BLANK MAGAZIN April 2009

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FACE YOUR MAGAZINE BOCK AUF BOX EN:

SEK

ZEITEN

JAN OFF ÜBER POLIZEIGEWALT

EDNEW f 4,00

MUSIK: Alev Lenz, The Dø, Maximilian Hecker, Kilians MODE: Miriam Schaaf, Devaki LITERATUR: Sarah Kuttner, Dimitri Glukhovsky, Ariane Sommer HEFT ZWEI: Wo ist der neue Feminismus?



APRIL 2009

ZEITEN

WENDE von Till ErdEnbErgEr

W

ir erinnern uns: Hans Söllner sprach von Krieg in unseren Straßen, Toten und Verderbnis. Kurz: Der Auflösung der Verhältnisse. Die „Killed By 9V Batteries“ berichteten vom Indierock unterhalb der Armutsgrenze, Athen brennt und Jan Off hat‘s gesehen. Wir glaubten an das Gute, auch wenn es nicht so wirkte. Gefreut hat uns das positive Feedback auf die „Jesus“-Ausgabe, das uns erreicht hat – neben genug Anwürfen, Pöbeleien und berechtigter Kritik. Wir arbeiten weiter. Oder besser: Wir haben es bereits getan, denn hier kommt unsere zweite Ausgabe. Mitten rein in die Krise, die Kohle ist immer noch nicht da und der Frühling lässt Mitte März auch noch auf sich warten. Der April steht unter dem Schein der „Zeitenwende“. Denn dass sich gerade was dreht, dürfte unstrittig sein. Aber wir machen auch diesmal nicht mit, bei dieser „Ach du scheiße, oh weh, oh weh“-Nummer, sondern deuten die Situation um. Wenn sich was dreht, dreht sich alles und am besten um eine feste Achse. Das Schöne an einer vollendeten Drehbewegung ist die Tatsache, dass man sich nach allen Richtungen orientieren kann. Eine Gelegenheit, Scheitern als Chance, um mit Schlingensief zu claimen und zu hoffen. Hauptsache, das Ding bleibt in Bewegung. Das ist was Gutes. Wir wollen nicht in die Weltuntergangsstimmung mit einstimmen und bleiben dabei: Gesellschaft, Diskurs, Disko. In den Minuten, in denen dieses Editorial seine Geburt vollzieht,


hat ein Schüler im württembergischen Winnenden gerade 15 Menschen erschossen und das Motiv ist noch völlig unklar. Und es manifestiert sich der Gedanke, dass Elend völlig subjektiv ist. Wenn uns niemand im Schwitzkasten hält, erledigen wir das scheinbar auch gerne selbst. Ohnmacht, Hunger nach mehr, Angst vor weniger lassen auch den Westbürger taumeln. Und dennoch: Im Land der Dichter und Denker geht es noch nicht um Leben und Tod, sondern (noch?) um Abstufungen des relativen Wohlstands. Der struggle of life ist ein struggle for Aufmerksamkeit, Bequemlichkeit und soziale Anerkennung. Um mehr geht es hier doch gar nicht. Intellektuell abgehängt sein, die white trashisierung einstmals ambitionierter Mittelschichten ist Mainstream und die „Elitenbildung von unten“ läuft auf Hochtouren. Wenn der Frust regiert und die einfachste Nachricht eine schlechte ist, ist nicht die Zeit für Tiefgang. Das suggeriert zumindest das weiße Rauschen, das der Blätterwald erzeugt. Dabei ist es doch eigentlich ganz anders. Wir hatten bereits im letzten Heft jenen – nicht als programmatisch zu verstehenden – Satz von Karl Kraus aufgegriffen, den man nicht nur in philosophischen Zirkeln kennt. Den von der Sonne der Kultur, Zwergen und langen Schatten. Zeitenwende. Wer heute eine Zeitung kauft, ist Bohème und wer ein Magazin seinen Freund nennt, ist bereits Elite. Warum also nicht mal zugreifen? Zeig mir dein Magazin und ich sag dir, wer du bist. In unserem Falle stellen wir uns das nach Auswertung der Reaktionen auf Ausgabe 1 so vor: Du bist geistig engagiert, aber hast den festen Willen, auch mal ein bisschen „laid back“ unterwegs zu sein. Du willst Musik, die noch nicht jeder kennt, aber Indie willst du dich nicht nennen. Kultur? Gerne, aber nicht institutionalisiert, sondern lebendig. Du

bist ein guter Mensch, denn du magst uns. Du wirst als Gewinner aus der Krise hervor gehen. So. Es ist ein weit verbreiteter Trugschluss, dass man zuerst vor der eigenen Haustür kehren soll. Wer das nämlich ununterbrochen tut, hat irgendwann alle Kanten weg poliert und verpasst darüber hinaus die Möglichkeit, sich den Blick über den Tellerrand hinaus zu bewahren. Und deshalb stellen wir den Besen an dieser Stelle für einen Moment in die Ecke und lassen stattdessen den Blick schweifen. Durchs Heft zum Beispiel. Denn es gibt wieder viel zu sehen. Die Schauspielerin Cosma Shiva Hagen ist nicht nur die „Schönste Frau Deutschlands“ (BUNTE), sondern darüber hinaus – es ist angebracht zu sagen: weit darüber hinaus – eine engagierte Weltbürgerin. Sie sorgt in diesem Monat für das Herzstück des BLANK – sechs Seiten Reportage von ihrem Einsatz für den Gedanken des fairen Handels. Fair gehandelte Baumwolle ist einer der Drehs, der die Sache für das „Land der ehrenwerten Menschen“ am Laufen halten kann. Zugegeben, dort geht es um mehr als Magazine, Verblödung und Meinungsmache. Zeitenwende? Unbedeutend mutet da die Nachricht an, dass die Redaktionsleitung des BLANK wechselt. Zeitenwende mikro, sozusagen. Zwei Ausgaben lang durfte ich bei diesem mutigen Feldversuch wider die Verrohung der sozio-kulturellen Sitten mitmischen und mitgestalten. Jetzt ist es Zeit, das nicht etwa sinkende sondern unter volle Segel gesetzte Schiff zu verlassen. „Kann was Großes werden“, hieß es in einer Kritik zur ersten Ausgabe. „Muss“, möchte ich verbessern und übergebe den Staffelstab an die Nachfolge. Der Rest ist wie immer: Gesellschaft, Diskurs, Disko.


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7 ZEitEnwEndE Was sich ändern kann, muss und niemals wird.

18 Bock auf BoxEn: SEk Volkssport Demonstrantenprügeln? Jan Off auf Tuchfühlung mit dem Staat in grün.

24 VErSchlimmBESSErn Nilz Bokelberg auf Konfrontation mit dem Unterbewusstsein

26 in Burkina faSo gEht diE SonnE auf Baumwolle ist Hoffnung für eines der ärmsten Länder der Welt. Cosma Shiva Hagen erklärt, wie wir diese Hoffnung nähren können.

34 Buch- und Blattkritik Benedikt Wells, Pedro Páramo, Christian Mørk, Dimitry Glukhovksy

38 um nichtS VorwEgZunEhmEn, aBEr… Roman Libbertz mit und über Sarah Kuttner und ihren Roman „Mängelexemplar“

40 alS ich EinSt prinZ war Die Designerin Miriam Schaaf schneidert für die modernen Monarchen. Ein Interview.

48 kEin altEr hut Von Doherty, Stadlober, Sinatra zu Müllermeierschulze.

55 Ein Stück indiVidualität Die Designerin Devaki über Hüte, Stil- und Standortfragen

56 grauSam und Schön Die „Piet Show“ ist nicht nur das Online-TV-Format von StudiVZ sondern auch erfolgreich. Was bei MySpace floppte, geht bei StudiVZ in die zweite Runde.

58 kriSEngEwinnlEr Was RATM für die Neunziger waren, sind Rise Against für die politische Neuzeit: Die Garanten für die gesellschaftliche Relevanz des Rock‘n‘Roll!


60 A heartful Indie-Pop aus Frankreich. Hübsche Menschen, hübsche Lieder.

63 Das rappende Inferno Yo! Majesty sind die „Gay Godesses of Rap“. Für ein Konzert kamen sie nach Deutschland. Kritisches Potenzial.

64 Die Unendlichkeit der Seele Maximilian Hecker ist bei uns „indie“ und in Asien ein Popstar. Und was ist er in der Zwischenzeit?

68 „Ich sehe meine Seele nicht verkauft, wenn wir Klingeltöne anbieten“ Die Kilians entdecken auf ihrem aktuellen Album die Lust am Diskurs.

70 Und zwischendrin: Am liebsten Stille Alev Lenz ist das „Piano Playing Fräulein“, Weltenbürgerin und vor allem verdammt nett.

74 Neue Tonträger Tiga, Two Fingers feat. Sway, The Marmaduke Duke, Mongrel

76 BLANK empfiehlt im April 2009 Sia, Filmfest Dresden, John Rabe u.a.

79 Horoskop Widder ist Trumpf im April. Und es sieht gut aus.

80 Impressum 81 Leserfeedback/Abonnement 82 Register HEFT ZWEI Mehr. Viel mehr. Von allem. Literatur, Musik, Kunst. Lang, das auch. Dafür ohne Fotos. Der Extraschub zum Schluss. Literatur: Amon Barth – Zeitenwende Aus – Eine Hinterhofgeschichte von Roman Libbertz Ariane Sommer – Der Geschmack von Beton Kunst: Du hast keine Chance, aber nutze sie – Eine Herbert Achternbusch-Werkschau Musik: We will flash our mental genitals for you – A Camp im Interview Blattkritik: Teresa Bücker über das Missy Magazine


ZEITEN

WENDE WAS SICH ÄNDERN KANN, MUSS UND NIEMALS WIRD.

avantgarde der Skateboarder Unter dieser Überschrift gab es in der Süddeutschen Zeitung zuletzt einen Artikel zu lesen, der sich mit dem Wandel der amerikanischen Suburbs beschäftigte und, wahrscheinlich nur um die die fresh-klingende Headline zu erklären, unter anderem auch davon berichtete, wie sich Skateboarder die Pools leer stehender Villen nutzbar machen und so der Verbreitung des West Nile Virus entgegenwirken. Ansons-

ten spielte die Avantgarde der Skateboarder in diesem Beitrag keine Rolle. Doch irgendwie hat sich die Coolness einer Generation, für die der urbane Spielplatz stets Transit und Traum zugleich darstellte, gesellschaftlich und kulturell längst etabliert und die Avantgarde ist schon vor geraumer Zeit angekommen, nicht nur in den Suburbs, auf der Suche nach leerstehenden Pools.

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der rauschende Blätterwald Was liest dieser Mann? Vielleicht ein neues Magazin im Stile von Missy, Blonde oder Alley Cat? Wohl kaum, Männer sind hier als Zielgruppe zwar erwünscht, aber nicht erklärt. Vielleicht liest er ja das als politisch gedachte Meinungsmedium Freitag oder die handlichen Ausgaben von Welt Kompakt oder Frankfurter Rundschau. Wer weiß. Vielleicht hat dieser Mann mit

all dem auch überhaupt nichts zu tun und sucht in seiner täglichen Lektüre schon lange einfach nur Anzeichen dafür, dass die Krisen nicht schlimmer werden, dass es endlich dauerhaften Frieden oder wenigstens wieder Stellenangebote gibt. So wird es sein. In Skopje ist man noch weit weg von anbiedernder Pop- und Verdrängungskultur.


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da war doch was ? Zuletzt hat das, was sich da in China gelegentlich repräsentativ voll versammelt, ein Hilfspaket in Höhe von 400 Milliarden Euro beschlossen, um die Wirtschaft, vornehmlich die eigene, zu sichern und zu stabilisieren. Es scheint, als wäre der Global Player China endgültig im Kreis derer, die nicht nur das ei-

gene System kontrollieren, angekommen, auch wenn man nicht weiß, was man davon halten soll, wenn all die Probleme, die uns moralisch noch mehr bewegen, hinter dem Mantel der weltweit kooperierenden Systemerhaltung versteckt werden. Alles für den Markt. Wenig für die Menschen. Nicht nur in China so.


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hey Staat, hey Staat, hey Staat! Wer besch端tzt hier wen? Und warum? Und wer kann sich 端berhaupt dazu motivieren ohne das Gef端hl zu haben, allein auf weiter Flur zu sein? Was ist Sicherheit

und wer kann heute Sicherheit garantieren? Wer hat die richtige Sprache f端r die richtigen Fragen? Hey Staat, was bist du? Wer bist du?


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Brachland In Berlin gibt es wieder Platz. Mitten in der Stadt. Sozusagen an ‚historischer’ Stelle. Und plötzlich ergeben sich ganz neue Perspektiven, der Blick wird frei, neue Ein- und Überblicke gewährt. Und es scheint fast so, als würde diese Freifläche atmen, tief und anhaltend, still und

zufrieden. Eine Momentaufnahme. Ein Gedanke. Schon 1966 schrieb Alexander Mitscherlich: „Die gestaltete Stadt kann „Heimat“ werden, die bloß agglomerierte nicht, denn Heimat verlangt Markierungen der Identität eines Ortes.“ Einatmen. Ausatmen.



Partybunker vs. Schießstand Tobias Rapp hat wohl mal vor einiger Zeit in der taz den Begriff des „Pornpop“ geprägt, eine Wortschöpfung die so unmittelbar im Pop verhaftet blieb, dass die Aussage, dass der Pornographie keine Subversionskonzepte zu Grunde liegen und sie im Herzen des Pop-Mainstream stattfi ndet, tatsächlich bis heute keine wesentliche Rolle mehr im Denken einer Generation gespielt hat. Doch um ‚Pop’ und ‚Pornographie’ im weitesten Sinne, geht es auch in Tobias Rapp Buch-Hommage „Lost and Sound – Berlin, Techno

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und der Easyjetset“, eine etwas unmotivierte Textsammlung, die versucht den Berliner Party-Kosmos um Clubs wie Berghain, Weekend und Bar25 zu bebzw. zu umschreiben. Doch die Wahrheit ist weniger auf Vinyl als in Pillenform gepresst und jede noch so schöne persönliche Annährung verliert sich in den Restrealitäten einer Bewegung, die sich schon längst dafür entschieden hat, das eigene Leben und Erleben vor die Bedürfnisse und Nöte einer Zivilisationsgemeinschaft zu stellen.


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BOCK AUF

BOXEN:

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TexT JAn OFF FoTograFie lUCJA rOMAnOWSKA

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resden am 14.02. gegen sechzehn Uhr: Gerade hat die Stadt einen der größten europäischen Naziaufmärsche des letzten Jahrzehnts über sich ergehen lassen, als sich zwischen drei- und vierhundert Gegendemonstranten an der Synagoge unweit der Carolabrücke versammeln. Sie sind überwiegend in schwarz gekleidet und zumeist nicht älter als fünfundzwanzig, legen aber im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung eine unverkennbar passive Haltung an den Tag. Viele sind gekommen, um das Gebäude und die Menschen, die sich in ihm befinden, vor mehreren Nazigruppen zu schützen, die in nicht allzu großer Entfernung auf der St. Petersburger Straße gesichtet wurden. Einige Wenige nutzen das kleine Lagerfeuer unter einem von den christlichen Pfadfindern bereitgestellten Zelt, um die eingefrorenen Gliedmaßen aufzutauen. Andere warten hier auf die Reisebusse, die sie zurück in ihre Heimatstädte bringen sollen. So weit so unspektakulär. Die angekündigten Nazis lassen sich nicht blicken. Dafür erscheint plötzlich die Polizei mit drei Wasserwerfern und einer unüberschaubaren Anzahl behelmter Beamter auf dem Plan. Über Lautsprecher ertönt die zweimalige Aufforderung (erforderlich sind drei), die Versammlung umgehend aufzulösen und sich über die Brücke in Richtung Dresdner Neustadt zu entfernen. Dann stürmen auch schon die ersten Einheiten mit gezogenen Knüppeln in die Menge. Die hatte bereits nach der

ersten Durchsage damit begonnen, sich zu zerstreuen – die Lust, sich bei Temperaturen um den Gefrierpunkt einer kalten Dusche auszusetzen, war verständlicherweise gering. Was allerdings als halbwegs geordneter Rückzug begonnen hat, entwickelt sich nun schnell zur panischen Flucht. Hinten drischt die Polizei auf alles ein, was sich nicht rasch genug in Sicherheit bringen kann, vorne

»Den traurigen Höhepunkt stellen gezielte Schläge auf die Finger eines Gegendemonstranten dar, der bereits am Geländer hängt, sich aber nicht loszulassen getraut.« behindern sich die Menschen in ihrem Bemühen, auf die Brücke zu gelangen, immer wieder gegenseitig. Im Gleisbett der Straßenbahn kommt es dabei zu hässlichen Stürzen. Blindlings fliegen ein paar Flaschen in Richtung der Angreifer, landen aber zumeist in den eigenen Reihen. Als endlich das andere Ende der Bücke, also vermeintlich rettendes Terrain

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Die Aus端bung des Demonstrationsrechts: zunehmend ein Spiel mit dem Feuer.


