Publikation Occupy History – Leseprobe

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Occupy History Gespräche im Palast der Republik dreizehn Jahre nach seinem Verschwinden Thomas Oberender in Gesprächen mit Gabi Dolff-Bonekämper, Bénédicte Savoy, Bernhard Schlink und Gabriele Stötzer


INHALT

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Die Pausentaste der Geschichte drücken

Thomas Oberender über Erinnerung als solidarisch-politische Haltung; den Fisch, für den das Wasser nicht da ist; die Relation 99:1; Traumata, die die DDR erzeugt hat; das Patronat des reichen Westens und das ewige Nachholen des Ostens; „occupy everything, demand nothing“; die erste ­Revolution des 21. Jahrhunderts und einen Schatz an ­Differenz; was sich mitnehmen lässt aus den Erfahrungen der Jahre 1989/90.

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Ich wollte das Bild ändern

Gabriele Stötzer über die Frage: Wofür lebst du?; das Zerstörungswerk der Stasi und deren Misstrauen gegen Frauen; die Untergrundwelt und ihre Entscheidung, als „Steherin“ im Land zu bleiben; über politischen Aktivismus; Geld und Rat von Christa Wolf; den „Dritten Weg“ und die Revolution in Erfurt; über Zwangsarbeit und Arbeitszwang und die Lehre der Kriminellen, „das Leben da zu leben, wo du bist“.

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Macht den Palast auf! Oder: Die Utopie im Gehäuse

Gabi Dolff-Bonekämper über den Palast als „Utopie im Gehäuse“; über sich selbst als hybride Person der Nachwendezeit in Berlin; das Wildern in anderer Leute Vergangenheit; das Problem jeder Form von Empowerment; die Dritte Sache; den „Streitwert“ von Denk­ mälern; das triviale Einheits-Denkmal-Ding und den wichtigsten Ort der Wendezeit: den Zentralen Runden Tisch, der eckig war.


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Die DDR war mein Deutschland wie die Bundesrepublik

Bernhard Schlink über den deutsch-deutschen Liebesfrühling nach der Maueröffnung, die Mitarbeit in der Arbeitsgruppe des Runden Tisches „Neue Verfassung der DDR“, die alte und die neue Humboldt-Universität, letzte Parteiversammlungen, gescheiterte Reformen, Besserwisser aus dem Westen, die Suche nach einem echten Kommunisten und die Hoffnung auf ostdeutsche Autobiografien.

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Fundgrube für die Zukunft

Bénédicte Savoy über Kunstraub, die Geschichte der Restitutionsbemühungen und ihrer Gegenkräfte; die kulturelle Außenpolitik der DDR; ihr persönliches Unbehagen am Humboldt Forum; die Aufgabe, auch das Scheitern zu erinnern; die Explosion da, wo sich Geschichte staut; über strukturelle Ähnlichkeiten der DDR mit Frankreich; den Film La Villette von 1990; die „Wende“ in Afrika, administrative Amnesie und ein Geschichtsbild ohne Pessimismus.

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Biografien


DIE

PAUSENTASTE

DER

GESCHICHTE

DRÜCKEN

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Die Pausentaste der Geschichte drücken Thomas Oberender

Gespräche über Revolution und Wiedervereinigung im Palast der Republik 2019

Occupy History ist der Versuch, sich nicht von ‚der‘ Geschichte besetzen zu lassen, sondern selbst Ge­schichte zu erzählen. Die symbolische Wiedereröffnung des Palastes der Republik im Berliner Westen dreizehn Jahre nach seiner Zerstörung im Berliner Osten schuf dafür einen spielerischen Raum. Dieser im Haus der Berliner Festspiele auferstandene Palast war Teil der Projektreihe Immersion, die sich mit Phänomenen des Eintauchens und der Auflösung klassischer Gegenüberstellungen wie Betrachter und Kunstwerk, Natur und Technik, Produktion und Konsumtion beschäftigt. Immersion, so der Grundgedanke, lässt Grenzen verschwinden und


