Inhalt
Film | Architektur. Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Johannes Binotto
I Unsichere Fundamente: Zum (Un-)Verhältnis von Film und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Unerfüllte Sehnsucht. Über das bewegte Bild in Film und Architektur . . . . . . . . 30 Marcel Bächtiger Zwischenraum, Leib, Chronotopos. Das Erscheinen von Zeit auf der Treppe des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Ulrike Kuch Verkörperte Zuschauerschaft: Zu Sergej Eisensteins Theorie architektonischer Montage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Martino Stierli Die Straße runter – oben bleiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Christoph Eggersglüß Mit Viollet-le-Duc ins Kino: Über das Restaurative im Verhältnis von Architektur und Film . . . . . . . . . . . . . . . 108 Vinzenz Hediger Prekäre Schauplätze: Der Film als das Unheimliche der Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Johannes Binotto
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II On Location: Schauplätze einer Architektur des Films . . . . . . . . 149 Ausstieg Frankfurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Rembert Hüser Architektur und Film bei Pasolini und Godard: Ein metaphorisches Bordell! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Andri Gerber „This Is Some Spooky Shit We Got Here“: Seltsame Topo|Logiken in David Lynchs Lost Highway . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Bernd Herzogenrath Stereovision. Raumformen des 3-D-Kinos von Sergej Eisenstein bis Jean-Luc Godard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Matthias Wittmann In der Stadt der bewegten Bilder. Der öffentliche Raum als Kino der Attraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Fred Truniger Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Nachweise zu den Zwischenzitaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
Die Bilder zwischen den Beiträgen stammen von Yves Netzhammer.
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„Es gibt Bilder, weil es Wände gibt.“ Georges Perec
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Am Anfang ist ein Strich. „[…] eine einigermaßen horizontale Linie wird auf das weiße Blatt gesetzt, schwärzt den jungfräulichen Raum ein, gibt ihm einen Sinn, vektorisiert ihn: von links nach rechts, von oben nach unten. Vorher gab es nichts oder fast nichts, danach gibt es nichts Besonderes, ein paar Zeichen, die aber ausreichen, damit es ein Oben und ein Unten gibt, einen Anfang und ein Ende, eine Rechte und eine Linke, eine Vorderseite und Rückseite.“1 So beginnt Georges Perec sein Buch Träume von Räumen und beschreibt mit diesem Anfang seines Textes auch den Anfang von Architektur. Denn die wohl erste architektonische Geste war es, eine Linie durch den Raum zu ziehen, um damit diesen in Zonen zu teilen. Erst, wo solch eine Unterscheidung den Raum spaltet, lässt sich überhaupt von einem Hier und einem Dort sprechen. Was die Linie markiert, ist denn auch, was danach die Wand, diese basalste architektonische Form, leistet: Indem man eine Wand errichtet, wird ein Innen von einem Außen, ein Davor von einem Dahinter überhaupt erst getrennt. Die Wand ordnet den Raum, indem sie ihn teilt. Und doch kann es bei der Trennung allein nicht bleiben. Soll die Wand nicht zum schieren Kerker werden, müssen Öffnungen in sie eingefügt werden, so wie in E.T.A. Hoffmanns Erzählung vom verrückten Rat Krespel, der ein Haus baut, ganz ohne Türen und Fenster, danach aber lauter Löcher in die Mauern schlagen lässt.2 Die Wand, welche zwei Bereiche voneinander separiert, schafft gerade dadurch die Notwendigkeit eines Übergangs vom einen in den anderen. Mauern rufen alsbald auch Türen und Fenster auf den Plan. Wo Wand ist, wird Passage. Tatsächlich ist ja auch die Linie, welche den Raum in Zonen teilt, zwangsläufig der Ort, wo diese Zonen wieder aneinanderstoßen. Der trennende Strich entpuppt sich als Schnittstelle in der ganzen Paradoxie dieses Wortes: ebenso trennender Schnitt, wie offener Kanal. Der Strich ist demnach das, was man ein Medium nennt: etwas, das – wie es sein lateinischer 10
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Name bereits sagt – in der Mitte, also zwischen zwei Positionen steht. Als dazwischen stehend ist das Medium Hindernis, Zäsur und zugleich doch Kontaktstelle, Ort der Vermittlung.3 In genau diesem Sinne wäre auch der Strich im Titel dieses Buches zu verstehen: als zugleich Trennungs- und Verbindungslinie. Unter dem Titel „Film | Architektur“ soll auf jenen Strich eingegangen werden, der das komplexe, mediale (Un-)Verhältnis zwischen Film und Architektur markiert: um in einem Zug sowohl die Zäsuren aufzuzeigen, wie auch die Verbindungen, über die sich Film und Architektur gegenseitig austauschen und aus dem Lot bringen. Dass es für den Film keinen Weg an der Architektur vorbei gibt, ist offensichtlich: Wo gefilmt wird, fängt die Kamera unweigerlich auch jene architektonisch gestalteten Räume ein, die sich vor ihrer Linse befinden, und sei es nur als Hintergrund. Doch begnügt das Kino sich nicht damit, den gegebenen Raum nur abzubilden, sondern baut diesen im Akt der medialen Übertragung sogleich um, erweitert und begrenzt ihn, zerschneidet ihn und setzt ihn neu zusammen. Architektur ist somit nicht einfach ein mögliches filmisches Sujet unter anderen, sondern betrifft den Film bereits in seinen basalen Verfahrensweisen. Dank filmischer Mittel wie Kameraperspektive, Bildausschnitt, Montage, Farbgebung oder Sounddesign werden neue Räume kreiert, die sich zwar an vorhandene Architekturen anlehnen mögen, aber niemals deckungsgleich mit diesen sein können. Der Kritiker und Regisseur Eric Rohmer hat denn auch den Film dezidiert als „Kunst der Raumorganisation“ bestimmt und zu diesem Zweck zwischen drei Formen differenziert, in denen sich Raum im Film manifestiert: Rohmer unterscheidet zwischen 1) einem espace pictural – also dem Raum des auf die Leinwand projizierten Bildes, 2) einem espace architectural – dem gefilmten architektonischen Raum mit seinen tatsächlichen Bauten, seien dies nun eigens für den Dreh hergestellte Sets oder bereits vorhandene Gebäude, und schließlich 3) einem espace filmique – jener virtuelle filmische Raum, der sich erst in der Wahrnehmung der Zuschauer aufgrund der gesehenen Bilder zusammensetzt.4 So hilfreich eine derartige Unterscheidung auch sein mag, erleben wir als Zuschauer indes, wie unauf lösbar verschränkt die drei von Rohmer 11
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beschriebenen Raum-Formen sind: So wissen wir im Kino vom espace architectural nämlich nur, was uns der espace pictural davon zeigt, wobei in diesem „Zeigen“ freilich auch das mitgemeint ist, wovon der Film zwar kein Bild liefert, es aber als Abwesendes, als Off außerhalb des Bildrahmens spürbar macht. Die angeblich „objektive Existenz“ des espace architectural, der, laut Rohmer über eine „Realität [verfügt], mit der sich der Filmemacher beim Dreh misst, um sie zu verfälschen oder getreu wiederzugeben“5, ist, genau besehen, selber etwas, über das man nur vermittelt – mithilfe dessen, was uns davon gezeigt wird – spekulieren kann. Mithin ist auch die angeblich konkrete Erfahrung einer Architektur niemals objektiv, sondern immer nur phänomenologisch. Auch wenn wir durch ein tatsächliches Bauwerk spazieren, erleben wir dieses niemals als Bauwerk an sich, sondern immer nur so, wie es für uns erscheint,6 nur in Form fragmentierter, eigener Wahrnehmungen, die dann zu einem virtuellen Ganzen zusammengefügt werden müssen. Oder anders formuliert: Auch was man für eine konkrete Erfahrung eines architektonischen Raums hält, erlebt man eigentlich als einen erst im eigenen Kopf sich zusammenfügenden espace filmique. Über die Bauten des Films hat Frieda Grafe geschrieben: „Die neuen Räume, ohne Grundriss, setzen sich in Einstellungen zusammen und definieren sich über Zeit.“7 Dasselbe ließe sich aber auch über die Erfahrung realer Architektur sagen: Auch ein tatsächliches Gebäude wird nicht auf einen Blick, sondern über Zeit und in Form von Einzelheiten erfasst. So hält auch die Filmtheoretikerin Gertrud Koch fest: „Von emphatischer Architektur ließe sich sagen, dass sie dem Film darin ähnelt, dass ihre Werke sich erst im Betrachter strukturieren. Die architektonische Gesamtheit eines Gebäudes erschließt sich erst durch die verschiedenen perspektivischen Ansichten, die sich der Betrachter davon macht.“8 So können über die vermittelnde Schnittlinie zwischen Film | Architektur auch diese beiden hier zusammenstoßenden Phänomene plötzlich ihre Plätze tauschen: Nicht nur, dass Film als Kunst der Raumorganisation architektonisch verfährt, auch Architektur wird ihrerseits in einer Art filmischer Dynamik erlebt. Das soll jedoch nicht heißen, dass Film und Architektur damit schlicht austauschbar würden. Im Gegenteil sollen gerade die unterschiedlichen Mög12