»Provokationen, Beleidigungen, übertriebene Härte – wer das polizeiliche Vorgehen bei vergleichbaren Ereignissen über die letzten Jahre hinweg beobachtet hat, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier nach und nach die Hemmschwelle gesunken ist.« in Sicht kommt, zieht auch dort plötzlich eine Polizeikette auf. Ihr Ziel: Die herannahenden Antifaschisten auf keinen Fall vorbeizulassen. Nun wird die Situation vollends unwirklich. Während die Einheiten am Ende des Pulks die Flüchtenden nach wie vor von der Brücke prügeln wollen, versuchen ihre Kollegen auf der Gegenseite, genau das zu verhindern. Dabei wird ebenfalls rege vom Schlagstock Gebrauch gemacht. Viele der Eingekesselten wissen sich daraufhin nicht mehr anders als mit einem Sprung in die Tiefe zu helfen. Den traurigen Höhepunkt dieses gespenstischen Szenarios stellen schließlich gezielte Schläge auf die Finger eines Gegendemonstranten dar, der bereits am Geländer hängt, sich aber nicht loszulassen getraut. Für einige der derart Malträtierten ist dies bereits der zweite gewaltsame Übergriff des Tages. Schon während der vorausgegangenen Demonstration war es von Seiten der äußerst aggressiven Sicherheitskräfte beim Versuch, den Teilnehmern die genehmigte Route zu verwehren, zu absichtlichen Faustschlägen ins Gesicht und dem massiven Einsatz von Pfefferspray gekommen. Dabei wurden nicht zuletzt einige unbeteiligte Personen verletzt. Für Menschen, die die eigene Meinung regelmäßig im öffentlichen Raum vertreten, aber auch für zahlreiche Fußballfans, stellen derartige Erlebnisse mittlerweile keine Seltenheit mehr dar. Provokationen, Beleidigungen, übertriebene Härte – wer das polizeiliche Vorgehen bei vergleichbaren Ereignissen über die letzten Jahre hinweg beobachtet hat, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier nach und nach die Hemmschwelle gesunken ist. Da passt es ins Bild, dass bei einer

Berliner Einsatzhundertschaft im November 2008 mehrere privat beschaffte Quarzsandhandschuhe gefunden wurden. Deren Gebrauch ist zwar im Einsatz verboten, da er unverhältnismäßige Schäden nach sich ziehen kann, das scheint aber nur die wenigsten Beamten zu stören. Laut Eberhard Schönberg, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei (GdP) benutzen „viele der Kollegen die Handschuhe seit Jahren“. Gegen sieben der Berliner Bereitschaftspolizisten wird nun dienst- und strafrechtlich wegen des Verdachts der Körperverletzung im Amt ermittelt. Neben dieser verbotenen Form der Bewaffnung gibt es aber durchaus auch legale Gerätschaften, die geeignet sind, die Effizienz gewalttätigen polizeilichen Vorgehens zu steigern. Hier sind in erster Linie der Teleskopschlagstock sowie ein Äquivalent aus Rattan zu nennen, das hauptsächlich im Kampfsport Verwendung findet. Der Erstgenannte darf seit April letzten Jahres von Privatpersonen nicht mehr auf der Straße mitgeführt werden, letzterer ermöglicht

auf Grund seines geringen Gewichts eine deutlich erhöhte Schlagfrequenz. Zu finden sind beide in erster Linie bei so genannten Spezialeinheiten, mit denen sich Ansammlungen vermeintlicher „Störenfriede“ zunehmend häufiger konfrontiert sehen. Ob sie nun Spezialeinsatzkommando (SEK), Mobiles Einsatzkommando (MEK), Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) oder wie in Bayern Unterstützungskommando (USK) heißen, es sind hauptsächlich diese Einheiten, die noch in einer anderen Hinsicht negativ auf sich aufmerksam machen: Sie tragen den ihnen zugestandenen Protektorenschutz mit Vorliebe über der Kleidung, was im Falle eines Handgemenges ebenfalls das Verletzungsrisiko der Gegenseite erhöht. Darüber hinaus treten ihre Mitglieder gern mit über den Kopf gezogenen Sturmhauben in Erscheinung, womit sie noch schwerer zu identifizieren sind als ihre unvermummten Kollegen. Das macht es im Falle einer Anzeige natürlich unmöglich, konkrete Tatverdächtige zu ermitteln. Wenn man sich allerdings ansieht, wie selten Anzeigen gegen Polizeibeamte überhaupt eine Verurteilung nach sich ziehen, mutet diese Vorsichtsmaßnahme fast schon grotesk an. Als Beispiel sei hier die Antwort auf eine parlamentarische Anfrage an den Berliner Senator für Inneres aus dem Jahr 2006 angeführt. Von den für 2004 verzeichneten 766 Anzeigen gegen Polizisten wurden 759 eingestellt, fünf hatten Freisprüche zur Folge, zwei führten zu Verurteilungen. Bei Anzeigen die von Festgenommenen gestellt wurden, war die Quote nochmals geringer, hier

»Neben der verbotenen Form der Bewaffnung gibt es durchaus auch legale Gerätschaften, die geeignet sind, die Effizienz gewalttätigen polizeilichen Vorgehens zu steigern.« GESELLSCHAFT BLANK I 21


Kn端ppel frei! Die Polizei bei der Jagd auf Antifaschisten in Dresden.


kam es im selben Jahr bei 269 Anzeigen zu 268 Einstellungen, einem Freispruch und überhaupt keiner Verurteilung. Im umgekehrten Fall sieht das Verhältnis ungleich anders aus. So führten, um noch einmal den Senator für Inneres heranzuziehen, im Jahr 2004 über die Hälfte aller von Polizeibeamten gestellten Anzeigen zu Anklagen oder Strafbefehlen. Diese Zahlen sind auch insofern von Belang, als von Seiten der Sicherheitsorgane im Falle eines Tatvorwurfs gern mit Gegenanzeigen reagiert wird. Unter diesem Aspekt verraten jüngste Erhebungen, die für das Jahr 2008 bundesweit 6000 Fälle von „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ aufweisen, vielleicht noch etwas anderes als die These von der „zunehmenden Gewalt gegen Polizeibeamte“, die sie uns eigentlich vermitteln möchte. (Ein Jahr zuvor waren es 5320 Fälle.) Wer zunehmend brutaler agiert und seine Opfer dabei auch noch mit Anzeigen überzieht, braucht sich über erhöhte Fallzahlen eigentlich nicht zu wundern. Um polizeiliches Handeln im Zusammenhang mit Demonstrationen und ähnlichen Großereignissen wieder in kontrollierbare Bahnen zu lenken, würde sicher die individuelle Kennzeichnungspflicht helfen, wie sie unter anderem von amnesty international seit langem gefordert wird. In Hamburg wird sie seit November 2008 diskutiert, aber wohl nicht in letzter Konsequenz zur Anwendung kommen. In Berlin ist ein entsprechender Vorschlag von Polizeipräsident Glietsch bereits von der GdP zurückgewiesen worden. In Bayern hat das Innenministerium einen Vorstoß, Beamte des USK einzeln zu kennzeichnen, unterbunden. Nicht minder dürftig steht es um die seit Jahren vom Europarat vertretene Forderung nach der Einrichtung unabhängiger Polizeikommissionen in Deutschland. Die Innenminister der meisten Bundesländer halten derartige Gremien, die vor allem das Risiko der aus dem Korpsgeist resultierenden Befangenheit minimieren sollen, schlichtweg für überflüssig. Für diejenigen, die sich in Dresden Blutergüsse, Prellungen und Schürfwunden abgeholt haben, bedeutet das, sich bis auf weiteres genau zu überlegen, inwieweit sich ihr Recht auf Demonstrationsfreiheit noch im vorgegebenen Rahmen durchsetzen lässt.

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Die KoLUMne von nilz bOKElbErg

Ja, kritisch müsste er sein, der Text. Am besten aktuelle Probleme behandeln. Aber versuchen, sie nicht zu allgemein zu halten, denn das hatten wir schon. Man muss Probleme heutzutage präzise benennen, sonst wird die Kritik daran zu allgemein. Ich muss mir also etwas Superspezifisches raussuchen, bei dem ich sicher sein kann, dass es so gut wie nie seine Aktualität einbüßt, denn mal im Ernst: Wie erbärmlich sind gedruckte Texte, die ihr Mindesthaltbarkeitsdatum schon überschritten haben? Eben. Der eine große Text für die Ewigkeit soll das werden. Nicht mehr und nicht weniger. Damit kann man, ähnlich der Herangehensweise von Kandidaten bei „Wer wird Millionär“, schon mal gewisse Dinge ausschließen. Wahljahr ‘09 zum Beispiel. Ein Text dazu wäre spätestens einen Tag nach der Wahl ein uninteressanter Brei. Lassen wir das also lieber. Zeitlos soll er sein. Probleme behandeln, die es anscheinend immer gibt. Zum Beispiel Menschen auf Flohmärkten, die immer viel zu langsam vor einem gehen. Aber, ach, aber. Dann wird es wieder so trivial. Zu dem Thema gibt es ja schon 24 Facebook-Gruppen, wen sollte das also noch interessieren? Du bist wirklich eine Pfeife, Bokelberg. Was jammerst du hier so rum, nicht mal auf besonders hohem Niveau? Schreib jetzt endlich, du Sackgesicht, sonst mach ich dir Beine! Nanu? Wo kommt denn diese Stimme her? Und wer zum Teufel bist du eigentlich?

Ich bin dein Unterbewusstsein und ich habe die Schnauze gestrichen voll. Immer wieder überlegst du, was du schreiben sollst, was es deiner Meinung nach wert ist, gedruckt zu werden, und was nicht. Das ist doch Stuss. Du sollst schreiben, nicht meinen! Super. Damit erweist du mir natürlich einen Bärendienst, wie soll ich denn jetzt hier noch einen vernünftigen Text hinkriegen, wenn du dich da so reindrängst. Und überhaupt: Selbstreferentielle Texte über das keinen-Text-zu-Stande-kriegen sind ja mal so was von 2002. Adaptation anyone? (Und der war nicht mal sonderlich gut...) Ich wusste, dass du das sagen würdest. Naja, ich sitz ja schließlich auch in deinem Kopf. Nun gut, dann lass uns doch mal ein bisschen wühlen, bis wir das Thema gefunden haben, um das es heute gehen soll. Ah, hier hab ich was Schönes: Als du im Alter von 15 mit deinen Klassenkameraden in Freiburg zelten gegangen bist und ihr das erste Mal für euch selbst verantwortlich wart. Das ist so Coming of Age, das mögen die Leute. Da können die auch ihre eigenen Erinnerungen mit abgleichen. Kollektive Erinnerungen funktionieren immer besonders gut. Wenn du jetzt noch von „Spaß am Dienstag“ schreibst, von Zini dem Wuslon, meinetwegen auch noch vom Kinderferienprogramm im ZDF und von deinen „Masters of the Universe“-Figuren… Ach hör doch auf. Das ist doch billiges

Applausfischen. Das muss nun wirklich nicht sein. Ja, aber dann könntest du noch erzählen, wie du immer mit den Masters-Figuren gespielt hast, da war doch diese gelbe Schlangenfrau, die Helferin von Skeletor und die hast du doch dann He-Man hypnotisieren und in Skeletors Schloss locken lassen, wo sie He-Man dann immer zum Sex verführt hat und du dann ihre gelben Plastikbeine gespreizt und sie dem Helden aufs Gesicht gesetzt hast. Also Moment mal! Das gehört nun wirklich nicht hier her! Oder wie du dir immer heimlich die Penthouse von deinem großen Bruder geklaut hast, weil da diese supersexy Bilderstrecke war, von Leuten die Sex hatten während der Französischen Revolution, in diesen schicken Kostümen und die Frauen mit der heißen Wäsche unter den voluminösen Kleidern. Entschuldige mal. Auch wenn man noch kein optimales Thema gefunden hat, sollte man ja wohl nicht so billig sein und auf erotische Fantasien und Vorlagen aus der Pubertät zurückgreifen. Das muss ja nun wirklich nicht sein. Das will doch keiner lesen! Und wie du dich immer gefreut hast, wenn auf RTL plus auf deinem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher am Samstagabend „Black Emanuelle“ kam. Den fan-


dest du doch so wahnsinnig aufregend! Da musst du dich doch dran erinnern! Der Frühling ist da! Endlich scheint die Sonne wieder, endlich kann man wieder draußen sitzen und das Leben genießen. Es ist wieder Zeit, auf Flohmärkte zu gehen, süßen Mädchen in Röcken hinterher zu gucken und endlich, endlich wieder Eis zu essen. Wenn man morgens aus dem Club fällt, ist es schon hell und man hört ein regelrechtes Zwitscherkonzert in der noch schlafenden Stadt. Und wenn man mit Jacke und T-Shirt rausgeht, kann man nichts verkehrt machen. Ich verstehe. Du versuchst, mich jetzt zu ignorieren und etwas möglichst schönes und harmloses zu schreiben. Ich bitte dich. Du versuchst so, dein eigenes Unterbewusstsein zu verarschen? Für wen hältst du dich? Rasmussen? Und diese harmlose Blümchenscheiße, das interessiert doch keine Sau. Die Leute wollen was Handfestes lesen. Erzähl doch mal wie du mit diesem Kumpel einmal in diesem Leipziger Nachtclub gelandet bist. Wie hieß der noch gleich? Pigalle oder so? Und wie ihr da… …Also DAS gehört nun wirklich nicht hierher. Entschuldige mal. Das war ein ganz langweiliger Abend und diese GähnAnekdoten, die schreibt man doch nicht in einem seriösen Magazin. …reingegangen seid, und die erstmal die Stripperinnen geweckt haben, die in den Sitzecken gepennt haben, mangels Kundschaft. Und wie dann die eine einen Poledance gemacht hat und dabei die ganze Zeit gähnen musste und ihr wolltet nur ein Bierchen trinken, aber ein paar Ladies haben sich sofort zu euch gesetzt und ihr habt euch unterhalten. Und dann hat doch dein Kumpel gefragt, wie denn jetzt noch die Perspektiven wären… Hab ich euch eigentlich schon erzählt, was mir zuletzt passiert ist? Ich gehe gemütlich aus dem Haus, weil ich mir ein neues Buch kaufen möchte, da geht doch plötzlich ein Regenschauer los, den ich noch nie erlebt habe. Die Wolken tun sich auf und schütten wirklich literweise Wasser auf die Erde. Und ich nur in einer dünnen Strickjacke bekleidet… …und da hat dem doch die eine der Frauen, ganz tief und ernst in die Augen geguckt und mit trockener Stimme gesagt:

„Hier gibt es keine Perspektive.“ Daran musst du dich doch erinnern! Das war doch ein ganz bitterer Moment!