THOMAS

OBERENDER

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macht das Offensichtliche unsichtbar, eben weil es so selbstverständlich wird wie dem Fisch das Wasser, das für ihn – so das berühmte Beispiel Marshall McLuhans – schlicht nicht da ist, solange er in ihm ist. Die falschen Selbstverständlichkeiten der Schubladenbilder vom ‚Osten‘ und ‚Westen‘ werden nur durch Interventionen spürbar, die das ‚Wasser‘, in dem wir uns sonst ganz selbstverständlich bewegen, mit fremden Ideen und Gefühlen versetzen, oder – um im Bild zu bleiben – den Fisch ganz unversehens aus dem Wasser heben. Der Begriff „occupy history“ erinnert an Besetzer­ b ewegungen wie Occupy Wall Street oder Occupy Museums, die sich aus einer Gruppe um Noah Fischer gegründet hat, an Demonstrationen und temporäre Belagerungen des öffentlichen Raums. Die Gesprächsreihe Occupy History, die Teil der Veranstaltungen im reanimierten Palast der Republik war, zielte auf einen gedanklichen Raum, der von einer als fremd empfundenen Ordnung unserer Erinnerungen geprägt ist. Die Erfahrung vieler Ostdeutscher ist – sowohl im Hinblick auf die Revolution von 1989 wie auch ihrer Folgejahre – grundverschieden von der vieler Westdeutscher und nicht adäquat eingegangen in unser öffentliches Nachdenken über die politischen Entwicklungen nach der Wiedervereinigung. Wenn über die Situation im Osten damals und heute gesprochen wird, dann überwiegend mit der Logik und Sichtweise westdeutscher Journalist*innen, Politiker*innen und Forscher*innen. Deren Perspektiven sind oft von besten Motiven geleitet, gleichzeitig entsteht ein ‚über‘ die anderen sprechen, die auf Seiten der Besprochenen als bevormundend empfunden wird. Occupy History ist daher der Versuch, Stimmen hörbar zu machen, die diese paternalistische ‚Selbstverständlichkeit‘ hinterfragen, von Neugierde und anderen Sichtweisen geprägt sind und den gedanklichen Raum mit anderen Erfahrungen füllen. Auch bei Occupy History führt die symbolische Relation von 99:1 zum Nachdenken über gesellschaftliche Entwicklungen: Die dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung haben zum Beispiel nur ein Prozent


ICH

WOLLTE

DAS

BILD

ÄNDERN

Ich wollte das Bild ändern Gabriele Stötzer

Thomas Oberender: Gabriele Stötzer ist Schriftstellerin, Künstlerin und Aktivistin. Sie wurde in einem Dorf bei Erfurt geboren, hat eine Berufsausbildung als medizinisch-technische Assistentin abgeschlossen, das Abitur nachgeholt, an der Pädagogischen Hochschule Deutsch und Kunsterziehung studiert. 1976 wurde sie im letzten S ­ tudienjahr wegen einer Solidaritätsaktion für einen Mitstudenten zusammen mit zwei weiteren Studentinnen politisch exmatrikuliert und im gleichen Jahr wegen einer Unterschriftensammlung für Wolf Biermann inhaftiert. Sie kam in das Zuchthaus Hoheneck, hat danach die Galerie im Flur, eine der wenigen freien Galerien in der DDR, geleitet, wurde selbst bildende Künstlerin und gründete eine Künstlerinnengruppe, die im Untergrund Ausstellungen, Performances und Filme realisierte. Alles an Gabriele Stötzers Leben in der DDR ist für die DDR untypisch – ihre unbändige Individualität, ihr vielgestaltiges Werk aus Texten, Filmen, Fotografien und Objekten, aber auch ihre Gabe, über viele Jahre eine sich ständig wandelnde Gruppe von freien Menschen um sich herum zu versammeln, und ihr stets beharrlicher Wille, trotz massiver Repressionen nicht in den Westen zu gehen, sondern in dieser DDR für ein anderes Leben zu stehen und zu wirken. Obwohl ­Gabriele Stötzer nahezu ihr gesamtes Leben in Erfurt verbracht hat, gab es kaum eine Untergrundszene oder prominente