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lichkeiten von Film und Architektur fruchtbar gemacht werden, zur besseren gegenseitigen Bestimmung. Michel Foucault zufolge ist das Kino ein prominentes Beispiel dessen, was er „Heterotopien“ nennt – „wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.“9 In diesem Sinne wären auch die Räume des Films als Heterotopien der Architektur zu sehen, in denen diese sich zugleich repräsentiert, aber auch umgewendet, weiter- und umgebaut findet. In der Heterotopie des Films erfüllt sich, was für die Architektur utopisch bleiben muss: Gesetze der Statik etwa oder die Regeln der euklidischen Geometrie, denen sich Architekten und Architektinnen unterworfen sehen, kann der Film mühelos überwinden. Dafür aber muss das Kino auf die Plastizität realer Architektur verzichten, ebenso wie auf die Möglichkeit, sich nicht nur mit den Augen, sondern mit dem ganzen Körper in den Räumen bewegen zu können. So gesehen, wäre umgekehrt auch die Architektur als Heterotopie des Films zu lesen, in der sich tatsächlich verwirklicht, was der Film sich nur hatte einbilden können. Diesem Verhältnis zwischen Film und Architektur als gegenseitiger Heterotopie wollen die folgenden Beiträge aus verschiedener Perspektive nachgehen. Somit soll hier denn auch weniger nach dem bloßen Auftritt von Architektur im Film gefragt werden.10 Die in diesem Band diskutierten Filme sind nicht „Architekturfilme“, deren Aufgabe darin besteht, Bauwerke möglichst „adäquat“ zu dokumentieren. Indes ist dies oft die Haltung, die Vertreter und Vertreterinnen der Architektur gegenüber dem Film einnehmen, indem sie diesen als bloßes Mittel zur Repräsentation ihrer Werke verkennen. Spricht man von A rchitektur im Film, so ist damit bereits eine Hierarchisierung impliziert, welche das eine als Hauptsache und das andere als nur dessen mögliche Darstellungsform aufzufassen droht. Die Architektur wird dann zum Inhalt erklärt, während der Film nur Vehikel sein soll, das diesen Inhalt zu sehen gibt. Eben diese Vorstellung will der vorliegende Band unterlaufen. Publiziert in einer Buchreihe, die ihren Fokus dezidiert auf die Bereiche der Architektur 13
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„Das Auge verfolgt die Richtung eines Elements. Behält den visuellen E indruck, der sodann zusammenprallt mit der Verfolgung der Richtung des zweiten Elements. Der Konflikt dieser Richtung bildet den d ynamischen Effekt in der Wahrnehmung des Ganzen.“ Sergej Eisenstein
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Zwischenraum, Leib, Chronotopos. Das Erscheinen von Zeit auf der Treppe des Films Ulrike Kuch
Der Film, die Architektur und die Zuschauenden Beginnen wir mit einem Film: In Sunset Blvd. (Billy Wilder, USA 1950) sehen wir in der letzten Szene die ältere Schauspielerin Norma Desmond (Gloria Swanson) eine Treppe hinabsteigen. Sie imaginiert sich als Salomé auf der Treppe ihres Palastes – die Kameras der Reporter sind die Kameras des Filmstudios, die Lampen der Fernsehteams die Lampen am Hollywood-Set, der Butler (Erich von Stroheim – selbst ebenfalls Regisseur –) wird zum Regisseur Cecil B. deMille. Es ist der letzte Auftritt einer geistig umnachteten Diva, ein Auftritt, der die sensationslüsternen Journalisten erstarren lässt. Dieses Starre wird kontrastiert mit der graziösen Bewegung auf der Treppe, eine Klimax im Herabschreiten, die den Blick auch von uns Zuschauenden im Kino bannt. Uns wiederum adressiert die Diva direkt, wenn sie sich an die Kamera wendet und „those wonderful people out there in the dark“ anspricht, schließlich sogar auf die Kamera zugeht. Die Großaufnahme wird von einem Nebelfilter aufgefangen, der das Gesicht der Diva überblendet und schließlich zum Schwarzbild wird. Die Szene zeigt, wie stark die Bewegung auf der Treppe mit dem Körper verbunden ist, wie diese Bewegung mit Eleganz, Grandezza und Starduktus konnotiert ist und welche Suggestionskraft dabei der Architektur der Treppe innewohnt. (Abb. 1) Ist die dispositive Anordnung von Kinosaal und filmischem Raum in Sunset Blvd. eng mit der Diegese verknüpft, zeigt ein anderes Beispiel, wie auch ohne diegetischen Bezug, allein aus der Schnittfolge, der Komposition der Bilder und architektonischen Fragmente eine intensive Referenz auf den Körper und seine Bewegung erfolgen kann: Dem Film Stay (Marc Forster, USA 2005) gelingt es, die Verwirrung des Protagonisten durch seinen Gang (oder Lauf) auf der Treppe erfahrbar zu machen. In der ersten Treppensequenz sehen wir 44
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Abb. 1: Screenshot aus Sunset Blvd. (USA 1950)
eine moderne blaue Glas- und Stahl-Treppe, die in schnellen Bildern in Aufsicht und Untersicht gezeigt wird. (Abb. 2) Auch rasch laufende Füße sind zu sehen, dazu verhallende Rufe. Gerade die Unmöglichkeit des Blickwinkels und die rasante Abfolge der Bilder erzeugt Unbehagen. Die psychische Situation wird in eine fliegende Sequenz architektonischer Bilder übersetzt. Auch in der zweiten Treppensequenz in Stay wird die Bewegung auf der Treppe immer weiter gesteigert: Hier ist eine gemauerte Wendeltreppe mit ebenfalls gemauertem innen liegendem Geländer zu sehen. Die Fugen des gewendelten Geländers leuchten und stehen in starkem Kontrast zur Dunkelheit des burgähnlichen Treppenlaufs. Dr. Sam Forster (Ewan McGregor) wird durch eine diegetisch motivierte Beunruhigung und durch die Spiralbewegung der Treppe in Bewegung gesetzt: Erst geht er ruhig, dann immer schneller, schließlich läuft er, stolpert und fällt. Kurz danach sehen wir ihn noch einmal auf dieser Treppe, die Treppe selbst scheint sich zu drehen, zu schwindeln. (Abb. 3) Der Regisseur arbeitet also gleich zweimal mit diesen filmischen Mitteln und der Treppe, in beiden Fällen wird über die Wahrnehmung der filmischen Bilder der filmische Raum mit dem Körperraum der Zuschauenden verknüpft. 45
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Abb. 2: Screenshot aus Stay (USA 2005)
Abb. 3: Screenshot aus Stay (USA 2005)
Das Zusammenspiel von Architektur, der Bewegung des Körpers auf der Leinwand und der Bewegung der Bilder wird also nur im Dispositiv des Kinos und nur in Zusammenarbeit mit den Rezipienten vollständig. Der Film denkt die Betrachtenden mit, die Betrachtenden denken sich in den Raum des Films ein. Der Raum zwischen Publikum und filmischem Raum birgt ein unendliches Feld der Imagination, den kinematografischen Raum. Dieser resultiert aus dem Prozess der Wahrnehmung des Films, er ist angedockt an den filmischen Raum, entsteht aber erst in der Imagination der Zuschauenden. Entwickelt man diesen Gedanken eines solchen Zwischenraums phänomenologisch weiter, so wird mit der Treppe der abstrakte „Körper“ zum viszeralen „Leib“, weil die Architektur des Films die Rezipienten nicht nur visuell, sondern auch haptisch affiziert. Die immersive Kraft des Films und insbe sondere des filmischen Raums wird mit dem Begriff des kinematografischen Raums greifbar: Über den kinematografischen Raum wird der filmische Raum ein Teil von uns, wir sind im Film.1 Stay und Sunset Blvd. zeigen, wie unterschiedlich der Film die Architektur einsetzen kann – immer aber „spielt die Architektur.“2 46
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Das Erscheinen von Zeit 24 Bilder pro Sekunde. Die Geschwindigkeit der Bilder gibt den Rhythmus der Wahrnehmung des Films vor. Wird diese, wie in der Technik der Zeitlupe, verringert, so macht die Verlangsamung die Zeit im Film sichtbar. Dieses „Erscheinen von Zeit“3 (Anke Henning) ist es, das nicht nur die Zeitlichkeit des Films, sondern auch die Zeitgebundenheit des gesamten kinematografischen Dispositivs offenlegt. Eine Zeitlupe zeigt uns, dass wir im Kino sitzen und einen Film schauen. Die Illusion von Bewegung, die dem Film im „Normalfall“ eignet, wird dabei zerstört. Dennoch gehört es zur Magie des Kinos, diese Unterbrechung, diese Sichtbarmachung des Bildintervalls, nicht als Störung, sondern als besondere Qualität des Filmischen wahrnehmbar zu machen. Dass es gerade die Treppe ist, die sowohl in Stay als auch in Sunset Blvd. als Matrix für das Zeigen der Zeitlichkeit des Films fungiert, liegt an der ihr ohnehin schon innewohnenden Sequentialität: Die Treppe selbst gliedert die Bewegung des Körpers in Stufen, in Schritte, in Bewegungsintervalle (und das nicht nur visuell, sondern auch akustisch, wie besonders an Stay deutlich wird). Am klarsten zeigt sich dieser Zusammenhang, wenn wir an die Chrono fotografien von Eadweard Muybridge denken: Sie zeigen die Affinität zwischen Treppe und Körper, Sequentialiät und Fotografie. (Abb. 4) Die Bewegung des Körpers auf der Treppe bleibt fließend und ist doch aus Zwischenräumen zusammengesetzt. Die Treppe macht als architektonisches Element die Bildintervalle des Films sichtbar, ist somit kinematografisch im wortwörtlichen Sinn: Die Bewegung der Bilder ist ihr einbeschrieben. Schauen wir auf Sunset Blvd., so liegt die Grandezza der Diva gerade darin, über diese Sequentialität hinwegzutäuschen, aus der skandierten Zwischenräumlichkeit homogene Räumlichkeit zu produzieren. Das Fließen der Bewegung lässt die Treppe verschwinden – ihre räumliche und dramaturgische Kraft erfahren wir durch den gleitenden Körper Gloria Swansons.4 Und noch weiter: Der Bezug der Treppe im Film auf den Körper der Rezipienten bindet nicht nur die visuelle Wahrnehmung, sondern auch die somatische in die Filmerfahrung ein. Der phänomenologische „Leib“ wird durch die Treppe in der Filmerfahrung vollständig, es entsteht eine intensive Beziehung zwischen Kinosaal und 47