So hab ich das noch gar nicht gesehen. Verdammt. Dann schreib doch was du willst, ich wollte dir ja nur helfen.

Außerdem flirte ich im Moment immer mit meiner Supermarktkassiererin. Da macht das Einkaufen doch gleich zehn Mal soviel Spaß. Wenn ich den Supermarkt betrete, gucke ich immer schon, ob sie da ist und stelle mich genau an ihrer Kasse an, egal wie voll oder leer die anderen sind. Ich weiß noch, wie ich sie das erste Mal sah. Ich stand an einer Kasse, war gerade dran und sie saß fünf Kassen weiter. Dann haben sich wirklich zufällig unsere Blicke getroffen und wir konnten beide nicht mehr weggucken. Alles um uns herum schien sich auszublenden, die Spots waren nur noch auf sie und mich gerichtet. Der Mann, den sie gerade abkassierte, fragte höflich, aber bestimmt nach, was er denn nun zu zahlen hätte. Wohingegen die Kassiererin an der Kasse, an der ich gerade stand, bestimmt fünf Mal wiederholen musste, wie viel ich denn nun zu zahlen hätte. Ich habe sie einfach nicht gehört. Kriege immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke.

Du? Mir? Helfen? Dass ich nicht lache. Ich weiß gar nicht, wie oft du mich schon in die Bredouille gebracht hast. Ich erinnere mich an Nächte, in denen ich mit Mädchen zusammengesessen habe, die ganze Nacht gequatscht, wir wurden immer müder und müder und plötzlich sagt man Sachen, die man gar nicht mitbekommt. Man spricht und wacht kurz danach auf und merkt erst, das man gerade was gesagt hat. Übrigens gerne auch erst auf Nachfrage des Gesprächpartners.

Super Idee. Das ist es. Flirten mit Supermarktkassiererinnen. Das wollen die Menschen lesen. Du Hirni. Was kommt als nächstes? Erzählst du uns, wie du zum ersten Mal den Glücksbärchis-Film gesehen hast? Ach, halt doch die Klappe. Du magst eine gewisse Macht über mich haben, liebes Unterbewusstsein, aber von Liebe verstehst du mal überhaupt nichts. Du hast keine Ahnung, was im Hier und Jetzt passiert. Klar, du kannst dir tolle Träume ausdenken und so was, aber wenn es darum geht, glücklich zu sein, dann berufe ich mich doch lieber auf das Bewusstsein. Es ist doch so, du bist ein Showeffekt. Man braucht dich für Hypnose-Aktionen, bei denen Menschen plötzlich steif wie ein Brett werden und Joy Fleming sich auf sie setzen kann. Oder um Sachen zu machen, die man gar nicht kontrollieren will. Aber Herzensangelegenheiten, die macht man doch immer noch am besten mit sich selbst aus.

Hihi, ja, ich erinnere mich, das war wirklich lustig. Siehst du? Unser Humor ist nicht kompatibel. Du bist böse. Du willst mich bloßstellen, einen Affen aus mir machen. Deswegen habe ich keinen Bock auf dich. Aber ich versuche auch ganz oft, dich zu warnen. Wenn du dich verliebst, ohne verliebt zu sein, nur um dich zu verlieben! Das passiert mir nie! Das ist das, was du glaubst, aber dem ist nicht so. Erinnerst du dich an das Mädchen im Sommer? Ich habe so laut geschrien wie ich nur konnte, aber du hast nicht gehört und dich trotzdem darauf eingelassen. Und irgendwann gemerkt, dass sie es doch nicht ist. Du hast ihr also unnötig wehgetan. Und dir eigentlich auch. Ach, sei doch still, du hast doch keine Ahnung von so diffizilen und komplexen Problematiken wie dem Verknallen. Wenn du das schon „Problematik“ nennst, dann viel Spaß noch in deinem weiteren Liebesleben. Ach du. Was weißt du denn schon?

Aber, aber... ich habe doch auch Gefühle! Wie kannst du nur darauf rumtrampeln? Du brauchst mich doch! Ohne mich bist du nichts!

Ein bewusster Dialog mit dem Unterbewusstsein. Genau. Wer‘s glaubt.

Das gilt aber umgekehrt umso mehr. Ich kann vielleicht gerade noch so auf dich verzichten, aber ohne mich würdest du nicht mal existieren.

Ich bin dein unbewusstes Unterbewusstsein.

Wer bist du denn?

Jetzt reicht‘s.


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IN

BURKINA FASO GEHT DIE

SONNE AUF

TexT & FoTograFie COSMA SHiVA HAgEn

die „schönste Frau deutschlands“ macht sich auf den Weg in eines der ärmsten länder Welt, um ihrer Verantwortung für den Schwarzen Kontinent gerecht zu werden und die Medien interessiert es nicht. Cosma Shiva Hagen schreibt über Fairtrade, ihre rolle als „baumwoll-Patin“ und die moralische Pflicht der westlichen Verbraucher.

A

m frühen Morgen des 28. November 2008 klingelt mein Wecker. Es ist vier Uhr in der Früh, und ich mache mich noch im Dunklen auf die Suche nach meinen Sieben Sachen für eine 5-tägige Reise nach Afrika. Mit einem circa 10-köpfigen Team und im Auftrag von „Fairtrade Deutschland“ machen wir uns auf den Weg in eines der rohstoffreichsten und dennoch ärmsten Länder der Welt. Am Flughafen werde ich bereits erwartet. Wohingegen ich noch nicht so richtig weiß, was mich erwartet. Aber ich weiß zumindest, mit welchem Auftrag wir uns auf diese Reise machen. Wir, das sind ein Kamerateam aus Hamburg, ein Fotograf aus Berlin, Dieter Overath, der Direktor von Fairtrade Deutschland mit zwei seiner Mitarbeiterinnen und ich. Als ich Anfang des Jahres darum gebeten wurde, dieses Projekt zu unterstützen, hieß es, dass wir Ende des Jahres in Burkina Faso eine Dokumentation drehen würden, um die Werbetrommel für fair gehandelte, biologisch angebaute Baumwolle zu rühren. Mit einer kleinen Prise Idealismus, gutem Willen und Neugier im Gepäck werden wir auf den Spuren des weißen Goldes wandern. Das Ziel: Die Themen fairer Handel, Nachhaltigkeit und Umweltschutz ein paar Rangplätze auf der Agenda der Menschen in Europa nach oben schieben. Aber ob es

überhaupt etwas an der Denke der Menschen ändern wird? Ich stelle mich ein auf eine angekündigte Armee von Journalisten, aber wie sich herausstellt, hat in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und Obama-Mania keiner so recht Zeit oder Interesse an diesem Thema. Die schnelle Nachricht ist dieser Tage mehr wert, als ethische Fragen. Afrika scheint, durch die andersartige Mentalität, die vielen Bürgerkriege, die Korruption, die immer wiederkehrenden Probleme und der daraus resultierenden Ohnmacht immer wieder gerne vergessen und aus den Köpfen der Europäer verdrängt zu werden. Zwei Journalisten aus Frankfurt und Österreich begleiten uns immerhin doch noch. Nach einem langen Flug und einer kurzen Fahrt durch die Dunkelheit kommen wir im Hotel an. Aber: Wie Sie sehen, sehen Sie nichts! Es ist stockfinster und im Hotel ist der Strom ausgefallen. Willkommen in Afrika! Wir checken alle ein und ich stelle fest, dass ein Handy ohne Netzempfang trotzdem sehr nützlich sein kann. Auf der Suche nach meinem Zimmer stolpere ich mit dem dürftigen Licht des Mobiltelefons durch den Hotelflur an sämtlichen Zahlen vorbei, blicke voller Vorfreude einer ereignisreichen Woche entgegen und wünsche mir zeitgleich für die nächsten Tage, dass wenigstens ein anderes Licht im Dunkeln zum Vorschein kommen möge, und wir einiges über dieses Land und seine Menschen in Erfahrung bringen können.

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Nach meiner ersten Nacht in der Hauptstadt Ouagadougou werde ich von den ersten Sonnenstrahlen des Tages geweckt. Die ehemalige französische Kolonie Westafrikas kam erst Mitte der achtziger Jahre zu seiner heutigen Bezeichnung Burkina Faso – „Land der ehrenwerten Menschen“. Ehrenwerte Ziele verfolgte auch der damalige sozialistische Revolutionär Thomas Sankara, dessen Politik auf den Kampf gegen Hunger und Korruption ausgerichtet war. In Anlehnung an kubanische und andere Revolutionen setzte er in seiner Regierungszeit beachtliche Zeichen. Minister wurden dazu verpflichtet, den Fuhrpark ihrer Ministerien zu verkaufen und durch einen Renault 5 – die billigste Variante Auto zu jener Zeit – zu ersetzen. Er verbot die Beschneidung von Frauen und seine Leibwache war ebenfalls eine nur von Frauen zusammengesetzte Einheit auf Motorrädern. In seiner Regierungsmannschaft befanden sich so viele Frauen, wie nie zuvor in einem afrikanischen Staat. Und auch heute noch weht jener Geist der Toleranz durch das Land. Denn trotz der vielen verschieden ausgeübten Religionen kommt es im alltäglichen Leben scheinbar zu keinen nennenswerten Problemen, was

»Burkina Faso – Land der ehrenwerten Menschen.« der hohen religiösen Toleranz der Burkiner zugeschrieben wird. Später auf dieser Reise wird man mir erzählen, dass man zwar Witze über den anderen macht, sich danach aber wieder die Hände reicht. Welch schönes Alleinstellungsmerkmal in einer Region voller Konflikte. In der Stadt reiht sich ein Verkaufstand an den anderen. Es werden so viele Dinge angeboten, die hier zu Lande wahrscheinlich kein Mensch braucht, zumindest nicht in dieser Menge, und es stellt sich die Frage, wer zum Teufel diesen ganzen Kram kaufen soll. Wir sind hier nicht gerade in einem afrikanischen Urlaubsgebiet gelandet, wo Touristen sich allerhand Schnickschnack

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mit nach Hause nehmen. Man wird dazu überredet, irgendetwas zu kaufen, ob man es braucht oder nicht. Ein Straßenverkäufer wird mit einer beneidenswerten Phantasie Gründe erfinden, warum sein „Kunde“ dringend und unbedingt etwas bei ihm kaufen muss. Einer unserer Kameramänner wird später mit Übergepäck zurückreisen… Es ist heiß in Ouagadougou und die Luft ist trocken und staubig. Eine unangenehme Duftwolke aus verfaultem Müll, Smog und etwas Undefinierbarem breitet sich über der Stadt aus. Wir bekommen davon zum Glück wenig mit und machen uns stattdessen in einem klimatisierten Geländewagen im Konvoi mit Fahrern und Übersetzern in die Region Dano. Wir fahren nicht gerade langsam, dennoch werden wir von einem Bus überholt, an dem circa 50 lebendige Hühner kopfüber hängen, und ich kann es mir kaum verkneifen, zu denken: Ist das eigentlich artgerecht oder ist Käfighaltung Luxus dagegen? Der nächste Bus, der uns überholt, trägt auf dem Dach drei Ziegen, die auf unerklärliche Weise ihr Gleichgewicht zu halten scheinen. Der dritte Bus überholt uns derartig grotesk mit Mensch und Zeug überladen, dass man sich fragt, wie es sein kann, dass er unbeeindruckt weiter fährt, anstatt einfach mal zur Seite umzukippen. Da fällt mir ein Satz ein, den ein alter Freund aus dem Senegal zu solchen Gelegenheiten immer anbrachte: „Who the fuck said, we can´t?“ und Obama würde hinzufügen „Yes, we can!“ In Burkina Faso fahren wir alle fünf Minuten an einem Baumwollfeld vorbei. Unser Ziel ist das Dorf Complan, in dem viele Bauern sich vor einigen Jahren zu Kooperativen zusammengeschlossen haben, um für Fairtrade große Mengen Bio-Baumwolle anzubauen. Nach einigen Stunden Fahrt kommen wir im Dorf an und werden mit einer poetischen Rede vom Dorfältesten begrüßt. Dieter Overath revanchiert sich und hält in unser aller Namen ebenfalls eine kurze Rede. „For us, coming here is like coming to see friends“. Was sich kitschig anhört, fühlt sich aber tatsächlich so an und da das restliche Team hier schon einmal gedreht hat, ist es auch Realität. Wir bauen eine Leinwand auf, um allen das gedrehte Material vom letzten Besuch zu zeigen. Es wird uns eine Schüssel mit selbst gemachtem Hirsebier – Zorgun – gereicht. „L´éau pour l´étranger“ – „Wasser für die Fremden“. Während die Männer und Frauen tan-




»Eine unangenehme Duftwolke aus verfaultem Müll, Smog und etwas Undefinierbarem breitet sich über der Stadt aus.« zen und singen, versuchen wir, unsere Technik aufzubauen. Ein wahrhaft symbolisches Bild für die Welten, die hier aufeinander knallen. Die Herzlichkeit, mit der wir hier begrüßt werden, ist typisch für Afrika. Diese scheinbare Sorglosigkeit und Lebensfreude der Menschen ist unvergleichbar. Wäre es denkbar, dass wir für einen Moment einfach mal den Dreh vergessen und auch singen und tanzen? Wann haben wir verlernt, auch mal für Dinge dankbar zu sein und inne zu halten? Die Menschen hier haben weitaus weniger Möglichkeiten und strahlen dennoch mehr Herzenswärme aus, als die Mehrheit der Menschen, die mir in Europa in den Straßen entgegenlaufen. Die unerschütterliche Zuversicht der Menschen hier muss man aber wahrscheinlich auch als einen Schutzmechanismus sehen. Optimismus als Überlebensstrategie. Nachdem wir den Film vorgeführt haben, setzen wir uns alle in eine Reihe vor eine liebevoll gedeckte Bank, die mit allen Rohstoffen, die hier geerntet werden, geschmückt wurde. Mais, Erdnüsse, Sesam, Hibiskus, Hirse, Shea Butter, Reis und vor allem Baumwolle. Der Chef der Bauern-Kooperative will Rede und Antwort zu Zahlen und Fakten stehen. Als Erstes begrüßt er alle seine Arbeiter, die ebenfalls gekommen sind, mit dem Satz „Danke an alle meine Sklaven“. Großes Gelächter breitet sich aus und ich kann mir einen leicht verwirrten und nachdenklichen Moment kaum verkneifen. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis aus den Samenhaaren der Malvenpflanze das global begehrte „weiße Gold“ wurde. Bis ins 20. Jahrhundert war Baumwolle das wichtigste Exportgut der US-Südstaaten. Dort hatten Plantagenbesitzer im 19. Jahrhundert ihr Geschäft auf dem menschenverachtenden Einsatz afrikanischer Sklaven errichtet. 1860 gab es in den Konföderierten Staaten 3,5 Millionen Sklaven unter den insgesamt 9,1 Millionen Bewohnern. Die Baumwollpflücker wurden körperlich ausgebeutet

und seelisch misshandelt. Hunderttausende starben in Folge der Sklaverei. Heute schreiben wir das Jahr 2009. Was hat sich seither geändert? Seit Jahrhunderten werden die rohstoffreichsten und dennoch ärmsten Länder der Welt ausgebeutet. Und das für Produkte des täglichen Gebrauchs: Kaffee, Wolle und so weiter. Klingt wie ein Widerspruch, ist aber Realität. Woran liegt das? Ignoranz? Gleichgültigkeit? Unwissenheit? Wenn die Menschen sich darüber im Klaren wären, wie sie mit ihrem Konsumverhalten zur allgemeinen Wirtschaftslage beitragen, würden sie sich dann auch dementsprechend verhalten? Wenn eine Familie mit vielen Kindern von Hartz IV lebt, würde sie trotzdem Sachen kaufen, die womöglich durch Kinderarbeit entstanden sind, nur um Geld zu sparen? Oder würden sie sich eher für Tauschbörsen wie Oxfam interessieren, wenn sie in diesem Gebiet mehr Aufklärung erfahren würden? Ich bin ja selbst nicht ganz frei davon, und es ist schlicht nicht angemessen zu erwarten, dass sich jeder einzelne Konsument in den westlichen Industrienationen Tag für Tag darüber Gedanken macht, was er getrost kaufen darf, wo es herkommt, wie viel Benzin oder Energie er verbraucht hat und wie viel Wasser man hätte sparen können. Und ich glaube, das ist in unserer heutigen Gesellschaft auch fast nicht mehr zu ändern. Zumindest nicht, solange größere Firmen weiterhin so beliebt bleiben, wenn sie sich nicht für fairen Handel entscheiden und mit gutem Beispiel voran gehen. Da kommen wieder die

