HouseProduzenten, deren Stücke Sie umarrangieren ließen?

Was macht den Norden so anziehend?

Sehr positiv. A Guy Called Gerald war begeistert, Bill Drummond von The KLF so angetan, dass er die Band sogar einlud, mit dem KLFNebenprojekt 2K eine Single aufzunehmen, Graham Massey, den Sie ja auch eingeladen haben, war stolz.

Der Norden ist so anders… Er sieht anders aus, funktioniert kulturell ganz anders, hat eine andere Geschichte, einen anderen industriellen Hintergrund, die Musik, die dort herkommt, unterscheidet sich sehr von der aus dem Süden – ach, und es ist immer gut, London zu verlassen und unterwegs zu sein. Gestern war ich zum Beispiel in Blackpool, auch im Norden gelegen, eine arme Stadt mit immensen Drogenproblemen. Wann stand für Sie fest, dass die Zeichnung zum Leben und Klingen erweckt werden sollte? Eigentlich von Anfang an. Ich bewarb mich bei einer Galerie in Liverpool um Fördermittel für ein „Kunst-Musik-Projekt“. Glücklicherweise bekam ich das Geld, es war nicht allzu viel, aber es versetzte mich in die Lage, die Fairey Band, die nun auch in Berlin auftreten wird, anzusprechen. Die Herren waren sofort bei der Sache und so fand die Uraufführung in Liverpool im Jahre 1997 am Liverpool Institute of Performing Arts statt. Und das Projekt lebt bis heute weiter. Anfänglich war ich noch bei jeder Aufführung dabei, das muss jetzt aber nicht mehr sein. Nach Berlin werde ich kommen, auch um Scott Kings „Festival of Stuff“ zu sehen, aber mittlerweile ist das Projekt eigentlich das Projekt der Fairey Band und hat ein eigenes Leben entwickelt, was mich sehr glücklich macht.

Bereitet es Ihnen keine Mühe, nach so vielen Jahren noch immer über dieses Projekt sprechen zu müssen? Nein, überhaupt nicht! Es ist eine meiner Lieblingsarbeiten. Es ist ein bisschen so, als ob ich in einer Band wäre und immer wieder über den einen Song sprechen müsste, mit dem ich meinen Durchbruch hatte bzw. mit dem eine neue, andere Karriere begann. Markierte die Arbeit einen Wendepunkt in Ihrer Entwicklung? Wahrscheinlich ja. Das Projekte führte mir vor Augen, dass ich als Künstler existieren könnte, ohne greifbare Kunstwerke anfertigen zu müssen. Und Ihnen war immer klar, dass Sie eigentlich kein Maler werden wollten. Dass das unmöglich war, wusste ich immer schon.

Interview: Martin Hossbach

Veranstalter: Berliner Festspiele · Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH · Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien · Intendant: Dr. Thomas Oberender · Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben · Foreign Affairs · Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz · Assistenz der künstlerischen Leitung: Maria Rößler · Dramaturgie: Carolin Hochleichter · Musikkurator: Martin Hossbach · Produktionsleitung: Annika Kuhlmann, Caroline Farke · Produktionsassistenz: Dunja Sallan · Technische Leitung: Matthias Schäfer · Assistenz der Technischen Leitung: Thomas Burkhard · Dramaturgiehospitanz: Bendix Fesefeldt · Produktionshospitanz: Anne-Kerstin Hege · Gästebetreuung: Anne-Kerstin Hege, Mona Intemann, Agathe Menetrier, Bettina Müller, Annabelle Theresa Kuhm, Laure Gaillard, Julia Zange, Josefine Chetko, Felix Lardon · Street Food: Denise Palma Ferrante · Festivalarchitektur: realities:united · Redaktion: Carolin Hochleichter, Maria Rößler, Christina Tilmann, Stefanie Wenner, Jochen Werner · Übersetzung: Elena Krüskemper / Local International · Graphik: Ta-Trung, Berlin · Technische Direktion: Andreas Weidmann · Bühnenmeister: Dutsch Adams, Lotte Grenz, Benjamin Brandt · Maschinisten: Martin Zimmermann, Fred Langkau, Manuel Solms, Marcus Trabus, Mirko Neugart, Jesus Avila Perez · Bühnentechniker: Birte Dördelmann, Juliane Schüler, Marcus Trabus, Manuel Solms, Alexander Gau, Pierre Joel Becker, Stephan Frenzel, Maria Deiana, Ivan Jovanovic · Requisite: Karin Hornemann · Leitung Beleuchtung: Carsten Meyer · Beleuchtungsmeister: Petra Dorn, Ruprecht Lademann, Katrin Kausche, Hans Fründt, Thomas Schmidt · Stellwerker: Robert Wolf, Lydia Schönfeld · Beleuchter: Kat Bütner, Mathilda Kruschel, Imke Linde, Boris Meier, Luciano Santoro, Sachiko Zimmermann-Tajima · Leitung Ton- und Videotechnik: Manfred Tiesler, Axel Kriegel · Tonmeister: Martin Trümper-Bödemann, Jürgen Kramer · Ton- und Videotechniker: Stefan Höhne, Tilo Lips, Klaus Tabert · Leitung Gebäudemanagement: Ulrike Johnson · Haustechnik: Frank Choschzick, Olaf Jüngling · Empfang: Barbara Ehrhoff, Georg Mikulla

