ure ater f ahoma
Natu Thea of Okla
www.berlinerfestspiele.de www.hebbel-am-ufer.de
Programm
29. Juni 2013 20:00 Uhr Romeo and Juliet 30. Juni 2013 20:00 Uhr, Artist Talk im Anschluss an die Vorstellung Romeo and Juliet 03. Juli 2013 20:00 Uhr Life and Times – Episode 1 04. Juli 2013 20:00 Uhr Life and Times – Episode 2 05. Juli 2013 20:00 Uhr Life and Times – Episodes 3&4 06. Juli 2013 20:00 Uhr Life and Times – Episodes 4.5&5 07. Juli 2013 14:00 Uhr Life and Times – Marathon (Episodes 1 – 5) 10. Juli 2013 20:00 Uhr Life and Times – Episode 6 (Work in progress) 11. Juli 2013 20:00 Uhr Das groSSe Nature Theater of Oklahoma ruft Euch! – A Movie 12. Juli 2013 14:00 Uhr Life and Times – Marathon (Episodes 1 – 6)
Inhalt
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Die 14-tägige Ausrufung des Nature Theater of Oklahoma im HAU Hebbel am Ufer / The Call
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Anyone thinking of his future, your place is with us! Ein Gespräch zwischen Kelly Copper, Pavol Liska, Annemie Vanackere und Matthias von Hartz
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Kai van Eikels: Übungen in Schicksallosigkeit – „Life and Times“ und die Umwertung des Lebens durch die Serie
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Florian Malzacher: Was bisher beim Nature Theater of Oklahoma geschah... Kelly Coppers und Pavol Liskas theatrales Spiel mit Kontrolle und Versagen
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Nina Tecklenburg: Everybody’s Life and Times. Zum autobiografischen Erzählen im Theater
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Das Programm im Überblick
27 Impressum
„Das große Nature Theater of Oklahoma ruft Euch!” ist ein gemeinsames Projekt von HAU Hebbel am Ufer und Berliner Festspiele/Foreign Affairs, gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds.
1 FOREIGN AFFAIRS 2013
DAS GROSSE NATURE THEATER OF OKLAHOMA
RUFT EUCH! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, ver säumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns!
JEDER IST WILLKOMMEN! Wer Künstler werden will, mel de sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mit ternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles ge schlos sen und nicht mehr geöffnet!
VERFLUCHT SEI, WER UNS NICHT GLAUBT! 3 FOREIGN AFFAIRS 2013
Anyone thinking of his future, your place is with us!
Ein Gespräch zwischen Kelly Copper, Pavol Liska, Annemie Vanackere und Matthias von Hartz Pavol Liska: Sprechen wir zuerst über Zusammenarbeit. Warum sind Kollaborationen so schwierig? Ich behaupte nicht, dass ihr, Annemie und Matthias, nicht kollaborieren würdet, aber es war offenbar harte Arbeit, das Ganze zum Laufen zu bringen, und wird es weiterhin bleiben. Annemie Vanackere: Es stimmt, ein kollaboratives Projekt erfordert mehr Arbeit als ein eigenes. Ihr habt hohe Ansprüche an eure Arbeit, ihr wollt die Kontrolle behalten. Ich habe für mein Theater auch Ansprüche, Matthias hat Ansprüche für sein Festival, das sind alles Faktoren, die die Kollaboration inspirierend, aber auch ermüdend machen können. Matthias von Hartz: Ich finde sie auch manchmal ermüdend, würde aber immer sagen, dass es das wert ist. Ich arbeite für Foreign Affairs in diesem Jahr auch mit einer Kunst-Institution zusammen, was noch schwieriger ist. Aber nur in der Zusammenarbeit mit anderen erkennt man, wie festgefahren das eigene System ist und wie schwer es ist, das zu ändern. Kollaboration erfordert viel Kraft, aber sie hilft mir auch, mich und mein System besser zu verstehen. Und vielleicht bin ich mir dann beim nächsten Mal der möglichen Schwierigkeiten eher bewusst, ahne, wo die Herausforderungen und wo die Potentiale liegen. AV: Das meine ich mit ermüdend und inspirierend. Kollaboration erfordert gegenseitige Rücksichtnahme, sonst kann es schnell zu Missverständnissen und Irritationen kommen. Man muss sehr sorgfältig darin sein, diese Regeln zu beachten.
PL: Ich stimme völlig zu, dass gegenseitige Rücksichtnahme wichtig ist, aber heißt das auch, dass man nur vorsichtige Schritte machen darf? Dann könnte nämlich unsere Vorsicht das Endergebnis schwächen. Am Anfang jeder Probe bitte ich die Schauspieler um Erlaubnis, nicht vorsichtig sein und Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen nicht berücksichtigen zu müssen, denn wenn ich mich zu sehr in Acht nehme, schadet es der Arbeit. Übergroße Vorsicht führt dazu, dass man nicht die volle Verantwortung für das Ergebnis übernimmt, welches dann mittelmäßig wird, weil keine Seite der anderen auf die Füße treten will. Ich frage mich, ob wir deshalb so völlig offen miteinander reden können, weil wir einander sehr gut kennen. Kelly Cooper: Einer der Gründe, warum die Proben funktionieren, ist jahrelanges Vertrauen. Man kann nur dann sagen, „Ich werde heftige Sachen ausprobieren, aber mach dir deswegen keine Sorgen“, wenn über Jahre hinweg das Vertrauen entstanden ist, dass wir niemanden verletzen oder ihm das Leben zur Hölle machen. Die Performer vertrauen uns ihren Körper und ihre Seele an. AV: Deswegen bin ich der Meinung, dass Rücksicht nicht unbedingt Vorsicht bedeuten muss. Ich habe die Tatsache, dass sich das HAU Hebbel am Ufer und die Berliner Festspiele/ Foreign Affairs für dieses große Nature Theater-Projekt zusammengetan haben, als kulturpolitisches Novum bezeichnet. Es ist nicht selbstverständlich und zeugt tatsächlich von Vertrauen, dass sich zwei
unterschiedlich finanzierte „Konkullegen“ zusammentun und ein Projekt umsetzen, das nur mit vereinten Kräften zu bezahlen ist. MvH: Obwohl wir uns alle seit langem kennen, haben wir noch nie zusammengearbeitet. Vielleicht sollten wir uns im Herbst wieder unterhalten, dann wissen wir wahrscheinlich genau, was wir tun wollen (oder hätten tun sollen). Aber zuerst brauchen wir diese gemeinsame Erfahrung. PL: Ich frage mich, ob es möglich ist, Kollaboration als Verhaltensmodell zu sehen, mit dem wir experimentieren – darum geht es eigentlich in unserem Projekt. Ich gebe eine Menge Kontrolle, wie das Hebbel-Theater aussehen wird, in die Hände von Valerie von Stillfried ab, normalerweise wäre ich gerne an jeder noch so kleinen Ecke beteiligt. Vielleicht ist es ein Zeichen des Alterns, dass man weniger Optionen hat, und ich hätte gerne mehr Optionen und will etwas entdecken, dass ich allein gar nicht wissen kann. KC: Du arbeitest jetzt auch in einer Größenordnung, von der du weißt, dass sie nicht machbar wäre, wenn du weiter allein arbeitest und alles bis ins kleinste Detail kontrollierst. AV: Das ist also der Schritt, den ihr machen werdet, wenn ihr drei Wochen lang in einem Theater lebt und arbeitet... PL: Wir sehen das so, dass wir ein gesellschaftliches Modell erschaffen. Das ist mehr als nur Kunst, nämlich eine soziale Skulptur, und selbst wenn wir das nicht hinbekommen, die Welt schafft es dann hoffentlich schon.
Vielleicht kann die äußere Struktur, das System, sich ja anpassen. Sonst passen wir Künstler uns ja eigentlich immer der Politik an, nicht umgekehrt. Wir bitten die Politiker immer um Erlaubnis, fragen, wie wir ihrer Vorstellung nach arbeiten sollen, könnten wir lieber dasund-das machen… Stattdessen könnten wir jetzt ein Handlungsmodell für sie schaffen, und sie könnten anfangen, sich uns anzupassen. AV: Reden wir über eure „soziale Skulptur“, die auch ein soziales Experiment ist, bei dem es darum geht, dass ihr im Theater leben werdet. Wir wissen nicht, was passieren wird, das ist die experimentelle Seite des Projekts. Als vor einigen Wochen für Episode 2 in Berlin Statisten gesucht wurden, kamen durch die Verbreitung über soziale Netzwerke im Handumdrehen über hundert Bewerbungen zusammen. Ich fand es großartig, dass da schon so ein fruchtbarer Boden war... Welche Erwartungen oder Wünsche habt ihr, wenn wir jetzt den Aufruf für dieses Projekt machen? PL: Ich hoffe, dass mein Idealismus sich bestätigt: Dass Menschen kommen und an einem Projekt mitarbeiten, von dem sie nicht wissen, wie es ausgeht, und ohne dafür bezahlt zu werden. Ich würde sofort unbezahlt mitmachen und bin jetzt wirklich gespannt: Bin ich der einzige Verrückte, oder ist auch bei anderen noch ein Hunger nach Erlebnissen anstatt nach Geld vorhanden? Ich hoffe, dass viele kommen und ihre Zeit opfern. Es gibt Erfahrungen im Leben, für die ich gern bereit bin zu zahlen, und so häufig hat man dazu nicht mehr die Gelegenheit, weil wir nicht in einer Gemeinschaft leben – das ist wahrscheinlich das Über- bleibsel meiner sozialistischen Erziehung, der Glaube an die Utopie, etwas zu machen, wofür man nicht unbedingt 5 FOREIGN AFFAIRS 2013
bezahlt wird. Mein Traum ist, dass tausend Leute kommen und siebenhundert davon mitmachen wollen. AV: Episode 5 ist ein Buch, Episode 6 wird was? Eine Live-Radioshow als Ergebnis all dieser unbekannten Faktoren – über die ihr jetzt noch keine Kontrolle habt... PL: Es ist auf jeden Fall ein Experiment, Poster aufzuhängen mit der Ankündigung: Kommt und macht beim Nature Theater of Oklahoma mit. Da geht es nicht nur um Episode 6, das ist eine viel größere Sache. Episode 6 ist nur ein Vorwand. KC: Was mich interessiert: Wenn man so einen Aufruf macht, wer kommt dann? Wer will so ein utopisches Zusammentreffen? Das ist eine offene Frage. Ich will herausfinden, wer das so sehr braucht wie ich. Das ist wie eine Suche nach Seelenverwandten. Theater ist immer auch eine Suche nach Gefährten. PL: Oder religiös gesehen: Das ist wie die Suche nach einem Gottesbeweis. Gibt es Gott? Ist das wichtig? KC: Eine Erfahrung hat mich sehr bewegt: Als wir damals anfingen, kamen alle jeden Tag nach der Arbeit zusammen und saßen stundenlang völlig ohne Bezahlung in einem schäbigen kleinen Zimmer, und dabei haben wir Werte geschaffen. Das war etwas Besonderes. Und jetzt will ich wieder die Fühler ausstrecken und herausfinden, wer da draußen sonst noch mein Bedürfnis teilt? Ab und zu braucht man das, weil man so viel Zeit mit Warten verbringt: Man wartet, dass etwas passiert, auf Geld, auf Genehmigungen, auf einen Raum – und in Berlin werden wir Raum und Zeit haben.