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GABRIELE

STÖTZER

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­ ünstlerpersönlichkeit der DDR, mit der sie nicht in Kontakt stand. K Früh ist Stötzer in das literarische Umfeld von Jürgen Fuchs in Jena geraten. Nach verschiedenen Künstlerbüchern und Veröffentlichungen in Untergrundzeitschriften erschien in den letzten Monaten der DDR ihr erstes Buch Zügel los in einem offiziellen Verlag. Was sich wie eine kontinuierliche Lebensgeschichte liest, war als gesellschaftlich-beruflicher Werdegang von herben Brüchen geprägt. Frau Stötzer, Sie haben 1976 aus Protest gegen Wolf Biermanns Ausbürgerung eine Unterschriftensammlung organisiert, was zu fünf Monaten Untersuchungshaft führte, auf die wiederum sieben Monate im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck folgten. Über diese Zeit haben Sie den Roman Bröckelnde Festung geschrieben und es gibt einen sehr bewegenden Animations-Dokumentarfilm über Ihre Erfahrungen, in dem auch Ihre Stimme zu hören ist: Kaputt weht einem jede Form von Illusion über die Realität des DDR-Staates aus dem Kopf. Ihre Galerie im Flur war für viele Untergrundkünstlerinnen und -künstler, nicht nur für jene aus Thüringen, ein wichtiger Ort. Genauso wie die von Ihnen gegründete Künstlerinnengruppe in Erfurt eine Form von feministischer Kunst geschaffen hat, die wegweisend war. Vielleicht war das einer der Gründe, warum Sie Feinde hatten, von denen Sie gar nichts ahnten. Die Galerie im Flur wurde von der Stasi geschlossen. Gabriele Stötzer: Liquidiert. TO: Liquidiert. Welche Rolle spielte dabei Sascha Anderson? GS: Jetzt sind Sie fertig, ja? TO: Das war die Exposition. GS: Also, Sascha Anderson, wo steigen wir da ein? Das ist wichtig, weil er dafür gesorgt hat, dass wir im Aufbau Verlag dann doch ein Buch bekommen haben. Stimmt. TO: Sie sagen „wir“, aber es war ihr Buch. GS: Richtig: Zügel los. Nachdem Elke Erb und Sascha Anderson im BRD-Verlag Kiepenheuer & Witsch eine Anthologie unangepasster DDR-Untergrundkünstlerinnen und -künstler herausgebracht hatten,


MACHT

DEN

PALAST

AUF!

ODER:

DIE

UTOPIE

IM

GEHÄUSE

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Macht den Palast auf! Oder: Die Utopie im Gehäuse Gabi Dolff-Bonekämper

Thomas Oberender: Selbsterklärend waren die siebenundachtzig Holzstühle nicht, die während der Öffnungszeit unseres Fake-Palastes scheinbar wahllos aufeinander aufgetürmt im gläsernen Vorbau des Festspielhauses ausgestellt waren. Es waren die originalen Stühle des Zentralen Runden Tisches, an dem vom Winter 1989 bis zum März 1990 die Ostdeutschen versuchten, ein neues Politikmodell zu praktizieren. Es sollte ein regierungsberatendes und in Ausnahmefällen auch legislativ wirksames Gespräch werden, das die Vertreterinnen und Vertreter der DDR-Opposition mit Vertreterinnen und Vertretern der Staatsregierung über einige Monate hinweg führten und das von Kirchenvertretern moderiert wurde. In einer Zeit des radikalen Protests auf den Straßen und Plätzen des Landes, sich neu formierender gesellschaftlicher Vereinigungen und der Reformpläne von Staat und Wirtschaft waren die Runden Tische ein neuartiges politisches Instrument, das nicht darauf abzielte, die bestehenden Machtpositionen zu übernehmen, sondern das System der Machtausübung und staatlichen Organisation aller Lebensthemen selbst hinterfragte. Der Zentrale Runde Tisch im großen Saal des Casinogebäudes beim Schloss Niederschönhausen in Berlin-Pankow war der wichtigste