Maison Fondée en 1851 à Saumur

BOUVET LADUBAY BRUT

DE

LOIRE



Focus Empowerment

Marta Górnicka & Chór Kobiet

Neon Neon & National Theatre Wales

Do 3. Juli 2014, 20:00 & 22:00 Uhr

Mi 9. & Do 10. Juli 2014, 21:00 Uhr

MAGNIFICAT

PRAXIS MAKES PERFECT

REQUIEMASZYNA

Berghain

Fr 4. & Sa 5. Juli 2014, 22:00 Uhr

Chto Delat

Haus der Berliner Festspiele

The Laboratory of Insurrectionary Imagination (Labofii)

WHAT IS MONUMENTAL TODAY?

Sa 12. Juli 2014, 18:00 Uhr Haus der Berliner Festspiele

WE HAVE NEVER BEEN HERE BEFORE

Fr 4. & Sa 5. Juli 2014, 20:00 Uhr Haus der Berliner Festspiele

EIGN AIRS 13.7.14 – David Graeber WAS IST EINE REVOLUTION?

Das ist dann auch immer die große strittige Frage: Was ist denn eigentlich eine Revolution? Wir haben immer gedacht, dass wir das wüssten. Eine Revolution sei eine Machtübernahme durch die eine oder andere Kraft aus dem Volk, die auf eine grundlegende Änderung des überkommenen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems abzielt. Und das unter dem Banner irgendeines visionären Traums von einer gerechten Gesellschaft. Wenn in unserer heutigen Zeit irgendwo eine Rebellenarmee in eine Stadt einfällt oder Massenaufstände für den Sturz eines Diktators sorgen, sind derartige Implikationen eher unwahrscheinlich. Falls es tatsächlich zu tiefgreifenden sozialen oder kulturellen Veränderungen kommen sollte – wie etwa beim Aufstieg des Feminismus –, dann geschieht das auf ganz andere Weise. Nicht dass es keine revolutionären Träume mehr gäbe. Aber zeitgenössische Revolutionäre glauben kaum an ein modernes Gegenstück zum Sturm auf die Bastille. Werfen wir einen Blick auf die uns bekannte Geschichte. Waren Revolutionen tatsächlich das, was wir in ihnen sahen? Für mich ist derjenige, der am genauesten hingeschaut hat, der große Sozialhistoriker Immanuel Wallerstein, auf den das Konzept der Weltsystemanalyse zurückgeht. Und seiner Ansicht nach waren die Revolutionen der letzten 250 Jahre in der Hauptsache weltweite Transformationen des politischen Common Sense. Bereits zur Zeit der Französischen Revolution, so Wallerstein, hat es einen gemeinsamen Weltmarkt gegeben und in zunehmendem Maße auch ein von den riesigen kolonialen Imperien dominiertes weltpolitisches System. Infolgedessen konnte der Sturm auf die Pariser Bastille sehr wohl nicht weniger profunde Auswirkungen auf Dänemark, ja selbst auf Ägypten haben als auf Frankreich selbst. Deshalb spricht er auch von der „Weltrevolution von 1789“, der die „Weltrevolution von 1848“ folgte, bei der es nahezu gleichzeitig zu Unruhen und Erhebungen in fünfzig Ländern kam, von der Walachei bis Brasilien. In keinem einzigen Fall gelang den Revolutionären die Machtübernahme, aber hinterher tauchten fast allenthalben von der französischen Revolution inspirierte Einrichtungen – namentlich allgemein zugängliche Systeme der Volksbildung – auf. Ähnlich war auch die russische Revolution von 1917 eine Welt­ revolution, die nicht nur zum Sowjetkommunismus führte, sondern indirekt auch für den New Deal und die europäischen Wohlfahrtsstaaten verantwortlich war. Die letzte in der Reihe von Weltrevolutionen war die von 1968, die wie die von 1848 fast überall ausbrach, von China bis Mexiko; und auch sie brachte niemanden an die Macht und änderte trotzdem alles. Es handelte sich in diesem Fall um eine Revolution gegen die staatlichen Bürokratien und für die Untrennbarkeit von persönlicher und politischer Befreiung, als deren bleibendes Erbe sich wahrscheinlich der damals geborene moderne Feminismus erweisen wird. Revolutionen sind also ein globales Phänomen. Was sie wirklich ändern, ist die fundamentale Auffassung davon, worum es in der Politik letztlich geht. Im Gefolge einer Revolution werden Vorstellungen, die man bis dahin ausschließlich mit randständigen Spinnern verbunden hatte, im Handumdrehen zur akzeptierten Basis der Diskussion. Vor 1968 führten die Weltrevolutionen größtenteils zu veritablen Verbesserungen: Einführung des allgemeinen Wahlrechts, Ausbau der Bildungsinstitutionen, die Evolution des Wohlfahrtsstaats... Die Weltrevolution von 68 dagegen war – ob nun in Berkeley, Paris oder Berlin – eine Rebellion gegen Bürokratie und