PL: Wir testen also das Engagement der Welt... MvH: Für was? PL: Für ein höheres Ziel. KC: Etwas von unbekanntem Wert zu schaffen. PL: Herauszufinden, ob der Kapitalismus wirklich gesiegt hat. AV: Muss man glauben, um teilnehmen zu können? PL: Nein. Man muss nicht glauben, man muss nur Fragen haben. Und hungrig sein. KC: Eine gute Frage. Wenn man ein Stück Land bestellt, sät, wässert, sich um alles kümmert, dann muss man daran glauben, dass am Ende etwas Essbares wächst – ich denke, man muss glauben. Sonst ist es nur vergeudete Mühe, und noch dazu sehr viel Mühe... Das Theater erfordert zweifellos eine Art Glauben – bei den vielen Stunden der Frustration... PL: Was liegt jenseits des ganzen Kampfes? Das will ich herausfinden. AV: Mir gefällt, dass man als Zuschauer vorher nicht unbedingt weiß, was man bekommt. Darin liegt wohl der Unterschied zu einem Gang in die Kirche, wo es ein festgelegtes Ritual gibt – aber auch ein Besuch im Theater hat rituelle Aspekte, die ich persönlich sehr mag. Ich sitze gern in einem Theaterraum, ich brauche vielleicht nicht unbedingt selber direkt teilzunehmen, aber der Aspekt der Entdeckung ist sehr reizvoll. Der Spaß daran, etwas Unbekanntes zu entdecken, gehört bei allen euren Produktionen dazu. Und um Zeit und Geld zu geben, muss
man daran glauben, dass man etwas bekommt: Vergnügen, Gefühle, Nachdenkenswertes, all diese Dinge... PL: So wird der Film entstehen, den wir in Berlin machen: kein Spielfilm, sondern ein Dokument der Suche nach dem, was passieren wird. Wir haben kein Drehbuch, das Drehbuch wird sich selbst schreiben. Wir schaffen die Bedingungen, setzen die Regeln fest, aber das sind keine Kirchenregeln, sondern theatrale Regeln, Regeln der Zusammenarbeit, denn wir laden Leute ein, mitzumachen. Als wir Episode 5 zum ersten Mal aufgeführt haben, haben einige Leute das Buch in zehn Minuten einfach nur durchgeblättert, dann waren sie fertig, das hat mich schockiert. Diese paar Minuten, die sie dem zugestanden haben, standen in keinem Verhältnis zu der Mühe, die wir hineingesteckt hatten. Aber andere sind bis zum Ende dabei geblieben und haben gesagt, dass Episode 5 ihr Leben verändert hätte. Das Publikum hat deutlich mehr Freiheit als bei den früheren Episoden, es ist dafür verantwortlich, sich eine eigene Erfahrung zu schaffen. Jeder Zuschauer hat die Kontrolle über seine Zeit, kann sie strukturieren, wir nehmen niemanden an der Hand. Das interessiert uns auch an der neuen Episode: Vertraue ich den Zuschauern? Vertraue ich darauf, dass jeder sich seine eigene Erfahrung schafft? MvH: Warum ist das wichtig? Wie sieht die Zusammenarbeit mit dem Publikum aus? PL: Episode 5 haben wir bisher drei Mal gemacht, jedes Mal anders. Und aufgrund der Erfahrungen nehmen wir Änderungen und Anpassungen vor, also wächst das Ganze weiter und wird wahrscheinlich in Berlin völlig anders sein. Annemie, du sagst, du machst nicht gerne selber mit – du
musst ja nicht hochkommen und auf der Bühne tanzen, aber wie wird es für dich zu einem Erlebnis? Die Leute, die in Episode 5 nach zehn Minuten gegangen sind, sind vielleicht einfach nur superschlau und hypersensibel und konnten alles in so kurzer Zeit aufnehmen. Aber vielleicht ist das Teil eines Lernprozesses für mich, dass ich es akzeptieren muss, wenn Menschen meine Arbeit in nur zehn Minuten erfahren. KC: In Episode 5 geht es überhaupt viel um die Frage von Kontrolle: Geben wir den Zuschauern Kontrolle – das ist eine Frage für sie wie für uns. MvH: Vertraut ihr dem Publikum? PL: Nein. KC: Die eigentliche Frage ist: Wollen wir arbeiten, indem wir ihm vertrauen? Meiner Meinung nach ist es doch das, was uns am Theater so gefällt, nämlich dass wir kontrollieren können, wie lange das Publikum etwas sieht. Solange nicht jemand einfach geht, hat man den Zuschauer für die Zeitspanne in der Hand, für die er eine Karte gekauft hat. PL: Die Arbeit an Episode 5 hat mir den Unterschied zwischen bildender Kunst und Theater deutlich gemacht. Als Theaterkünstler gefällt es mir gar nicht, wenn mitten in meiner Vorstellung einfach jemand geht. Ich bin wohl auch dann noch Theatermensch, wenn ich ein Bild male, weil ich entscheiden will, wie lange du dir dieses Bild ansiehst. Wenn dir in einer Galerie nicht gefällt, was du siehst, dann kannst du gehen, aber nicht weil du meinst, mein Werk verstanden zu haben. Denn dafür musst du genau fünfundfünfzig Minuten und dreiundvierzig Sekunden lang bleiben – so, wie ich es inszeniert habe.
MvH: Die meisten bildenden Künstler haben nicht diese Art der Kontrolle. Vertrauen sie den Leuten mehr als wir? PL: Ich habe noch nie bildende Künstler über das Publikum oder über Galeriebesucher reden hören. Meistens sagen sie, es ist ihnen nicht wichtig. Aber mir ist es extrem wichtig. MvH: Aber es ist bildenden Künstlern wichtig, wie ihre Arbeit verstanden wird – das geschieht durch Erklärungen, man muss ein Buch oder einen Katalog lesen. Im Theater bin ich daran gewöhnt, dass die Bedeutung mir geliefert wird. Es geht nicht nur um Vertrauen. Es geht um die Frage: Glaubst du, dass die anderen sich selber die Mühe machen, oder willst du sie durch diesen Prozess führen? In der bildenden Kunst scheint es eine freiere Beziehung zur eigenen Arbeit zu geben, es gibt verschiedene Betrachtungsweisen und alle haben ihre Gültigkeit. Die Betrachter verstehen vielleicht nur die Hälfte oder liegen auch komplett daneben, aber so ist das eben. PL: Das Problem ist, dass wir anwesend sind. Ich muss bei Episode 5 nicht wirklich dabei sein, aber irgendwie bleibe ich und arbeite immer weiter daran. Ich könnte mir zufrieden die Endproben ansehen und dann die Arbeit beenden, nie die Vorstellungen immer wieder mit einem Publikum erleben, würde nie etwas ändern, und das wäre völlig okay. Aber ich ändere, ich arbeite weiter, wegen der Reaktionen des Publikums. Episode 3&4 ist jetzt völlig anders als damals, als ihr es in Wien oder Hamburg gesehen habt. Es ist eine ganz neue Inszenierung aus der Zusammenarbeit mit dem Publikum entstanden. Deswegen ist die soziale Skulptur so wichtig. Vielleicht liegt der Unterschied zwischen bildender Kunst und Theater darin, dass Theater sich ständig weiter verändert.
AV: Und eine viel körperlichere Erfahrung ist... PL: Wobei die Information sich nicht ändert. Wir ändern nicht den Text, nicht die verbale oder visuelle Information. Wir ändern nur die Erfahrung, das Timing, wir ändern einige Dinge, die zum theatralen Prozess gehören. KC: Wir sind immer interessiert an Veränderung. Aber manchmal ist das für uns Interessante nicht notwendiger weise auch interessant anzusehen, man muss also die eigenen Interessen mit dem Publikumserlebnis abstimmen. MvH: Was sagt ihr Anfängern, Leuten, die in der Vorstellung sitzen und sich sagen, „Wo zum Teufel bin ich hier gelandet, und warum machen die das?“ PL: Deswegen werden wir bei Episode 5 zu Beginn der Vorstellung fragen, wer Episoden 1,2,3 & 4 nicht gesehen hat, und einen aus dieser Gruppe dann vor dem Publikum interviewen. Nicht, um ihm alles Wichtige aus den Episoden 1 bis 4 zu erzählen, sondern um herauszufinden, was ein Anfänger wissen muss. Weil ich, Pavol Liska, ein ganz anderer Anfänger wäre als jeder andere. Jeder ist sein eigener Anfänger, auf unterschiedliche Weise, und es ist immer schwer zu sagen, von welcher Art Anfänger man spricht. MvH: Als wir vorhin über Vertrauen sprachen, haben wir festgestellt, dass es Theaterformen gibt, denen wir nicht vertrauen. Jemandem, der konventionell eine Rolle spielt, vertrauen wir nicht. Könnt ihr beschreiben, welcher Art von Theater ihr nicht vertraut und was ihr anders macht? KC: Ich vertraue der Art Theater nicht, die für ein Publikum eine Fiktion aufführt, ohne direkt zu kommunizieren 7 FOREIGN AFFAIRS 2013
– alle tun irgendwie so, als würde das Publikum nicht existieren. In Australien haben wir die Erfahrung gemacht, dass sogar in unserer Theaterarbeit die Kommunikation noch nicht direkt ist, weil das Publikum nicht antworten kann, und überhaupt findet alles immer in dieser geschlossenen Kapsel „Theater“ statt. In Australien haben wir dann direkt mit den Zuschauern gesprochen, und sie haben geantwortet. Das hat dann eine unmittelbare Wirkung, es kommt eine Gruppe von Leuten ohne Täuschungsabsicht zusammen und es findet ein Austausch statt. Mich interessiert es nicht, wenn jemand eine Rolle spielt und so tut, als wäre er jemand, der er nicht ist. MvH: Es gibt viele Wege, ein Gespräch zu beginnen. Warum habt ihr damit angefangen, Texte aus Telefongesprächen zu nehmen? PL: Der ursprüngliche Grund war, dass ich von mir selber wegkommen wollte. Also habe ich mich an jemand anderen gewandt. Und gemeinsam mit demjenigen am anderen Ende der Leitung habe ich etwas erschaffen. M: Wie habt ihr die Leute für die Gespräche ausgesucht? KC: Viele hatten Verbindungen zum Theater. Ein paar Leute ohne Theaterverbindung waren auch dabei, aber meistens gab es irgendeinen Bezug, der Schwager von irgendjemandem, und den haben wir dann überredet.
Fremden um Engagement zu bitten. Das gilt auch für die Leute in Berlin. Das erste Kriterium ist Engagement. AV: Familie klingt manchmal so in sich geschlossen. Doch man wählt seine Familie nicht. Und ich möchte im Theater einen Ort sehen, an dem Menschen zusammenkommen, die dir sonst nicht begegnen würden, also bittet man im Prinzip Fremde, einem zu vertrauen. Und das ist vermutlich das Geschenk, das du bereit ist, dich einzulassen, auch wenn du die Leute nicht kennt. KC: Was mir zu denken gibt: Sind wir naiv zu hoffen, dass Leute, die nicht Teil der Theaterfamilie sind, zu uns kommen werden? Ich habe wirklich meine Zweifel. Das ist eins der traurigeren Dinge am Theater: Wir können uns öffnen, so viel wir wollen, aber am Ende zeigen nur Theaterleute Interesse... MvH: Welche Themen greift ihr auf? Als ihr nach Interviewpartnern für „No Dice“ gesucht habt, war das Gesprächsthema da ein Kriterium? PL: Überhaupt nicht. Das hat sich im Prozess ergeben, es war nicht geplant. Die Regeln waren festgelegt, aber es war nicht klar, was passieren würde. KvH: Die Frage war eher: Worüber redet die Welt im Geheimen?
KC: Aber zuerst kommt das Vertrauen, dann das Gespräch.
PL: So wollen wir gerne auch nach Berlin kommen. Voller Neugier auf das, was passieren wird. Und weil wir keine Erwartungen haben, können wir nicht enttäuscht werden. Wir können nur das Umfeld schaffen, in dem große Dinge passieren können. Und dann sehen wir, ob wir in der Lage sind, große Dinge passieren zu lassen.
PL: Zuerst kommt das Vertrauen, dann das Engagement. Es ist schwer, einen
Aus dem Amerikanischen von Karen Witthuhn/Transfiction.
PL: Sie sind Teil der Theaterfamilie: Sie engagieren sich dafür.