Konsumenten ins Spiel, wobei ich mir denke, dass es den Kids wahrscheinlich egal ist, ob ihre Turnschuhe durch Kinderarbeit entstanden sind oder nicht. Den meisten reichen Hausfrauen ist es wahrscheinlich auch egal, wie sie in ihren Luxusschlitten zur Umweltverschmutzung beitragen, während sie samstags die Biokost fürs Baby kaufen fahren. Die Menschen in der Dritten Welt müssen unseren Lebensstandard ausbaden, wenn durch die Umweltverschmutzung Flutwellen ihr Land und ihre abertausenden Wellblechhütten umkreisen. Und das in Gebieten, wo man schon so ärmlich lebt, dass man weiß Gott andere Sorgen hat. Es ist es höchste Zeit, dass wir zumindest ein Verantwortungsgefühl entwickeln, das in dieser Hinsicht einen gewissen Ausgleich und eine Balance schafft zwischen unbewusstem Konsum und gezielter Nachhaltigkeit. Fairtrade setzt hier an einem Punkt an, der zukunftsweisend ist. Wobei man eines ganz klar verstehen muss: Fairtrade ist nicht gleich Bio und Bio ist nicht gleich Fairtrade. Das wird oft falsch verstanden. Was nutzt mir eine Bio-Banane, wenn sie durch Zwangsarbeit und ungerechte Subventionen bei mir auf dem Teller gelandet ist und der Bauer, der sie gepflückt hat, keinen Cent dafür erhalten und seine Gesundheit durch die Pestizide beim konventionellen Anbau eingebüßt hat? Beim biologischen Anbau geht es bei den meisten doch nur darum, ihre individuelle Lebensqualität zu verbessern und gewiss nicht darum, fairen Handel und Umweltschutz zu unterstützen. Fairtrade bemüht sich, den vielen Bauern zu ermöglichen, vom konventionellen Anbau auf Bio-Anbau umzustellen. Die Umstrukturierung ist eine schwierige und langwierige Arbeit, denn es dauert etwa vier Jahre, bis die Pestizide nicht mehr im Boden nachweisbar sind. Trotzdem nehmen dies immer mehr Bauern in Kauf, weil sie mittel- und langfristig davon nur Vorteile haben. Das mit dem Bioanbau hat sich herumgesprochen und es finden sich immer mehr Bauern in Fairtrade-Kooperativen zu-

»Wann haben wir verlernt, mal für Dinge dankbar zu sein und inne zu halten?« GESELLSCHAFT BLANK I 31


sammen. In diesem Projekt werden die Bauern durch Fachleute im biologischen Anbau geschult. Ihre Einnahmen und eine Prämie für die gemeinschaftliche Infrastruktur sind garantiert. Ihre Gesundheit wird nicht mehr in Mitleidenschaft gezogen, wodurch sich vor allem für Frauen ganz neue Möglichkeiten bieten. Die Fruchtbarkeit der Frau hat hierzulande einen besonders hohen Stellenwert und so war es den meisten Frauen nicht erlaubt, auf den Feldern zu arbeiten – die Pestizide stellten ein zu hohes Risiko für Fehlgeburten da. Auch allein erziehende Frauen haben nun endlich die Chance, ihre Zukunft besser zu gestalten. Bisher kann nur ein Bruchteil der afrikanischen Baumwollproduzenten am fairen Handel teilhaben. Ziel muss es sein, den Millionen Bauern und Bäuerinnen zu ermöglichen, von ihrer Arbeit leben zu können. Am zweiten Tag meiner Reise werde ich auf ein Baumwollfeld geführt, wo gerade geerntet wird. Lachend und singend zeigen mir die Frauen, wie ich die Wolle pflücken soll und machen mich charmant darauf aufmerksam, dass ich eine Ecke vergessen habe. Ich sehe eine 20-jährige Frau, die ein Baby auf den Rücken geschnürt trägt und dazu an beiden Händen jeweils ein Kind hat, auf das sie noch zusätzlich aufpassen muss, während sie die Baumwolle erntet. Ich frage mich, wo ihre Baumwolle landet. Sie landet dort,

»Baumwolle ist ein Symbol großer Hoffnung für den afrikanischen Kontinent.« wo andere Mädchen ihres Alters das größte Problem darin sehen, dass sie nicht genauso viele trendige Accessoires besitzen, wie ihre Vorbilder in den Gazetten der Yellow Press. Als ich vor circa acht Jahren vom UNHCR gefragt wurde, ob ich als Botschafterin nach Sierra Leone reisen würde, um Schulen für ehemalige Kindersoldaten zu bauen und Spendenaufrufe zu drehen, wusste ich noch nicht, dass dies mein ganzes weiteres Leben verändern würde. Ich bin durch die Punkzeit meiner Mutter geprägt und auch durch

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»Ziel muss es sein, den Millionen Bauern und Bäuerinnen zu ermöglichen, von ihrer Arbeit leben zu können.« die Erfahrungen, die ich in der Gesellschaft sozial-kritischer und politischer Menschen verbringen durfte. Durch meine Erziehung war ich mir also dessen bewusst, was auf der Welt so los ist. Und dennoch hatte ich nie einen richtigen Bezug dazu. Ich habe nicht hundertprozentig danach gelebt, weil ich es nicht hundertprozentig gefühlt habe. Ich bin hierher gefahren, weil es für mich einfacher ist, Menschen von einer Idee zu überzeugen, wenn ich mich selbst davon überzeugt habe. Wenn ich vor Ort die Menschen kennengelernt habe, die direkt von der Problematik betroffen sind, kann ich es dadurch zwar nicht ganz nachempfinden, weil ich nur die Oberfläche mitbekomme. Aber es gibt mir zumindest eine Ahnung von dem, was die Menschen durchmachen und es ist im Nachhinein so, als würde ich Bekannten oder Freunden helfen. Deshalb kann ich es gewissen Politikern und Wirtschaftslenkern nicht einmal übelnehmen, dass sie sich nicht vollständig verantwortlich fühlen für diese Themen. Aber wie können wir das ändern? Statt Big Brother und Dschungelcamp, womit sich anscheinend die halbe Nation beschäftigt, könnte man doch auch mal ein TV-Format ins Auge fassen, in dem Menschen, die in dieser Hinsicht etwas bewegen könnten, ausgesetzt werden und hier irgendwie klarkommen müssen. Soll Paris Hilton doch im afrikanischen Bürgerkrieg ihren best friend forever finden. Die Baumwolle ist ein Symbol großer Hoffnung für den afrikanischen Kontinent. Gleichzeitig aber auch ein politisches Konfliktfeld. Da die Baumwolle auch heute noch eine der wichtigsten Naturfasern ist und allein mit der Produktion, dem Transport und der Lagerung weltweit rund 350 Millionen Menschen beschäftigt sind, ist sie mittlerweile sogar an der New Yorker Terminbörse ein begehrtes Spekulationsobjekt. Somit schwanken aber auch die Preise am Weltmarkt. Die Verhandlungen der Welthandelsorganisation lassen noch immer kein positives Signal erkennen. Dabei spielt die Baumwolle gerade für Westafrikanische Länder wie Burkina Faso eine große Rolle im Kampf gegen Armut.

Die Sonne geht unter in Burkina Faso. Mir wurde erzählt, dass das Jahr 2007 eine sehr karge Ernte brachte. Der Regen fiel unregelmäßig, überschwemmte das Saatgut, in der Folge kam es zu Hungerrevolten. 2008 hingegen gab es eine hervorragende Ernte und die Lage hat sich entspannt. Dementsprechend grün ist es hier während unserer Reise. Grün wie die Hoffnung! Somit verlasse ich Burkina Faso mit einem hoffnungsvollen Gefühl und Wachstum ist das, was ich diesem Land wünsche, während ich vom Flugzeugfenster auf Burkina herunter schaue. Oftmals scheitert die sogenannte Hilfe zur Selbsthilfe an der einfachen Frage, wo man gezielt ansetzen kann. In dieser Hinsicht ist die Fairtrade-Idee fast so revolutionär wie die damalige Politik von Thomas Sankara. Und dennoch so einfach und logisch, dass es einem unbegreiflich ist, warum es für fair gehandelte Rohstoffe noch immer keine international gültigen Gesetze gibt, die Kinderarbeit, ungerechte Subventionen und Ausbeutung verhindern. 1987, eine Woche vor der Ermordung Thomas Sankaras durch einen Putsch des Militärs, zitierte er in einer Rede zum Gedenken Che Guevaras den Satz eines Offiziers bei der kubanischen Revolution: „Nicht schießen – Ideen lassen sich nicht töten!



BUCH- &

BLATTKRITIK Becks letzter Sommer

leicht. // Wer gedankenbegabt ist, ist auch gedankengefährdet?

Benedict Wells – jung, begabt und Münchner – hat einen Roman geschrieben. „Becks letzter Sommer“ ist eine Geschichte über Individualismus und persönliche Freiheit. Auf Deutsch: es geht um Chancen, und zwar ungenutzte, genutzte und zukünftige. Der junge, unehrgeizige Lehrer Robert Beck hat sich in seiner Lebensplanung ein wenig verheddert und versucht sich durch die Liebe, durch Freundschaft und durch seine Musikleidenschaft freizukämpfen. Agiert oder reagiert er nur? Einige der besten Zeilen: Dann sprach Beck davon, dass er gar nicht älter geworden sei, sondern nur unbeweglicher und ängstlicher. // Er hat den Vorfall einfach weggetrunken, dachte er. // Sie lachte wie eine besoffene Courtney Love, also einfach nur Courtney Love. // Vor lauter Geilheit auf Trinkgeld grinsten sie pausenlos. // Er rettete sich in eine Zigarette und sah dem Rauch zu, als wäre es das Wichtigste der Welt. // Er war nicht mehr der Michael Douglas aus Wall Street, er war nur noch irgendeine gewöhnliche Arschgeige an einem heißen Julitag in München. // Es sind Gespräche wie diese, die das Leben als lieblosen Unfug enttarnen, dachte Beck. // Andys gutes Aussehen öffnete Türen, die sein Charakter wieder schloss. // Wie er eingezogen wird, kämpft, verliert, überlebt, seinen Kopf mit grausamen Bildern auflädt, die ihn für den Rest seines Lebens lähmen werden. // Nun, die gute Nachricht ist: Ja, es geht vorbei, sagte er schließlich. Und die schlechte: alles andere auch. // Dafür sprechen sie gut Deutsch. Tue ich nicht wir unterhalten uns gerade in Englisch. // Mir fehlt immer etwas. Wenn ich alleine bin, fehlt mir was, wenn ich mit jemandem zusammen bin fehlt mir auch was. Da ist immer eine Leere in mir. Die anderen Menschen sehen so glücklich aus, alles wirkt bei ihnen so

Becks letzter Sommer ist eine Reise. Eine Reise durch Erinnerungen, Vorstellungen, über das Leben und die Realität. Das Buch ist witzig, spannend, skurril, melancholisch und ergreifend, oder schlicht: ein Buch über das Mitgefühl. (RL)

Benedict Wells (Diogenes Verlag)

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LITERATUR

darling Jim

Christian Mørk (Piper) Es ist ein komischer, nein: mutiger Dreh, den sich Christian Mørk für sein Romandebüt ausgedacht hat: Die Geschichte wird rund 300 Seiten lang von zwei jungen Frauen erzählt, über deren gewaltsamen Tod der Leser bereits auf den ersten Seiten informiert wird. Brecht‘sches Theater in Buchform, kann das gut gehen? Es ist ein gar eigenartig Ding mit diesem Buch. Es versammelt ein paar Klischeeschauplätze, einige Klischeeprotagonisten und dazu noch ein nicht allzu schwer im Voraus zu erahnendes Ende, über das der beiden getöteten Tagebuchschreiberinnen hinaus. Ein Gott springt immer bereitwillig aus den Traversen, wenn der tapfere Held auf den Spuren des Verbrechens ins Straucheln gerät und nimmt man die Summe der Zufälle zur Hand, die die Recherche befeuern, hat man eine ganze Reihe hervorragender Zutaten, für einen literarischen Reinfall auf unterstem Niveau. Dass „Darling Jim“ diesem Sog entgeht und im Gegenteil von der ersten bis zur letzten Seite fesselt, ist strukturell nicht wirklich zu erklären. Ein bisschen mysteriöses Personal, dicht gezeichnete Charaktere, ein paar Überraschungsmomente, die so lange hinausgezögert werden, bis sie dann tatsächlich wieder überraschend kommen und dann diese faszinierenden Wechsel der Erzählebenen, die schließlich im Finale verschmelzen. 300 Seiten hechelt man der


Zeig mir dein... ...Bücherregal und ich sage dir, was für ein Mensch du bist. Heute werfen wir einen Blick auf den Literatur- und Filmkanon von Peter Schulze, der zu den einflussreichsten Agenten in der deutschen Filmbranche zählt und außerdem einen Lehrauftrag an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam hat.