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der Wahrnehmung von Architektur durchaus durch seine eigene Filmrezeption beeinflusst worden ist, wie im Folgenden zu zeigen ist.13 Das Treppenhaus im Haus Müller gehört zu den interessantesten Treppenbauten der Moderne. Der „Raumplan“, die Hierarchisierung und Verbindung verschiedener Raumgrößen und Zimmertypen, wurde mittels eines Treppenhauses realisiert, welches das Rückgrat des Hauses14 bildet. Räume und Treppenraum sind als kommunikatives System ausgebildet. Die Treppe dient nicht allein der vertikalen Erschließung, sie gliedert die Bewegung durch das Haus, sie gibt mit ihren Läufen, der Steigungshöhe und Auftrittsbreite, den Podesten und Windungen den Rhythmus der Bewegung vor. In Bezug auf die Zeitlichkeit stellen wir fest, dass Loos’ Dramaturgie dieser Bewegung die Treppe selbst zu zitieren scheint: In cineastischer Manier changiert sie zwischen Ruhe und Bewegung; sie besteht aus Intervallen, Richtungswechseln, aus Räumen und Zwischenräumen. In der Bewegung auf der Treppe erleben die Besuchenden körperlich die Zirkulation im (Treppen-)Raum und in der Zeit. Der Blick fällt in unterschiedlichste Richtungen, verschiedene Raumschichten öffnen sich in den einzelnen „Zeitzonen“. Auch aus den Dimen sionen der Treppenräume selbst ergeben sich spannungsreiche Raumfolgen.15 (Abb. 6)
Hier lassen sich verschiedene Aspekte einer Zeitlichkeit der Architektur erleben: Der erste Aspekt ist die Bewegung der Rezipienten durch das Haus – über Treppen, Stufen und Schwellen, durch Türen, Flure, unterschiedliche hohe Räume in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Dabei wird nicht nur die A rchitektur, sondern sensomotorisch auch die Körperlichkeit der Rezipienten selbst und – dies ist entscheidend – in der Zeitspanne der „Wanderung“ die Dauer (Bergson) der Architektur wahrgenommen. Zugleich ist diese Wahrnehmung eingebunden in eine übergeordnete Zeitempfindung, die das Gebäude, die Rezipienten und den Akt der Wahrnehmung einschließt. Diese Schichtungen zeigen die Architektur als Bild – die Bildhaftigkeit der Architektur wird selten so deutlich wie in diesem Gebäude. Mit Wolfgang Kemp lässt sich das Haus Müller als „Chronotopos“ definieren: „Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit ver52
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Abb. 6: Diagramm Haus Müller
dichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum; und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. Diese Überschneidung der Reihen und dieses Verschmelzen der Merkmale sind charakteristisch für den künstlerischen Chronotopos.“ Damit wird deutlich, dass es Adolf Loos mit seinem Entwurf gelingt, über die gängige Auffassung einer Architektur hinaus, die Raum und Zeit getrennt denkt oder Zeitlichkeit allein im Sinne eines Gebäudelebenszyklus versteht, eine architektonische Konstellation zu schaffen, die Zeit und Raum auf geglückte Weise miteinander verbindet.16 53
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Die Treppe zwischen Raum und Zeit Drei Filmtreppen haben uns geholfen, einen Einblick zu bekommen in den Umgang des Films mit seiner Zeitlichkeit (in der Referenz auf die Zeitlupe), mit den Rezipienten (ihrer wechselseitigen Einbeziehung) und mit der Architektur (als Matrix der filmischen Bilder). Filmische Bilder haben die Fähigkeit, ihre eigene Zeitlichkeit zum Erscheinen zu bringen. Eine Zeitlichkeit, für die das Publikum unabdingbar bist. Die Architektur, und insbesondere die Architektur der Treppe vermag es, mit dem Film diese Zeitlichkeit für den Körper erfahrbar zu machen. Die Sequentia lität, die die Treppe ontologisch bestimmt, trifft mit dem Film auf ein aus Einzelbildern und Intervallen zusammengesetztes Lichtspiel. Wenn beide zusammenkommen, zeigt sich das Film-Bild in seiner Körperhaftigkeit, wie mit Eadweard Muybridges Woman walking downstairs von 1901 anschaulich gezeigt werden kann. Umgekehrt wird der Film zum Labor für die außerfilmische Architektur. Denn die Imaginationskraft, die dem Film eignet, zeigt, wie die Zeitlichkeit der Architektur gedacht werden kann, wie also die Architektur aus dem sonst so starren Korsett von Ordnung, Stabilität, Zuverlässigkeit und Ganzheit ausbrechen und die Beziehung von Rezipienten und Architektur anders denken kann. Wie das aussehen kann, haben wir am Beispiel von Adolf Loos’ Haus Müller gesehen. Dort wird die Treppe zu einem Zwischen-Raum, der die verschiedenen Hierarchien der Zimmer, Aspekte der Gestaltung und vor allem Zeit-Räume erfahrbar macht und „mit Sinn erfüllt“, wie Wolfgang Kemp schreibt. Der Prozess der Wahrnehmung einer diskontinuierlichen Zeitlichkeit, wie er im Film selbstverständlich ist, wird im Haus Müller für die Architektur interpretiert.
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Anmerkungen
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Mit dieser Illusion spielen Filme wie Inception, aber auch Stanley Kubricks Shining oder Science- Fiction-Filme wie Blade Runner.
10 Conrads, Sperlich 1983. 1
Für weitere Ausführungen zu diesem Thema möchte ich auf meine Dissertation (Kuch 2013) verweisen.
2
„L’architecture moderne ne sert pas seulement le décor cinématographique mais marque son empreinte sur la mise en scène, elle déborde de son cadre; l’architecture ‘joue‘.“ Mallet-Stevens 1946/1977, S. 288.
3
Hennig 2010, S. 7–13; und ebenda: „Nicht das Bewegungsbild an sich, sondern erst seine Unterbrechung durch ein Intervall lässt ein Zeitbild erscheinen.“ (mit Bezug auf den Beitrag „Der Film lacht“ von Christiane Voss im gleichen Band)
4
Vgl. dazu „In diesem [...] Sinne basieren die Erfahrung der Plastizität unbewegter Körper wie die Bauten der Architektur und die bewegten Bilder vor unbewegten Körpern im Kino auf einem gemeinsamen Fundament: Es sind Vorstellungen, die vom und im Raum entstehen. Die Dimension der Zeit wird als Metrisierung und Rhythmisierung, als Verweildauer oder Geschwindigkeit diesen Kunsträumen eingeschrieben.“ Koch 2005, S. 11.
5
Vgl. dazu den erhellenden Beitrag von Elie Düring (Düring 2013), den ich wegen der Schnittmenge zum „Architektur-Labor“ mit einem berühmten Zitat von Walter Benjamin ergänzen möchte: „Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung. [...] An die Stelle eines vom
11 Zur Zwiespältigkeit der Person Loos‘ vgl. Rauterberg 2015. 12 Zumindest ist in der Literatur dazu nichts zu finden. 13 Loos schreibt in der Filmkritik zu Marcel L’Herbiers L’Inhumaine: „Der Architekt – es ist Frankreichs modernster Baukünstler Mallet Stevens, hat hiermit dem Filmkünstler atemraubende Bilder gestellt, ein hohes Lied auf die Monumentalität der modernen und – utopistischen Technik. … Diese Augenwirkung grenzt ans Musikalische, und Tristans Ausruf wird wahr: ‚Hör ich das Licht?‘ Die Wirkung dieser letzten Bilder war überwältigend. Man ging aus dem Theater und hatte das Gefühl, die Geburtsstunde einer neuen Kunst erlebt zu haben. Einer Kunst, die sich an einen Teil unseres Cerebralsystems wendet, dem bisher die Befriedigung seiner künstlerischen Bedürfnisse versagt war.“ (Loos 1924) 14 Vgl. Pallasmaa 2001. 15 Eine filmische Erkundung dieser Architektur hat Heinz Emigholz mit seinem Film Loos ornamental (D 2008) unternommen. Vgl. zur Bewegung durch das Haus Müller auch Alban Jansons Beitrag, Janson 2009. 16 Ulrich Müller beschreibt das Haus Auerbach in Jena von Walter Gropius als ein ähnlich erhellendes Beispiel in gänzlich anderer Architektursprache, Müller 2004.
Menschen mit Bewußtstein durchwirkten Raums [tritt] ein unbewußt durchwirkter. [...] Vom OptischUnbewußten erfahren wir erst durch [die Kamera], wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.“ Benjamin 2007, S. 40 f. 6
Die Treppe trifft in der Zeitlupe auf eine Schwester im Geiste: Beide zerlegen die Bewegung in Intervalle. Mit der Zeitlupe stockt der Fluss der Bilder im Film. Interessanterweise ist mir kein Film bekannt, der die Treppe in Zeitlupe zeigt.