Übungen in Schicksallosigkeit: „Life and Times“ und die Umwertung des Lebens durch die Serie Von Kai van Eikels
Das Drama, im Theater und im Kino, hilft uns dabei, ein Schicksal zu haben. Die Serie hilft uns dabei, kein Schicksal zu haben. Der Weltgeist, schreibt Slavoj Žižek in „The Year of Dreaming Dangerously“, habe sich jüngst vom Spielfilm zur Fernsehserie bewegt.1 Er macht auf diesem Umzug ins Serienformat aber auch bei Theater und Performance Station: In „Life and Times“ performt das wechselnde Ensemble des Nature Theater of Oklahoma eine Lebensgeschichte auf der Basis dessen, was die Lebende namens Kristin Worrall in einer Serie von zehn Telefongesprächen erzählt hat. Jedes Telefonat liefert das Material für eine Episode. Deren Inszenierungen haben gemeinsam, dass sie den transkribierten Text der Aufnahme ungekürzt verarbeiten – Wort für Wort, in der lockeren Grammatik des Alltagsamerikanischen mit seinem inflationär eingeschobenen „like“, einschließlich aller Zwischen- und Nebengeräusche, von den notorischen „umh“ bis zum Schnurren einer Katze. Die Inszenierungsstrategien wechseln dabei, und ihre steigende Vertracktheit bildet ebenso amüsant wie respektvoll direkt die zunehmende Komplexität einer Persönlichkeit ab: Episode 1 und 2 setzen den Text in auskomponierte Gesangspartien, deren Melodien und Instrumentalbegleitung sich für die ersten acht Lebensjahre bei Kinderliedern und Abzählreimen bedienen, ergänzt durch Radiomusikfetzen oder verschwommene Reminiszenzen an die elterliche Plattenkollektion. Die Performer/innen unterstreichen ihr Singen durch viereinhalbstündiges Wippen, Hüpfen, Armerudern, Ringewerfen, während sie den Text mal solistisch, mal in Duetten, Terzetten oder kleinen Chören untereinander aufteilen (und an Stellen, wo der Name Kristin fällt, stets den eigenen einfügen). Mit dem Näherrücken der Pubertät erwacht neben dem Interesse der Erzählerin an Jungs auch das an Musik, so dass die Fortsetzung mit reichlich 80er-Popzitaten im Soundtrack aufwartet. Die Choreographien dazu werden lässiger und ausgefeilter, geben den Tanzenden Gelegenheit, aus ungelenken, hölzern nachgeahmten ‚coolen‘ Gesten allmählich Sexyness zu entwickeln. Dann bricht mit den Episoden 3 und 4 die Identitätskrise des späteren Pubertären herein: Das Gefühl, neben sich zu stehen, selber zu staunen, was man da tut und sagt, etabliert sich als Dauerzustand bei
einer Aufführung im Bühnenbild von Agatha Christies „The Mousetrap“, mit den einstudierten Bewegungen und Gebärden dieses Krimi-Dramas, wobei die Schauspieler statt der dazugehörigen Dialoge die Erinnerungen Kristins an ihre Lebensjahre 14 bis 18 aufsagen – sie von Tafeln ablesend, die man ihnen hinhält, und mit den Sätzen improvisierend, ehe ein Zeichentrickfilm den Rest abspult. Bei den weiteren Episoden beeinflusst ein technischer Unfall die Umsetzung: Da eins der Bänder mit den Aufnahmen des insgesamt sechzehnstündigen Telefonates beschädigt wurde, soll der kollektive Input partizipierender Probenbesucher die Lücken in der Überlieferung füllen… Kristin Worralls Lebensgeschichte, so weit wir sie bislang kennen, verzeichnet weder spektakuläre Vorkommnisse, die sie aus der Masse von Bürgern halbwegs wohlhabender, nicht gerade von Kriegen erschütterter Staaten herausheben, noch vermittelt die Bestandsaufnahme der Um-die-Vierzigjährigen tiefe Einsichten über das Dasein oder legt Zeugnis ab von bedeutenden historischen Begebenheiten. Kristin ist auch kein Star, dessen Prominenz allein den Aufwand rechtfertigte. Sie gehörte zum Ensemble des Nature Theater of Oklahoma, spielt auch in einigen Folgen mit, ohne dass ein uninformierter Zuschauer das unbedingt merkt. Sie berichtet Dinge, die viele andere so oder ähnlich erlebt haben dürften, repräsentiert, wenn überhaupt etwas, dann ein weißes Mittelschicht-Universum in einer langweiligen Kleinstadt an der Ostküste der USA. Die Serie präsentiert ihr Leben bis in seine Einzelheiten so prononciert als irgendein Leben, dass es in Gertrude Steins „Making of Americans“ auftauchen könnte, wo die Autorin, die sich in ihrem Schaffen mit wachsender Radikalität um eine demokratische Ästhetik bemühte, die Autobiografie sämtlicher US-Amerikaner verfasste. Tatsächlich geht „Life and Times“ mit den Mitteln der Bühnenperformance vergleichbare Wege wie Stein mit der Narration und mit der literarischen Sprache, die sie bewusst abflachte, ihrer inneren Hierarchien (der Herrschaft des Hauptsatzes über die Nebensätze, der Vormacht des Nomens) entkleidete. Einer von Steins Vorträgen über Erzählen charakterisiert die britische Literatur dadurch, dass „das tägliche Leben jede Sekunde des Tages gelebt wird“. 2
Das spezifisch amerikanische Moment kommt ins Spiel, als eine Bewegung die Wörter erfasst: „In der amerikanischen Literatur begannen die Wörter innen in sich jene gleichen Wörter die in der englischen völlig ruhig waren oder sich nur sehr langsam bewegten begannen in sich drinnen das Bewußtsein des sich vollständigen Bewegens zu haben und sie begannen sich loszumachen von der Festigkeit jedes Dinges sie begannen sich erregt so zu fühlen als seien sie beliebig wo oder beliebig etwas […].“3 Die Bearbeitung von Kristin Worralls epischer Telefonauskunft in den Performances von „Life and Times“ verleiht ihren Worten etwas von dieser freien, von den Dingen losgemachten Bewegung. In der Musikalität von Wendungen wie „And then like, we, like, sort of like, kissed“, in dem zärtlich modulierten Geständnis, ein Kindheitsfoto mit einer besonders strahlenden weißen Windel „formed a lot of my aesthetic“, oder im Straucheln und Stolpern der Sätze in der „Mousetrap“-Aufführung legen die Elemente dieser wesentlich normalen Biografie in der eigenen Beliebigkeit etwas Erregendes frei. Und zugleich erkunden die Episoden dieses Langzeitprojekts, bis zu dessen Fertigstellung alle Beteiligten eine beträchtliche Strecke altern werden, was es heißt, (s)ein Leben einer Serie anzuvertrauen. Die englische Literatur feiert im 19. Jahrhundert bis dato ungekannte Publikumserfolge mit Romanen, die in Serien erscheinen. Von Charles Dickens, dem erfolgreichsten Serien-Schriftsteller seiner Zeit, stammt die folgende Beschreibung, die man als Definition der Serie selbst lesen kann: „we shall keep perpetually going on beginning again, regularly“. 4 An die Popularität der literarischen Serien knüpfen im 20. Jahrhundert die Radio- und Fernsehserien an, und neben einer Kunst, das Leben zu dramatisieren (d.h. es zu den Konditionen knapper Zeit zu etwas mit Anfang, Mitte und Schluss zu verdichten), entsteht eine andere Kunst, die ihre Techniken des Erzählens im Umgang mit einem Überreichtum von Zeit kultiviert. Die Zeit des Dramas läuft vom Ende her, von Anfang an aufs Ende zu. Die Zeit der Serie verschränkt in einer, irgendeiner Gegenwart ein unentwegtes Anfangen mit einem unablässigen Weitergehen. Der aktuelle Boom von Serienformaten rührt, so scheint mir, auch daher, dass wir Unterstützung brauchen oder gut gebrauchen können bei einem Leben, dessen zeitliche Wahrheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts lautet: Es geht einfach weiter, solange es geht. Ein Leben ohne vorgesehenen Sinn zu führen, mutet einem jedem von uns eine Endlichkeit zu, die zu akzeptieren nicht zuletzt deshalb alles andere als leicht fällt, weil so unklar bleibt, was ich damit 9 FOREIGN AFFAIRS 2013
eigentlich akzeptiere. Die Konstruktion des Schicksals bedeutete für zweieinhalb Jahrtausende einen Pakt zwischen Einzelnem und Welt: Ich finde mich damit ab, dass da etwas wirkt in meinem Leben, das sich meiner Kontrolle entzieht – aber dafür schenkt der Kosmos mir die Sicherheit, dass alles, was mir widerfährt, seine Richtigkeit hat. Und dieses Kosmisch-Richtige verbürgt eine Gerechtigkeit im Großenganzen, eine Bilanz, welche die vielen schreienden Ungerechtigkeiten im Kleinen von der finalen Abrechnung her wegkürzt. Das abendländische Theater partizipiert seit seinem Ursprung im antiken Griechenland an der Konstruktion des Schicksalhaften, und Theateraufführungen haben dazu beigetragen, dieses Konstrukt einer Beziehung zwischen aion und chronos, Ewigkeit und Zeit, von Jahrhundert zu Jahrhundert zu überliefern – es im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, so tief er in das Menschenwesen eingriff, immer wieder zurückzuholen. Die Helden, deren Leben und Sterben die antiken Tragödien auf die Bühne brachten, gingen wie ihr Publikum davon aus, dass Götter ihre Geschicke lenkten. Ihre Entscheidungen, so oder anders zu handeln, konnten an dem, was ihnen bestimmt war, nichts ändern, aber es kam umso mehr darauf an, im Aushalten des Schicksals eine ehrenvolle, große, rühmliche Haltung zu zeigen. Als der eine christliche Gott die widerstreitenden und wetteifernden Götter ersetzte, schmolz auch die heldenhafte Haltung zu einem frommen, im Gehorsam starken Einvernehmen mit dem Zubestimmten zusammen. Rund zweihundert Jahre Aufklärung, Ideologiekritik, naturwissenschaftlich-technische Forschung und Liberalismus haben schließlich diesen Gott abgekratzt von der Stelle, wo in vormodernen Kosmologien das Überzeitliche prangte. Doch nur weil Gott weg ist (weg eher als tot), haben wir noch lange nicht gelernt, ohne schicksalhafte Sinnstiftung zu leben. Nachdem die Namen von Göttern oder der Name Gottes es nicht mehr autorisieren, ist das Schicksal subtiler geworden. Es versteckt sein Walten, weicht ins Unauffällige zurück, um unser Selbstbild von mündigen, der Bevormundung durch religiöse oder metaphysische Doktrinen entwachsenen modernen Menschen nicht zu kompromittieren. Doch tatsächlich schmuggelt jedes Mal, wenn ein dramatisches Ereignis uns in seiner besonderen Stärke berührt, ein Quäntchen Schicksal sich in die Gegenwart ein. Abgeschnitten von einem Ewigen, überdauert die Vorsehung im Hervorragen des außerordentlichen Augenblicks aus dem Kontinuum der dahinfließenden Zeit. Das Drama mit seiner Dramaturgie einer auf solche Augenblicke hin angespannten Handlung erfüllt die Aufgabe, uns
mit Mikro-Dosen Schicksal zu versorgen: Die beiden plot points eines professionell geschriebenen Spielfilm-Drehbuchs teilen mir mit, in diesen paar Minuten von insgesamt neunzig oder mehr sei das Lebensentscheidende zuhause, zwei kurze Ereignisse hätten Macht über die übrige Zeit und alles, was in ihr geschieht. Das belebt und beruhigt – es legt meine Hand quasi aufs Herz des Universums, und es dort pochen zu hören, übt dieselbe Wirkung auf mein Daseinsgefühl aus wie ein Besuch bei der Wahrsagerin oder die Lektüre meines Horoskops. Selbstverständlich glaube ich nicht, ein Spielfilm bilde die Wirklichkeit ab, so wenig wie ich an Wahrsagerei oder Astrologie glaube. Es braucht auch keinen Glauben; es reicht, das dramatische Ereignis im Theater oder Kino ab und an zu erleben, so wie es reicht, mir den Besuch bei der Dame mit den angeblich seherischen Fähigkeiten halt mal zu gönnen, das Horoskop bloß nebenher beim Frühstück zu lesen. Ohne Schicksal lebt es sich undramatischer – das will sagen: auf eine Weise beunruhigend, die zu keiner Zeit das vertraute Muster eines Dramas annimmt. Ohne Schicksal bleibt bis zu meinem Tode unklar, wie der Deal zwischen mir und der Welt aussieht, ob es überhaupt einen gibt. Möglicherweise wird mein Leben ein Leben von dummem Zufall zu dummem Zufall gewesen sein, mitplätschernd in einem Schwall weiterer Zufälle, von der Entstehung des Universums vor zig Milliarden Jahren bis zu seinem Wärmetod in zig Milliarden Jahren. Möglicherweise hätte irgendeine winzige Abweichung in meinem Verhalten oder in dem von Zeitgenossen dieses Leben in eine völlig andere Richtung manövriert, ohne dass es für das So, wie es nun gekommen ist, einen guten Grund gibt. Möglicherweise ähnelt dieses Leben Millionen weiteren Leben, unterscheidet sich gerade hinlänglich von den meisten, um mich nicht zu verwechseln, ohne dass ich indes aus dem Anteil des Gleichen am Ähnlichen die positive Grundlage einer Gemeinschaft mit den übrigen Weltbewohnern gewinne. Etwas trennt mich vom Rest der Menschheit – doch auch von dieser Differenz, die meine sogenannte Individualität ausmacht, dürfte ich zeit meines Lebens kaum herausbekommen, welchen Wert sie denn hat außer einer für das Überleben und die Evolution der Spezies homo sapiens vorteilhaften Varianzbreite des Genpools. Schicksallosigkeit lernen heißt, ein solches Leben lieben zu lernen. Und wir müssen es lernen, denn unser hypersensibles Nervengeflecht – unser ‚Gehirn‘ oder ‚Bewusstsein‘, je nach Diskurs – bringt keineswegs von sich aus die Fertigkeit mit, in derartigem Losgelassenwerden zu schweben.
Gott los zu sein, ist das Ergebnis eines langen, keineswegs abgeschlossenen kulturellen Prozesses, und um mit dessen Konsequenzen zu leben, es in unserer Lebensweise zu bewahrheiten, gilt es, all das zu verlernen, was unsere Affekte an schicksalhafte Daseinsversicherung kettet. Dazu brauchen wir kulturelle Formate, die uns in Schicksallosigkeit üben, uns der metaphysischen Dramaturgien entwöhnen und in ein positives Verhältnis zur schicksallosen Endlichkeit eingewöhnen. Die Serie taugt diesbezüglich gut zum Übungsinstrument. Die Dauer, wie die Serie sie uns erleben lässt, hält das Vergehen der Zeit diesseits des Schicksals, indem sie die beiden Varianten eines privilegierten Augenblicks um- und überspielt: die kinesis, den Umschlag- und Wendepunkt im Leben eines Helden; und die anagnorisis, den Punkt, an dem der Held auf einmal eine Einsicht gewinnt, eine Erkenntnis hat, durch die das Vergangene und Zukünftige in einen vollständigen Sinnzusammenhang tritt. Auch Serien arbeiten bisweilen mit dramaturgischen Strukturen, die Umschläge oder Einsichten bescheren, aber diese erzähltechnische (Binnen‑)Dramaturgie beschwört kein existenziell-kosmisches Drama. Das Leben, das die Serie erzählt, ist flach – in einem Sinne von Flachheit, der nicht das Gegenteil des Komplexen meint, sondern eine andere Weise, Komplexität in der Zeit zu entfalten. Gesellschaftliche Institutionen verordnen uns äußerliche Serialitäten. Vom ersten Geburtstag an zählen die Familien, Freunde und Kollegen unbarmherzig jedes abgelebte Jahr, wie die einjährige Kristin Worrall („kind of, HAHAHA, serious looking“) vielleicht schon angesichts ihrer Premiere mit Torte und auszupustender Kerze erahnt. Der Schulbetrieb befördert Jahrgänge mechanisch durch 1st grade, 2nd grade, 3rd grade…, und der Schock der Mädchen angesichts ihrer ersten Periode, den Episode 2 schildert, mutet in „Life and Times“ wie ein süffisanter Kommentar zu den unzähligen Regelmäßigkeiten an. Kunst empfahl sich im 20. Jahrhundert als Komplizin beim Ausbruch aus dem institutionell geregelten Leben. Das Einmalige des Ereignisses, das die Aufführung in ihrer triumphalen Flüchtigkeit versprach, schien das Potenzial zu haben, kraft der außerordentlichen Erfahrung die herrschende Ordnung außer Kraft zu setzen – oder eben doch nur diese Ordnung angenehmer zu gestalten, da man sie mit den paar Stunden Irreguläres pro Woche kulanter ertrug. Serien hingegen nehmen, wo sie den Dienst der Kunst am Bereitstellen von Ereignissen aufkündigen (oder vernachlässigen), teil an der Umwertung des Regulären. Dem „regularly“ der Serie wohnt so etwas wie eine schwache reorganisatorische Kraft inne, deren Einfluss unter Umständen genügt, um
unsere Leben anders miteinander zu synchronisieren. Serien verändern die Normalität selbst, und was das heißt, macht „Life and Times“ sehr schön deutlich: Kristin Worralls Leben wird durch die Hommage einer zehnteiligen, auf viele Jahre angelegten Serie von Performances um nichts weniger normal, als es zu dem Zeitpunkt war, da sie ihren Kollegen am Telefon davon erzählte. Aber die Normalität dieses Lebens erhält einen anderen Wert – ohne Schicksalsgröße, in der banalen Endlichkeit eines Unter-uns-Seins, das irgendwann anfing und irgendwann aufhört und das wir anderen, die Episoden der Performance-Serie gesehen haben, in der Endlichkeit unserer eigenen Leben bewegen und weitergeben „von einem Vergessenden zum anderen“, wie der Dichter Jean Paul einmal sagt. 5 Kai van Eikels ist Philosoph, Theater- und Literaturwissenschaftler und derzeit Privatdozent an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind dynamische Kollektivformen wie „Schwärme“ oder „Smart Mobs“, Virtuosität und postfordistische Arbeitskulturen, Politiken der Partizipation. Aktuelle Publikation: „Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie“ (Paderborn: Fink 2013).