Geschichte hinterher auf ein Ende zu, dass immer offensichtlicher wird. Das macht aber überhaupt nichts, sondern viel Spaß. Ein Märchen für Erwachsene. Warum das so spannend und bis zur letzten Seite ein großes Vergnügen ist, darüber bin ich mir immer noch nicht im Klaren. Aber ist das nicht auch egal? (TE)

pedro páramo

Juan Rulfo (Hanser Verlag) Man muss ein wenig stöbern, um den 1917 in Sayula geborenen und 1986 verstorbenen mexikanischen Schriftsteller Juan Rulfo zu entdecken. Nein! Er zählt zu den bedeutungsvollsten Autoren Lateinamerikas, auch wenn er kaum literarische Seiten produziert hat. Dieser – sein einziger Roman – hat General Porfirio Diaz zur Vorlage. Den Inhalt bildet die Suche des Sohnes nach dem Vater, ein Versprechen, das am Totenbett der Mutter gegeben wurde. Schlagartig arbeitet man als Leser oder Leserin die elterliche oder väterliche Vergangenheit in solch abstruser Weise auf, dass es eine wahre Freude ist. Einige der besten Zeilen: Mein Körper wurde kraftlos, knickte zusammen, löste sich von allem, man hätte ihn nehmen und wie ein Stück Zeug zusammenknüllen können. // Und dann dachte ich nichts mehr, ich wollte tot sein, bevor er mich tötete. // Da wurde der Himmel Herr der Nacht. // Die Zeit schien zurückzuweichen. // Die Luft war dieselbe, die aus meinem Mund kam, und ich musste sie mit den Händen festhalten, damit sie nicht entwich. // Er hatte sich immer gegen diese Erinnerung gesträubt, denn mit ihr kamen andere, und das war, wie wenn man eine Loch in einen prallen Sack riss und dann die Körner festhalten wollte. // Der Tod wird nicht verteilt wie ein Besitz. Niemand läuft hinter dem Leid her. // Wenn es anfängt Morgen zu werden, kehrt der Tag langsam um. // Er fühlte, dass sich die Welt krümmte, um ihn herumwirbelte und ihm dann weglief. Pedro Páramo ist ein gewaltiger Roman, im Grunde ein Essay, dem es gelingt, einen von der ersten Zeile an mitzureißen. Es ist ein gespenstisches Buch mit wohl gesetzten Worten und enormer Atmosphäre. Wer Marquez liebt, sollte wissen, dass dies sein Lieblingsbuch ist. (RL)

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LITERATUR

metro 2033

Dimitry Glukhovski (Heyne) Der Verlag verspricht, der Leser würde in diesem Buch, in dieser Geschichte etwas über das Russland von heute erfahren. Das klingt natürlich toll und wirkt mit Sicherheit verkaufsfördernd, ist jedoch nur bedingt zutreffend. Zu vernetzt sind die Menschen, zu verwoben die Beziehungen und Abhängigkeiten, zu sehr lehnt sich Glukhovski an internationale KonsensKlischees an, als dass man „Metro 2033“ nicht auch als eine große, globale Fabel, angelehnt an die geschichtlichen Verwirrungen des 20. Jahrhunderts, beschreiben könnte. Tatsächlich eignet sich das Moskauer Metronetz sehr gut für das von Glukhovksi entworfene Szenario einer Welt nach dem Big Bang. Die Metro, die Tunnel, Schächte und Stationen, bieten den Überlebenden Schutz vor den Strahlen und den dadurch bedingten Mutationen, die seit dem Armageddon-ähnlichen Desaster die Oberfläche für sich beanspruchen. In diese enge, dunkle, beklemmende und sich dem Leser doch langsam und behutsam entfaltende Welt platziert Glukhovski seinen Protagonisten Artiom und schickt ihn auf eine Reise durch die Unterwelt Moskaus und schließlich, zu sich selbst. Das Buch fesselt und lässt den Leser, trotz seiner vielleicht der Übersetzung geschuldeten sprachlichen Schwächen, nicht mehr los und überzeugt mit einem furiosen Finale. Wie man erfährt, hat der Autor schon früh angefangen, die einzelnen Kapitel online zu stellen und die Leserreaktionen und Anregungen in der Arbeit am Buch zu verarbeiten. Eine „partly interactive novel“ nennt das Glukhovski, der Fragen lieber auf Englisch beantwortet, sich aber durchaus auch auf Deutsch zu verständigen weiß. Glukhovski wird bereits als neuer Star der russischen Science-FictionSzene gehandelt und auch der deutsche Heyne-Verlag verichtet in der Werbung für das Buch nicht auf die branchenüblichen Superlative. Sein Debut „Metro 2033“ hat sich in seiner Heimat bereits mehrere hundertausend Mal verkauft, die spanische Ausgabe erscheint im Mai, die englische im November und danach kommen Asien und der Rest der Welt. Für die bulgarische Ausgabe hat er 1.000 Euro bekommen. Die 3.000 Exemplare dürften bereits verkauft sein. Glukhovski erzählt gerne und ausgiebig von sei-

nem Werk, man merkt, wie viel Leidenschaft darin steckt. Glänzende Augen bekommt er, wenn es darum geht, wie seine Geschichte verfilmt wird und wer dafür in Frage kommt: „Man kann eine Vorlage wie diese tatsächlich schlecht in der Tradition des europäischen Autorenfilms verarbeiten. Ich möchte den Film als Hollywood-Blockbuster. Zuerst rief mich eine Minsker Produktionsfirma an, sie meinten ihre Metro hätte doch eine frappierende Ähnlichkeit mit der in Moskau. Aber das muss man in Kauf nehmen. Ich sehe da eher so Bruce Willis als Hunter und Orlando Bloom in der Rolle des Artiom.“ Das diese Aussage begleitende Lächeln verrät ihn jedoch. Glukhosky ist ein kluger Autor. Die Fortsetzung erscheint noch in diesem Jahr und heißt „Metro 2034“. Der Kinofilm wird nicht lange auf sich warten lassen und das Computerspiel, tja, da sind die Rechte schon verkauft. Nicht nur in Russland wird dieser 30jährige Journalist und Autor einer der neuen Science-Fiction Stars. Neuerscheinungen im April Christoph Schlingensief „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung“ (Kiepenheuer & Witsch) Michael Ende „Die unendliche Geschichte“ Taschenbuchausgabe, Neuauflage nach 20 Jahren (Piper) Cass R. Sunstein „Infotopia“ (Suhrkamp) Verlosung Wir verlosen 2 Exemplare von Dimitry Glukhovksys „Metro 2033“. Einfach Mail mit Betreff „Metro Moskau“ an verlosung@blank-magazin.de senden.


„das ordnungsprinzip... …meiner Regale läßt in der Belletristik nur die wesentlichen Autoren zusammen stehen. Goethe, Schiller, Storm, Shakespeare. Ansonsten sind die Werke thematisch geordnet – Politik zu Politik, Bildband zu Bildband und so weiter. Im DVD-Regal sind etwa 1000 Filme nach Schauspielern bzw. Aufführungsdatum geordnet.“


UM NICHTS

VORWEGZUNEHMEN,

ABER… eine KoLUMne von rOMAn libbErTz

Bücher haben bei vielen meiner Freunde den Ruf, langweilig und einschläfernd zu sein. Umständliche Sätze, endlose Beschreibungen anstatt fesselnder Geschichten. Das muss verflucht noch mal nicht sein! Ein Ansatzpunkt. Durch den Bezug zum Autor oder die Hintergründe, warum dieser oder jener Roman geschrieben wurde, kann Verborgenes sichtbar und ein Buch zu mehr als einem Buch werden. Kinderleicht. Mir geht es jedenfalls so. Hier der Versuch, einen Roman für dich lebendig zu machen.

„MÄNGELEXEMPLAR“ Eine Viertelstunde zu spät liefert mich die auffallend lahme Taxifahrerin in einem italienischen Lokal mit dem Namen „Trattoria Paparazzi“ ab. Sarah sitzt mit ihrem Manager, der auch ein sehr guter Freund ist, dort und hat Spagetti mit Meeresfrüchten bestellt (er isst Thunfischcarpaccio mit frittierten Kapern). Sarah lächelt und nimmt meine Entschuldigung für das Zuspätkommen an. Sarah ist Sarah Kuttner und somit Fernsehmoderatorin und Kolumnistin. Sarah trägt gerne Vintage-Stiefel, die sie bei eBay kauft. Sarah ist Berlinerin. Sarah ist dreißig. Sarah mag Wollmützen, weil sie sich dann keinen Kopf um selbigen machen muss. Sarah schreibt nicht autobiographisch. Sarah kann mit amerikanischen Komödien in den seltensten Fällen etwas anfangen Sarah zieht bei einem ersten Date das gemeinsame Reparieren einer Waschmaschine einem Candlelight-Dinner vor. Sarah will nicht muffig rüberkommen. Sarah liest „Gala“. Sarah kauft sich im Frühling einmal pro Woche selber Tulpen. Sarah kann ziemlich gut Senfeier kochen. Sarah reizt die Spargelzeit jedes Jahr aufs Neue ordentlich aus. Sarah findet Sex, Drugs & Rock’n‘Roll albern, denn das endet irgendwann zwangsläufig nur im meditativen Schneidersitz. Sarah verschenkt gerne gute Bücher.

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Sarah liebt David aus der Serie „Six Feet Under“. Sarah ist Raucherin. Sarah kann nicht auf zwei Fingern pfeifen, würde es aber gern können. Sarah hat eine Nähmaschine zu Hause und weiß damit umzugehen. Sarah weiß, was sie will. Sarah hält Snowboarden für einen verrohten Ballermann-Sport für Ziegenbartträger, Guano-Apes-Fans und anstrengende Dauer-Fun-People. Sarah mag ihren Mutterinstinkt. Sarah hat einen Volkswagen.

Sarah kann weder mit Hallervorden noch mit Loriot viel anfangen Sarah hat im Internet niemals interessante Leute kennen gelernt. Sarah hält MySpace und Facebook für eitlen Mist. Sarah war noch nie in der Oper oder in einem Musical. Sarah ist Badewannenfan. Sarah liebt Gewitter. Sarah ist, was Kleidung angeht, Kurzträgerin. Sarah hat den ultimativen Schnäppchenfinger. Sarah denkt, Melancholie braucht Zeit. Sarah trinkt keinen Alkohol. Sarah macht um das Nachtleben lieber einen kleinen Bogen. Sarah kommt gut damit klar, nicht „everybody`s darling“ zu sein. Sarah liegt sonntags gerne rum und liest. Sarah liebt den eingedeutschten Ausdruck „das ist genau meine Tasse Tee“. Sarah hat keine Lust, fremden Menschen Privates mitzuteilen. Darüber hinaus hat Sarah ihren ersten Roman verfasst. Das Buch heißt Mängelexemplar und trägt diesen Titel sicher nicht in Anspielung auf dieses letztjährige, unsägliche Bestsellerwerk, sondern schlicht, weil der Titel Sinn macht und griffig ist. Das Werk handelt von der jungen Frau Karo, die, durch ihre unzählige Spiegelung an äußeren Eindrücken, beschließen muss, den Kampf um sich selbst anzugehen, um endlich glücklich zu werden. Es


geht um Liebe, Freundschaft, Familie, Panikattacken oder die täglichen Achterbahnfahrten im Leben eines ganz „normalen“ siebenundzwanzigjährigen Menschen. Einige der besten Zeilen: Ich frage mich, ob sich Menschen im Krieg manchmal vorstellen, es wäre nur Silvester. // Ich lasse es mir von Mama erklären, sie macht eine Zeichnung. Das kann sie gut, ich wurde mit einer Zeichnung der Gebärmutter aufgeklärt. // Meine Familie und all die eingespielten Sätze und Kleinigkeiten brachten mich plötzlich auf die Weihnachtspalme. // Der nächste Morgen ist ein Arschloch. // Mit halbgeschlossenen Augen wankt er am dunklen Wintermorgen zur Arbeit, abends zur Kaufhalle und erreicht mit nassen Schuhen und letzten Kraftreserven das schützende Heim. Dort legt er sich vor den Fernseher, wickelt gegebenenfalls seine Familie wärmend um sich herum und schläft. // Also schlucke ich mich runter und schlafe ein. // Sie sind

ein bisschen wie Niels Ruf, nur weniger Arschloch. // Sie hatte völlig unterschätzt, welchen Einfluss ihre Vergangenheit auf ihre Gegenwart hat. // …und waren sogar mal sechs Monate gemeinsam in Barcelona. Zur Selbstfindung. Wir haben uns aber nicht gefunden, also sind wir wieder nach Hause geflogen. // Ich gehe schlafen, denn meine Metaphern werden schwül. // Umsatz schlägt Seele im großen Marktwirtschafts-SchnickSchnack-Schnuck. // Leid schafft eine Fangemeinde. // Alle roten Fäden, aus denen ich mir doch eigentlich einen schicken Kopf-Pullover stricken wollte, sind plötzlich weg oder wieder verknotet. // Das ist also das Ziepen und Zerren in meinem Herzen. Ich möchte nicht allein sein. Ich möchte meine Liebes-Flatrate zurück. Eine Garantie für Zuneigung. Ein Liebes-Buffet. All you can love. // Ich möchte Erfolge. Ich möchte bald wieder im normalen Leben mitspielen dürfen. Wie die anderen Kinder sein. Da ich mit ihr kaum über das Buch

gesprochen habe, schickt mir Sarah gestern noch folgende Antwort auf eine Email: Meine liebste Stelle im Buch ist wohl der Moment in dem Karo die CD „Autogenes Training“ ausprobiert. Für diese Passage habe ich mir selbst diese CD von Susanne Hühn gekauft und im Grunde alles, was Karo durchmacht, auch durchgemacht: Enttäuschung, Hibbeligkeit und Langeweile. Das hat großen Spaß gemacht und mir gleichzeitig gezeigt, dass ich mich wohl auch nicht so recht entspannen kann. Zumindest nicht auf Ansage. Sarah Kuttner? Das ist eine moderne Ingeborg Bachmann. Ihr Mängelexemplar ist klug, witzig, psychologisch, schmerzhaft wie gleichsam wunderbar hoffnungsvoll. Und Frau Bachmann hätte wohl auch keine Lust gehabt, einem Fremden Privates mitzuteilen oder ich hätte eventuell nicht so „auf Ansage“ machen sollen.

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ALS

ICH EINST

PRINZ WAR

inTerview SOPHiA HOFFMAnn & TErESA büCKEr FoTograFie MArCUS AlbErT

Miriam Schaaf schneidert die Ballkleider für die modernen Monarchen. Was die Prinzessin trägt, überlässt die Designerin aber lieber anderen.

L

ediglich die Silhouette ihrer männlichen Models, die an zart gebaute Skispringer erinnert, steht als dezenter Hinweis an Miriam Schaafs ersten modischen Berührungspunkt: An der Nähmaschine ihrer Mutter, die in den 80er Jahren in ihrer Freizeit Skianzüge nähte, entwickelte sie die Faszination für Mode und Schnitte. Die aktuelle Kollektion der Münchner Jungdesignerin ist nicht für den Sport unter freiem Himmel, sondern für dunkle Gewölbe gedacht. Auf dem Laufsteg der Beck’s Fashion Experience präsentierte sie in diesem Frühjahr düstere Drachentöter, um deren schlanke Körper sich märchenhafte Umhänge ranken. Ihre androgynen Prinzen sind der Traumwelt kleiner Mädchen entsprungen. Sie tragen ein Diadem im Haar, eine wallende Schleppe und Paillettenweste, die das moderne Dornröschen ebenso stattlich kleiden könnten. Miriam Schaaf sieht die heutigen Traumprinzen als Helden mit Gitarre und designt nicht nur für mutige Männer, sondern besonders für Bühne und Musik. Nach Schneiderlehre und Schnittausbildung hat Miriam Schaaf an der AMD München studiert und mit Ute Ploier, die ebenfalls für Männer entwirft, in Wien gearbeitet. Ihre Diplomkollektion hat sie bei der Beck’s Fashion Experience 2009 als eines von sieben viel versprechenden

Designtalenten präsentiert. Im Interview spricht sie mit uns über ihre Arbeit als Mens-Wear-Designerin. BLANK: In Berlin hast du bei der Beck’s Fashion Experience nur die Männerstücke deiner Kollektion präsentiert. Wo hast du die Entwürfe für die Frauen versteckt? MiriAM SchAAf: Ich wollte von vorneherein nur Männersachen machen, musste aber von meiner Schule aus für

»Warum sollten Männer immer männlich sein müssen?« Männer und Frauen entwerfen. Die Frauenstücke habe ich für die Show in Berlin rausgeschmissen und dann gemerkt, dass die Männersachen gar nicht mehr so gut zusammen passten, da die Frauenteile das Bindeglied zu den anderen Entwürfen waren. Daraufhin habe ich die Männerkollektion noch einmal neu und rein in schwarz-weiß genäht. BLANK: Woher rührt deine Liebe zur Männermode?