7 Bruno 2005, S. 119. 8
„[...] Bildern eignet ebenfalls eine spezifische Prozessualität: Sie räumen Zeit ein, eröffnen in der Abfolge selbstverständlicher Abläufe eine Kluft und entwickeln darin, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, neue Spielräume.“ Alloa 2013, S. 13.
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„Auf der Leinwand gibt es kein Stillleben. Die Dinge verhalten sich. Die Bäume gestikulieren. Die Berge, wie dieser Ätna, bedeuten. Jedes Detail wird zu einer handelnden Person. Schauplätze lösen sich auf, und jedes Stück von ihnen nimmt einen eigenen Ausdruck an. Ein erstaunlicher Pantheismus ersteht wieder und erfüllt die Welt bis zum Platzen. Steppengras wird zum lächelnden und femininen Genie. Anemonen, voller Rhythmus und Persönlichkeit, entwickeln sich mit der Majestät von Planeten. Die Hand trennt sich vom Menschen, führt ein Eigenleben, leidet und empfindet Vergnügen. Und der Finger trennt sich von der Hand. Ein ganzes Leben verdichtet sich auf einmal und findet seinen zugespitztesten Ausdruck in dieser Klaue, die ganz mechanisch einen Füllfederhalter, angefüllt mit einem Gewitter, traktiert.“ Jean Epstein
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Mit Viollet-le-Duc ins Kino: Über das Restaurative im Verhältnis von Architektur und Film Vinzenz Hediger
En attendant les monuments nouveaux, conservons les monuments anciens. Victor Hugo, Notre Dame de Paris Jede „Restauration“ ist auch eine „Instauration“: Mehr als nur eine Wiederherstellung, ist jede Restaurierung auch eine Herstellung, eine Ins-Werk-Setzung von etwas Neuem. Mit diesem Gedanken leitet Hubert Damisch eine Ein führung in das Werk von Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc (1814–1879) ein, einem der einflussreichsten, aber auch umstrittensten Architekten des 19. und 20. Jahrhunderts. Mit seinen Restaurierungen mittelalterlicher Bauten prägt Viollet-le-Duc bis heute die Wahrnehmung der mittelalterlichen und vor allem der gotischen Architektur im 19. und 20. Jahrhundert, von der Abteikirche in Vézélay – einer ursprünglich romanischen Kirche, die für ihn den Übergang zur Gotik in Frankreich markierte und die er mit einer gotischen Fassade versah – über die Kathedralen von Paris, Saint-Denis, Amiens, Reims und Clermont-Ferrand bis zu seinem wohl bekanntesten Werk, der Wiederherstellung der Befestigungsanlage von Carcassonne. Viollet-le-Ducs Dictionnaire raisonné de l’architecture française, erschienen zwischen 1854 und 1868, diente Generationen von Architekten als Lehrbuch und zählt zu den bedeutendsten Texten der Architekturtheorie. Zu den Leistungen Viollet-le-Ducs gehört, dass er den Begriff der „Restauration“ geprägt und in die Terminologie der A rchitektur und Kunstgeschichte eingeführt hat, der im Deutschen mit Re staurierung übersetzt wird und nach der etablierten Definition des interna tionalen Museumsverbands ICOM die Wiederherstellung eines materiellen Kulturguts bezeichnet.1 108
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„Restaurer“ und „instaurer“ gehen beide auf die latenische Wurzel „staurare“ zurück, die sich wiederum vom griechischen „stauros“ herleitet, was „aufgerichteter Pfahl“ bedeutet und im Neuen Testament jenes Gerät bezeichnet, an dem Christus hingerichtet wird und das im dritten Jahrhundert zum Symbol des Christentums wird, das Kreuz.2 Die „Instauration“ ist demnach die erste Aufrichtung, die „Restauration“ die zweite, die Wiederaufrichtung. In der Restaurierung verkehrt sich die Abfolge noch einmal: Die Wiederaufrichtung wird zur Neu-Aufrichtung, wie auch zur Neu-Einrichtung. Gedacht ist Damischs Spiel mit den beiden Komposita der Wurzel „stauros“ zugleich als Auslegung von Viollet-le-Ducs Verständnis von Restaurierung und als Rechtfertigung. Denn dem Zweifel und damit dem Zwang zur Rechtfertigung unterliegt Viollet-le-Ducs Arbeit aus Sicht seiner Kritiker aus zwei Gründen: weil sie uns an eine Vergangenheit kettet, die den Raum für wirklich Neues verstellt, und weil es sich dabei überdies um eine verfälschte, auf einer von Interessen der Gegenwart geleitete Interpretation handelt. „Restoration“, schreibt etwa John Ruskin, Viollet-le-Ducs großer englischer Widersacher und der andere große Propagator der Gotik im 19. Jahrhundert, in seinem Essay The Seven Lamps of Architecture von 1849, „is a lie from beginning to end“.3 Noch weiter geht Le Corbusier, der in seinem einflussreichen Manifest Vers une architecture von 1923 immer wieder vom „Schmutz der Vergangenheit“ spricht, den es abzuwaschen gelte, eine Formulierung, die in ihrer Hygienefixierung seiner Schweizer Herkunft geschuldet sein mag, die aber hauptsächlich auf Viollet-le-Duc und seine von ihm inspirierten Nachfolger zielt (nicht von ungefähr bezeichnet Corbusier die gotische Kathedrale, die paradigmatische Bauform für Viollet-le-Duc, als „Drama, nicht als Architektur“).4 Die Kritik an Viollet-le-Duc erinnert dabei in ihren Argumentationsweisen in auffälliger Weise an die Kritik, die im Bereich des Films am Historienfilm immer wieder vorgebracht wird. In der Filmwissenschaft etwa wird die Ausein andersetzung mit dem Historienfilm fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Ideologiekritik geführt und nicht im Rahmen von Diskussionen über Kunstwert und künstlerische Innovation. Die Geschichtswissenschaft wiederum nimmt sich des Historienfilms mit den Instrumenten der Quellen109
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Abb. 1: Eugene Viollet- le-Duc: Entwurf für eine Konzerthalle im gotischen Stil (datiert 1864), abgedruckt in: Viollet-le-Duc 1872, S. 95
Die romanische Architektur stuft Viollet-le-Duc als im Grunde unbeholfenen Versuch ein, mit stark reduzierten personellen und bautechnischen Ressourcen das System der römischen Architektur neu zu beleben. Mit der gotischen Architektur hingegen beginnt für Viollet-le-Duc etwas Neues. Der spitz zulaufende gotische Bogen und das daraus resultierende statische System, in dem eine Balance von Druckverhältnissen die Konstruktion von großen umbauten Räumen unter relativ geringem Aufwand an Material und Personal er112
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laubt, ist für Viollet-le-Duc eine bedeutsame Innovation und eine der großen Erfindungen der Architekturgeschichte.8 Sie macht die gotische Architektur zum eigentlichen Paradigma des Fortschritts und damit auch des neuzeit lichen, an die Idee des Fortschritts geknüpften Geschichtsbewusstseins.9 Viollet-le-Duc bringt diese architektonische Innovation mit der urbanen bürgerlichen Kultur des Hochmittelalters in Verbindung und schreibt sie einer anonymen Gruppe von Baumeistern zu, denen er eine dezidiert weltliche, dem konservativen Klerus gegenüber kritische Grundhaltung attestiert. Diese namenlosen Erfinder eines neuen, bürgerlichen Geistes der Innovation macht Viollet-le-Duc zugleich zu den Repräsentanten des „peuple“, des französischen Volkes und damit zu Protagonisten einer nationalkulturellen Großerzählung. Die Architektur, die sie entwickeln, ist für Viollet-le-Duc aufs engste verknüpft mit der Geschichte Frankreichs, mit den „conquêtes intellectuelles de notre pays“, den intellektuellen Errungenschaften des Landes, und dem französischen „caractère national“, einem Nationalcharakter, dessen Züge, Tendenz und Stoßrichtung sie wiedergebe.10 Damit fügt er dem Begriff der „Restau ration“ eine weitere Bedeutungsschicht hinzu, die über den architekturtheoretischen und kunsthistorischen Gebrauch hinausgeht. Begriff und Praxis der Restaurierungen zielen bei Viollet-le-Duc darauf, die Gotik als genuin französischen Beitrag zur Architekturgeschichte auferstehen zu lassen (um auch einmal die eschatologische Dimension des Begriffs ins Spiel zu bringen). „Restauration“ meint für ihn mithin auch, dass diejenigen, die die restaurierten Monumente begehen, eine Erfahrung der Geschichte der französischen Nation gewinnen.11 „Geschichte“ und „Nation“ sind, wie Reinhart Koselleck es formuliert, Kollektivsingulare, die an der Schwelle vom 18. Zum 19. Jahr hundert erstmals in ihrer modernen Bedeutung auftreten. Sie dienen als „Er fahrungsstiftungsbegriffe“, also als Begriffe, die überhaupt erst möglich und erfahrbar machen, was sie benennen.12 Zum Lexikon der Erfahrungsstiftungs begriffe des 19. Jahrhunderts gehört in diesem Sinne auch „restauration“ im Sinne von Viollet-le-Duc. Über Fragen der Kultur- und Gedächtnispolitik äußert sich Viollet-le-Duc in seinem umfangreichen theoretischen Werk, abgesehen von der zitierten Charakterisierung der Gotik als genuin französischer Baukunst, nicht ausdrücklich. 113