GABI

DOLFF-BONEKÄMPER

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­ erhandlungsort im Prozess der gesellschaftlichen Neuorganisation V von 1989, wie ihn die Bürgerinnen und Bürger der DDR selbst organisierten. Für unsere „Wiederaufführung“ des historischen Palastes der Republik waren wir noch im Frühjahr 2019 intensiv aber erfolglos auf der Suche nach Originalmöbeln der Runden Tische, die zwar nie im Palast der Republik gestanden haben, aber für uns ein wichtiges Symbol der Revolution von 1989 und ihres Neudenkens von Politik und Staat darstellten. Auf seinen Recherchen stieß der Dramaturg Sebastian Kaiser auf die Arbeit von Gabi Dolff-Bonekämper, Denkmalschützerin und Professorin am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin. Sie hatte die originalen Möbel des Zentralen Runden Tisches in einem Nebengebäude des Casinos beim Schloss Niederschönhausen wiedergefunden. Sie lagerten dort in einem viel zu kleinen Raum, in schief gerutschter „Sturzlage“. Durch die Unterstützung des Bundesakademie für Sicherheitspolitik, die die Anlage seit 2004 nutzt, konnte die Sturzlage als Ganze ins Festspielhaus versetzt und dort als gut ausgeleuchtete und auf einem Podest aufgebaute Installation im Grunde wie ein Kunstwerk präsentiert werden. Professorin Gabriele Dolff-Bonekämper wurde in Münster geboren und hinter ihrer Entdeckung der Stühle des Runden Tisches steht eine lange Geschichte der persönlichen und beruflichen Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Geschichte, die von ungewöhnlicher Achtsamkeit und Beharrlichkeit im Umgang mit den baulichen und seelischen Relikten der DDR geprägt ist. Liebe Frau Dolff-Bonekämper, Sie haben Kunstgeschichte, Romanistik und christliche Archäologie studiert und eine Doktorarbeit mit dem Schwerpunkt Denkmalpflege geschrieben – was gab nach der Öffnung der Mauer den Ausschlag für Ihre Beschäftigung mit der Geschichte der Ostberliner Kulturdenkmäler aus der sozialistischen Zeit? Gabi Dolff-Bonekämper: Das Amt, ganz simpel – ich war im Berliner Landesdenkmalamt die zuständige Person für die Bezirke Tiergarten, Wedding und Reinickendorf und nach 1989 wurde jemand gebraucht, der sich mit den Resten der Berliner Mauer an der Bernauer Straße beschäftigte, weil das Denkmalamt, in Erkenntnis der Tatsache, dass man später Stücke von dieser Mauer brauchen würde, einen kleinen Teil unter Denkmalschutz gestellt hatte.


DIE

DDR

WAR

MEIN

DEUTSCHLAND

WIE

DIE

BUNDESREPUBLIK

Die DDR war mein Deutschland wie die Bundes­republik Bernhard Schlink

Thomas Oberender: Bernhard Schlinks Lebenslauf hat zwei Stränge: Der eine ist der des Juristen, der andere der des Künstlers. Beide Stränge entwickeln sich seit Jahrzehnten nebeneinander, jeder erfolgreich. Der Jurist Bernhard Schlink ist der juristischen Fachöffentlichkeit bekannt als Verfassungs- und Grundrechtsexperte. Aufgrund dieser Kompetenz kam er bald nach Öffnung der Mauer als Wissenschaftler an die juristische Sektion der Humboldt-Universität zu Berlin und wurde ein Ratgeber bei der Erarbeitung eines Verfassungsentwurfs im Auftrag des Zentralen Runden Tisches, der der DDR für die Zeit bis zur Wiedervereinigung eine freiheitliche, rechtsstaatliche, demokratische Ordnung geben und das Vermächtnis der friedlichen Revolution für eine Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands bewahren sollte. Der Entwurf ist ein wenig bekanntes Detail der deutschen Wiedervereinigung, und dass an ihm der später bekannt gewordene Romancier Bernhard Schlink mitgewirkt hat, war eine der Überraschungen bei den Recherchen zum Palast der Republik. Wie war es eigentlich, 1989 als Professor an der Humboldt-Universität zu arbeiten, in einer Phase, als die DDR noch existierte, aber alles im Umbruch war? Am Zentralen Runden Tisch im