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Slavoj Žižek, „The Year of Dreaming Dangerously”, London/New York: Verso 2012, S. 91. Gertrude Stein, „Erzählen. Vier Vorträge“, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, S. 21.
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Ebd., S. 25. Aus Episode Nr. 10 von Dickens’ erstem Serien-Roman „The Posthumous Papers of the
Pickwick Club”. 5
„Unsterblichkeit ist Leben in einem Gedächtnis, das selber stirbt – man lebt von einem
Vergessenden zum anderen.“ (Jean Paul, „Ideengewimmel“, hg. von Thomas Wirtz, Frankfurt a.M.: Eichborn-Verlag 1996, S. 242)
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Was bisher beim Nature Theater of Oklahoma geschah... Kelly Coppers und Pavol Liskas theatrales Spiel mit Kontrolle und Versagen Von Florian Malzacher
„Nature Theater of Oklahoma“ – so heißt in Kafkas Romanfragment „Amerika“ jene dubios verheißungsvolle Truppe, die jedem einen geeigneten Job anbietet, der sich rechtzeitig meldet bis zur Bewerbungsfrist um Mitternacht. Auch Karl Roßmann, Emigrant aus der Tschechoslowakei und der Held des Buches, bekommt seine Chance und tuckert wenig später mit dem Zug nach Oklahoma einem neuen Leben entgegen. Es war dieser Name für ein Theater, den die Regisseure und Autoren Kelly Copper und Pavol Liska schon lange im Kopf hatte für den Fall, dass sie einmal ihre eigene Kompanie gründen würden. Denn Pavol Liskas Leben war bis dahin nicht nur grundsätzlich etwas romanhaft verlaufen – vor allem verlief es bemerkenswert parallel zu dem von Karl Roßmann. Und auch die übertrieben große Geste der Roman-Annonce und die Idee vom größten Theater der Welt erschien den beiden unbekannten Künstlern, die nie an der Bedeutung ihrer Arbeit zweifelten, durchaus angemessen. 1991, mit achtzehn Jahren, bekam Liska, der in einer Kleinstadt in der Slowakei aufgewachsen war, die sehr kurzfristige Möglichkeit, aufgrund eines obskuren Jobangebots in die USA zu kommen. Keine Woche später landete er – der eigentlich zur Armee hätte gehen sollen und noch nie zuvor im Ausland war – in Oklahoma. Nachts lernte er Englisch, um tags (wenn er nicht arbeiten musste) den Philosophie- und Schreibklassen am College folgen zu können, immer in der Angst, er könnte er sein Studenten-Visum verlieren. Oklahoma: das ist seine amerikanische Heimat. Längst sind Liska und Kelly Copper, die sich 1992 beim Thea- ter- und Autoren-Studium am Dartmouth College in New Hampshire kennenlernten, nach New York gezogen. Unter dem Namen Nature Theater of Oklahoma haben sie seit 2004 einige der bemerkenswertesten Theaterarbeiten geschaffen, die in der ehemaligen Hauptstadt der Avantgarde in den letzten Jahren entstanden sind: Unverwechselbar in ihrer Mischung aus konzeptueller Strenge, einem eigenwilligen Mix modernistischer Kunststrategien (zuweilen der Bildenden Kunst näher als der performativen) und gleichzeitig lustvollem Theaterspielen. Ohne Scheu vor scheinbar trashiger Oberflächlichkeit und ungehemmt wildernd in allen denkbaren Theatertraditionen.
Auch wenn ihr Erfolg derzeit in Europa am größten ist (wo sie auf fast allen wichtigen internationalen Theaterfestivals zu sehen waren, unter anderem den „Young Directors Award“ in Salzburg bekamen und zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden), ist ihr Theater doch unverkennbar New Yorkerisch. Nicht nur, aber auch, weil sie für ihre Arbeiten auf uramerikanische (oder zumindest angloamerikanische) Theatergenres zurückgreifen wie das Dinner Theater (in „No Dice“), das Musical („Life and Times“ – Episode 1), den Show Choir (Episode 2) oder das Vaudeville-Mystery-Theater (Episodes 3&4). Auch ihre künstlerischen Einflüsse sind eindeutig in Manhattan zuhause: Marcel Duchamp als Erfinder des Readymades, Andy Warhol, der den Alltag zur Kunst erhob, John Cages und Merce Cunninghams Zufallsentscheidungen, Ken Jacobs Verwendung von gefundenem Material, Richard Foremans Umgang mit Requisiten und dem Publikum, die Wooster Group mit ihrer Faszination für Perfektion und Überforderung und nicht zuletzt der einzigartige Jack Smith, der Trash und Camp als originäre Ästhetiken zelebrierte – sie alle haben ihre Spuren in den Arbeiten des Nature Theater hinterlassen, das sich gerne und selbstbewusst in dieser Tradition sieht.
Oral History Sowohl Coppers als auch Liskas Faszination mit Tonaufnahmen begann früh: Kelly Copper zog als Kind und Jugendliche in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren in den USA mit ihrer Familie fast halbjährlich um, da blieb nicht viel Zeit für dauerhafte Freundschaften, aber umso mehr für Bücher und für den Kassettenrekorder, den sie als eines ihrer ersten Spielzeuge geschenkt bekam: Ihr Vater, ein Radiomoderator, ging mit allerlei Geräusch-Geräten Tag für Tag zur Arbeit. Kelly und ihre Schwester hörten ihm von zuhause aus zu, wenn er diverse Stimmimitatoren empfing, und produzierten derweil ihre eigenen Hörspiele: Vollgestopft mit selbstgebastelten special effects, die sie herstellten mit allem was zur Verfügung stand – beispielsweise der Klospülung. Pavol Liskas Interesse fürs Theater begann mit sechzehn, als während und nach der „samtenen Revolution“ in der Tschechoslowakei plötzlich Theaterleute die politische
Welt veränderten, ein Theaterautor Präsident, Schauspieler und Regisseure Minister oder Botschafter wurden. Im Theater war Liska – in einer Kleinstadt aufgewachsen – zu diesem Zeitpunkt noch nie gewesen. Und auch jetzt nahm er Theater nicht live, sondern via Hörkassetten wahr. Die Stücke von Havel, Kohout und anderen zirkulierten via handkopierter Audio-Mitschnitte: „Ich dachte, Theater würde immer so präsentiert und es reichte mir völlig aus.“ Und so war es für ihn auch kein Mangel, dass er sein erstes selbstgeschriebenes Theaterstück (das sehr an Havel erinnerte) lediglich als Kassettenaufnahme realisieren konnte. Für die Bühne hatte er keine Idee, sie interessierte ihn nicht. „Ich wollte nur eine Kassette in der Hand halten“. Später, in Oklahoma angekommen, übersetzte er das Stück dann mit Hilfe eines Dictionarys Wort für Wort. Dieses Interesse am gesprochenen Wort, an Ton als Dokument, blieb bei beiden bis heute erhalten: Stundenlang zeichnete Liska später beispielsweise Erzählungen von Coppers Mutter auf oder über zwanzig Stunden lang das Leben seines eigenen Vaters – unzählige Kassetten, die bislang ungenutzt irgendwo lagern. Es gab keine Verwendungsidee, lediglich das Bedürfnis, alles aufzunehmen „als eine Möglichkeit, sich lebendig zu fühlen, lebendig zu sein.“ Das Bewusstsein, dass das eigene Reden aufgezeichnet wird, verändert eben dieses Reden nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Form. Der (ungeübte) Sprecher wird sich seiner Rolle als einer, der eine Rolle spielt, bewusst, sein Reden wird künstlicher – was schon Andy Warhol faszinierte und dazu anregte, Essensgespräche aufzuzeichnen, indem er deutlich sichtbar einen Rekorder auf den Tisch stellte. So gibt es seit den Neunzigerjahren Vorgänger von „Life and Times“, lange vor dem Konzept eines Projekts auf Grundlage einer kompletten Lebenserzählung. Die Idee, ein ganzes Stück nur aus mündlichen Berichten und Konversationen zu generieren, entstand für die Arbeit „No Dice“ (2007). Aus rund einhundert Stunden Telefongesprächen über Arbeit, Kunst und Leben destillierten Copper und Liska das Material für die dreieinhalbstündige Aufführung. Die Aufnahmen wurden zusammengeschnitten und in neue Kontexte gestellt und erzeugten so neue Bedeutungen. Telefongespräche haben einen deutlich anderen Duktus als Live-Konversationen. Da man sein Gegenüber nicht sieht, müssen permanent Bestätigungen erfragt und gegeben werden. Durch den Wegfall von Mimik werden Nuancen übertrieben, das Fehlen von Gestik erfordert ein deutlicheres Ausformulieren dessen, was man sagen will. 15 FOREIGN AFFAIRS 2013
Kleinigkeiten werden durch den Einfall, solche Gespräche in die direkte Kommunikationssituation auf der Bühne zu überführen, vergrößert und erzeugen plötzlich eine irritierende Künstlichkeit. Um den originalen Sprechduktus beizubehalten, wurde der Text nicht transkribiert und dann von Schauspielern auswendig gelernt, sondern kommt in „No Dice“ (wie später auch in „Romeo and Juliet“ und „Rambo Solo“) über Kopfhörer direkt von synchronisierten iPods. Die Performer sprechen den Text, den sie über den Knopf im Ohr hören, simultan mit. Auch wenn sie ihn teils mit anderen Bedeutungen füllen oder er mit starkem (beispielsweise französischem) Akzent verfremdet wird, bleibt der Rhythmus und die Intonation erhalten. So entsteht ein eigenwilliger Texttypus ebenso wie eine unverwechselbare Sprechweise, eine Variation der Ästhetik des Naturalismus à la Gerhart Hauptmann: in hohem Maß authentisch und artifiziell zugleich. Für „Life and Times“ wurde der Umgang mit aufgezeichneten Telefongesprächen als Textgrundlage weiter radikalisiert: Insgesamt sechzehn Stunden dauerten die Telefonate, in denen die Musikerin und Performerin Kristin Worrall ihr Leben erzählt; das Leben einer nicht sonderlich untypischen 34-jährigen Amerikanerin, das vor allem deshalb interessant ist, weil es in vielem so sehr an unser eigenes erinnert. Wort für Wort, ohne jede Kürzung oder Korrektur wurde dieses Telefongespräch transkribiert und zum Libretto von „Life and Times“. Mit allen Pausen, Versprechern, Stotterern und Irrtümern der Vorlage.