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Abb. 3: Screenshot aus The Ten Commandments (USA 1923)
Filmwissenschaft bis heute, weil Griffith in diesem Film Techniken wie die Großaufnahme und die Parallelmontage perfektioniert, wobei Stil und Inhalt beziehungsweise Gesinnung und Technik in der Diskussion jeweils gerne getrennt diskutiert werden: Der Inhalt ist reaktionär, wofür sich Griffith ja auch zwei Jahre später mit seinem Opus magnum Intolerance beim Publikum gleichsam entschuldigt; der Stil aber gehört zu den Marksteinen einer progressiven Stilgeschichte des Kinos.26 Weil er für eine progressive Stilgeschichte des Kinos weniger unverzichtbar ist, wird dagegen der Historienfilm-Spezialist Cecil B. DeMille, der kom merz iell mit Abstand erfolgreichste Regisseur der ersten Hälfte des 20. Jahr hunderts, in der Filmgeschichte in ähnlicher Weise mit Nichtbeachtung gestraft, wie dies die Architekturgeschichte lange Zeit mit Viollet-le-Duc gemacht hat. DeMille zählte zu den wenigen Regisseuren, deren Name einem breiten Publikum bekannt war – seine Zugkraft galt der eines großen Stars als vergleichbar. In seinen öffentlichen Auftritten stellte er sich stets als gelehrten Künstler dar, der seine Filme auf seriösen historischen Recherchen aufbaut, so etwa auch, wenn er sich am Anfang seiner zweiten Verfilmung von The Ten Commandments direkt an das Publikum wendet, um als Experte in seinen eigenen Film einzuführen.27 118
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Abb. 4: Die Setbauten für The Ten Commandments (USA 1923), Screenshots aus dem Dokumentarfilm Cecil B. DeMille: American Epic von Kevin Brownlow (USA 2004)
Er etablierte damit einen Modus der Legitimierung historischer Darstellung, der im amerikanischen Kino bis heute verwendet wird. Gleichwohl gelten DeMilles Verfilmungen biblischer Stoffe und historischer Epen der akade mischen Filmgeschichtsschreibung als Ausdruck einer künstlerisch wie politisch restaurativen Geisteshaltung, die es verdient, in Vergessenheit zu geraten.28 In ähnlicher Weise wie bei Viollet-le-Duc fällt DeMilles Kombination von restaurativem Gestus und produktionstechnischer Innovation durch den Raster einer Kritik, die einer Avantgarde den Vorzug gibt, welche alle Tradition mit revolutionärer Geste verabschiedet und sich stattdessen einer Auseinandersetzung mit der Essenz des jeweiligen künstlerischen Mediums zuwendet. Geschichte gilt dieser Kritik nur dann als angemessen dargestellt, wenn sie nicht im Modus der Restaurierung heraufbeschworen, sondern als Problem der Form reflektiert wird.29 Die eigentliche Frage ist aber nicht, ob der Historienfilm Kunst sein kann. Die Frage ist vielmehr die, welche Vivian Sobchack in einer phänomenologischen Studie des Hollywood-Historienfilms zu Beginn der 1990er-Jahre in einer ersten Skizze aufgeworfen hat:30 nämlich die Frage nach der „Restauration“ als Modus der Erfahrungsstiftung in der Moderne, ein Modus, der in der Architektur und im Film gleichermaßen seine Medien findet. 119
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„Zwischen zwei Aktionen, zwischen zwei Affekten, zwischen zwei Wahrnehmungen, zwischen zwei visuellen Bildern, zwischen zwei akustischen Bildern, zwischen dem Akustischen und dem Visuellen: das Ununterscheidbare, das heißt die Grenze sichtbar machen.“ Gilles Deleuze
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Prekäre Schauplätze: Der Film als das Unheimliche der Architektur Johannes Binotto
„All architecture is what you do to it when you look upon it, (Did you think it was in the white or gray stone? or the lines of the arches and cornices?)“1 Walt Whitman Wo Film ist, muss Raum werden. Selbst dort, wo die Kamera sich nur für die Charaktere des Films zu interessieren scheint, schleicht sich der Raum trotzdem immer mit ins Bild – sei es als Umgebung und Abstand zwischen den Akteuren oder sei es auch als bloße Entfernung, die zwischen den Darstellern und dem Objektiv liegt. Gerade dieser Zwischen-Raum aber ist für das Kino nicht zufällig, sondern konstitutiv: Würde nämlich die Kameralinse unmittel bar auf der Haut der Schauspieler kleben, wäre später auf dem entwickelten Film alles dunkel. Wo es an Raum fehlt, gibt es nichts zu sehen. Sichtbarkeit hingegen benötigt minimale Distanz. So zeigt sich der Raum im Film als Schau-Platz im doppelten Wortsinn: Nicht nur, dass er selbst als Szenerie und Handlungsort sichtbar wird, er ermöglicht zugleich erst, dass man überhaupt etwas erkennen kann. Obwohl selber so oft übersehen, bildet der Raum in Wahrheit die unabdingbare Grundlage des Sehens selbst.
Baumeister Kino-Auge Und doch begnügt sich der Film nicht damit, den Raum als schiere Notwendigkeit einfach in seine Gestaltung zu integrieren. Der Film baut vielmehr die von ihm gefilmten Räume laufend um. Im Film wird aus jedem gegebenen Schauplatz unvermeidlich ein anderer.
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„Ich bin das Kino-Auge. Ich bin ein Baumeister. Ich habe dich, heute von mir geschaffen, in die wunderbarste, bis zu diesem Augenblick nicht existierende und ebenfalls von mir geschaffene Kammer gesetzt. Diese Kammer hat 12 Wände, die ich in verschiedenen Teilen der Welt aufgenommen habe. Indem ich die Aufnahmen der Wände […] untereinander verbunden habe, ist es mir gelungen, sie in eine Ordnung zu bringen, [...] die nichts anderes als diese Kammer ist.“2 So schreibt 1923 der russische Regisseur und Filmtheoretiker Dziga Vertov in seinem Kinomanifest Kinoki und definiert damit das filmische Medium als eines, das den physischen Raum im selben Zug übersetzt, wie auch negiert: Der filmische Raum, so Vertov, setzt sich zwar aus Raumteilen der Realität zusammen – die zwölf Wände, welche die Kamera aufnimmt, haben irgendwo auf der Welt tatsächlich gestanden –, in ihrer Kombination aber wird aus diesen Wänden eine Kammer gebaut, die es in dieser Form einzig im Kino geben kann. Damit beschreibt Vertov das Verhältnis von filmischem Raum zur Realität als ein genuin unheimliches: Die Kammer des Films ist weder bestens bekannt noch völlig unbekannt, weder nur Abbildung, noch komplette Neuschöpfung, sondern vielmehr beides zugleich. Eben solche Doppeldeutigkeit aber ist es, welche Sigmund Freud sieben Jahre vor Vertov in seinem Aufsatz über „Das Unheimliche“ als dessen eigentliche Definition präsentiert hat.3 So arbeitet Freud anhand zweier ausführlicher Wörterbuchauszüge zum Wort „heimlich“ dessen merkwürdige Widersprüchlichkeit heraus,4 kann dieses doch sowohl „heimelig“/„vertraut“ als auch „versteckt“/„verborgen“ bedeuten. Daraus folgert er, „heimlich“ sei „ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.“5 Das Unheimliche ist weder heimelig vertraut noch völlig fremd, sondern oszilliert vielmehr zwischen diesen Gegensätzen. Und genauso verfährt auch der Film, wenn er vormals vertraute Raumteile zu irritierend fremdartigen Gebilden zusammenbaut. Auch und gerade im Kino gilt: Der heimelige Schauplatz ist irgendwie eine Art von unheimlich.