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MS: In erster Linie ist das intuitiv, ich habe eine Affinität dafür und es ist für mich einfacher, wenn ich eine Distanz zu der Person habe, die ich einkleide, als wenn das eine Frau ist, in die ich mich hineinversetzen kann. BLANK: Deine Entwürfe spielen dennoch mit der weiblichen Seite des Mannes und übertreten die Grenze zu femininer Schnittführung. MS: Auf jeden Fall, ich habe auch die komplette Kollektion schon einem Mädchen angezogen und es hat super gepasst. Die Männer müssen noch ein wenig zu mutigerer Mode erzogen werden, aber ich glaube, im Moment wächst eine Generation heran, die unheimlich modeinteressiert ist. Ich empfinde das in München als extrem. Dort sind die männlichen Modefans in den letzten drei bis vier Jahren zuhauf aus dem Boden gesprossen. BLANK: Auf den Laufstegen werden auch die Männer immer dünner, um die schmalen Schnitte der Designer tragen zu können. Ist das Körperbild des Mannes ebenfalls einem Wandel unterzogen und von Mode diktiert? MS: Definitiv. Ich habe meine Sachen auch an ziemlich krassen Hungerhaken gefittet. BLANK: Was machen nun die Männer, die ihren Hungerhaken-Maßen mit 30 entwachsen? MS: Die ziehen das Ganze dann in Größe M oder L an. (lacht)

»Den Sternen würde ich vielleicht auch neue Outfits verordnen.« BLANK: Wolfgang Joop hat vor kurzem gesagt, er fände das Männerbild auf den Laufstegen entwürdigend: „Es entsexualisiert den Mann, macht ihn zum entseelten Objekt.“ MS: Tatsächlich? Ich denke – und das gilt auch für Frauen – dass die Körperbilder der Laufstege dorthin gehören

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und die Übertragung in den Alltag so nicht stattfinden muss. Warum sollten zudem Männer immer männlich sein müssen? Frauen dürfen dünn und androgyn sein und gelten immer noch als schön. Von daher sollte Joop seine Männlichkeit vom Model-Geschmack der Designer nicht bedroht sehen. BLANK: Wie sehen die Männer aus, die du einkleiden möchtest? MS: „Meine Männer“ sind in der Kunst und Musik verortet. Meine Entwürfe er-

positive Reaktionen, von Heteros seltener. Dafür habe ich aber bereits eine Lösung: Meine Kleider sind so konzipiert sind, dass man die extravaganten Teile abnehmen kann. Mein Freund ist kein experimentierfreudiger Modetyp und kann meine Sachen trotzdem tragen. BLANK: Planst du nun eher in Richtung Bühnenoutfits und Bands als in Richtung eines klassischen Labels? MS: Die Verbindung zwischen Musik und Mode ist mir sehr wichtig. Es ist

»Meine Jungs sehen aus, wie man sich als kleines Mädchen einen Prinzen vorstellt.« innern ganz bewusst an Bühnenoutfits. BLANK: Die Namensgebung deiner Kollektionen sind stark durch Musikzitate, Songtitel und Bands inspiriert, über die Musikkultur hinaus spielst du aber auch mit Elementen des Eskapismus. Weckt unsere heutige Welt bei dir den Wunsch nach Realitätsflucht? MS: Sicher, und Mode und Kunst sind für mich die richtigen Orte dafür. Ich bastle mit meinen Entwürfen gerne selbst eine Traumwelt, in die ich mich flüchte, wenn ich denke, mir wird gerade alles zuviel. BLANK: Du entwirfst auf der einen Seite den Prinzen, der Stärke demonstriert und dafür steht, das Burgfräulein aus dem Turm zu retten. Auf der anderen Seite arbeitest du mit starken femininen Einflüssen bei den Männern, lässt sich das überhaupt gut vereinen? MS: Klar. Das Bild vom Prinzen ist eigentlich ein Bild ist, wie sich kleine Mädchen ihren Traumprinz vorstellen und das sind die Gedanken, die ich zitieren wollte. Meine Jungs sehen aus, wie man sich als kleines Mädchen einen Prinzen vorstellt. Sie sind knabenhafter und bauen auf mädchenhaften Ideen auf. BLANK: Was für Reaktionen bekommst du von Männern? MS: Von Schwulen bekomme ich sehr

vielleicht sogar mein größter Traum, nur Kollektionen für Musiker zu machen und Kostümbildner für Künstler zu sein. Ich muss mir nun Bands aussuchen, die in meine Mode „reinpassen“. Ich würde unheimlich gerne Bands ausstatten, und es gibt auch schon erste Kontakte. Am liebsten würde ich die Black Angels anziehen, das ist in Moment meine absolute Lieblingsband und ich finde sie könnten auch neue Outfits vertragen. (lacht) Ich glaube, die wollen nicht unbedingt eine modische Band sein, aber das könnte ich ganz dezent machen. Den Sternen würde ich vielleicht auch neue Outfits verordnen. Junge Bands haben meistens mittlerweile ihre Modeberater, aber die ältere Generation lässt manchmal ein bisschen zu wünschen übrig. BLANK: Du nennst unzählige Musiker als deine Inspiration. Was ist musikalisch dein größter Einfluss? MS: Für meine Diplomkollektion waren es Tocotronic. Ich war etwas verzweifelt, da ich unter Druck stand ein Inspirationsthema präsentieren zu müssen. Zumeist habe ich schon im Vorfeld ein Thema, aber ich vermische es immer noch gerne mit drei anderen und zu dem Zeitpunkt wurde das „Manifest“ zum bevorstehenden Tocotronic-Album veröffentlicht. Ich habe das im Radio gehört, hatte sofort ein Bild vor Augen, wie ich das umsetzen könnte und wusste:


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„Das ist es!“ Den Begriff der Kapitulation modisch umzusetzen, fand ich extrem spannend, weil es genau in der Mode eigentlich immer darum geht zu zeigen, wie unglaublich toll man ist, wie gut man aussieht. Ich wollte dazu ein Gegenstatement zu setzen. So war es in dem Fall weniger das Album oder die Musik, die mich inspiriert haben, sondern eher das Manifest. BLANK: Das klingt beinahe politisch. Dennoch: begab man sich in den letzten Wochen auf die Modewochen überall in der Welt, war von Finanzkrise und ihrer künstlerischen Aufarbeitung wenig zu spüren. MS: Es ist etwas absurd, die Fashion Week ertränkt sich im Glamour. Die Mode zelebriert sich im Eskapismus. Aber es muss ja Bereiche geben, in denen man nicht in Panik verfällt und zu dem steht, was man kann. BLANK: Welche Designer haben dich während der Fashion Week in Berlin begeistert? MS: Als Mens-Wear-Designerin fand ich natürlich Julia Kim bei der Beck’s Fashion Experience sehr spannend; obwohl sie komplett anders als ich arbeitet, hat sie den gleichen Anspruch aus etwas Klassischem etwas Neues zu entwickeln. Sie findet dafür fantastische Lösungen. Und sonst? Ich kenne mich nicht so aus mit Frauensachen, die interessieren mich einfach nicht so. (lacht) Ich bin daher mit meiner eigenen Garderobe ein bisschen nachlässig. Ich gehe ganz selten einkaufen, und wenn, dann meistens in einer totale Krise: Ich denke, scheiße ich bin doch Modedesignerin, ich muss mich besser anziehen. Aber meistens laufe ich in Jeans und T-Shirt rum. BLANK: Was hast Du von deiner Arbeit mit Ute Ploier in Wien mitgenommen? MS: Ich habe große Sprünge gemacht, zumindest im Kopf. Ich hatte bei Ute Ploier erst einmal gemerkt, was es heißt, Designer zu sein. Dass es wirklich in erster Linie einmal auf die Organisation ankommt, und dass „Kollektion machen“ eigentlich nebenbei passiert. Wenn man kurz fünf Minuten Zeit hat, überlegt man sich, wie mach ich eigentlich diese Saison die Hemden? Das professionelle Arbeiten, die Organisation und auch gegen Stress resistent zu sein, habe ich auf jeden Fall von Ihr gelernt. BLANK: Welche Themen werden deine nächste Kollektion bestimmen?

»Die Mode zelebriert sich im Eskapismus.« MS: Ich fange gerade an mich mit „Moby Dick“ zu beschäftigen und habe parallel dazu die Black Angels im Ohr. Es wird wohl eine Fusion aus beiden Einflüssen, zudem sehr hell, wohl weniger typisch für mich, aber für den Sommer. BLANK: Glaubst du, die Männer brauchen noch ein Mal einen starken, modischen Appell um sich mutiger zu kleiden?

MS: Nein, den brauchen sie nicht. Ich glaube, sie finden von allein zur Mode. Sie beziehen Einflüsse aus Musik und dem Netz. Vor ein paar Jahren war es einfach nicht möglich sich umfassend über Mode zu informieren. Mittlerweile ist es so leicht geworden; man erkennt kaum noch Unterschiede ob jemand in einer Großstadt wohnt oder aus der Provinz kommt.

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ALTER HUT FotogrAFie MAttHiAS DAViD hAAre & mAKe up CHRiStiANE FORtiS ViKtORiA BECKiNGER & DENNiS DROENER / megA moDels Agency/berlin

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Verlosung

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Zeigt uns, dass Ihr ein Hut-Typ seid und schickt uns einen Fotobeweis. unter allen einsendern verlosen wir drei schicke H端te aus der aktuellen new era-Kollektion. sendet bis zum 30.04.2009 eine Mail an verlosung@ blank-magazin.de.


EIN STÜCK

INDIVIDUALITÄT text ELMAR BRACHt FotogrAFie MAttHiAS DAViD

Seit 2003 designt und produziert DEVAKi unter dem gleichnamigen Label limitierte Kleinserien und Einzelstücke von Hüten und Kopfschmuck, aber auch Sommer- und Winterkollektionen. Da Hüte innerhalb der BLANK-Redaktion eine große Rolle spielen, haben wir die Gelegenheit genutzt, um ein paar Fragen loszuwerden. BLANK: Was ist das Faszinierende an Hüten und denen, die sie tragen? DEVAKi: Hut zu tragen verbindet Klassik mit Wagemut – diese Kombination fand ich schon immer spannend. Man kann sich hinter einem Hut verbergen, aber auch sein Gesicht umrahmen, und manchmal beides. Außerdem steht eine persönliche Kopfbedeckung über jedem kurzlebigen Trend – sie bleibt, wie ein Maßanzug, zeitlos schön.

BLANK: Ist Berlin die richtige Stadt, um Hüte zu designen und an den Mann/die Frau zu bringen? D: Berlin ist ein Mekka für Individualisten und somit automatisch Hutstadt. BLANK: Was zeichnet Deine Hutkreationen aus? D: Meine Hüte haben eine klare Linie, die durch schlichte Eleganz geprägt ist.

Sie passen sich dem Träger und dem Outfit an, was mir wichtig ist, da ein Hut nicht noch viel Exzentrik braucht. Und trotzdem verpasst er dir ein Stück Individualität, wie das kein It-Bag oder High Heel kann! BLANK: Wie geht es mit DEVAKI weiter? D: Es soll da hingehen, wo es meine Hüte hinträgt.

BLANK: Wo hast du die Hutmacherei gelernt? D: Ich habe im Staatstheater Düsseldorf, die im Kostümbereich eine eigene Hutmacherwerkstatt haben, Modistin gelernt. BLANK: Wer kann Hüte tragen und wer sollte es besser sein lassen? D: Manche können fast jedes Modell tragen. Ansonsten sollte man beim Kauf auf folgenden Punkt achten: für längliche Gesichter eignen sich flachere Modelle besser, höhere Hutformen strecken breitere Gesichter. Meine favorisierten Hutträger sind alle, die ganz frei ihrem persönlichen Geschmack folgen. BLANK: Gibt es so etwas wie einen Lieblingshut, eine Form, ein Model, einen Typ? D:Mein persönlicher Lieblingshut ist der Herrenhut, in der Form des Trilby oder Borsalino. Sie sind das perfekte Upgrade für Outfits von Männern, sowie Frauen. Selbst Jeans und T-Shirt Kombis verleihen sie dandyhafte BritChic-Attitüde.

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GRAUSAM

UND SCHöN text tERESA MOHR & JOHANNES FiNKE FotogrAFie MAttHiAS DAViD

Moderne Zeiten. Zeiten des Online-Fernsehens. Nach dem internetportal MySpace hat auch die „größte deutsche Social-Community“ studiVZ eine Online-Serie kreiert. Signifikant: Das Format von MySpace floppte, während die Pietshow bald in Runde zwei startet.

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ie Pietshow richtet sich an die User des studiVZ, die, der Name des Portals lässt es vermuten, Studenten sind. Also situiert man die Geschichte auch in einer – wenn auch unfreiwillig zustande gekommenen – Studenten-WG und verwendet einen Madsen-Song für den Vorspann: „Grausam und schön“. Diese Attribute treffen auch auf die Pietshow zu. Zum Plot: Piet Worms, dargestellt von Marian Meder, zieht zusammen mit seinem Kumpel Nick nach Berlin. Bei der Einweihungsparty fällt Piet durch die Wand in die Wohnung nebenan, welche – Oh Wunder! – von zwei Mädels bewohnt wird. Das erste Band zwischen den Protagonisten ist geknüpft. Nach anfänglichen Streitereien arrangiert man sich mit dem ungewollten Durchbruch zur jeweils anderen Wohnung, freundet sich an, während Piet die gemeinsamen Erlebnisse für ein Projekt auf seiner Videokamera festhält. Es werden primär voyeuristische Neigungen befriedigt, denn die Zuschauer beobachten in den vier Minuten langen Folgen Piet und Co. bei all jenen Dingen, die Menschen in jener Altersklasse eben so tun: gemeinsam beschämt bis belustigt Pornos schauen, Annäherungsversuche nach Alkoholkonsum, etc. Und natürlich ist eines der Mädchen Vegetarierin und ereifert sich in einer Folge furchtbar darüber, dass Piet ihre Pfanne mit Fleisch verunreinigt hat. Um nicht in die Trivialität abzugleiten, hat Regisseur und Co-Autor Manuel Meimberg die Metaebene aus dem Ärmel geschüttelt: Während Piet die Erlebnisse des Vierergespannes mit seiner Kamera

festhält, verliert er sich mehr und mehr in mysteriösen Anzeichen dafür, dass das, was er, Jessy, Melanie und Nick erleben, einer Fernsehserie ähnelt und versucht herauszufinden, ob ihr gemeinsames Leben tatsächlich Teil eines Drehbuches ist. Die Pietshow ist eigentlich auch nicht mehr als eine moderne Ausgabe von „Friends“. Je länger mehr den Protagonisten bei ihren Zusammenkünften beiwohnt, desto schöner wird es. Und schämen muss man sich fürs Pietshow gucken auch nicht mehr, denn die 15-teilige Serie ist in der Kategorie „Fiction“ für den International Digital Emmy Award nominiert. BLANK: Was hattest du für Erwartungen, bezüglich deiner Rolle in der Webserie „Pietshow?“ MAriAN MEDEr: Zum Casting war ich noch sehr skeptisch, doch es war zu erkennen, dass in dem Format Potential steckt, also nicht unbedingt im Bezug auf Zuschauer- bzw. Zugriffszahlen, aber im Bezug auf innovatives Arbeiten, Neuland betreten, etc. Dass wir mit der ersten Staffel 3 Millionen Zugriffe haben, konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt beim besten Willen noch nicht vorstellen. Noch weniger, dass es dafür eine EmmyNominierung geben kann. BLANK: Was ist das besondere an diesem Format, abgesehen von dir? MM: Es ist ausschließlich im Internet zu sehen und das wird auch wohl eine Weile so bleiben. Darüber hinaus ist es das mit Abstand erfolgreichste OnlineSerien-Format und, wenn man bedenkt, dass wir die 90 Minuten der ersten Staffel in vier Tagen gedreht haben, muss man wohl noch erwähnen, dass da ein

sehr gutes, ambitioniertes und hochmotiviertes Team am Start war. Die Macht war mit uns. BLANK: Hast du als Schauspieler und Protagonist Piet Worms Möglichkeiten, dich und deine Erfahrungen aus Berlin in der Serie mit einzubringen? MM: Bei einem solchen Format bleibt das nicht aus. Ich habe mich mit dem Regisseur angefreundet und wir haben jetzt zum Beispiel für die 2. Staffel viel Brainstorming zusammen betrieben. Das macht dann auch dementsprechend Spaß. BLANK: „Die Pietshow“ bei StudiVZ, „Candygirls“ und demnächst „Größer als Gott“ bei MySpace, „Torstraße Intim“ – wie geht das weiter? MM: Ja, die Webserien sprießen jetzt wie Pilze aus dem Boden, aber da ist eine Menge Müll dabei und seltener die Macht. Grundsätzlich glaube ich, dass sich künftig mehr Formate ins Netz bewegen und auch mehr Formate speziell dafür konzipiert werden, wir geben dafür gerne das gute Vorbild ab und die aktuelle Emmy-Nominierung zeigt, dass die Pietshow wohl den richtigen Weg eingeschlagen hat. BLANK: Hüte sind in dieser Ausgabe ein etwas größeres Thema. Was hat es mit deinem auf sich? MM: Diesen Hut habe ich während meiner Zeit an der Freiburger Schauspielschule einem Kollegen geklaut und während ich den so aufhatte, merkte ich, wie ich mich in diesen Hut verliebte. Das war mir vorher nicht so passiert, Hüte gehörten nicht zu meinem Look. Den Hut habe ich noch immer, Kontakt mit dem Kollegen von einst weniger.