Alles, was zur Hand ist Das Verwenden von Geschichten, die andere erzählen, ist Teil von Coppers und Liskas Konzept, viel mit vorgefundenen Materialien zu arbeiten. Explizit ordnen sie sich in eine kunstgeschichtliche Tradition ein, die von Marcel Duchamps gefundenen und zur Kunst umdefinierten ready mades über experimentelle found footage-Filme vor allem der Sechzigerjahre bis zu heutigen Doku-Theaterformen reicht.Bedeutsam wurde das Recyceln und Bearbeiten von gefundenem Material für Copper und Liska, als sie Ende der Neunzigerjahre für vier Jahre dem Theater gänzlich den Rücken kehrten und sich ausschließlich mit Bildender Kunst beschäftigten: Alte Familien-Super-8-Filme vom Flohmarkt, Fotos aus dem Müll interessierten sie mehr als große, originäre Kunstanstrengungen: „Man konnte als Künstler kaum etwas machen, was schöner gewesen wäre, als diese Filme und Fotos.“
Als sie 2002 wieder zum Theater zurückkehrten, überführten sie diese vor allem in der Bildenden Kunst verbreiteten Überlegungen ins Theater: Nicht nur bei der Generierung von Text, sondern oft auch bei Bewegungsmaterial, Kostümen, Mimiken. „Poetics“ (2005), die erste richtige Arbeit unter dem Label Nature Theater of Oklahoma, ist ein Tanzstück, das im Wesentlichen aus Alltagsbewegungen choreografiert ist. Ein Gutteil davon sind Bewegungen, die man im Sitzen ausführen kann: Die Proben fanden – mangels anderem Raum – vor allem am Küchentisch statt. Es gehört zu den Prinzipien von Copper und Liska, Einschränkungen ebenso wie zufällig sich ergebende Möglichkeiten in die Arbeit zu integrieren. Wie der legendäre New Yorker Avantgarde-Regisseur Richard Foreman – ein früher Förderer ihrer Arbeit und eines ihrer großen Vorbilder – fordert: Lass die Inszenierung das werden, was sie werden will. Und: Finde heraus, was das radikalste Element in den Proben ist und mach das dann zum Mittelpunkt. Beides braucht Zeit – und es bedeutet, dass man nicht mit einem fertigen Plan in die Proben kommen kann, sondern sich gemeinsam auf eine Suche mit ungewissem Ausgang begibt. Selbst die Cowboy- und Piratenkostüme in „No Dice“ sind durch Vorgefundenes entstanden: Der Proberaum gehörte einem Kindertheater. „Life and Times“ spiegelt nicht nur das Leben von Kristin Worrall. Der Text, aufgeteilt auf mehrere Schauspieler, wird zur multiplen Biografie. Für die Choreografien von Episode 1 verwendet Liska unter anderem Bewegungen und Bilder aus seiner eigenen Kindheit: Spartakiaden hießen in der Tschechoslowakei (und in anderen Ländern des Ostblocks) Sportwettkämpfe, deren Höhepunkte gigantische Massen-Gymnastik-Choreografien waren. Personenund Ortsnamen in Worralls Erzählung wurden, um den Bericht etwas zu anonymisieren, teils durch Namen ersetzt, mit denen Kelly Copper ähnliche Kindheitserinnerungen verbindet. Für Life and Times – Episodes 3&4 wurden Bühnenbild und Kostüme quasi eins zu eins von der berühmten Londoner West-End Produktion von Agatha Christie’s „Die Mausefalle“ von 1952 übernommen (die heute immer noch gespielt wird). Copper und Liska haben das Stück nicht zuletzt deshalb gewählt, weil es zu der Anzahl der involvierten Schauspieler passte.
zehnjährig in die USA kam und sich dort sofort in die Universität einschreiben musste, um seine Studien-Aufenthaltsgenehmigung behalten zu können. Mögen seine Ausdruckmöglichkeiten heute die der meisten gebürtigen Amerikaner deutlich übersteigen: Wie bei vielen emigrierten Schriftstellern, die in einer anderen als ihrer Muttersprache schreiben, bleibt eine gewisse Distanz und die Faszination der Beobachtung. So wie gefundene Geschichten in einen anderen Kontext gestellt werden, so wird es auch die englische Sprache selbst. Es ist dieser rahmende Blick, der in den Alltagsgeschichten von „No Dice“ und „Life and Times“ das Epische entdeckt – sowohl im Brechtschen Sinne des Gestischen, Zeigenden, als auch in der spielerischen Fortführung epischer Traditionen von den griechischen Tragödien bis zu mittelalterlichen Heldenepen und Volksmärchen: Das Epische ist gekennzeichnet durch seine erzählende Haltung, durch die direkte Ansprache des Zuhörers (fern jeden Gedankens an eine vierte Wand), durch die ermüdend ausführliche Darstellung einzelner Gegebenheiten und eine gewisse Lust am Verweilen – das Wort von der epischen Länge und Breite kommt nicht von ungefähr. „Life and Times“ ist – wenn es eines Tages mit all seinen Teilen aufgeführt wird – auf 24 Stunden angelegt. Überproportioniert und maßlos will Nature Theater sein: „Wir sind so ausdauernd unterhaltend, dass es schon wieder schmerzhaft wird.“ Das Epische setzt nur selten aufs Dramatische, auf Zuspitzung von Konflikten, auf Tempowechsel. Es ist ein Erzählfluss, der sich zuweilen verästelt, aber immer wieder zu seinem Hauptstrom zurückfindet. Eine große Geschichte, die sich aus vielen kleinen zusammensetzt. So steht es in genau jenem Spannungsverhältnis zwischen freier mündlicher Sprache (beispielsweise beim frei überlieferten Märchen) und gebundener Rede (griechischer oder mittelalterlicher Heldenepen), mit dem „Life and Times“ spielt. Das Banale, das Legere, das Alltägliche wird überhöht, die Anweisung an die Schauspieler lautet: „Suche immer nach der größtmöglichen Bedeutung.“ Nach dem, was tief drinnen stecken mag. Jedes Füllwort, jedes „anyway“ wird so zu einer Setzung. Wie in allen Epen werden auch die banalsten Geschichten so allegorisch und kollektiv: Es geht immer auch um uns.
Epischer Alltag
Würfel, Münzen und Spielregeln
In gewisser Hinsicht ist auch für Pavol Liska die englische Sprache ein objet trouvé: Er lernte sie mit bemerkenswerter Geschwindig- und Gründlichkeit, nachdem er acht-
Zufallsentscheidungen, tasks und Spielregeln sind das Rückgrat der dramaturgischen Struktur, in der Kelly Copper und Pavol Liska denken. Dass sie dabei durchaus control
freaks sind, steht nur in scheinbarem Widerspruch zu der Rolle, die sie dem Zufall in ihrer Arbeit einräumen. Unübersehbar von John Cages und Merce Cunninghams kompositorischem bzw. choreografischem Prinzip der chance operation beeindruckt, gibt es keine Arbeit von Nature Theater, die nicht in guten Teilen von Würfeln, Kartendecks und Münzen geschrieben worden wäre. Dabei sind sie alles andere als laissez faire in ihren Inszenierungen: Gerade der große Anteil von Zufallsentscheidungen zwingt sie, ihre Kontrolle immer wieder neu behaupten zu müssen und zu hinterfragen.
tenfarbe) und so jeweils dreizehn Bewegungen zugeteilt. Mag in „Life and Times“ die Rolle des Zufalls vergleichsweise begrenzt sein, weil der Fokus sich hin zu einer Auseinandersetzung mit den engen Korsetten verschiedener Ausdrucksformen wie Komposition, Gesang, Choreografie, Tanz, Malerei, Film verschoben hat. Aber präsent ist er dennoch immer: Die Tänze in Epsiode 1 beispielsweise wurden weitgehend durch das Auslosen verschiedenster Bewegungen zusammengestellt. Und lästige EntwederOder-Fragen werden ohnehin oft rasch durch Kopf oder Zahl entschieden.
Wie Cage sehen sie den Zufall ihren eigenen Vorlieben gegenüber oft als überlegen an – zumal, wie Cage es beschrieb, der Zufall nicht etwas völlig Beliebiges ist. Sondern etwas, das einem eben zufällt und damit quasi gehört. Etwas, dem man sich als Herausforderung stellen muss und das Flexibilität im Denken fordert. Bestimmte Entscheidungen dem Zufall zu überlassen, macht nicht weniger Arbeit, sondern verlagert sie lediglich.
Aber nicht nur dem Zufall überlassen Kelly Copper und Pavol Liska Entscheidungen: Auch die Schauspieler müssen allabendlich dramaturgische Lücken füllen, die bewusst offen gelassen werden. Auch wenn bestimmte Positionen sehr genau vorgeben sind: Wie man von A nach B kommt, das muss jeder für sich selbst herausfinden. Wie groß der Abstand – und somit der Freiraum – dazwischen ist, hängt von den verschiedenen Inszenierungen ab. Vorhanden ist er immer. Oft gibt es bestimmte Regeln, die jeden Abend neue Entscheidungen der Schauspieler erlauben, aber eben auch fordern. Am Deutlichsten ausgeprägt war dieser Spielcharakter in „No Dice“, wo es unter anderem dreizehn Positionen gab, in denen man sich zueinander stellen konnte – ähnlich einem Fußballspieler, der stets das ganze Feld im Auge behalten muss, um seinen besten Standort immer wieder neu zu bestimmen. Auch die möglichen Gesten boten Spielräume: drei Bewegungssets (die wiederum durch Zufall zusammengestellt waren) standen zur Auswahl, jede Entscheidung hatte Folgen für das, was man als nächstes tun oder lassen konnte.
Erstmals 2002, bei einer kleineren Arbeit, die ihre vierjährige Theaterabstinenz beendete, weigerte sich Pavol Liska, vordergründige Regielösungen zu finden. Den Darstellern zu sagen, wo sie stehen, wie laut sie sprechen, welche Gefühle sie zeigen sollten, langweilte ihn – so warf er Münzen, die darüber entschieden, ob sie saßen oder standen. Ein Kartenspiel verteilte Bereiche auf der Bühne, in denen sie sich aufhalten konnten, und bestimmte auch Lautstärke, Dynamik und Emotionen. Liska inszenierte einen Text, den er selbst geschrieben hatte – aber er mied die Falle, ihn durch seine eigene Interpretation zu doppeln und zu vereinfachen. Der Zufall bürstete das Stück gegen den Strich und erzeugte unerwartete Lesarten, die nicht nur später vom Publikum gedeutet werden mussten, sondern zuallererst vom Autor und Regisseur selbst. Das Stück und seine Interpretation wurden durchlässig, der Zuschauer zum aktiven Mitwirkenden, dessen Sicht so grundsätzlich gleichwertig war mit jener des Machers. Seither sind Zufallsentscheidungen aus der Arbeit von Nature Theater nicht mehr wegzudenken. Würfel generierten in „Poetics“ komplette Choreografien und wurden so dominant, dass die nächste Arbeit den trotzigen Titel „No Dice“ bekam und die Entscheidungsgewalt stattdessen einem Kartenspiel zugeteilt wurde: Das Rommé-Deck verteilte die dreizehn möglichen Positionen im Raum und erzeugte die gesamte Gestik wie auch das Tanzmaterial: Der Körper wurde schematisch gevierteilt (jeder Arm, jedes Bein eine Kar17 FOREIGN AFFAIRS 2013
So verband sich größte Einschränkung mit unzähligen Möglichkeiten, die weniger in ihrer Erscheinung den Abend gravierend veränderten als vielmehr eine besondere Präsenz und permanente Aufmerksamkeit der Schauspieler geradezu physisch im Zuschauerraum spürbar machten. „Wie beim Fußball kann man nicht jedes Detail planen – man trainiert um in der Lage zu sein, auf das andere Team zu treffen: das Publikum.“ Solche dramaturgischen Strategien dienen vor allem dazu, die Routine des Theaters zu durchbrechen und jeden einzelnen Abend wirklich „live“ zu vollziehen. Denn zwar kokettiert das Theater immer damit, ephemer, flüchtig zu sein und beansprucht diesen Moment des Vergänglichen, des Nicht-Reproduzierbaren als sein Wesentliches, das es von allen anderen Künsten unterscheidet – zugleich aber
legt es seit Jahrhunderten primär Wert darauf, Abend für Abend eine möglichst exakte Wiederholbarkeit zu erzeugen. Dieses Paradox interessiert viele experimentelle Theatermacher, weil es genau in das Herz des Theaters zielt: Dass es sich eben tatsächlich in der gemeinsamen Gegenwart von Künstlern und Zuschauern ereignet, dass tatsächlich gemeinsam verbrachte Zeit ist, in der Unvorhergesehenes, auch Unerwünschtes geschehen kann. Jeder kleine Fehler im System erzeugt da mehr Bewusstsein für die Fragilität, die alles Lebendige hat, als die perfekteste Dramaturgie. Den Live-Charakter des Theaters ernst zu nehmen, heißt für Nature Theater: Kein Abend soll dem anderen genau gleichen, jede einzelne Vorstellung muss neu erarbeitet werden. So sind die Regisseure bei jeder Aufführung, auch längst nach der Premiere, anwesend. Und nicht selten gibt es neue Anweisungen, Änderungen der Spielregeln (zuweilen sogar während der Vorstellung), die vor allem den Zweck haben, jede Routine zu unterbinden.