Konformität, gegen alles, was der menschlichen Fantasie Fesseln anlegte, ein Projekt nicht nur zur Revolutionierung des politischen oder wirtschaft­ lichen Lebens, sondern sämtlicher Aspekte menschlicher Existenz. Infolgedessen versuchten die Rebellen in den meisten Fällen gar nicht erst, den Staats­apparat zu übernehmen; für sie war das Problem der Apparat selbst. Heutzutage ist es schick, in den gesellschaftlichen Bewegungen der Sechziger einen peinlichen Fehlschlag zu sehen. Da ist ja auch was dran. In gewisser Weise hat die politische Rechte von 1968 profitiert. Die Ideale der individuellen Freiheit und der Fantasie sind umgeschlagen in einen Hass auf die Bürokratie und den Argwohn gegenüber der Rolle des Staates. Vor allem aber ist die Doktrin des freien Marktes wiederauferstanden, die spätestens mit Keynes und dem New Deal an Attraktivität schwer eingebüßt hatte. Es ist kein Zufall, dass dieselbe Generation, die als Teenager Träger der chinesischen Kulturrevolution gewesen ist, nun im gereiften Alter für die Wiedereinführung des Kapitalismus verantwortlich ist. Seit den 80er Jahren bedeutet „Freiheit“ nichts anderes als „der Markt“, und „der Markt“ wird mittlerweile synonym zu Kapitalismus verwendet – ironischerweise selbst in Ländern wie China, wo man seit Tausenden von Jahren hochentwickelte Märkte kennt, von denen kaum einer als kapitalistisch zu bezeichnen gewesen wäre. Der Ironien sind Legion. Während die neue Ideologie vom freien Markt sich in erster Linie durch die Ablehnung von Bürokratie definiert, ist gerade sie verantwortlich für das erste Verwaltungssystem, das auf globaler Ebene operiert: der Internationale Währungsfonds, die Weltbank, die Welthandelsorganisation, internationale Finanz­ einrichtungen, transnationale Konzerne, Nichtregierungsorganisationen... Dies ist eben das System, das uns – unter der wachsamen Ägide des amerikanischen Militärs – den orthodoxen freien Markt aufgezwungen und die Welt für die finanzielle Plünderung geöffnet hat. Dass die ersten Versuche, mit dem zwischen 1998 und 2003 zur Höchstform auflaufenden Global Justice Movement eine weltweite revo­ lutionäre Bewegung auf die Beine zu stellen, eine Rebellion gegen die Herrschaft dieser globalen Bürokratie waren, ist also nur folgerichtig. Rückblickend, so denke ich, werden die Historiker früher oder später feststellen, dass das Erbe der Revolution der 60er Jahre tiefgreifender ist, als wir es heute wahrhaben wollen, und dass der Triumph der kapitalistischen Märkte mitsamt ihren globalen Verwaltern und Vollstreckern, der uns im Gefolge des sowjetischen Zusammenbruchs 1991 so epochal und dauerhaft anmutete, in Wirklichkeit weit seichter war. (...) Fast überall auf der Welt hat man sich angewöhnt, die letzten dreißig Jahre als Zeitalter des „Neoliberalismus“ zu bezeichnen – eine Zeit, die von der Wiederbelebung eines im 19. Jahrhundert ad acta gelegten Glaubens beherrscht wird, demzufolge freie Märkte und die Freiheit des Menschen letztendlich dasselbe sind. Das große Problem des Neoliberalismus ist von Anfang ein zentrales Para­ doxon: Seiner Ansicht nach gebührt den ökonomischen Imperativen Priorität vor allen anderen; Politik ist vor diesem Hintergrund lediglich dazu da, die Bedingungen für das Gedeihen der Wirtschaft zu schaffen, indem sie den Markt walten und somit seinen Zauber entfalten lässt. Alle anderen Hoffnungen und Träume – etwa die von Gleichheit und Sicherheit – sind dem Hauptziel wirtschaftlicher Produktivität zu opfern. Die globale Wirtschaftsleistung der letzten dreißig Jahre war freilich entschieden mittelmäßig.