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BERNHARD

SCHLINK

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Schloss Niederschönhausen verhandelten Vertreterinnen und Vertreter der DDR-Regierung, Blockparteien und Massenorganisationen mit Bürgerrechtlern und Kirchenleuten über das Ende der SED-Herrschaft und der Staatssicherheit, es ging um demokratische Umgestaltungen und eine freie Wahl der damals noch bestehenden Volkskammer. Ich war zur selben Zeit wie Sie an der Humboldt-Universität und habe dort Theaterwissenschaft studiert. Die Juristen waren mir nicht geheuer in der DDR, ich hielt sie für staats- und parteinah, also nicht für unabhängig, aber vielleicht ist es ungerecht, das so pauschal zu behaupten. Wie waren Ihre Eindrücke, als Sie als ein ausgewiesener Experte für Grundrechte an die Humboldt-Universität kamen, die in diesem Land bis dahin eigentlich nicht praktiziert sondern gerade erst erstritten wurden? BS: Gewiss, Jura war in der DDR eine staats- und parteinahe Angelegenheit. Aber die Juristen spielten keine besonders wichtige Rolle in der DDR; wichtiger als das Recht war der Wille der Partei. Im Zimmer des Dekans fand sich denn auch, als es den Kollegen und Kolleginnen zugänglich wurde, die Abhöranlage für die Räume der Sektion – das Vertrauen in die Juristen war beschränkt. TO: War er der Abhörende oder der Abgehörte? BS: Wahrscheinlich wurde er auch abgehört. In seinem Zimmer war jedenfalls die technische Installation fürs Abhören. Ich sah sie im Januar 1990, in dem Stadium zwischen der alten und der neuen DDR. Zu den Wahrnehmungen des Zwischenstadiums gehört auch die Teilnahme an einer Versammlung der Parteiangehörigen der Sektion, bei der über eine Rede diskutiert werden sollte, die Gorbatschow kurz davor gehalten hatte. Ich merkte, dass diese Art von Versammlung ein eingeübtes Ritual war, bei dem der Hauptredner lange referierte, ohne sich wirklich zu äußern, und auch die anderen sich zur Rede verhalten mussten und verhielten, dabei aber nichts riskieren und nichts Falsches sagen wollten. Das ist, so sah ich damals, eine hohe Kunst – ich würde nicht schaffen, zwanzig Minuten über einen Gegenstand zu reden, ohne mich zum Gegenstand zu äußern. Es ist eine Kunst, die mit der DDR untergegangen ist. TO: Das finde ich nicht. Aber wie war das möglich – Sie waren ja als Westdeutscher nicht in der Partei. Wie konnten Sie an etwas so


FUNDGRUBE

FÜR

DIE

ZUKUNFT

Fundgrube für die Zukunft Bénédicte Savoy

Thomas Oberender: Bénédicte Savoy arbeitet als Kunsthistorikerin an der Technischen Universität Berlin und am Collège de France in Paris. Sie erinnert sich an die DDR aus der Perspektive ihrer Schulund Studienzeit in Frankreich und an ihre Eindrücke als Austauschschülerin, die Ostberlin 1988 von Westberlin aus besuchte, unter anderem auch den Palast der Republik. Schon wenige Jahre nach der Wiedervereinigung zog sie nach Berlin und begann dort Ende der 90er-Jahre wissenschaftlich zu arbeiten – zunächst im Rahmen von Lehraufträgen am Centre Marc Bloch, der Technischen und der Freien Universität. Später folgte eine Juniorprofessur am Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik der TU Berlin. Für ihre wissenschaftliche Arbeit wurde Bénédicte Savoy inzwischen mit mehreren Preisen geehrt und einer breiteren Öffentlichkeit durch ihre Beratertätigkeit für den französischen Präsidenten Macron in Fragen der Restitution geraubter Kulturgüter aus Afrika bekannt, zu der sie gemeinsam mit Felwine Sarr einen viel diskutierten Bericht veröffentlicht hat. Bénédicte Savoy hat Ausstellungen kuratiert und ein sagenhaftes, später als „Tschernobyl-Interview“ bezeichnetes Interview zum Humboldt Forum gegeben. Liebe Bénédicte, dass Napoleon der erste Kunsträuber im modernen Sinne war, hat mich überrascht. Du hast diese Geschichte einige Jahre erforscht. Kannst du uns beschreiben, was der Kunstraub