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Abb. 3: Hinein/hinaus: Screenshot aus Suspiria (IT 1977)
Es ist eine gewaltsame Zirkelbewegung, eine blutige extimité, wo das Externe ins Intime bricht, um sogleich das Innere nach draußen zu stoßen. Doch nicht nur der Arm des Monstrums, auch der Filmapparat selbst erweist sich als Werkzeug solch verstörender Desorientierung: Zum einen, indem die Kamera abrupt zwischen Außen- und Innensicht und zwischen der Perspektive des Opfers und jener des Angreifers wechselt. Zum andern wird ins besondere mittels Tongestaltung an diesem paradox-unmöglichen Raum m itgebaut: Wenn zu Beginn der Szene die Kamera von draußen durchs geschlossene Fenster ins Zimmer blickt, hören wir gleichwohl die Frau mit ihrer Freundin ganz klar und deutlich sprechen. Das Objektiv der Kamera ist zwar draußen vor dem Fenster, das Mikrofon aber ist drinnen im Zimmer. Bild und Ton, die beiden basalen Bestandteile des audio-visuellen Mediums, vermögen bei Argento komplementäre Orte zu besetzen. Der filmische Apparat als Ganzes wird damit von Argento als einer verwendet, der an zwei O rten zugleich sein kann, innen und außen im selben Moment. Wie ein Kommentar auf diese Raum-Paradoxien mutet dabei die Tapete an, die das Zimmer schmückt, zeigt sie doch ein Ornament aus Fischen und Vögeln, wie man es von den Grafiken des niederländischen Künstlers M. C. Escher kennt. (Abb. 3) Tatsächlich ziehen sich Eschers Zeichnungen und insbesondere seine Bilder unmöglicher Bauwerke leitmotivisch durch den ganzen Film. Nicht umsonst liegt die Tanzschule von Suspiria an der „Escherstraße“. Und ausgerechnet hinter einer Wandmalerei, welche die unheimliche Architektur aus Eschers Bild Belvedere zitiert, befindet sich der anfangs erwähnte Geheimgang. So wie auf den Bildern Eschers die Menschen unmögliche Treppen hochsteigen, 132
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Abb. 4: Escher-Räume: Screenshot aus aus Suspiria (IT 1977)
deren Ende nur wieder deren Anfang ist, so sind auch Argentos filmische A rchitekturen solche, in denen die Gesetze der Statik und Geometrie nicht greifen. Doch als Labyrinth, das sich wie das Möbiusband in Schlaufen dreht, wird der filmische Raum zum unentrinnbaren Gefängnis. So auch in Argentos Inferno von 1980, in dem unheimliche Architekturen zugleich das explizite Thema Handlung wie auch die den Film bestimmende Form darstellen. Unablässig durchstreifen die Figuren des Films auf der Suche nach verschwundenen, ermordeten Personen ein imposantes Wohnhaus, studieren dessen Pläne und lesen im obskuren Buch seines Architekten, als liege im Bau die Lösung für die wahnwitzigen Verbrechen, die in ihm geschehen. In der Tat: Wenn der Architekt des Hauses behauptet, der Schlüssel zu seinem Geheimnis liege „unter den Schuhsohlen“ seiner Bewohner, so sind diese Worte ganz wörtlich zu verstehen: Im Bau selbst liegt sein Geheimnis verborgen. Wie sich im Laufe des Films herausstellt, befindet sich ein geheimer Raum zwischen den Etagen, ein verborgenes Stockwerk, in dem das tödliche Grauen nistet. Das ist der Raum, aus dem der Mörder kommt, und zugleich der Raum, in dem die Opfer verschwinden. Die verborgene Etage ist ein unnützer, überflüssiger Raum und gerade dadurch eine ideale Lokalität für all das, was über die Alltagsrealität hinausgeht: ein Stauraum gleichsam für alles Verdrängte – mithin jener „andere Schauplatz“15 als den Freud das Unbewusste bezeichnet. Dieser andere Schauplatz des Unbewussten aber ist nicht ein in den angeblichen Tiefen der Psyche Verborgenes, sondern entäußert sich laufend, in endlosen Gängen, irreführenden Treppen und einbrechenden Wänden. (Abb. 5) 133
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das sie für besondere Konsumgüter braucht, und der Leere der Grünräume modernistischer Siedlungen. Juliette wirkt gelangweilt und scheint ziellos durch ihr Leben zu treiben. Sie wirkt genauso gelangweilt, wie Le Corbusier in der Karikatur. Die langweilige Monotonie der Siedlungen, wie sie Jane Jacobs kritisiert, lassen auch Juliette ohne Motivation zurück. Ziellos driftet sie durch eine Welt identitätsloser Zwischenräume Die „Realität“ ist hier ein „ensemble“, das in den grands ensembles wörtlich manifest wird: „Comme je l’ai dit, l’histoire de Juliette dans 2 ou 3 choses que je sais d’elle ne sera pas racontée en continuité, car il s’agit de décrire en même temps qu’elle, les événements dont elle fait partie. Il s’agit de décrire un ‚ensemble‘.“ – „Wie ich gesagt habe, wird die Geschichte von Juliette in 2 ou 3 choses que je sais d’elle nicht kontinuierlich erzählt, weil es darum geht, zur selben Zeit die Ereignisse zu schildern, von denen sie ein Teil ist. Es handelt sich darum, ein Ensemble zu beschreiben.“20
Vive la realité? Sowohl Pasolini wie Godard greifen auf die metaphorische Verschränkung von Architektur, Stadt, Gesellschaft und Individuen zurück, um über Prostitutions-, Körper- und Sprachmetaphern eine Kritik der kapitalistischen Gesellschaft zu formulieren. Sie machen das auf eine sehr subtile Art und Weise, gerade wenn wir sie mit anderen Filmen der Zeit vergleichen, wie Themroc von Claude Faraldo von 1973 oder Touche pas à la femme blanche von Marco Ferreri von 1974. Im ersten befreit sich der Protagonist, gespielt von Michel Piccoli, von seinen gesellschaftlichen Fesseln, indem er zu einer Art Höhlenmensch regrediert und dabei seine Wohnung wörtlich aufbricht, in Form eines wunderbaren Zerstörungs-Happenings. Im zweiten wird die Schlacht um Little Big Horn von 1876 zwischen Indianern und amerikanischer Kavallerie auf das zeitgenössische Paris übertragen und findet in der riesigen Baugrube statt, wo Les Halles gebaut werden. Der Film lebt von der absurden Gleichzeitigkeit der historischen Figuren in ihren Kostümen und dem Paris Anfang der 1970er-Jahre. Ferreri formuliert mittels sol182
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Abb. 4: Screenshot aus Themroc (FR 1973)
cher Überlagerung eine Kritik am Vietnamkrieg, aber auch an der Vertreibung der Menschen aus der Innenstadt von Paris in die Peripherie. Auch diese Filme arbeiten mit Metaphern, aber die Architektur und die Stadt bleiben in ihnen Hintergrund und verschmelzen nicht mit den Figuren. Vor allem aber negieren sie die vorgefundene „Realität“ zugunsten der filmischen Fiktion. Godard und Pasolini dagegen arbeiten mit der „Realität“, verlassen diese nicht, sondern überhöhen sie vielmehr ästhetisch durch ihre Metaphern. Während indes Pasolinis Kritik der Realität keine wirkliche Hoffnung er öffnet – sondern höchstens seine Liebe für die unterdrückten Gesellschaftsschichten und deren Räume offenbart –, scheint Godard doch eine gewisse Hoffnung auf eine Umkodierung des Gegebenen zu setzen, ganz im Sinne der Situationisten und ihrer dérive. In einem Kleiderladen hält Juliette folgenden Monolog: „Kein Mensch kann wissen, wie die Stadt von Morgen aussehen wird. Einige von den vielen Bedeutungen, die sie früher hatte, wird sie sicher verlieren. Ganz sicher. Ganz sicher. Vielleicht. Die bildnerische, schöpferische Rolle der Stadt wird übernommen von anderen Systemen der Kommunikation. Vielleicht. Fernseher, Radio. Satzbau und Wortschatz bewusst und entschieden. In einer neuen Sprache wird konstruiert werden müssen.“21 Es ist klar, dass Godard diese Umkodierung vor allem dem Medium Film und seiner eigenen Sprache zutraut. 183
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Abb. 5, Marco Ferreri, Touche pas à la femme blanche (FR 1974)
Dass 2 ou 3 choses que je sais d’elle einen gewissen Widerstand gegen den status quo erhebt, lässt sich denn auch an einem Detail erkennen: Bei allen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Filmen fällt auf, dass die Architektur, mit der die Protagonistinnen der beiden Filme assoziert werden, bei Mamma Roma eher vertikal ist (sowohl die Ruinen, wie auch die Palazzine), während sie bei 2 ou 3 choses (die „barres“ der grands ensembles) eher horizontal ausgerichtet ist. Dadurch entsteht in Godards Film eine Spannung zwischen der Vertikalität der Menschen (allen voran Juliette) und der Horizontalität der sie umgebenden Architektur.22 Diese Spannung steht einer vollständigen metaphorischen Verschmelzung zwischen Architektur und Körper, wie sie in Mamma Roma zu finden ist, im Weg. Wenn, dann ist die Metapher, welche Juliette und die grands ensembles verschmelzen lassen, eher in der Physiognomik und dem entsprechenden Zustand der Langeweile der beiden zu fi nden, in ihrem Unbeteiligtsein und ihrer Borniertheit. Bezeichnenderweise sagt Juliette an einer Stelle im Film: „Die Landschaft ist wie ein Gesicht.“23 Architektur und Film bei Pasolini und Godard sind weniger „Schwestern“ als vielmehr „Prostituierte“, die sich ihre Körper – verstanden als Medien, Charaktere, Bauwerke, Stadt –gegenseitig feilbieten. So findet die Architektur zu einer Sprache der Raumerfahrung, einer ihrer „Realitäten“, die sie in keinem anderen Medium auf diese Weise findet. Und erst so findet der Film zu einer Tiefe und Vielschichtigkeit, die es ihm erlaubt, die „Realität“ in spezifisch 184
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fi lmischer Weise zu reproduzieren. Die Sprache des Films wird dann zur Sprache der Architektur und umgekehrt. In den Worten von Juliette: „Die Sprache ist das Haus, in dem der Mensch wohnt.“ Dass dazu die „gewöhnliche“ Sprache nicht ausreicht, sondern es die besondere Bildsprache des Films braucht, betont hingegen die Sprache aus dem Off im Film: „Bild und Sprache durchdringen sich immer mehr. Wenn man das Leben heute in der Gesellschaft beschreiben will, kann man sagen, dass es jedenfalls so ist, als ob man in einer ungeheuren Zeichengeschichte leben würde, in einem Comic-strip, doch die Sprache reicht nicht aus, um ein Bild wirklich ganz zu erfassen.“24 Dazu braucht es den Film und seine Metaphern.
Coda Was aus Pasolinis und Godards Drehorten geworden ist, ist bekannt. Die Borgate von Rom sind mittlerweile mehr oder weniger im Gewebe der wachsenden Stadt eingegliedert worden und ihre Einwohner entweder abgewandert oder glückliche Mitglieder der piccola borghesia geworden. Die grands ensembles von Paris hingegen sind in jeder Hinsicht am Rand der Stadt geblieben: Ihre sozialen Probleme und Spannungen versucht man, insbesondere bei der Cité des 4000, schon seit 1986 durch die Sprengungen einzelner ihrer Blöcke zu lösen. Denkt man so Godards Film weiter, würde Juliette in diesem Prozess, in einer etwas unheimlichen Umwandlung, allmählich die Gesichtszüge von Carla Bruni, der späteren Madame Sarkozy annehmen, deren Gatte 2005 als Innenminister die Einwohner jener banlieue als „racaille“ – als „Gesindel“ apostrophierte. Kein Film mehr, der die grands ensemble zu retten versucht, nur die Realität, die mit sich selbst nicht klarkommt.