Mit ein, zwei spektakulären Ausnahmen (etwa der Chinas, das praktisch alle neoliberalen Vorschriften in den Wind schlug) lagen die Wachstumsraten weit unter denen des altmodischen, staatlich gelenkten, am Wohlfahrtsstaat orientierten Kapitalismus der 50er, 60er, ja sogar der 70er Jahre. Seinen eigenen Maßgaben nach also war der Neoliberalismus bereits vor dem Kollaps von 2008 ein kolossaler Fehlschlag. Nehmen wir andererseits die Aussagen der Führer dieser Welt nicht länger als bare Münze, sondern sehen wir im Neoliberalismus ein politisches Projekt, so wirkt er sofort spektakulär effektiv. Die Politiker, CEOs und Handelsbürokraten, die sich regelmäßig zu Gipfeln wie dem von Davos treffen, mögen jämmerlich gescheitert sein, wenn es darum geht, dieser Welt eine kapitalistische Wirtschaft zu geben, die tatsächlich den Bedürfnissen ihrer Bewohner gerecht werden (geschweige denn für Hoffnung, Glück, Sicherheit oder Sinn sorgen) könnte. Aber ihre Bemühungen, der Welt einzureden, der Kapitalismus – und zwar der finanzialisierte, semifeudale Kapitalismus, wie wir ihn heute haben – sei das einzig praktikable Wirtschaftssystem, waren ein Bombenerfolg. So gesehen handelt es sich also um eine bemerkenswerte Leistung. Wie ihnen das gelungen ist? Nun, die Präventivhaltung gegenüber sozialen Bewegungen ist eindeutig ein Teil der Bemühungen: Es gilt, unter allen Umständen zu verhindern, dass es auch nur den Anschein haben könnte, als hätten Alternativen – oder als hätten Leute mit Alternativen – Aussicht auf den geringsten Erfolg. Dies hilft auch bei der Erklärung der fast unvorstellbaren Investitionen in „Sicherheitssysteme“ der einen oder anderen Art. Denn es ist ja eigentlich absurd, dass die USA, die nun wirklich keinen Rivalen mehr haben, heute mehr für Militär und Aufklärung ausgeben als während des Kalten Kriegs – ganz zu schweigen von der schier überwältigenden Kollektion privater Sicherheits- und Nachrichtenagenturen, militarisierter Polizeikräfte, Leibgarden und Söldner. Dann sind da noch die Propagandaorgane zur Feier der Polizei – darunter eine gigantische Medienindustrie, die es vor den Sechzigern überhaupt noch nicht gab. Die meisten dieser Systeme greifen Dissidenten weniger direkt an, als dass sie zu einem alles durchdringenden Klima der Angst, chauvinistischer Konformität, existenzieller Unsicherheit und schierer Verzweiflung beitragen, die einem jeden Gedanken an eine Veränderung der Welt als müßiges Luftschloss erscheinen lässt. Aber sie sind auch extrem teuer. Den Schätzungen einiger Ökonomen nach ist heute ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung mit „Wachdiensten“ der einen oder anderen Art beschäftigt – sei es beim Objektschutz, bei der Überwachung von Arbeit oder anderen Maßnahmen, mit denen sie dafür sorgen, dass ihre Mitbürger spuren. Wirtschaftlich gesehen ist dieser Disziplinarapparat nichts als Ballast. Bei genauer Betrachtung ergeben alle wirtschaft­ lichen Neuerungen der letzten dreißig Jahre eher politisch als wirtschaftlich Sinn. Die Abschaffung der (teils lebenslangen) Festanstellung zugunsten prekärer Arbeitsverhältnisse schafft nicht etwa eine kreativere Arbeiterschaft, sie ist aber außerordentlich effektiv dabei, die Gewerkschaften zu zerstören und die Arbeitnehmer anderweitig zu entpolitisieren. Dasselbe lässt sich über die endlos zunehmenden Arbeitsstunden sagen. Kaum einem bleibt bei 60-Stunden-Wochen viel Zeit für politische Betätigung. Wenn es im Kern darum geht, den Kapitalismus als die einzig mögliche Wirtschaftsform erscheinen zu lassen oder ihn tatsächlich zu einer halbwegs brauchbaren Wirtschaftsform zu machen, entscheidet sich der Neoliberalismus, so hat man immer wieder den Eindruck, automatisch für den Anschein der vermeintlichen Alternativlosigkeit. Und das resultiert in einer gnadenlosen Kampagne gegen die menschliche Fantasie. Oder, um es präziser zu formulieren: Fantasie, Sehnsüchte, individuelle Befreiung, all das, was durch die letzten großen Weltrevolutionen befreit werden sollte, soll streng auf die Domäne des Konsumismus beschränkt bleiben, oder vielleicht auch auf die virtuelle Realität des World Wide Web. Aus allen anderen Bereichen gehören sie strengstens verbannt. Ich spreche hier vom Mord an Träumen. Ich spreche hier von einem Apparat der Hoffnungslosigkeit, der darauf abzielt, jedes Gespür für eine alternative Zukunft im Keim zu ersticken. Aber als Folge davon, alles auf diese politische Karte zu setzen, sehen wir uns in der bizarren Situation, das kapitalistische System vor unseren Augen zerbröckeln zu sehen – und das in genau dem Augenblick, in dem endlich alle zu dem Schluss gekommen sind, es gebe keine praktikable Alternative. Stellt man diese Weisheit infrage, dann wird einem gemeinhin ein detaillierter Plan zur Funktionsweise eines alternativen Systems abverlangt – bis hin zu den Finanzinstrumenten, der Energiepolitik und dem Abwassermanagement. Und dann folgt vermutlich die Frage nach einem nicht weniger detaillierten Programm für die Implementierung des neuen Systems. Aus historischer Perspektive ist das lächerlich. Wann sind gesellschaftliche Veränderungen je nach einem Plan zustande gekommen? Es war doch nicht so, dass sich im Florenz der Renaissance ein kleiner Kreis von Visionären zusammengesetzt und etwas erfunden hätte, was sie „Kapitalismus“ nannten – mitsamt allen Einzelheiten wie einer künftigen Börse oder einer Fabrik. Zu schweigen von einem Programm, wie man das alles umsetzen soll. Der Gedanke ist so absurd, dass wir uns fragen sollten, wieso wir überhaupt je darauf gekommen sind, dies sei die Art, wie gesellschaftliche Veränderungen im Allgemeinen entstehen. Ich persönlich habe den Verdacht, es handelt sich hier um ein Überbleibsel von Ideen der Aufklärung, die überall, außer in Amerika, längst verblasst sind. Das 18. Jahrhundert hatte eine Schwäche für die Vorstellung, große Gesetzgeber wie Lykurg oder Salon hätten Nationen, ganz nach dem Vorbild von Gottes Schöpfungsakt, aus dem Nichts gegründet und seien dann (wie Gott) zurückgetreten, um den Dingen ihren Lauf zu lassen. Und dass der „Geist der Gesetze“ dann allmählich den