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BÉNÉDICTE

SAVOY

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der siegreichen Franzosen über die Preußen mit den Deutschen um 1800 gemacht hat? Bénédicte Savoy: Dieser Kunstraub Napoleons hat tatsächlich mit der DDR zu tun. Meine Beschäftigung mit Napoleon begann, als mich jemand – da ich jeden Tag mit dem Fahrrad durch das Brandenburger Tor mit der Quadriga zur Arbeit fuhr – fragte: „Weißt du eigentlich, dass die Quadriga mal in Paris war?“ Das wusste ich natürlich nicht. Und das wurde zum Auslöser meiner Forschung über Napoleons Kunstraub. Er hatte 1806 die Quadriga demontieren und nach Paris bringen lassen. TO: Wie haben die Deutschen damals reagiert, als ihre Kunstschätze nach Paris gebracht wurden? BS: Der Schöpfer der Quadriga, Johann Gottfried Schadow, war ziemlich stolz, dass sie in Paris gezeigt wurde – so wurde zumindest in den Berliner Künstlerkreisen gemunkelt. Denn Kollegen von Schadow hatten sich gewundert, dass kein Widerstand laut wurde. Es war auch so, dass Napoleons großer Kunsträuber, Dominique-Vivant Denon, einige Werke bei Schadow angekauft hatte und Schadow und die anderen Künstler den Eindruck hatten, dass sie in Paris sichtbarer wären als in Berlin, im Brandenburgischen Sand. Sie hatten also nicht wirklich etwas dagegen, dass ihre zeitgenössische Kunst weggenommen wurde. Bei der alten Kunst verhielt es sich ein wenig anders. Allerdings gab es in Berlin damals noch kein öffentliches Museum. Berlin war eine Ausnahme: Dresden hatte öffentliche Museen, München, Wien, Düsseldorf, Braunschweig, Schwerin – alle hatten öffentliche Museen. Berlin nicht. In Berlin war die Kunst im Schloss – zum Teil. Und in Potsdam. Deshalb gab es in der Bevölkerung auch keine starke Identifikation mit den Kunstwerken. Die Berliner Öffentlichkeit hat kaum gegen diesen Kunstraub protestiert. Ganz aufgeregt waren die Deutschen hingegen, als die Franzosen Italien geplündert haben. Das hat ihnen weh getan. Weil die Deutschen auch damals schon dachten, dass sie eigentlich Italiener sind. TO: Das muss besonders Goethe weh getan haben. BS: Goethe war fertig. (lacht) Und einige andere auch. Aber in Berlin


„Fast alles“, so die Denkmalschützerin Gabi DolffBone­kämper, „was am Runden Tisch diskutiert wurde, dieser wunderbare Verfassungsentwurf und so vieles mehr, ist irgendwie im Orkus der Geschichte gelandet. Und von dort muss es wieder hoch geholt werden.“ Genau dafür haben die Berliner Festspiele dreizehn Jahre nach seinem Verschwinden den Palast der Republik im ­Berliner Westen noch einmal errichtet und die Reihe Occupy History gestartet. Sehr persönlich und präzise wird in den vielschichtigen Gesprächen die Revolution von 1989 beschrieben. Im Zentrum steht die aktuelle Begegnung zweier deutscher Lebenswelten und Mentalitäten, die viel Verschüttetes zu Tage bringt: Im Feld der Bürgerbewegung entstanden in der späten DDR politische Konzepte und Arbeitsweisen, die im Hinblick auf Gleichberechtigung, Mi­ gration, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz ihrer Zeit voraus waren und mit den Gedanken und Idealen vieler westdeutscher Intellektueller und Künstler*innen resonierten. Erinnern ist in diesen Gesprächen eine solidarisch-politische Handlung, die nichts mit Nostalgie zu tun hat, sondern an die Stelle des „Sozialfall Ost“ ein „Empowerment Ost“ setzt.

Verlag der Buchhandlung Walther König


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