Dramaturgie der Hindernisse Zufall und Freiräume als Prinzip künstlerischer Praxis aber sind nur innerhalb klarer Regeln interessant – anything goes erzeugt keine Ästhetik. Gerade die Einschränkungen und Hürden, die Copper/Liska in ihrer Theaterarbeit nutzen, sind bedeutsam. Sie schaffen die Balance zwischen den Freiräumen für die Performer und der Kontrolle der Regisseure, zwischen Unberechenbarem und Eigenem. Schon ihre Erscheinung verrät dieses dramaturgisches Prinzip: Der gezwirbelte Schnurrbart von Pavol Liska, die aufgesteckte, oft mit Plastikblumen oder -vögeln verzierte Frisur von Kelly Copper: Wollen sie ernst genommen werden, bedarf es einer besonderen Anstrengung. Von ihnen und von ihren Gesprächspartnern. Sie glauben nicht daran, dass etwas, das zu einfach ist, einen wirklichen Wert haben kann – im Leben wie im Theater. Sie wollen Schauspieler arbeiten sehen, gerade wenn es darum geht, unterhaltend zu sein. Scheinbar mühelose Virtuosität interessiert sie nicht, es wäre für sie ein Zeichen, dass sich einer offensichtlich nicht genug anstrengt, noch nicht an seinen Grenzen ist. Zaubertricks sind nur interessant, wenn man sieht, dass es keine echte Zauberei ist. Wie schaffen es Schauspieler, die mit beiden Beinen wippen und dazu Grimassen schneiden, etwas Existenzielles zu vermitteln? Durch sichtbar harte Arbeit. Ihre Mimik, ihre Bewegungen – normalerweise neben dem Text ihre wichtigsten Verbündeten – kämpfen gegen sie, nicht für
sie. Vergleichbar vielleicht mit einem Menschen mit starker Behinderung: Seine äußerlichen Ticks und Einschränkungen verstellen unsere Wahrnehmung, er muss sich besonders konzentrieren und überartikulieren, um zu sagen, was er sagen will. Und wir müssen uns besonders konzentrieren, um ihm folgen zu können. Der Spielstil in „No Dice“ beispielsweise ist von Stummfilmen abgeguckt: Theatralische Formen, die längst auch zu groß sind fürs Theater. Überzeichnet und chargiert bis zur Schmerzgrenze erinnern sie an eine Zeit, als die Darsteller noch sichtbar mit dem neuen Medium zu kämpfen hatten – und diesen Kampf reihenweise verloren. Und während ohnehin schon Tempo und Sprechduktus der per iPod übertragenen Telefongespräche immer beibehalten werden mussten, verlangten die Regisseure zusätzlich noch einen – beispielsweise französischen – Akzent. Selbstverständlich denjenigen, der einem Schauspieler am schwersten fiel. In „Life and Times“ sind die Hindernisse und Hürden für die Darsteller schon an sich mannigfaltig: Die Sprache des Telefonmonologs ist restriktiv, folgt eigenen Regeln und widersetzt sich den theatralen Rahmen, die Copper und Liska dafür erfinden. Jedes Wort des Originals wurde verwendet, kein Füllsel gestrichen, kein Rhythmus geglättet, die sinntragenden Elemente bleiben im Konflikt miteinander, einigen sich nicht auf eine gemeinsame Syntax. Und die Darsteller stehen immer in der Mitte dieser Auseinandersetzung – oft sind ihnen sogar die Mittel und Tricks genommen, mit denen sie am besten umgehen können: Julie LaMendola, die Sängerin, muss auch schauspielen und tanzen – und darf in den Episoden 3&4 nicht einmal mehr singen. Fumyio Ikeda, prominente Tänzerin der berühmten belgischen Kompanie Rosas, bekommt es in Episode 2 mit ziemlich merkwürdigen Choreografien zu tun und muss darüber hinaus, wie alle anderen, singen – was unverkennbar nicht ihre Stärke ist. Die Musikerin Kristin Worrall wird auch als Schauspielerin eingesetzt – und die Schauspieler als Sänger und Tänzer (was nur wenige von ihnen sind). Und Robert M. Johanson, seit vielen Jahren als Darsteller in der Gruppe, bekam mit der Partitur für Episode 1 seinen ersten Kompositionsauftrag überhaupt. Dazu kommen die sehr unterschiedlichen Hintergründe: klassisch ausgebildete Wiener Burgschauspieler mit Performern der Freien New Yorker Szene zusammenzubringen, wie in den Epsioden 1 bis 4 und wieder ab Episode 8 (für die Gastspielversionen wurde die Originalbesetzung mit amerikanischen Darstellern umbesetzt), erzeugt mehr als nur reine Sprachprobleme: Mitteleuropäische Schauspieltraditionen sind von
angelsächsischen auf oft nicht leicht definierbare Weisen unterschieden, ebenso ist es der Umgang mit Musik. Wo immer sich zeigt, dass ein Schauspieler Muster entwickelt, Strategien zur Selbstrettung, werden genau diese verhindert: Rettung ist langweilig und so wird die Latte stetig höher gehängt, beispielsweise durch das kontinuierliche Hinzufügen neuer Tänze. Überforderung ist kein Mangel (wie normalerweise im Theater), sondern beabsichtigt: „Da sitzen hundert Leute und schauen dir zu – warum solltest du dich wohl fühlen?“ Man kann die Arbeit des Nature Theater gut entlang der Herausforderungen beschreiben, die es sich selbst stellt. Während Episode 1 nicht zuletzt von den Schwierigkeiten lebt, die es bereitet, dreieinhalb Stunden lang einen Text zu singen, der dafür wahrlich nicht gemacht ist (und nebenbei immer neu gemischten Stichwortkarten zu entnehmen, welche Gesten man verwenden muss), ist Episode 2 vor allem wegen ihrer scheinbar einfachen, tatsächlich aber oft sehr komplexen Choreografie eine Herausforderung. Episoden 3&4 – zusammen aufgeführt – bringen wiederum das gesprochene Wort zurück und damit die Reflektion über Schauspielen und Text. Wie bei den Arbeiten vor „Life and Times” wurde den Schauspielern der Stücktext nie ausgehändigt. Stattdessen lesen sie ihn Abend für Abend von altmodischen Pappen ab, wie sie früher (vor der Erfindung von Telepromptern) bei Fernsehshows verwendet wurden. Damit sich die Schauspieler nicht vorher bereits an den Text gewöhnen konnten, verwendeten Copper und Liska darüber hinaus für den Großteil der Probenphase das Skript von Agatha Christies „Mausefalle“. Erst kurz vor der Premiere wurden die Textpappen ausgetauscht. Ähnlich dem Gebrauch von iPods in früheren Arbeiten und der Partitur in Episoden 1 und 2 geben die Pappschilder den Regisseuren auch die Kontrolle über Zeit und Timing der Aufführung. Und erfordern von den Darstellern durch den wechselnden Takt in dem sie gezeigt werden (und der nicht mit der tatsächlich benötigten Redezeit korrespondiert) permanente Konzentration. Gegen Ende von Episode 4 wechselt „Life and Times“ dann schließlich ganz das Medium und mutiert zum Animationsfilm (der später zu eigenständigen Episode 4.5 wurde), hergestellt in der anachronistischen Technik der Rotoskopie (die beispielsweise beim frühen Disney-Film „Schneewittchen“ verwendet wurde): Vorher gefilmte Bewegungen von Menschen oder Tieren werden Bild für Bild projiziert und per Hand nachgezeichnet. Genau das taten Copper und 19 FOREIGN AFFAIRS 2013
Liska ein ganzes Jahr lang, durchschnittlich sechs Stunden am Tag – für einen dreißigminütigen Film. Es erübrigt sich zu sagen, dass keiner der beiden so etwas schon einmal gemacht hatte, weder das Filmen noch das Zeichnen. Geplant waren die Fortsetzung der Animationsarbeit und sogar ein abendfüllender Film von Episode 5, aber die körperliche Herausforderung war diesmal zu groß. Kelly Copper zog sich schmerzhafte Schwellungen an ihren Handsehnen zu, und auch der zeitliche Aufwand war selbst für sie letztlich unrealistisch. Zusätzlich sorgte technisches Versagen für eine besondere Herausforderung: Nur ungefähr zwanzig Minuten der Aufnahme dieses Gesprächsabschnitts waren verständlich, zu wenig für einen ganzen Film. Zusammen mit Episode 6, die ebenfalls nur als Fragment existiert, sind dies die „verlorenen Jahre”, die einer eigenen Herangehensweise bedurften. Episode 6 wird nun die Form einer Hörinstallation annehmen, Episode 5 manifestierte sich als Buch: Inspiriert durch das Kama Sutra und das japanische Shunga ebenso wie durch westliche Handschriften aus dem Mittelalter ist es Kelly Coppers und Pavol Liskas Antwort darauf, wie man den ersten sexuellen Erlebnissen, die Kristin Worrall im fünften Telefonat beschrieb, epische Dimensionen verleiht. Und wie man sich selbst in die Geschichte einschreibt: Dieses Mal sind die beiden selbst die Darsteller, das Set ist die eigene Wohnung. Die Abende von Nature Theater, ob sie nun in der Form von Theater, Musical, Film, Audioinstallation oder Buch gehalten sind, funktionieren für die Zuschauer wie ein Vexierbild: Je nachdem, wie wir fokussieren, bleiben wir an der Oberfläche hängen oder fixieren auf die Geschichte dahinter. Form und Inhalt sind in andauernder Reibung: Text, Spielweisen, Melodien, Raum, Kostüme: Sie doppeln keine Bedeutungen, sie weisen nicht unübersehbar auf die eine Interpretation hin, die ein Regisseur für interessant befunden hat. Sie sind Angebote, sie schaffen Assoziations- und Bedeutungsräume; wir müssen unseren eigenen Sinn erzeugen. Auch für uns gilt: Wenn es zu einfach ist, sind wir noch nicht da, wo wir sein könnten.
Florian Malzacher, Künstlerischer Leiter der Impulse Theater Biennale, ist Dramaturg der Episoden 1-4, die am Burgtheater Wien entstanden. Der vorliegende Text ist die übersetzte und leicht gekürzte Version seines Beitrags für Episode 5.
Everybody’s Life and Times. Zum autobiografischen Erzählen im Theater Von Nina Tecklenburg
Erzählstress Die amerikanische HBO-Serie „Girls“ hat es auf den Punkt gebracht: Erzählt wird von dem Drang der Twitter-Generation, aus dem eigenen Leben eine andauernde und möglichst ereignisreiche Live-Berichterstattung zu machen. Wenn das portable Internet die Leute via Facebook- und Twitter-Account zu jeder Sekunde auf eine virtuelle Bühne stellt, die man mit hunderten von anderen Zuschauenden bzw. Darstellenden – so genannten ‚Freunden‘ – teilt, lässt sich die lampenfiebrige Aufregung und das Herausgefordert-Werden verstehen, den eine Rezensentin der neuesten Staffel von „Girls“ als einen „Zwang nach der Erzählung vom großartigen Leben“ beschrieben hat. Ein Publikum will unterhalten werden, was im Gegenzug heißt: „Sich mitzu1 teilen ist das Gebot der Stunde“ – und wer hier nichts mitzuteilen hat oder sich nicht mitzuteilen weiß, hat nicht nur ein Anerkennungsproblem, sondern früher oder später ein veritables Existenzproblem. Denn von sich und seinem Leben nicht erzählen zu können, so macht die Twitter-Generation deutlicher denn je, heißt, keine Selbstvergewisserung zu haben: sich seiner selbst nicht bewusst zu sein. Erzählen – und insbesondere das autobiografische Erzählen – funktioniert ähnlich wie der Blick in einen Spiegel: Erzählen ist eine Kulturtechnik der Selbst-Erkenntnis qua Selbst-Veräußerung. Im Erzählen werden real erlebte, potentielle oder fiktive Handlungen und Ereignisse zu einer Geschichte konfiguriert. Dabei entsteht ein
verzerrtes Selbstbild, das trotz aller Verzerrtheit (oder gerade deswegen) die Illusion eines Ganzen und damit einen sinnhaften Zugang zum Selbst und dessen Beziehung zur Welt ermöglicht. Der Philosoph Paul Ricœur hat diese Selbst-stiftende Funktion des Erzählens als „narrative Identität“ 2 beschrieben, der notwendigerweise immer ein Moment des Selbst-Verkennens inne wohnt. Anthropologisch betrachtet handelt es sich beim Erzählen um jene zentrale kulturelle Praktik, mittels derer Menschen versuchen, sich selbst als endliche und handelnde Subjekte zu begreifen und damit die unfassbare Tatsache zumindest partiell fassbar zu machen, dass Zeit vergeht, dass Ereignisse einem zustoßen und dass die eigene Existenz ein Ende hat. In einer Gesellschaft, in der Sterblichkeit zum Tabu geworden ist, in der das Leben hysterisch gepriesen wird und in der einem die carpe-diem-Imperative und Sei-glücklich-Gebote mit jedem Facebook-Eintrag der eigenen ‚Freunde‘ entgegen geschleudert werden (wer postet schon, dass sein Leben gerade langweilig oder traurig ist?) – in so einem Umfeld gerät nicht nur das eigene Leben, sondern auch das Erzählen darüber unter Druck. Dem Kulturtheoretiker Wolfgang Müller-Funk zufolge erzählen „Menschen heute, unter zunehmendem Identitätszwang, mehr [...] als je zuvor in anderen, zum Beispiel oralen Gesellschaften“.3 Im Kontext eines Zeitalters, in dem die Annahme einer festen, essenziellen Identität vollends verloren gegangen ist, scheint eine
permanente Neuerfindung des Selbst zwanghaft geworden zu sein – eine Neuerfindung, die, sofern sie narrativ vollzogen wird, in einen unabschließbaren Prozess des Selbsterzählens mündet. Auf das postmoderne Postulat vom Ende der Geschichte und der großen Erzählung folgt also nicht etwa der Eintritt in ein postnarratives Zeitalter, sondern – im Gegenteil – eine Potenzierung narrativer Konstruktionen. Das Autobiografieren wird dabei zu einer der vorherrschenden Selbstinszenierungstechniken. In unserer Kultur der Selbstbeobachtung und Selbsthilfe, in der ein vornehmlich über Selbsterzählungspraktiken hervorgebrachter „therapeutische[r] Diskurs“ die hegemoniale „kulturelle Matrix“ 4 bildet, gibt es kaum ein privates Problem, das nicht öffentlich erzählt wird, kaum einen Prominenten, der keine Autobiografie vorlegt. Digitale Technologien befriedigen und forcieren diesen Drang, indem sie neue Erzählformen ermöglichen und immer mehr Bühnen zur narrativen Selbstinszenierung bereitstellen. In sozialen Netzwerken pfeifen – twittern – die Teilnehmenden in Windeseile die neuesten Erlebnisse vom virtuellen Dach und beschleunigen damit ein Erzählen, das noch zuvor auf die Druckerpresse oder das Hörensagen angewiesen war. In der verlinkten Struktur des Internets reagiert man mit Selbsterzählungen auf Selbsterzählungen ad infinitum in extremer Geschwindigkeit. Dabei wird das Erzählen des eigenen Lebens, wie die Serie „Girls“ zeigt, zum Statussymbol: „Es zählt, was man erlebt hat und erzählen kann.“ 5
Geschichten wie Kleider anprobieren Das Performancekollektiv She She Pop hat darüber im Jahr 2006 – das heißt noch vor dem Boom digitaler Netzwerke – einen Theaterabend gemacht. In der Performance „Für alle“ inszenierte die Gruppe einen Erzählwettkampf in Form einer Glücksspielshow, bei der sich jede Performerin verschiedene Lebenseigenschaften und Besitztümer in Form von unterschiedlichen Gegenständen erspielen konnte. Mit ein wenig Glück konnten die Spielerinnen eine Vierzimmer-Wohnung gewinnen und sich diese in Form einer an einem Gürtel befestigten Küchenspüle um die Hüfte binden. Zu gewinnen gab es u. a. einen anhänglichen Ex-Freund in Form einer Riesenpuppe, die man sich um den Hals hängen konnte, eine Führungsposition in einem erfolgreichen Unternehmen in Form eines Jacketts oder eine fortschreitende, unheilbare Krankheit als Totenmaske. Die selbst gestellte Aufgabe einer jeden Performerin bestand im Folgenden darin, dem Publikum anhand der erspielten und um den eigenen Körper gehängten Gegenstände im Stegreif eine fiktive Autobiografie über die soeben erworbene Figur zu erzählen und mit dieser Selbsterzählung in einen Lebensglück-Wettkampf mit den anderen Mitspielerinnen zu treten. Nach jeder Spielrunde, bei der sich die Zusammenstellung an persönlichen Gegenständen und entsprechend die Selbsterzählungen sowie Glücksbewertungen änderten, wurden die neuen narrativen Identitäten in Form einer Modenschau präsentiert: Die Performerinnen trugen jeweils ihre ausgedachte Lebensgeschichte als ein Ensembles von Gegenständen wie ein schrilles Kleid am Körper, liefen damit über diverse Bühnenstege und führten damit den Fetisch-Charakter eines 21 FOREIGN AFFAIRS 2013
solches Selbsterzählens buchstäblich auf dem Laufsteg spazieren: Als um das Lebensglück wetteifernde Spielfiguren exponierten die Performerinnen jenen Zwang, den der sozial vernetzte Individualismus der Jahrtausendwende mit sich zu bringen scheint, nämlich aus sich selbst stets die glücklichste Erfolgsgeschichte machen zu müssen. Zugleich wurde ein utopisches Moment in Szene gesetzt. Denn die sichtbaren Figuren samt ihrer ‚Kleider‘ ragten immer schon über die scheinbare Geschlossenheit und Abgerundetheit der autobiografischen Erzählungen hinaus, die sich an ihnen festmachen ließen. Entsprechend gab es keine Figuren im üblichen Sinne, sondern fortlaufende Prozesse von autobiografischen Figurationen: von narrativen Selbst-Gestaltungen. In She She Pops Performance – um mit den Worten Gantenbeins aus Max Frischs Roman zu sprechen – probierten die Performerinnen Geschichten (und damit Identitäten) an wie Kleider. 6 Kein Trauern um eine verloren gegangene, scheinbar wasserdichte Ich-Identität, sondern eine spielerische Bejahung der unausweichlichen Tatsache, dass uns schlicht nichts anderes übrig bleibt, als uns immer wieder erzählend neu zu erfinden – auch wenn die dabei generierte narrative Identität stets unzulänglich und Selbst-verkennend ist, da das Selbst und sein Verhältnis zur Welt zu einem Anteil immer etwas Fremdes und Unfassbares an sich haben.