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„This Is Some Spooky Shit We Got Here“: Seltsame Topo|Logiken in David Lynchs Lost Highway Bernd Herzogenrath
In David Lynchs Lost Highway (USA 1996) sind Zeit und Raum buchstäblich aus den Fugen geraten – und mit ihnen das Gedächtnis, das als Kitt beides zusammenhält (oder zusammenhalten sollte). Lost Highway ist ein Erinnerungs palast, in dem sich das Subjekt – im Film, als auch im Publikum – verläuft, verliert, und wenn es nach langem Irren durch die Korridore wieder an der Orientierungstafel auftaucht und sich an dem roten Punkt (‚Sie befinden sich HIER‘) festhalten will, ist es ein anderes geworden.
Auch in Gilles Deleuzes beiden Kinobüchern Das Bewegungs-Bild und Das Zeit-Bild ist die Zeit nicht (mehr) linear. Seit seinem Beginn hatte der Film eine ganz besondere Beziehung zum Phänomen der Zeit. Der klassische Holly wood-Film, den Deleuze der Logik des „Bewegungs-Bildes“ zugehörig erklärt, arbeitete mit einer räumlichen Kontinuität, die der Bewegung der Protago nisten folgte. Zeit wurde (und wird) hier räumlich dargestellt: linear, logisch nachvollziehbar – diese Logik des „Bewegungs-Bildes“ entspricht mithin dem, was man in der Filmsprache „continuity-editing“ nennt.1 Deleuze zufolge fiel nach 1945 und angetrieben vom europäischen Nachkriegs kino diese filmische Logik zunehmend in eine Krise, mit dem Ergebnis, dass sich Linearität und Kausalität auflösten und die daraus erfolgenden Dis kontinuitäten es erlaubten der Zeit selbst, „in reinem Zustand“2 und nicht als Derivat des Raumes, als „Zeit-Bild“ auf der Leinwand zu erscheinen. In Henri Bergsons Zeitphilosophie, die Deleuze in seinen Büchern auf den Film bezieht, ist die Gegenwart das zeitliche Aggregat der Materie: Gegenwart wird somit als Aktualisierung, als absolute Identität von Bewegung, Materie und Bild gesetzt. Doch die Gegenwart spaltet sich in jedem Moment in zwei heterogene Richtungen auf, von denen eine in die Zukunft schreitet, und die andere jeden Moment der Vergangenheit aufbewahrt. 190
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Abb. 1: Schema aus Deleuze 1991, S. 380
Bergsons Idee einer Vergangenheit, die koextensiv mit der Gegenwart ist, konstituiert eine „ontologische Vergangenheit“, welche die unendlichen virtuellen Potenziale und (noch) nicht aktualisierten Aggregatzustände beinhaltet, ein dynamisches Gedächtnis, das keinem konkreten Subjekt eignet, eher ein „allgemeines Gedächtnis“, das auf das Subjekt trifft, von ihm aber nicht besessen werden kann.3 Während das „Bewegungs-Bild“ das Gegenwärtige fokussiert und so dem Aktuellen zugeordnet werden kann, manifestiert sich im „Zeit-Bild“ (insbesondere in den von Deleuze so genannten „Kristallbildern“) das Virtuelle – „Das Zeitbild ist verschieden von dem, was in der Zeit abläuft – es besteht in neuen Formen der Koexistenz, der Serialisierung, der Transformation.“4 So viel in aller Kürze als Voraussetzung zu Deleuze und Bergson. Deren Konzepte sollen im Folgenden auf die Architektur von Lynchs Film bezogen werden. Obwohl jeder Versuch, Lost Highway „erklären“ zu wollen, unweigerlich in einer Simplifizierung der komplexen Struktur des Films resultiert, muss dazu trotzdem kurz die Handlung des Films skizziert werden: Auf den ersten Blick erzählt Lost Highway die Geschichte von Fred Madison, einem Jazz-Musiker. Seine Frau Renee ist eine seltsam unterkühlte Schönheit. Der erste Teil des Films, die verstörende Studie einer Ehe-Hölle, konzentriert sich auf Freds Ängste und Unsicherheiten, die aus dem Ruder zu laufen drohen, als er argwöhnt, dass Renee ein Doppelleben führt. Renee steht im Zentrum von Freds Paranoia, ist sowohl Objekt der Begierde als auch Auslöser seiner Albträume. Im Verlauf des Films finden beide eine Reihe von Video kassetten vor ihrer Haustür, von denen die erste lediglich die Ansicht ihres Hauses zeigt. Die zweite zeigt das Paar aus einem nahezu unmöglichen Auf nahmewinkel im Ehebett. Das dritte und letzte Video schließlich zeigt Fred schreiend und blutüberströmt über Renees zerstückelten Leichnam gebeugt. 191
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Abb. 4: Das „Wurmloch“ zwischen Fred und Pete, Screenshot aus Lost Highway (USA 1996)
sodass es keine einzige Wahrheit oder Erklärung des Filmes geben kann: Wenn Alice Pete in der Wüste die Worte „You’ll never have me“ ins Ohr flüstert, so ist dies auch an uns, die Zuschauer von Lost Highway, gerichtet. So löst Lynch in Lost Highway meisterhaft die „Suture“-Nähte des klassischen Hollywood „Bewegungs-Bildes“ auf und ersetzt sie durch eine möbiale Verschaltung von Zeit, Raum, und Gedächtnis – Lynchs „Kunst der Fuge“.19
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Anmerkungen
Bibliografie
1
Bergson, Henri: „Die Erinnerung des Gegenwärtigen
Zum Prinzip des „continuity editing“ siehe Bordwell, Thompson 1990, S. 218–230
und das falsche Wiedererinnern“, in: Die seelische
2
Deleuze 1991, S. 112
Energie. Aufsätze und Vorträge. Übers. v. Eugen
3
Vgl. Bergson 1928
4
Deleuze 1993b, S. 178
5
Szebin und Biodrowski 1997
6
Vgl. Dayan 1974, Heath 1978, Oudart 1978
7
Vgl. Miller 1966
Brick Road“, in Cineaction 43 (Summer 1997).
8
Celeste 1997
http://www.thecityofabsurdity.com/papers/ce-
9
Vgl. Giffort 1997, und Official press Kit
10 Celeste 1997 11 Deleuze 1991, S. 113 12 Deleuze 1993a, S. 189. In der deutschen Über
Lerch. Jena 1928, S. 98–136 Bordwell, David; Thompson, Kristin: Film Art. An Intro duction. New York 1990 Celeste, Reni: „Lost Highway: Unveiling Cinema’s Yellow
leste8.html (letzter Zugriff 12.03.2017) Dayan, Daniel: „The Tutor-Code of Classical Cinema“, in Film Quarterly 23:1 (1974), S. 22–31 Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a. M. 1991
setzung von Logique du sens wird der Begriff
Deleuze, Gilles: Logik des Sinns. Frankfurt a. M. 1993a
„contre-effectuation“ mit „Gegen-Verwirklichung“
Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 1972–1990. Frankfurt
übersetzt – ich benutze stattdessen den Begriff „Gegen-Aktualisierung“, weil die Bezugnahme auf das Begriffspaar „aktuell|virtuell“ so deutlicher hervortritt. 13 Deleuze 1991, S. 132 14 Siehe z. B. Deleuze 1991, S. 19 15 Lynch illustriert diese Duplizität in einem Bild, das des Öfteren in Lost Highway zu sehen ist – der Straßenmittelstreifen: einmal als zwei parallele Linien (Simultaneität), einmal als durchbrochene Linie (Sukzession). Man beachte, dass hier der Mittelstreifen fast wie eine Naht aussieht – ein Hinweis auf die Funktion der Suture? 16 Kermode 1997 17 Vgl. Neofetou 2012
a. M. 1993b Gifford, Barry: „Lost Highway Interview“, in Film Threat (Februar 1997) http://www.lynchnet.com/lh/lhgifford.html (letzter Zugriff 12.03.2017) Heath, Stephen: „Notes on suture“, in Screen 18:4 (1978), S. 48–76 Hofstadter, Douglas: Gödel, Escher, Bach. An Eternal Golden Braid. New York 1979 Kermode, Mark: „Weirdo,“ in: Q Magazine (September 1997), http://www.thecityofabsurdity.com/losthighway/intlhqmag.html (letzter Zugriff 12.03.2017) Miller, Jacques-Alain: „Suture. Elements pour une logique du signifiant“, in: Cahiers pour l’analyse 1 (1966), S. 37–49 Morris, Michael; Thorne, Kip; Yurtsever, Ulvi: „Worm
18 Vgl. Morris e. a. 1988
holes, Time Machines, and the Weak Energy Condi-
19 Douglas Hofstadter geht in Gödel, Escher, Bach
tion“, in: Physical Review Letters 61 (13) (1988),
auch auf die Fugen Johann Sebastian Bachs ein, die zu ihrer Zeit berühmt-berüchtigt waren. Wie Lynchs Filme hielten manche Zeitgenossen sie für Meisterwerke, andere wiederum taten sie als pompös und konfus ab. Für Hofstadter sind Bachs Fugen besonders wichtig aufgrund ihrer Struktur, jener Struktur, die Hofstadter als selbstbezügliche und „seltsame Schleifen“ bezeichnet. Ein besonders
S. 1446–1449 Neofetou, Daniel: Good Day Today. David Lynch Destabi lises The Spectator. Winchester & Washington 2012 Official Press Kit für Lost Highway http://www.lynchnet. com/lh/lhpress.html (letzter Zugriff 12.03.2017). Oudart, Jean-Pierre: „Cinema and suture“, in Screen 18:4 (1978), S. 35–47 Szebin, Frederick; Biodrowski, Steve: „A surreal medita-
herausragendes Exemplar solcher Schleifen ist –