Charakter einer Nation bestimmen würde. Es war dies eine eigenartige Fantasie, aber die Autoren der amerikanischen Verfassung glaubten nun mal, so würden große Nationen entstehen. Entsprechend versuchten sie ihr Werk in die Tat umzusetzen. Nicht umsonst hat John Adams geschrieben: „eine Nation von Gesetzen, nicht von Menschen“. Das hat natürlich nicht geklappt, ebenso wenig, wie sich spätere Versuche, neue Nationen sowie politische oder ökonomische Systeme von oben her einzurichten, bewährt haben (denken wir etwa an die UdSSR). Was nicht heißen soll, dass an utopischen Visionen irgendetwas auszusetzen wäre. Noch nicht mal an einschlägigen Plänen. Es muss nur klar sein, dass sie eben das und nichts weiter sind. Beispielsweise hat Michael Albert einen detaillierten Plan ausgearbeitet, wie eine moderne Wirtschaft ohne Geld nach basisdemokratischen Prinzipien funktionieren könnte. Ich halte das für eine wichtige Errungenschaft – nicht weil ich der Ansicht bin, dass sich dieses Modell buchstabengetreu umsetzen ließe, sondern weil sich seither nicht mehr behaupten lässt, dass so etwas unvorstellbar sei. Trotzdem sind solche Modelle eben nur als Experimente zu sehen. Wir können uns einfach nicht vorstellen, welche Probleme auftauchen werden, wenn wir uns tatsächlich an den Aufbau einer freien Gesellschaft machen. Womöglich erweisen sich Probleme, die uns zunächst als unlösbar erscheinen, letztlich als belanglos; andere dagegen, an die wir nicht mal gedacht haben, als verteufelt schwer. Der unwägbaren Faktoren sind Legion. Der offensichtlichste von allen ist die Technologie. Deshalb ist es auch albern, sich vorzustellen, Aktivisten der italienischen Renaissance hätten auf Modelle für Börsen und Fabriken kommen können. Was wirklich passierte, basierte auf den verschiedensten neuen Techniken, die sie noch nicht einmal erahnen konnten und die zum Teil überhaupt erst auftauchten, weil sich die Gesellschaft in eine bestimmte Richtung zu entwickeln begann. Dadurch ließe sich zum Beispiel eventuell erklären, weshalb die überzeugenderen Visionen einer anarchistischen Gesellschaft von Science-Fiction-Autoren wie etwa Ursula K. LeGuin, Starhawk oder Kim Stanley Robinson stammen. Derlei Fiktionen gestehen wenigstens ein, dass die technologischen Aspekte reine Vermutungen sind. Tatsache ist, dass die Richtung der Forschung weitgehend von gesellschaftlichen Faktoren vorangetrieben wird. Und einer der besten Belege für die Stagnation, ja den Verfall des zeitgenössischen Kapitalismus ist eben der Umstand, dass er seit den 70er Jahren seiner einst so überzeugenden Fähigkeit, aus Science Fiction Realitäten zu machen, verlustig gegangen ist. Wie also könnte denn nun eine Revolution des Common Sense tatsächlich aussehen? Ich weiß es nicht, aber mir fallen sofort etliche herkömmliche Weisheiten ein, die definitiv infrage gestellt werden müssten, wollten wir den Versuch einer praktikablen freien Gesellschaft angehen. Ein solches Projekt habe ich bereits an anderer Stelle, in meinem „Schulden“Buch, vorgeschlagen: ein Jubel- oder Erlassjahr im biblischen Sinne, eine generelle Schuldenamnestie, teils nur, um klarzustellen, dass Geld eine mensch­ liche Erfindung ist, ein Satz von Versprechungen, den man jederzeit neu aushandeln kann. Hier ein paar weitere vermeintliche Gewissheiten, mit denen wir uns nicht länger abfinden dürfen.