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KRISEN

GEWINNLER text tiLL WiLHELM FotogrAFie GEFFEN

Rise Against haben die gesellschaftliche Relevanz in den Punkrock zurück gebracht. Denn obwohl sie in Nordamerika im tV vorkommen, obwohl sie für große Sponsoren werbewirksame Sessions spielen, gerät dadurch das Anliegen nicht in den Hintergrund, etwas zu transportieren. Die wütendsten Songs werden die Singles und nicht auf den hinteren Rängen der Albumdramaturgie versteckt, und die Anhängerschar wächst. Krisengewinnler wider Willen.

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ch hätte keine Probleme damit gehabt, wenn wir mit den Inhalten, für die wir stehen, Einzug in den Mainstream gefunden hätten. Aber es kam anders: Dank Bush und der aufziehenden Krise kam der Mainstream zu uns. Unsere Themen und unsere Musik sprechen eine immer größer werdende Schar von Menschen an. Wenn Punk zu Mainstream wird, habe ich nichts dagegen. Natürlich würde es genügend Leute geben, die nur an der Oberfläche des Phänomens kratzen. An der Attitüde des Punk selbst würde das nichts ändern. Punk is about having guts, you know?“ Das sagt Rise-Against-Sänger Tim McIllrath und hebt sich damit erfrischend von den Attitude-Beschwörern, den Hütern der reinen Lehre, ab, für die Mainstream der Feind und Platten verkaufen Sünde ist. Was soll er aber auch sagen? Es läuft gut. Platin in den USA und Kanada, hohe Chartplatzierungen für das aktuelle Album „Appeal to Reason“ auch hierzulande und eine ausverkaufte Europatour. Und doch: Krise, Krise, Krise. Die weltwirtschaftliche Apokalypse steht ins Haus oder wird wenigstens von Medien und Untergangspropheten gleichermaßen beschworen. Eine tolle Situation für eine politische Rockband. Reibungspotenzial ohne Ende. Und in diese Situation stößt ein Hoffnungsträger, der mit alldem nichts zu tun hat und jetzt mit einem Paket aus diffusen Erwartungen und vagen Hoffnungen des Westens als Hypothek ins Rennen geschickt wird. Tim McIll-

rath, ist diese Situation für einen neuen Präsidenten Obama eher Bedrohung oder Chance? „Zumindest haben wir mit diesem Präsidenten eine bessere Chance, die Situation zu meistern, als wir es mit einem Präsidenten McCain gehabt hätten. Eine große Herausforderung für ihn, denn er hat eine Menge Probleme von seinem Vorgänger und den rechten Republikanern geerbt. Die Bush-Administration hat sich zu sehr darauf konzentriert, Geschäftsbeziehungen mit privaten Unternehmen aufrecht zu erhalten, anstatt die Probleme in unserem Land als auch die außenpolitischen Herausforderungen anzuneh-

»Auf unseren Konzerten geht es darum, dass wir alle eins sind.« men. Aber Obama wird diese Probleme zumindest angehen, auch wenn er eine sehr komplizierte Aufgabe vor sich hat.“ Dass Musiker und Künstler aus anderen Disziplinen sich politisch zu engagieren haben, ist für den 29-jährigen selbstverständlich. Das Cover des Albums zieren nicht nur Lese- und Filmtipps, sondern auch der Hinweis, dass Cover und Booklet aus recyceltem Material bestehen. Rise Against nehmen ihre Sache und vor allem ihre Verantwortung als mündige Künstler ernst. „Musiker können sowohl

das Hirn als auch das Herz ihrer Zuhörer erreichen, das gibt ihnen eine gewisse Macht, die sie mit Verantwortung nutzen müssen. Es geht darum, den Leuten zu sagen, dass sie sich engagieren sollen. Wir wollen ihnen nichts vorschreiben, unsere Einstellung zu den Dingen wird ja sowieso recht deutlich.“ Wie frustrierend ist es, vor dem Hintergrund des selbstauferlegten Bildungsauftrags jeden Abend vor einem Publikum zu spielen, das die Botschaft der Band sowieso schon kennt, fragt man sich, wenn man dem Sänger mit den beiden verschiedenfarbigen Augen so engagiert dozieren hört. „Es ist natürlich nicht besonders fruchtbar, wenn du deine Botschaften unter eine Menge bringst, die die richtigen Antworten sowieso schon kennt. Deshalb freuen wir uns, dass wir nach und nach ein größer werdendes Publikum erreichen. Aber vergiss nicht: Wir sind Musiker, keine Politiker. Auf unseren Konzerten geht es darum, dass wir alle eins sind und wir alle gemeinsam das Gefühl haben, ein Team zu sein.“ Mit im Boot haben sie die Tierschutzorganisation PETA, die Organisation der Irak-Veteranen gegen den Krieg und einen ganzen Haufen an guten Botschaften in schlechten Zeiten. Fast hofft man, dass sich die Zeiten nie ändern werden, nur damit Bands wie Rise Against gegen sie ankämpfen können. Zum Schluss: Kann es denn überhaupt besser werden? „Ich bin immerhin sicher, dass wir in vier Jahren wieder irgendwo Krieg führen werden. Wir Amerikaner vergessen sehr schnell, was wir aus der Geschichte gelernt haben.“ Rise Against muss es auch in 20 Jahren noch geben, soviel steht fest.

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A HEARTFUL text tERESA MOHR FotogrAFie MAttHiAS DAViD

Es ist mal wieder passiert. ich bin verliebt. Diesmal ganz schön heftig. Und gleich in zwei Personen, nämlich in Olivia und Dan aus Frankreich. Dass ich nicht die Einzige bin, denen die Beiden das Herz beflügeln, ist wunderbar und richtig. Denn the Dø und ihre Musik stehen für geistige Freiheit und individualität. Jenseits von Bezugsgrößen, frei nach dem Prinzip „Free your mind, and the rest will follow.“ Lovely. BLANK: Wie war es, sich vom einsamen Komponisten, der tagtäglich allein an seinen Sounds tüftelt, zum Teamplayer zu entwickeln? DAN: Es ist schon eine Umstellung. Die Fehler, die du machst, hörst auf einmal nicht mehr nur du, und wenn du etwas 100 Mal wiederholst, schlägt sich das auf dein Team nieder. Man kann nicht mehr hoch konzentriert arbeiten. Am Anfang hatte ich Angst, ja. Allerdings ist es ja so, dass die Zusammenarbeit mehr Kreativität bringt, wodurch ich mich stärker fühle. Also ist das cool. Für mich war es viel schwerer zu sagen: „Jetzt spielen wir unsere Songs auf der Bühne, wo man natürlich keinerlei Fehler machen sollte.“ Das kann ja schließlich heutzutage jeder immer wieder auf Youtube sehen. Das war viel schwieriger. BLANK: War es schwer, Kompromisse zu finden? OLiViA: Nicht wirklich. Nein. Am Anfang war es so, dass wir noch gemeinsam diese Filmprojekte gemacht haben und trotzdem den Großteil unserer Zeit damit verbrachten, an unseren eigenen Songs zu arbeiten. Wichtig war es, erstmal loszulassen und sich auszuprobieren. Das war neu für Dan, und die Studioarbeit war neu für mich. Es ging eher darum, herumzuexperimentieren, nicht um Kompromisse. Wir wollten Dinge ausprobieren, die wir noch nicht kannten oder noch nie gemacht hatten. Und das hat Spaß gemacht. Denn Dan brachte all diese Musikinstrumente und seine ambitionierten, symphonischen Arrangements mit ein und ich das Schreiben, das Skelett der Songs. Die ersten Songs, die wir gemacht haben, waren „Playground Hustle“ und „Queen Dot Kong“ und das sind doch die experimentellsten.

BLANK: Wie hast du es hinbekommen, so zu rappen, wie bei „Queen Dot Kong“? OLiViA: Ich war auf der Hip-Hop-Uni, bei Professor Dre. Nein, ehrlich gesagt hätte ich nie gedacht, dass ich rappen könnte. DAN: Eines Tages hat sie bei einem Song von Eminem mitgesungen, sie hatte den selben Flow, alles. Das wollte ich unbedingt versuchen. Wir mögen den Song sehr, wir haben noch andere gemacht und wollen wieder welche produzieren, aber das ist unser liebster Rapsong. OLiViA: Es geht darum, Spaß zu haben, Spaß an den Worten und dem Rhythmus.

BLANK: Habt ihr diesen Erfolg erwartet? DAN: Nein, wir haben nichts erwartet. Ich habe ja nicht einmal erwartet, überhaupt einmal Teil einer Band zu sein und ein Album zu veröffentlichen. Ich dachte immer, der beste Weg für mich sei dieses Film- und Theaterding. Ich dachte, ich wäre glücklich damit. Und jetzt, im Nachhinein, nachdem ich frei geworden bin in dem was ich tue, sehe ich das ganz anders. Denn damals hat mir immer jemand vorgegeben, was ich tun sollte. Jetzt machen wir, was wir wollen. Und das ist das Beste. Das ist es einfach.

»Ein Cembalo oder eine Harfe auszuprobieren, kann Inspiration für einen ganzen Song sein. Dann benutzen wir diese Sounds – und sie sind wie Spielzeuge für uns.« Das sind nicht die Lyrics, die ich normalerweise schreiben würde oder auf die ich besonders stolz wäre. Aber es macht Spaß, das ist einer der großartigsten Songs, on stage. Die Leute lieben es und wir auch. Man muss am Anfang einfach viele Dinge ausprobieren, gerade, wenn man selbst so viel Verschiedenes hört. Es geht uns nicht darum, im Vornherein Türen zu verschließen, sondern es immer erst einmal zu probieren. Man kann die Sachen danach doch immer noch über den Haufen werfen.

BLANK: Habt ihr neben dem Video eigentlich alles allein gemacht? OLiViA: Ja, auch die Fotos, Myspace, die Homepage. Ich denke, dass es für uns sehr förderlich war, das Internet als Startpunkt und Katalysator zu haben. Ohne die Möglichkeit, selbst eine Seite zu machen, Fotos einzustellen, so wie wir es wollten, wären wir nicht so unabhängig gewesen. Das war unser Vorteil, denn als die Plattenfirma uns ein Angebot machte, waren wir bereits so populär, dass wir sagen konnten, wir würden nichts ändern.

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Das ist es auch was es uns ermöglichte, so schnell in die Charts zu kommen. Vor ein paar Jahren wäre das unvorstellbar gewesen. Besonders in Frankreich, wo es schon damit anfing, dass ich nicht auf Französisch gesungen habe. Dabei war es für mich schon immer klar, dass ich mein ganzes Leben lang Englisch singen würde. Es gab immer ein paar Ärsche, die mir sagen wollten, ich solle das nicht tun. Warum? Mir egal. BLANK: Ihr scheint gerne herumzuexperimentieren, regelrecht zu spielen, oder? Bei „Playground Hustle“ musste ich an Peter Pan, an Pippi Langstrumpf und andere Kinderfiguren denken. OLiViA: Ja, ich spiele gern. Genauso arbeiten wir im Studio. Wir spielen mit den Instrumenten, technisch sind wir ja nicht besonders raffiniert oder befähigt. Aber wir versuchen uns. Ein Cembalo oder eine Harfe auszuprobieren, kann Inspiration für einen ganzen Song sein. Dann benutzen wir diese Sounds – und ja, sie sind wie Spielzeuge für uns. Wir möchten auch einfach nicht, dass unsere Musik zu dunkel klingt, denn wir sind nicht dunkel. DAN: Es ist seltsam. Wenn du im Musikbusiness arbeitest und glücklich bist, überrascht das viele. Eine Menge Jour-

»Wenn du anfängst, Musik zu machen, musst du alles vergessen.« nalisten fragen uns, warum wir so viel lächeln und so glücklich auf der Bühne wirken. Was ist das für eine Frage? – Wir machen Musik! Wir gehören eben nicht zu diesen traurigen Erwachsenen. Was nicht heißt, dass wir Kinder sein möchten. Aber ein Kind kann ein Bild malen oder an einem Instrument herumspielen, ohne sich über irgendetwas Gedanken zu machen. Wir Erwachsenen verlieren diese Fähigkeit oft. Wir wurden in einem Interview gefragt, was wir gelernt haben, und ich antwortete „We learned to forget what we learned.“ Wenn du anfängst, Musik zu machen, musst du alles vergessen. Ich mache mir keinen Kopf

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MUSIK

»Eine Menge Journalisten fragen uns, warum wir so viel lächeln und so glücklich auf der Bühne wirken. Was ist das für eine Frage? – Wir machen Musik!« über Björk, Radiohead oder sonst wen. Ich möchte das sein, was ich sein kann. BLANK: Fühlt ihr euch ins Musikbusiness vollständig involviert? DAN: Nein, wir sind dagegen, sich davon einengen zu lassen. Aber auf Festivals spüre ich diesen Business-Druck auch manchmal. Das ist nicht, als ob sich Leute treffen, um Musik zu machen, sondern wie ein Mediziner-Kongress. Mit den ganzen Journalisten, die sich Notizen machen. Für uns ist das ziemlich bizarr. Wir haben zum Glück die Freiheit, den Leuten zu zeigen, dass man jede Menge Platten verkaufen und das tun, was man tun möchte, kann. Das ist Freiheit. Wenn wir uns mit diesem Business auseinandersetzen, dann nur, damit wir zeigen können, dass man trotzdem authentisch bleiben kann. Und die meisten merken auch, wenn wir nein sagen, heißt es nein. Es ist wichtig zu zeigen, dass wir nicht hier sind, um Geld zu verdienen. Das ist uns egal. Was ich auch immer seltsam finde ist, dass die Leute gleich denken, man würde sein Geld jetzt sofort ausgeben – wie viele mich gefragt haben, ob ich mir jetzt ein neues Auto kaufen würde! So etwas interessiert uns gar nicht. Wir wollen Mikrophone, und Gitarren und einen Bass, etwas womit wir Musik machen können. OLiViA: Wir haben in diesem Business so viele Arschlöcher getroffen, Leute, die uns das Geld aus den Taschen ziehen wollten. Selbst wenn du auf alles versuchst, ein Auge zu haben, die schaffen es irgendwie immer. Deshalb musst du irgendwann eben doch anfangen, aufs Business zu achten. Man wird schon leicht paranoid. BLANK: Wie steht ihr zu Majorlabels? DAN: Man fragt sich, wieso lauter Leute Geld mit deiner Musik verdienen, obwohl sie eigentlich nichts dafür tun. Da wird viel zu viel verschleudert. Deshalb finde ich es auch nicht beklagenswert, dass die Majorlabels langsam den Bach runterge-

hen, während sich Leuten wie uns, die zu Hause im Studio produzieren, durchs Internet ganz neue Möglichkeiten bieten. Alles ziehen sie den Leuten aus der Tasche und heulen dann noch jeden Tag rum. Die Majors verdienen einfach zu viel Geld. OLiViA: Viel zu viel Geld. Ich muss allerdings klarstellen, dass wir nicht völlig dagegen sind, mit einem Label wie Universal zu arbeiten. Wir werden auch von denen vertrieben – man muss es schaffen, die guten Möglichkeiten aus solch einer Zusammenarbeit zu schöpfen. Was uns nicht gefällt, ist, wenn Dinge über den Kopf der Band entschieden werden. BLANK: Apropos Business – was war die Idee zu den „Searching Gold“- Lyrics? DAN: Wir lieben den Song sehr. Wir haben ihn geschrieben, bevor wir vom Musik- und Medienbusiness auf die Probe gestellt wurde. Und jetzt beschreibt der Text genau das, was wir durchleben. Am Anfang sind alle Freunde, schützen sich gegenseitig, und kaum kommt das Geld beziehungsweise Gold ins Spiel, gibt es keine Freunde mehr. Bizarr. OLiVA: Das sind alles menschliche Klischees. Ich wollte es eher wie ein Märchen haben, märchenhafte Songs schreibe ich sehr gern. BLANK: Hattest du vor The Dø schon literarische Ambitionen? OLiViA: Ich habe in Bands gespielt und studiert – englische Literatur. Ich fand es toll und lese immer noch sehr viel. Am liebsten sind mir die Bronté-Schwester, sie waren so passioniert und haben sehr isoliert in den Mooren von Yorkshire gelebt. Und sie waren zwei der wenigen gebildeten Frauen zu dieser Zeit. Außerdem gehörten sie zu den ersten Feministinnen. Sie wollten Bildung und es reichte ihnen nicht aus, nur am Feuer zu sitzen und zu stricken. Sie schrieben. BLANK: Wann kommt das zweite Album? BEiDE: Hoffentlich noch in diesem Jahr.