tion on love, jealousy, identity and reality“, in Cine
das Möbiusband. Vgl. Hofstadter 1979
fantastique (April 1997) http://www.lynchnet.com/ lh/cinelh.html (letzter Zugriff 12.03.2017)
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„Mit einem Stereokopfhörer hört man in einen akustischen Raum hinein, in dem man sich selbst nicht befindet und der nirgendwo existiert außer in den Ohren. In gleicher Weise schauen wir in den Film hinein. Das Bild steht über den dunklen Rahmen der Leinwand über und setzt sich im Unsichtbaren fort. […] Wir setzen das Nötige, was an den Bildern, am Spiel, am Sichtbaren fehlt, hinzu – unsere Aufregung, unseren Weitblick, unsere Hoffnung und unsere Beteiligung.“ Hartmut Bitomsky
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In der Stadt der bewegten Bilder. Der öffentliche Raum als Kino der Attraktionen Fred Truniger
Mobilität ist nach Henri Lefebvre die wirksamste „urbane Praktik“ der „Produktion von Raum“.1 Sie beeinflusst maßgeblich, wie wir unsere Umgebung wahrnehmen. Der Standardmodus dieser urbanen Mobilität ist die Eile. Täglich bahnen sich Menschen ihre Wege durch die an Knotenpunkten zusammenströmende Menge, den schnellsten Weg zum Ziel im Auge. Sie nehmen auf diesem Weg dutzende Reize wahr, die in ihren Nahraum eindringen. Routiniert verarbeiten sie sie, unterscheiden dabei Wichtiges von Unwichtigem oft ohne bewusste gedankliche Prozesse. Infolge der ständigen Anbindung an das Internet durch die Mobiltelefone scheint sich das Verhalten der Benutzerinnen des öffentlichen Raums inzwischen aber umgekehrt zu haben: Während früher der Wahrnehmung und Bewältigung des Weges das Hauptaugenmerk galt, scheinen heutige Pendler ihre Konzentration mehrheitlich auf das mobile Display zu richten. Das Gehen in der Stadt ist zu einer weiteren Gelegenheit geworden, professionelle oder soziale Kommunikation aufrecht zu halten. Sichtbar wird das nicht nur an in Telefongespräche vertiefte Passantinnen, sondern zunehmend auch dara n, dass, den Blick auf das mobile Display geheftet, viele von ihnen die notwendigen Wege nur noch mit beiläufiger Aufmerksamkeit auf das periphere Gesichtsfeld und unter gelegentlichem Aufblicken hinter sich bringen. Seit bald zehn Jahren kann eine Zunahme von handybedingten Unfällen festgestellt werden.2 Audiovisuelle Medien haben als stationäre und mobile Bildschirme den öffentlichen Raum grundlegend neu definiert. In der Stadt erwartet uns nicht mehr nur die Präsenz des Unmittelbaren, sondern auch eine medial vermittelte Naherfahrung. Stationäre und mobile Displays unterschiedlicher Technologien bieten uns virtuelle Realitäten an. Nähe, wie sie ehedem die Öffentlichkeit im urbanen Raum bestimmte, kann nicht mehr nur physisch, sondern 222
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auch mediatisiert entstehen. 3 Man fühlt sich auf den täglichen Pendler-Kursen der Empfängerin von Textnachrichten oder dem Absender von Bildbotschaften näher als der Sitznachbarin, mit dem die Kommunikation auf das Allernotwendigste beschränkt bleibt. Stadtbewohner entscheiden angesichts der medialen Reize des Stadtraums nicht mehr nur zwischen zerstreuter Aufmerksamkeit und (zeitlich begrenzter) situativer Konzentration, sondern muten sich zusätzlich und gleichzeitig die Wahl zwischen der Teilhabe am öffentlichen oder an einem halbprivaten Raum zu, in dem Nähe gleichzeitig ein Erlebnis von Distanz bedeutet. Filmische Bewegtbildmedien im öffentlichen Raum machen uns also zwei unterschiedliche Kommunikationsangebote: Da ist zum einen die soziale Kommunikation, meist basierend auf den eigenen, kleinen, mobilen Bildschirmen, entwickelt über Text- und Bildnachrichten. Sie folgt gemeinhin dem übergreifenden Narrativ des in Fragmenten erzählten eigenen Lebens. Die zweite Form der Kommunikation, auf die ich mich in diesem Beitrag hauptsächlich beziehe, unterscheidet sich davon vor allem durch die nicht- intrinsische Motivation ihrer Inhalte. Sie umfasst heute mehrheitlich Werbung, News und Unterhaltung, setzt je nach Ort und Kontext Texte, Bilder, bewegte Bildmedien ein und verwendet als Kanal vor allem öffentliche Displays – in Zukunft aber vermehrt wohl auch Handybildschirme. Eine weitere, formal wichtige Unterscheidung zwischen beiden Medienformen ist das Fehlen einer Tonspur bei den Bewegtbild-Displays im öffentlichen Raum – anders als jene berühmten, riesigen Displays in Ridley Scotts Film Blade Runner (USA 1982) sind diese Out-of-home-Displays oder stationären Urban Screens in unseren Stadträumen unter anderem aus sicherheitstechnischen Gründen und im Interesse der Lärm-Hygiene ihrer potenziellen Audio-Spur beraubt. Rein akustische Signale sind als Warnhinweise dem Verkehr vorbehalten. Eine (Ab-)Lenkung durch Geräusche ist im Zusammenhang mit öffentlichen Bewegtbildmedien also in den meisten Fällen ausgeschlossen. Wenn im Folgenden danach gefragt werden soll, wie bewegte Bilder auf dem umkämpften Feld der Aufmerksamkeitsökonomie im urbanen Raum erfolgreich sind und das Erlebnis von Stadt bedeutend mitprägen, kann die Tonspur meist außer Acht gelassen werden – im Bewusstsein, dass damit ein Teil der 223
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dass sie in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeitspanne verstanden werden können. Die Form dieser „Ultrashorts“ ist vielgestaltig. Sie passt sich jeweils den kommunikativen Funktionen und den Gegebenheiten der Emission an. Es lassen sich jedoch Strategien identifizieren, die für die Aufgabe, ultrakurz zu kommunizieren, offenbar besser als andere geeignet sind und daher häufig eingesetzt werden. Darunter fallen unter anderem Formen der Verkürzung, aber auch die Serialisierung von Botschaften. Besonders deutlich wurde das mit der Smartphone-App Vine, welche die Möglichkeit gab, über ein ebenfalls vereinfachtes Interface Handy-Clips von exakt sechs Sekunden Dauer zu produzieren und direkt online zu schalten. Der Dienst, von Twitter 2013 gekauft und lanciert, wurde Ende 2016 eingestellt, die Archiv-Webseite ist jedoch heute noch online abrufbar.12 Bereits ein Blick in die Überblicksseiten, auf welchen die einzelnen Vines als Vorschaubild dargestellt werden, zeigt Tendenzen der Bildgestaltung: meist deutliche Figur-Grund Unterscheidungen, extreme Close-ups, enge Kadragen, reduzierte Bildhintergründe, Konzentration auf Gesichter und Figuren sowie teilweise stark reduzierte Farbpaletten oder die Verwendung von leuchtenden Farben für das zentrale Bildelement. Die Clips weisen darüber hinaus in der Eröffnungsphase oft eine Kamerafahrt oder einen Zoom auf die Handlungsträgerin (Person oder Ding) auf, mit welcher die Konzentration und Fragmentierung der Bildinformation noch erhöht werden. Natürlich ist es die radikal reduzierte Rezeptionszeit, die es im Regelfall notwendig macht, Bilder so zu gestalten, dass sie auf einen Blick erfasst werden können. Der hauptsächliche visuelle Inhalt wird zentral ins Bild gesetzt und durch wenige Hintergrundreize begleitet, weil ansonsten die Aufmerksamkeit abgelenkt würde. Im Realfilm geschieht dies beispielsweise durch Unschärfe oder die Wahl eines monochromen Hintergrunds. Animierte Filme generieren ihre Bilder dagegen von Grund auf. Sie reduzieren die visuelle Komplexität, indem sie den Hintergrund möglichst einfach halten.13 Die Tendenz zur Zentralisierung der Bildinhalte und zum Close-up wird durch die Verwendung von Ultrashorts auch auf Plattformen, die wir auf unseren Mobiltelefonen konsumieren, noch verstärkt, denn auf kleinen Displays sind allzu detailreiche Bilder kaum mehr lesbar. 228
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Abb. 3: Screenshot der Übersichtsseiten von www.vine.co mit den „Editor’s Picks“
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„Die Architektur projiziert einen Raumentwurf in die dreidimensionale Welt. Der Film nimmt diesen Raum und übersetzt ihn in zweidimen sionale Bilder, die uns in der Zeit vorgeführt werden. Im Kino erfahren wir so etwas Neues: einen Gedankenraum, der uns über Gebäude meditieren lässt.“ Heinz Emigholz
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