DER PRODUKTIVISTISCHE DEAL Viele schädliche Annahmen, die unser Gespür für das politisch Machbare lahm legen, haben mit dem Wesen der Arbeit zu tun. Die offensichtlichste ist die Annahme, dass Arbeit notwendigerweise gut ist, dass die, die sich nicht der Arbeitsdisziplin unter­ werfen wollen, moralisch fragwürdige Gesellen sind und dass die Lösung für jede Wirtschaftskrise, ja, für jedes wirtschaftliche Problem darin besteht, die Leute noch mehr arbeiten zu lassen als ohnehin schon. Bei Lichte betrachtet ist das absurd. Zunächst einmal handelt es sich hier um einen moralischen Standpunkt, nicht um einen ökonomischen. Es wird genügend Arbeit geleistet, ohne die wir wahrscheinlich besser dastünden, und Work­aholics sind nicht notwendigerweise bessere Menschen. Ja, ich denke, jede nüchterne Einschätzung der Weltlage müsste zu dem Schluss kommen, dass wir nicht mehr Arbeit brauchen, sondern weniger. Und das stimmt bereits, ohne dass wir ökologische Bedenken mit einbeziehen, also den Umstand, dass das gegenwärtige Tempo der globalen Arbeitsmaschine den Planeten zusehends unbewohnbar macht. Warum lässt sich diese Vorstellung so schwer infrage stellen? Ich vermute, dass hier zum Teil die Geschichte der Arbeiterbewegungen dahintersteckt. Es ist eine der großen Ironien des 20. Jahrhunderts, dass jedes Quäntchen mehr an politischer Macht für eine politisch mobilisierte Arbeiterklasse unter der Führung bürokratischer Kader errungen wurde, die eben diesem produktivistischen Ethos huldigten, das das Gros der eigentlichen Arbeiter mitnichten teilte. Es ließe sich auch als „produktivistischer Deal“ bezeichnen: Wer sich dem alten puritanischen Ethos fügt, dass Arbeit eine Tugend sei, wird mit dem Eingang ins Paradies der Konsumenten belohnt. In den frühen Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts war das der wesentliche Unterschied zwischen anarchistischen und sozialistischen Gewerkschaften. Deshalb neigten letztere dazu, höhere Löhne zu fordern, erstere eine kürzere Arbeitszeit (weshalb anarchistische Gewerkschaften letztlich auch für den Acht-Stunden-Tag verantwortlich sind). Die Sozialisten akzeptierten das von ihren bourgeoisen Feinden gebotene Konsumentenparadies, nur wollten sie das Produktionssystem selbst verwalten; die Anarchisten dagegen wollten Zeit, in der sich leben und anderen Werten huldigen ließ, von denen Kapitalisten noch nicht einmal träumen konnten. Ob in Spanien, Russland, China oder fast überall sonst, wo es zu Revolutionen kam, waren es die Anarchisten, die sich erhoben, in Ablehnung des produktivistischen Deals. Aber immer endeten sie unter der Verwaltung sozialistischer Bürokraten, die der