Autobiografie im Gegenwartstheater Geschichten sind „strukturlogisches ‚falsches Bewußtsein‘ und [...] doch zugleich anthropologisch einigermaßen unvermeidlich.“7 Dieser paradoxen Tatsache offensiv zu begegnen und nicht nur die restriktiven, sondern
auch produktiven Qualitäten des Erzählens zu beleuchten, darin liegt eine wesentliche Qualität des Umgangs mit Autobiografie im Gegenwartstheater, wie es das Nature Theater of Oklahoma gerade zu prototypisch vorführt. Anders als in den autobiografischen Arbeiten der 1970er und 1980er Jahre von Performancekünstlern wie Laurie Anderson, Tim Miller, Karen Finley, Rachel Rosenthal oder Spalding Grey geht es heute weniger um die Inszenierung emphatischer Subjektivität. Wie Gabriele Brandstetter in Bezug auf die 1990er Jahre gezeigt hat, ist ein neuer Erzählstil in den Vordergrund gerückt, der sich durch eine gelassenere, teilweise ironischere Haltung, durch kollektive Autorschaft sowie durch eine Betonung des Alltäglichen, Unfertigen und Sekundären auszeichnet. Nicht mehr die Selbst- Beschreibung, sondern die Inszenierung multipler Selbstentwürfe und damit die bewusste (De)Konstruktion von narrativer Identität sind in den Vordergrund gerückt.8 Spätestens jedoch seit der Jahrtausendwende wird ein zunehmend spielerischer Umgang mit dem autobiografischen Erzählen auffällig, bei dem die Regeln und Funktionen des Autobiografierens buchstäblich aufs Spiel gesetzt und dabei aufgedeckt werden. In verschiedensten Aufführungsformaten wie beispielsweise Lecture Performances, an Standup Comedy angelehnten Performances oder game-artige Versuchsaufbauten, in denen häufig Körper, Gegenstände oder spezifische Orte eine zentrale Rolle spielen (ich denke an Arbeiten von Xavier Le Roy, Joshua Sofaer, Robin Deacon, Bobby Baker, Jérome Bel, Rabih Mroué, She She Pop, plan b, Rimini Protokoll) werden berufliche, private und künstlerische Ich-Facetten miteinander verwoben sowie fiktive
und faktische Ebenen bewusst überlagert und verwirrt. Autobiografische Konventionen wie das Ineinsfallen von Protagonist, Erzähler und Person, werden verfremdet, indem zum Beispiel der autobiografische Diskurs fiktionalisiert, indem das Publikum aktiv in den narrativen Akt einer Selbsterzählung einbezogen wird oder indem autobiografische Anekdoten als Rohmaterial ästhetisch bewusst überformt werden – wie in den Arbeiten des Nature Theater of Oklahoma. Die „Life and Times“-Serie kann als der vehemente Versuch verstanden werden, aus einer autobiografischen Mücke einen schrägen und dennoch allerhand biografische Identifikationsangebote bereithaltenden Elefanten zu machen und damit einen überspitzten Kommentar über eine Gesellschaft abzugeben, in der ein Großteil der Bevölkerung tagtäglich mittels Computer- und Telefontastatur versucht, für sein virtuelles Publikum aus dem banalsten Alltagsereignis eine möglichst aufregende Lebens-Story zu basteln – ganz nach Henry James’ Motto „adventures happen to people who know how to tell about them“. 9 Das Nature Theater of Oklahoma verkehrt diesen Drang in ein lustvolles, komplett größenwahnsinniges und darin extrem anstrengendes Dauerprojekt, das die körperliche Verausgabung ausstellt, die eine solche kaum zu bewältigende Aufgabe eines zwanghaft gewordenen Selbsterzählens mit sich bringt. In Szene gesetzt wird ein pompöser Mythos über das Autobiografieren selbst – ein Mythos, der die totalisierenden Funktionen der tot geglaubten großen Erzählung zugleich zitiert und poetisch unterwandert. Ein grundlegendes Merkmal autobiografischer Praxis im Gegenwartstheater liegt in einem Erfahrbarmachen des Erzählens, d. h. des narrativen Prozesses selbst, samt all seiner Lücken,
Dissonanzen und Unvorhersehbarkeiten. Nicht die Autobiografie als abgeschlossene Struktur, sondern das Erzählen als offener und die Zuschauenden zum Mit-Erzählen einladender Akt narrativer Identitätskonstruktion rücken ins Zentrum der Bühne. Das Erzählen über Ereignisse des Lebens wird als kollektives Ereignis gefeiert. Hier geht es nicht zuletzt um die sozialen Funktionen autobiografischer Selbstinszenierung. Autobiografisches Erzählen, so wird hier deutlich, meint keine bloße Repräsentation oder Festschreibung gelebten Lebens, sondern es stellt zugleich einen fundamentalen, ‚lebendigen‘ Bestandteil des Lebens selbst dar, indem es als soziales Bewertungskriterium, als Wahrnehmungsmuster des eigenen Lebens und des Lebens Anderer und unter Umständen sogar als Lebensanleitung dient. Denn nicht nur ermöglicht das Autobiografieren, das eigene Leben nachträglich in Form zu bringen, sondern das eigene Handeln wird zu einem Anteil immer schon entlang begehrter Lebensgeschichten ausgerichtet. Erzählen – so machen Performances wie die von Nature Theater of Oklahoma oder die von She She Pop deutlich – ist eine Praxis und Poiesis: ein Vollzug und Handeln, das nicht nur von kultureller Realität erzählt, sondern selbst kulturelle Realität hervorbringt. Das Selbsterzählen ist als Sinngebungspraktik tief verankert, ja materiell verstrickt in unsere Lebenswirklichkeit – ein Umstand, der besonders im Theater in Hinblick auf den Körper verhandelt wird, der in jene Erzählprozesse sichtbar mit eingebunden ist. War das autobiografische Erzählen lange Zeit vor allem Stilmittel der Performancekunst oder des postdramatischen Theaters, so erhält das Experimentieren mit autobiografischem Material im Zuge einer
zunehmenden Aufweichung der Grenzen zwischen den ästhetischen Prämissen von Performance und einem ‚klassischen Theater‘ einen neuen Stellenwert. Wurde tendenziell im postdramatischen Theater im Zuge einer Abgrenzung vom dramatischen Theater und einer Zuwendung zum ‚real life‘ gerade dem autobiografischen Erzählen als einer nichtdramatischen und nichtfiktionalen Erzählform ein besonderer Platz eingeräumt und rückten in der frühen Performancekunst, die in Folge einer Abwertung des Werkbegriffs Kunst als Ereignis proklamierte, mit den Prozessen des Kunst-Machens zugleich Prozesse des Selbst-Machens in den Fokus, so geht es in den gegenwärtigen autobiografischen Theaterformen zwar immer noch um die Frage nach der (Un)Möglichkeit und der Konstruktion von Identität und Selbst. Jedoch lässt sich gerade in experimentellen Theaterformen ein neuer, offensiver Umgang mit Techniken beobachten, die gemeinhin der Domäne des dramatischen Illusionstheaters zugeordnet werden. Dies betrifft zum Beispiel Techniken der Fiktionalisierung und Illusionsgenerierung, wie etwa in SINGAS Rollenspielen, in die die Zuschauer samt ihrer eigenen Geschichten eintauchen. Strategien der Identifikation oder der Einfühlung lassen sich vermehrt beobachten, wie etwa in She She Pops jüngster Arbeit „Schubladen“, in der sich die Performerinnen bewusst als stereotype, ‚autobiografische Schubladen‘ in Szene setzen, ohne dass ein Bewusstsein über die narrative Gemachtheit jener Stereotypen getilgt wird. Auffällig ist außerdem eine bewusste Theatralisierung und Ästhetisierung von autobiografischem Material, wie etwa in Rimini Protokolls Dokumentartheater, in dem die Inszeniertheit der Autobiografien so genannter Alltagsexperten immer
sichtbar bleibt, oder in dem überbordenden „Life and Times“-Projekt des Nature Theater of Oklahoma. Gerade das theatrale Umspielen und Verfremden von autobiografischen Regeln und Funktionen im Gegenwartstheater macht auf die fundamentale Verwobenheit von Leben und Erzählen aufmerksam. Vor einem medienhistorischen Hintergrund zunehmender Digitalisierung von Kommunikation und einer Multiplizierung und Virtualisierung von Wirklichkeit behauptet sich das Theater neu als künstlerischer Reflexionsort zwischen sozialer Begegnung einerseits und der Generierung alternativer, künstlicher Welten andererseits. Dabei spielt das autobiografische Erzählen eine zentrale Rolle: als Schnittstelle zwischen Begegnungsermöglichung und persönlichem Entwurf, zwischen soziale
1
Beide Zitate: Schlüter, Nadja: „Leben, um davon zu erzählen“,
„Süddeutsche Zeitung“, Nr. 111, 15. Mai 2013, S. 31. 2 Ricœur, Paul: „Narrative Identität“, in: Heidelberger Jahrbücher
31, 1987, S. 75-67. 3
Müller-Funk, Wolfgang: „Die Kultur und ihre Narrative. Eine
Einführung“, Wien; New York (Springer-Verlag) 2002, S. 28. 4
Illouz, Eva: „Die Errettung der modernen Seele. Therapien,
Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe“, aus dem Englischen von Michael Adrian, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2009, S. 21. 5
Schlüter, Nadja: „Leben, um davon zu erzählen“,
„Süddeutsche Zeitung“, Nr. 111, 15. Mai 2013, S. 31. 6
„Ich probiere Geschichten an wie Kleider!“, Frisch, Max: „Mein
Name sei Gantenbein“, Berlin; Darmstadt; Wien (Deutsche Buch-Gemeinschaft) 1968, S. 21. 7
Müller-Funk, Wolfgang: „Die Kultur und ihre Narrative. Eine
Einführung“, Wien; New York (Springer-Verlag) 2002, S. 30. 8
Vgl. Brandstetter, Gabriele: „Geschichte(n) Erzählen im
Performance/Theater der neunziger Jahre“, in: Fischer-Lichte, Erika; Kolesch, Doris; Weiler, Christel (Hrsg.): „Transformationen. Theater der Neunziger Jahre“,Berlin (Theater der Zeit) 1999, S.27-42 9
James, Henry, zitiert nach: Bruner, Jerome: „Self-making and
world-making“, in: Brockmeier, Jens; Carbaugh, Donal (Hrsg.): „Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self and Culture”, Amsterdam; Philadelphia (John Benjamins Publishing Company) 2001, S. 25-37, hier: S. 26.