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Utopie des Konsumismus huldigten, auch wenn sie sie nicht annähernd haben verwirklichen können. Die Ironie daran war, dass der wesent­liche soziale Fortschritt, für den die Sowjetunion und ähnliche Regime tatsächlich gesorgt haben – nämlich mehr Zeit zu haben –, genau der war, den man nicht eingestehen konnte. Dieser Fortschritt, dieser Zeitgewinn, kam ja nur dadurch zustande, dass die Arbeitsdisziplin den Bach runterging und jeder nur noch halb so viel arbeitete, wie er eigentlich sollte. „Das Problem des unentschuldigten Fernbleibens“, wie man es nannte, stand einer unmöglichen Zukunft voller Schuhe und Unterhaltungselektronik im Weg. Aber wenn man es richtig bedenkt, ist selbst hier der Unterschied gar nicht so groß. Auch Gewerkschafter fühlen sich bemüßigt, mit einer bourgeoisen Sprache zu operieren – einer Sprache, die Produktivität und Arbeitsdisziplin als absolute Werte hinstellt –, und so zu tun, als wäre die Freiheit, auf der Baustelle mal eine Pause einzulegen, kein hart erkämpftes Recht, sondern eben doch ein Problem. Zugegeben, es wäre weit besser, gleich halbtags zu arbeiten, als an einem ganzen Arbeitstag das Quantum eines halben zu erledigen, aber es ist wohl besser als nichts. Wer sich der Arbeitsdisziplin unterwirft, aufgezwungen oder qua Selbstkontrolle, ist deshalb noch lange kein besserer Mensch. Aber erst dann, wenn wir den Gedanken, dass Arbeit eine Tugend sei, tatsächlich verwerfen, können wir uns fragen, was denn eigentlich so tugendhaft an der Arbeit ist. Eine Frage mit einer eigentlich offensicht­ lichen Antwort: Arbeit ist eine Tugend, wenn sie anderen hilft. Eine Neudefinition von Arbeit in diesem Sinne dürfte leichter fallen, wenn wir dem Produktivismus Valet sagen. Erst dann kann es überhaupt zu einer Neuausrichtung der technologischen Entwicklung kommen, weg von immer mehr Konsumartikeln und all dem Kram, den man nicht braucht. Was natürlich bleiben würde, das ist Arbeit von der Art, wie sie immer nur Menschen werden erledigen können: soziale Arbeit, Pflegearbeit, Kommunikationsarbeit. Wir könnten wieder auf die Idee kommen, dass das eigentliche Geschäft des Lebens nicht darin besteht, zu einer „Wirtschaft“ beizutragen (einem Konzept, das es vor hundert Jahren noch nicht einmal gab), sondern dem Umstand Rechnung zu tragen, dass wir alle seit jeher Projekte gegen­ seitiger Schöpfung sind. (...)

WAS ICH PERSÖNLICH GERNE HÄTTE Ich kann nicht wirklich sagen, wie eine freie Gesellschaft aussehen würde. Aber da ich mich nun schon mal darüber geäußert habe, was uns fehlt, nämlich die Entfesselung politischen Verlangens, kann ich wohl auch damit zu einem Ende kommen, einige der Dinge zu nennen, die ich persönlich gerne verwirklicht sähe. Ich würde gerne etwas wie das Prinzip hinter dem Konsensentscheid – das den Respekt für radikale, unvereinbare Unterschiede zur Basis für Gemeinsamkeit macht – auf das gesamte gesellschaftliche Leben angewandt sehen. Was würde das nun wirklich bedeuten? (…) In ökonomischer Hinsicht würde ich mir eine Art Garantie für existenzielle Sicherheit wünschen, die es einem gestattet, Ziele zu verfolgen, die einem – einzeln oder kollektiv – tatsächlich erstrebenswert sind. Das ist ja ohnehin der Hauptgrund dafür, dass die Menschen Geld verdienen wollen: um etwas anderes machen zu können, etwas, was ihnen als nobler erscheint, schöner, profunder oder einfach nur gut. Wonach ließe sich in einer freien Gesellschaft streben? Vermutlich nach so einigem, was wir uns jetzt kaum vorstellen können, obwohl man darunter vertraute Werte finden wird wie Spiritualität, Sport, Kunst, Fantasy-Spiele, wissenschaftliche Forschung, Landschaftsgärtnerei, intellektuelle oder hedonistische Freuden und noch ungeahnte Kombinationen von alledem. Die eigentliche Herausforderung wird ganz offensichtlich in der Aufteilung der Ressourcen zwischen der Beschäftigung mit Werten liegen, die an sich nicht miteinander zu vergleichen sind. Was mich zu einer weiteren Frage bringt: Was bedeutet denn eigentlich „Gleichheit“? Ich werde das gar nicht so selten gefragt. Für gewöhnlich von reichen Leuten. „Was wollen Sie denn nun eigentlich? Totale Gleichheit? Wir soll das möglich sein? Wollen Sie wirklich in einer Gesellschaft leben, in der jeder genau das Gleiche hat?“ Und immer schwingt der Unterton mit, dass zu einem solchen Projekt ja wohl der KGB erforderlich wäre. Das sind die Sorgen des einen Prozent. Die Antwort lautet ganz einfach: „Ich würde gerne in einer Welt leben, in der diese Frage unsinnig wäre.“ Hier statt einer Parabel ein Beispiel aus der Geschichte. In jüngsten Jahren sind Archäologen auf etwas gestoßen, was jedes bisherige Verständnis der Menschheitsgeschichte auf den Kopf gestellt hat. Sowohl in Mesopotamien als auch im Industal waren die Gesellschaften in den ersten tausend Jahren städtischer Zivilisation strikt egalitär. Und das geradezu obsessiv. Es findet sich nicht der geringste Hinweis auf soziale Ungleichheit: keine Ruinen von Palästen, keine aufwändigen Grabstätten. Die einzigen Monumentalbauten waren solche, die für alle da waren, zum Beispiel öffentliche Bäder. Die Häuser in den einzelnen Stadtvierteln waren nicht selten von exakt derselben Größe. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass gerade diese obsessive Gleichheit das Problem war. Wie ein Freund, der brillante britische Archäologe David Wengrow, immer gerne sagt: Die Geburt der städtischen Zivilisation folgte