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Realität erschaffender Selbstvergewisserung und spielerischer Selbstinszenierung. In einem solchen Theater werden erzählend Identitäten gebastelt, das Narrativ eines good life herausgefordert und umgeworfen und damit der Heideggerschen Geworfenheit endgültig entsagt. Ein solches Theater ist der utopische Ort, an dem das Autobiografieren als unabgeschlossene Suchbewegung bejaht wird und dabei deutlich wird: sich anders zu erzählen, heißt immer auch anders zu leben.
Nina Tecklenburg ist Theatermacherin und Theaterwissenschaftlerin. Als Performerin, Ko-Regisseurin und Dramaturgin realisierte sie seit 2002 zahlreiche Projekte u. a. mit den Gruppen InterroBANG, She She Pop, Gob Squad, Lone Twin Theatre, Baktruppen und Reckless Sleepers. Von 2006 bis 2010 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen an der Freien Universität Berlin tätig. Ihr Buch „Performing Stories. Erzählen in Theater und Performance“ erscheint im Herbst 2013.
Fr 28.06.2013, 19:00 / Eintritt frei
Eröffnung des Nature Theater of Oklahoma Mit Barbecue und Job-Interviews Während der gesamten Festivaldauer wird das HAU Hebbel am Ufer / HAU1 zum Nature Theater of Oklahoma. Unter dem Titel „Das große Nature Theater of Oklahoma ruft Euch!“ bewohnt und bespielt die New Yorker Theatergruppe das gesamte Haus und erarbeitet mit allen, die kommen, einen Theaterabend. Zum Auftakt lädt die 15-köpfige Company zu einem großen Barbecue ein. Alle Berliner, die dem Aufruf folgen, werden interviewt und mit den Aufgaben für die nächsten Wochen vertraut gemacht. (Wer die Gruppe einfach nur kennenlernen möchte, bekommt auch einen Burger). Sa 29.06.2013, 20:00 / So 30.06.2013, 20:00, mit Artist Talk im Anschluss In englischer Sprache mit englischen und deutschen Übertiteln
Romeo and Juliet Die Basis für „Romeo and Juliet“ bilden Telefonate, in denen die Gesprächspartner gebeten wurden, die Geschichte von Romeo und Julia zu erzählen. Aber niemand erinnert sich an den genauen Plot. Aus den narrativen Sackgassen manövrieren sich die Befragten mithilfe zusätzlicher Handlungsstränge, Figuren und Verstrickungen ingeniös heraus. Am Ende ist man selbst nicht mehr sicher, wie das nun eigentlich war mit dem größten Liebespaar aller Zeiten. Ein Theaterstück über das, was wir zu kennen meinen – und darüber, wie wir es erinnern. Und der ideale Einstieg in die Welt des Nature Theater of Oklahoma. Mi 03.07.2013, 20:00 In englischer Sprache mit englischen und deutschen Übertiteln
Life and Times – Episode 1 Alles begann mit der Frage: Kannst du mir die Geschichte deines Lebens erzählen? 16 Stunden lang ließen sich die Regisseure Kelly Copper und Pavol Liska von Ensemblemitglied Kristin Worrall ihre bisherige Lebensgeschichte am Telefon erzählen. In „Life and Times – Episode 1“ singen und tanzen sich die Darsteller durch Worralls Erinnerungen an die Zeit von der Geburt Mitte der 1970er Jahre bis zum achten Lebensjahr. Ukulele-Rhythmen bilden den Soundtrack zu Bildern und Momenten aus den Mittelschichts-Memoiren eines amerikanischen Durchschnittskinds. Do 04.07.2013, 20:00 In englischer Sprache mit englischen und deutschen Übertiteln
Life and Times – Episode 2 In Episode 2 geht es um den Beginn der Pubertät: Hormone machen sich bemerkbar, der Körper wird zum Schlachtfeld, das Leben eine grausame, vernebelte Disko. Im Stil eines Popmusicals aus den 1980er Jahren singen, sprechen und tanzen die Performer zu mit dem Do-It-Yourself-Musikprogramm „Garage Band” generierten Synthesizerklängen. Wie Episode 1 basiert auch der zweite Teil auf einem wörtlich transkribierten Telefongespräch, in dem die Mittdreißigerin Kristin Worrall ihr Leben rekonstruiert.
Fr 05.07.2013, 20:00 In englischer Sprache mit englischen und deutschen Übertiteln
Life and Times – Episodes 3&4 Kurz vor Beendigung der High School ist es an der Zeit, zurückzublicken auf die Jahre zwischen 14 und 18, auf die Sehnsucht nach Freiheit und dem Entkommen aus dem Gefängnis des Elternhauses. Folgerichtig wählt das Nature Theater of Oklahoma für diesen Teil das dramatischste aller Genres. In einem Agatha Christies Kammerspiel „The Mousetrap“ entlehnten Bühnenbild werden die Gefühle von Unbehagen, Schuld und Verwirrung gefährlich greifbar. Ein komplex-konzeptioneller Krimi über das Erwachsenwerden. Sa 06.07.2013, 20:00 In englischer Sprache (Episode 4.5 mit englischen und deutschen Übertiteln)
Life and Times – Episodes 4.5&5 Episodes 4.5&5 erzählen vom Ende der High School und der Suche nach der ersten Liebe. In der kurzen Episode 4.5 werden Worralls Erinnerungen in einem Stop-Motion-Film festgehalten. Mit einer mittelalterlichen Bilderhandschrift betreten wir in Episode 5 neues grafisches Terrain: Die Saga nimmt mit den ersten sexuellen Erfahrungen der Protagonistin unerwartete Wendungen, aus denen Copper und Liska ein 140 Seiten umfassendes kalligraphiertes Buch gemacht haben, das das Publikum zum kollektiven, durch die Orgelperformance von Daniel Gower begleiteten Leseerlebnis einlädt. Mi 10.07.2013, 20:00 In englischer Sprache
Life and Times – Episode 6 Work in Progress
Da ein Band mit der Aufnahme des entscheidenden Telefongesprächs beschädigt wurde, existieren Kristin Worralls Erinnerungen an ihre Studienzeit nur noch fragmentarisch. Ein Vakuum, das Kelly Copper und Pavol Liska als DJ-Regisseure und Radiomoderatoren nun selbst ausfüllen. Aus den beim Barbecue geführten Interviews, den Gesprächen und dem in öffentlichen Proben im HAU generierten Audio-Material mixen Copper und Liska gemeinsam mit dem Publikum eine fulminante Radioshow. Do 11.07.2013, 20:00
Das groSSe Nature Theater of Oklahoma ruft Euch! – A Movie Mit der Ausrufung des Nature Theater of Oklahoma beginnt die New Yorker Company, intensiv mit allen zu arbeiten, die Teil des Nature Theater of Oklahoma werden wollen. Dabei wird neben der Entwicklung von Episode 6 auch das Medium Film kollektiv erobert. Ob in Massenchoreografien im öffentlichen Raum oder in Warholschen Screen Tests – die Suche nach dem Besonderen im Banalen geht auf filmischer Ebene weiter.
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Life and Times-Marathons Das Monumentalepos „Life and Times“ lädt zu bis zu 16 Stunden Theater-Marathon. Erzählzeit wird Realzeit, und das amerikanische Durchschnittsleben zum eigenen Erfahrungsraum. Die New Yorker Performer haben sich nach eigenen Worten mit ihrer Arbeit immer wieder „in unmögliche Situationen gebracht und aus unserem eigenen Unwissen und unserer Unsicherheit heraus gearbeitet. Wir wollen eine verstörende Live-Situation schaffen, die von allen im Raum uneingeschränkte Präsenz erfordert.“ Eine Herausforderung an das Publikum. Der Rausch ist garantiert. Magie wird kommen. Episodes 1 – 5: So 07.07.2013, 14:00; in englischer Sprache mit englischen und deutschen Übertiteln (Episodes 1 – 4.5); in englischer Sprache (Episode 5) Episodes 1 – 6: Fr 12.07.2013, 14:00; in englischer Sprache mit englischen und deutschen Übertiteln (Episodes 1 – 4.5); in englischer Sprache (Episodes 5&6)
„Romeo and Juliet”: Konzept/Regie: Pavol Liska und Kelly Copper Nach Gesprächen mit Linda Copper, Eliotte Crowell, Anne Gridley, Teresa Gridley, Jo Liegerot, Robert M. Johanson, Zachary Oberzan, Kristin Worrall Mit: Anne Gridley, Robert M. Johanson, Elisabeth Conner Produktion: Internationales Sommerfestival Hamburg, Salzburger Festspiele. Koproduktion: Kaaitheater (Brüssel), Workspace Brussels, Buda Kunstencentrum (Kortrijk), Noorderzon Festival (Groningen), Grand Theatre Groningen und Wexner Center for the Arts/Ohio State University. „Life and Times 1 – 6”: Konzept/Regie: Pavol Liska und Kelly Copper Nach Telefongesprächen mit Kristin Worrall Mit: Ilan Bachrach, Asli Bulbul, Elisabeth Conner, Gabel Eiben, Daniel Gower, Anne Gridley, Nora Hertlein (Episodes 3&4), Robert M. Johanson, Matthew Korahais, Julie LaMendola, Kristin Worrall und vielen Berliner Mitwirkenden (Episode 6) Episodes 1 – 4 sind Produktionen von Nature Theater of Oklahoma und Burgtheater Wien. Episode 1: Koproduktion Kampnagel Hamburg, Kaaitheater (Brüssel), Théâtre de la Ville (Paris), Festival De Internationale Keuze (Rotterdam) und Wexner Center for the Arts / Ohio State University. Mit Unterstützung von: The MAP Fund, ein Programm von Creative Capital, und der Rockefeller Foundation. Episode 2: Koproduktion Kampnagel Hamburg, Festival d’Avignon, Théâtre de la Ville (Paris), Kaaitheater (Brüssel) und Rosas (Brüssel) Mit Unterstützung von: The New England Foundation for the Arts’ National Theater Pilot, mit Hauptförderung durch die Andrew W. Mellon Foundation. Episodes 3&4: Koproduktion Kampnagel Hamburg, Kaaitheater (Brüssel), Festival De Internationale Keuze (Rotterdam) und Künstlerhaus Mousonturm (Frankfurt am Main). Episodes 4.5&5: Produktion Nature Theater of Oklahoma. Koproduktion: Berliner Festspiele / Foreign Affairs, HAU Hebbel am Ufer (Berlin) und Norfolk and Norwich Festival und French Institute Alliance Française (FIAF) als Teil des Crossing the Line Festival 2013 Episode 6: ist eine Produktion von Nature Theater of Oklahoma und steirischer herbst (Graz). Koproduktion: Künstlerhaus Mousonturm (Frankfurt am Main). Entstanden in Residenz am HAU Hebbel am Ufer (Berlin). Kooperation: Berliner Festspiele/ Foreign Affairs.
Imressum Festival
Förderer
Künstlerische Leitung: Matthias von Hartz Künstlerische Mitarbeit: Cornelius Puschke Dramaturgie: Carolin Hochleichter Produktionsleitung: Caroline Farke Produktion: Ann-Christin Görtz Technische Leitung: Matthias Schäfer Musikkurator: Martin Hossbach HAU Hebbel am Ufer Künstlerische Leitung & Geschäftsführung: Annemie Vanackere Verwaltungsleitung: Martina Geßner ppa Produktionsleitung: Jana Bäskau Projektleitung NTOK: Nora Hertlein Technische Projektleitung: Maria Kusche Ausstattung HAU1: Valerie von Stillfried Leitung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sabine Hertwig Graphik: Jürgen Fehrmann Magazin
Partner
Herausgeber Berliner Festspiele Redaktion: Anne Phillips-Krug, Christina Tilmann Übersetzung: Karen Witthuhn / Transfiction Graphik: Ta-Trung, Berlin Druck: enka-druck GmbH, Berlin Anzeigen: Runze & Casper Werbeagentur GmbH © 2013 Berliner Festspiele, Autoren und Fotografen Stand Juni 2013 Fotorechte Die Zeichnungen stammen von Kelly Cooper und Pavol Liska für „Life and Times - Episodes 3&4”. Fotos S. 26/27: Bild 1 – 2 © Peter Nigrini; Bild 3 – 10 © Nature Theater of Oklahoma; Bild 11 © Ilan Bachrach; S. 28: Bild 12 © Nature Theater of Oklahoma; Bild 13 © Anna Stöcher/Burgtheater Wien; Bild 14 © Reinhard Werner/Burgtheater Wien; Bild 15 © Nature Theater of Oklahoma Veranstalter
Medienpartner
Berliner Festspiele Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes GmbH Gefördert durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Intendant: Dr. Thomas Oberender Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben Leitung Redaktion: Christina Tilmann Leitung Marketing: Stefan Wollmann Leitung Presse: Jagoda Engelbrecht Ticket Office: Michael Grimm Hotelbüro: Heinz Bernd Kleinpaß Protokoll: Gerhild Heyder Technischer Direktor: Andreas Weidmann
Bild- und Tonaufnahmen sind nicht gestattet. Programm- und Besetzungsänderungen vorbehalten.
Kontakt: Berliner Festspiele Schaperstraße 24, 10719 Berlin, T +49 30 254 89 0 www.berlinerfestspiele.de, info@berlinerfestspiele.de Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH Schöneberger Str. 15, 10963 Berlin, www.kbb.eu
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Superfrüh – Der informative Start in den Tag. Mit Diane Hielscher und Max Spallek. Montag bis Freitag von 6-10 Uhr. Die Morningshow am Nachmittag - Popkultur. Netzwelt. Stadtleben. Mit Nadine Kreutzer und Winson. Montag bis Freitag von 15-19 Uhr.
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