unmittelbar auf eine womöglich gar noch wichtigere Erfindung, die Geburt der Massenproduktion. Sie ermöglichte es zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte, tausend Behältnisse für Öl oder Getreide derselben Größe herzustellen, jede mit einer iden­ tischen Maßangabe. Und das mit beängstigenden Implikationen für alle Beteiligten. Hat man erst einmal gleichförmige Produkte, dann hat man auch die Möglichkeit, genau zu vergleichen, um wie viel einer mehr hat als der andere. Es gelang zwar, das Unvermeidliche tausend Jahre aufzuhalten, was an sich ein bemerkenswertes Zeugnis für das menschliche Durchhaltevermögen ist, aber dann passierte es eben doch, und wir haben noch heute mit den Folgen zu tun. Es ist kaum wahrscheinlich, dass wir eine sechstausend Jahre alte Innovation je werden rückgängig machen können. Aber andererseits, warum sollten wir? Große unpersönliche Strukturen und einförmige Produkte wird es immer geben. Die Frage ist nicht, wie so etwas rückgängig zu machen wäre, sondern wie man es in den Dienst seines Gegenteils stellen kann: einer Welt, in der Freiheit bedeutet, Ziele verfolgen zu können, die schlicht nicht miteinander vergleichbar sind. Unsere gegenwärtige Konsumgesellschaft scheint uns das zwar als höchstes Ideal hinzustellen, aber was sie uns wirklich vorgaukelt, ist hohler Schein. Man kann sich Gleichheit, was Dinge anbelangt, am besten auf zweierlei Arten vorstellen: entweder indem sie (jedenfalls in jeder wesentlichen Hinsicht) genau gleich oder indem sie so verschieden sind, dass sie sich schlicht nicht vergleichen lassen. Dieser Logik zufolge ist es bei unser aller Einzigartigkeit ebenso wenig möglich, bessere und schlechtere Menschen auszumachen, wie sich etwa zwischen höher- und minderwertigen Schneeflocken unterscheiden lässt. Baut man auf dieses Verständnis eine egalitäre Politik, so wäre deren Logik folgende: Da es keine Grundlage dafür gibt, derart einzigartigen Individuen aufgrund ihrer jeweiligen Vorzüge einen Rang zuzuweisen, gebührt auch jedem dasselbe Quantum an messbaren Dingen – gleiches Einkommen, gleich viel Geld oder ein gleicher Anteil am Reichtum. Wenn man es recht bedenkt, so ist das doch sonderbar. Dieses Prinzip geht davon aus, dass wir alle unserem Wesen nach völlig verschieden sind, merkwürdigerweise aber alle dasselbe wollen. Was, wenn wir das umkehren würden? Auf eine gewisse seltsame Art macht die bestehende feudalisierte Variante des Kapitalismus, in der Geld und Macht effektiv ein und dasselbe geworden sind, uns das einfacher. Das eine Prozent, das die Welt beherrscht, mag aus dem Streben nach Geld und Macht eine Art autistisches Spiel gemacht haben, bei dem Geld und Macht zum Selbstzweck geworden sind. Für die anderen – für uns, für die 99 Prozent – jedoch bedeutet Geld, Einkommen, Freiheit von Schulden die Macht, nach etwas anderem zu streben als Geld. Was etwas grundlegend anderes ist. Was, wenn wir zwar alle gleich sind, wir uns aber alle verschieden machen, weil wir nicht alle dasselbe wollen? Was, wenn Freiheit die Fähigkeit wäre, uns zu entscheiden, wonach wir streben wollen und mit wem? Und Gleichheit dieselbe Macht für alle, genau dies zu tun? Und Demokratie unsere Fähigkeit, als vernünftige Menschen zusammenzukommen und unsere gemeinsamen Probleme zu lösen – Probleme, die wir immer haben werden, deren Lösungen sich jedoch erst wirklich entfalten können, wenn Zwangsstrukturen verblassen oder gleich kollabieren? Das ist es, was ich persönlich gerne sehen würde.

Aus: David Graeber, Inside Occupy, Campus Verlag Fft/Main/New York 2012. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Campus Verlags.

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