DAS RAPPENDE

INFERNO text tERESA MOHR FotogrAFie VALENtiN SELMKE

Weihnachten war es, als publik wurde, dass Yo! Majesty, die „Gay Godesses Of Rap“, 2009 zu einem einzigen Konzert nach Deutschland kommen würden.

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eute, am dritten März, ist es soweit: Yo! Majesty performen im „Scala“. Einlass um zehn, erste Tänzer um elf. „Dj Coop“ legt auf. Harte, extrem schnelle Elektrobeats prasseln auf das Publikum nieder. Angemessen, um auf Yo! Majesty einzustimmen. Der Raum füllt sich mit unterschiedlichsten Versionen Mensch: ein paar lesbische Pärchen sind da, um die ersten bekennenden homosexuellen Rapperinnen zu unterstützen, dazu einige Hip-Hop-Heads, der Rest ist typisches Berlin-Mitte-Partypublikum. Dels, der Londoner Support, betritt zwei Stunden nach Einlass die Bühne. Erfrischenderweise hält er als einzige Untermalung seiner Raps ein Schlagzeug bereit, trotzdem bleibt das Publikum eher reserviert. Nach zwei Tracks hat es sich für Dels schon aus-supportet und es folgt eine weitere halbe Stunde des Wartens, in der meine Begleitung und ich von der be-

trunkenen Frau hinter uns belästigt werden. Und dann – halb eins – betreten Yo! Majesty endlich die Bühne. Im Hintergrund haben sie einen Gitarristen und den Mann an der Elektronik stationiert. Shon B trägt eine Krone über ihrem Basecap. Zu Recht. Mit „Club Action“ geht es vielversprechend los, eigentlich müsste der Club bereits jetzt einsturzgefährdet sein, weil die Menge so bounct. Aber nein. Eigentlich ist nur eine Ecke in steter, heftiger Bewegung, und feiert das Duo aus Florida. Als das auch noch beim dritten Track, nämlich „Booty Clap“, so ist, schimpft Jwl B zu Recht: „Entweder ihr in den vorderen Reihen fangt an, euch zu bewegen oder ihr könnt euch verpissen!“ Das Publikum scheint sie verstanden zu haben, langsam gewinnt die Masse an Schwung. Und dafür gibt Jwl B auf der Bühne buchstäblich ihr letztes Hemd her, bei „Don’t Let Go“ zieht sie ihr T-Shirt aus, wirft sich auf die Knie, ist in absoluter Ekstase. Shon B dagegen bleibt durchgängig cool. Trotz der Rüge – selbst bei „Kryptoni-

te Pussy“ ist das Publikum nicht mal richtig aus dem Häuschen – die Hälfte der Leute scheint gar nicht wegen der Band hier zu sein. Verhängnisvolle Vergnügungsmeile BerlinMitte? Oder doch zu wenig Promotion? Das Konzert kommt trotz mittlerweile aufgetautem Publikum irgendwie nicht richtig in Gang, und Shon B und Jwl B scheinen langsam die Lust zu verlieren. Trotzdem bieten sie mit „F****d Up“ noch einen absoluten Höhepunkt, zu den Klängen der E-Gitarre schreit sich Jwl B die Seele aus dem Leib. Durch ihre nackte Brust kann man förmlich auf ihr Herz schauen; wie sie sich auf der Bühne windet, der Rücken verkrümmt. Es zeigt sich: Trotz maskulinem Gehabe (wie unter anderem der ständige Griff in den Schritt) ist Jwl B eine zarte, empfindsame Frau. Auf der Bühne gerät das zu einer explosiven Mischung. Aber nach gerade sieben Tracks ist damit trotzdem erst einmal Schluss, und die Zugabe speist sich aus bereits performten Titeln. Vorfreude bleibt eben doch die schönste Freude.

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DIE

UNENDLICHKEIT

DER SEELE text tERESA MOHR FotogrAFie MAttHiAS DAViD

Maximilian Hecker macht Kuschelrock. Weil er es muss; weil er es kann. Und ehrlich – da stehen wir drauf.

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ch nehme lieber eine neue Flasche Wasser. Bei der angefangenen hat doch bestimmt schon jemand dran rumgeschnuddelt.“ – man könnte Maximilian Hecker eine gewisse pedantische Schrulligkeit vorwerfen, während er sich mit mir an der Bar der Location fürs Fotoshooting bedient. Wenn das denn wirklich schlimm wäre. Tatsächlich ist der in Heidenheim geborene und als „Berlin Mittes Lieblingsadoptivsohn“ bezeichnete Hecker aber ein sehr angenehmer Zeitgenosse. Ruhig, zurückhaltend. Trotzdem bestimmt. Und zielstrebig: als er auf Berliner Straßen steht und Coverversionen spielt, um endlich entdeckt zu werden, hat er Glück. Sein erster Fan ist Ex-Lassie-Singer Almut Klotz. Sie gründet mit Jim Avignon die Band „Maxi (unter Menschen)“, in der Hecker Schlagzeug spielen soll. Bald aber reifen die ersten Songs und das Bedürfnis nach musikalischer Selbständigkeit heran – Maximilian Hecker unterschreibt bei Kitty Yo seinen ersten Plattenvertrag und produziert in den darauffolgenden Jahren Alben am laufenden Band. Alben, die von grenzenloser Romantik, manch böse Zunge möchte das als Kitsch bezeichnen, geprägt sind und in dem Land, in dem die Romantik das Licht der Welt erblickte, ein großes Medieninteresse hervorrufen. Denn obwohl man sich im ersten Augenblick noch über Maximilian Heckers große Gefühle lustig machen möchte – immun ist man gegen seine hochkultivierten Herzschmerzballaden nicht, ertappt sich, wie man auf dramatischen Melodiebögen und tieftraurigen, zu peinlicher Ehrlichkeit verdichteten Textzeilen wie „Where are the days when I was young?/Now I’ve got to face reality/I’ve got to face the pain“ davon

treibt. Heckers große Stärke ist gleichzeitig seine größte Schwäche: Das Sich-Bekennen zu „romantischen, schwelgerischen Gefühlen“, wie er das nennt. Die Presse, die ist deshalb am Ende eben doch immer auf seiner Seite. Und das Goethe-Institut, das schickt ihn 2003 zur Verbreitung seiner Verse mit Barbara Morgenstern auf Welttournee. Schwelgen ist ein für ihn unbedingt notwendiger Ausgleich, erklärt Hecker und nimmt einen Schluck Wasser: „Ich selbst bin sehr streng mit mir, sehr gefühlsreduziert im Alltag. Durch meine Musik finde ich einen Weg, Gefühle zuzulassen und auszuleben.“ Anlässlich der Veröffentlichung seines sechsten Albums „One Day“ sitzen wir hier

»Männliche asiatische Popsänger singen wie soulartig trainierte Boybandmitglieder.« an weiß lasierten Holztischen auf schwedischen Kissen, in einer zum In-Restaurant aufgestylten ehemaligen Fleischerei. Hecker ist erkältet und zieht gerade um – das verwirrt ihn sichtlich, er kann sich schwer konzentrieren: „Überall in der Wohnung diese Unordnung... wenn nur schon geputzt wäre. Alles ist staubig, das macht mich kirre. Ich bin schon ziemlich ordentlich.“ Während er in Deutschland „indie“ ist, spielt der schmalbrüstige Hecker, der in Jogginghose und Schlabberpulli vor mir

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sitzt, in Asien einer ganz anderen Liga. Dort – genauer in Taiwan, Korea, China und Hong Kong – ist er ein Popstar: „Die Band „Air“ hat mal gesagt: ‚In Japan fühlen wir uns regelmäßig wie die Beatles.’ und ich glaube, das beschreibt das Gefühl, in Asien aufzutreten, ganz gut. Die Menschen sind sehr viel euphorischer. Sie haben ihre Idole und ich bin eben auch so ein Idol für meine Fans. Es herrscht eine gewisse Hysterie und die Leute sind sehr aufgeregt, wenn sie mich dann nach dem Konzert beim Autogramme schreiben sehen.“ Und das, obwohl oder gerade weil Hecker so gar nicht dem Bild entspricht, das asiatische Popstars sonst abgeben: „Männliche asiatische Popsänger singen wie soulartig trainierte Boybandmitglieder. Hauptsächlich. In Asien wird das Beherrschen von Technik und Virtuosität ganz groß geschrieben – so wie wir das hier aus dem Mainstream-Popgeschäft auch kennen. Ich stelle dann dort natürlich eine gewisse Ausnahme dar – auch dadurch, dass ich äußerlich ganz anders erscheine, ein ganz anderes Männerbild verkörpere. Und dadurch, dass ich nicht Musik mache, um mein technisches Können zu beweisen. Vielleicht merken die, dass es tatsächlich darum geht, das da jemand Musik macht, ohne an Technik zu denken, sondern seine Gefühle durch das

»Hier gelte ich als uncool. Dort fragen die sich gar nicht, ob das cool oder uncool ist, sondern sie merken: die Musik handelt von Gefühlen.« Singen ausdrückt.“ Dass Hecker so erfolgreich ist, hat viel mit der asiatischen Mentalität zu tun. Die Leistungsgesellschaft fordert persönliche Zurücknahme zugunsten des Kollektivs, ähnlich wie der Künstler selbst schaffen sich die Asiaten mit Hilfe der Hecker‘schen Melodien die Möglichkeit, zu kompensieren: „Wenn man sich die Popmusik in Asien anschaut, sieht man, dass 70 bis 80 Prozent der Lieder romantische Balladen sind. Wir würden das erstmal gemeinhin als Kitsch bezeichnen. Aber das ist vorschnell geurteilt. Denn ich glaube, der Stellenwert von romantischen Gefühlen und Schwelgereien, ist ein ganz anderer als bei uns in Europa. Hier gelte ich als uncool. Dort fragen die sich gar nicht, ob das cool oder uncool ist, sondern sie merken: die Musik handelt von Gefühlen. Und die Musik gibt ihnen die Möglichkeit, zum Beispiel für die Dauer ei-

»Man wird nervöser und pingeliger und neurotischer.«

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nes Konzertes, ihre Strenge und die Anforderungen der Gesellschaft und ihrer Eltern über Bord zu werfen.“ Trotz aller Anerkennung – der Rummel um seine Person ist Maximilian Hecker unheimlich: „Das ist nicht leicht für mich, weil ich dann immer denke: ‚Ihr kennt mich doch gar nicht.’ – es handelt sich nicht wirklich um mich als Person. Es verwirrt mich und es macht mich unsicher. Mancher würde jetzt denken, ich würde mich in dem Moment, in dem ich bewundert werde, schön und stolz fühlen. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Ich fühle mich meistens hässlich und unliebenswert. Ob man einen Vortrag hält oder was auch immer, durch das Bewusstsein, dass jemand anders einen ansieht, verändert sich auch der Blick, den man auf sich selbst hat. Man versucht dann, sich in den Augen des Anderen zu sehen, achtet mehr auf sein Äußeres, seine Schwächen, will möglichen Erwartungen gerecht werden. Man wird nervöser und pingeliger und neurotischer.“ Lieber ist ihm da noch die Straßenmusik mit ihrem gewissen Zauber, der dadurch entsteht, dass „keiner zuhört“. – „Das ist wunderbar. Es ist so schön, man merkt, dass es ausschließlich um die Musik geht. Selbst wenn mich keiner hören würde, könnte ich immer noch Straßenmusik machen. Das ist so ein halb öffentlicher Raum, anders, als wenn man auf der Bühne steht, und anders, als wenn man ganz für sich allein spielt. Es klingt einfach anders, die Wahrnehmung der eigenen Musik verändert sich.“ Trotzdem, beim anschließenden Fotoshooting macht er ganz und gar nicht den Eindruck, als wäre ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit unangenehm, Maximilian Hecker scheint sich wohl zu fühlen in seinem selbstgewählten Outfit aus Jogginghose, Pelzmütze, pelzigem Oberkörper und posiert geduldig, aber nicht ewig. Denn er hat noch eine private Mission zu erfüllen: Parkettreiniger kaufen, um die neue Wohnung endlich zu wischen und seinen Frieden zu finden. Bevor er geht, trinkt er schnell noch sein Glas Wasser aus. Ordnung muss sein.



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»ICH SEHE MEINE

SEELE NICHT VERKAUFT, WENN WIR KLINGELTöNE

ANBIETEN.« TexT TErESA MOHr FoTograFie MATTHiAS dAVid

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die Kilians sind jung. die Kilians rocken. Aber nicht an der Armutsgrenze.

s dunkel und es ist kalt. Ich betrete das gespenstisch große UniversalGebäude in Berlin. Der Fahrstuhl befördert mich in den achten Stock, dort bietet sich mir ein atemberaubender Anblick aus Glas, Holz und noch mehr Glas. Hier treffe ich gleich die Kilians. Die Dinslakener veröffentlichen am dritten April ihr zweites Album „They Are Calling Your Name“. Grund genug, um sich die fünf Indierocker ein weniger näher zu betrachten: Ihren Namen haben sie dem Zuckermayer-Stück „Der Hauptmann von Köpenick“ entlehnt: Kilian ist der anfänglich devote Bedienstete des Bürgermeisters, der aber später seinen Vorgesetzen auf Anweisung des falschen Hauptmannes ins Gefängnis verfrachtet, sich also in gewisser Weise auflehnt. Dass der Name auch ein bisschen Programm ist, stellt sich heraus, als ich danach frage, was die Kilians jetzt besser wüssten, als bei der Produktion ihres Album-Debuts. „Man weiß vieles, was man nicht wissen wollte. Die Diskrepanz zwischen Musiker und Plattenfirma ist ja immer, dass der eine seinen künstlerischen Output hergibt und die andere Seite das vermarkten möchte. Das ist gefährlich. Wichtig ist auch das Vertrauen zu den Leuten, mit denen wir zusammenarbeiten, da kann man leicht auf die Schnauze fallen.“ Beispiele für gescheiterte Ehen zwischen Künstlern und Plattenfirmen gibt es in der Musikindustrie genug. „Gerade weil wir uns seit der letzten Platte viel intensiver mit dem ganzen Scheiß auseinandersetzen, haben wir viel mehr Dinge in Frage gestellt. Und sei es nur, um einfach noch mal darüber zu reden. Beispiel Klingeltöne – da hat man uns beim ersten

Album einfach nicht gefragt, wir haben das zufällig herausgefunden und haben die Leute zur Rede gestellt, gefragt, warum wir in diese Entscheidung nicht einbezogen wurden. Dann wurden die Klingeltöne wieder entfernt und wir haben gesagt: ‚OK, lasst uns Klingeltöne machen.’ Da muss man hinterher sein.“ Die Kilians sind ja auch nicht zufällig bei Universal Music gelandet: „Unser Anspruch als Band ist, dass Leute uns hören sollen. Wenn wir das nicht wollten, könnten wir auch woanders hingehen. Dann säßen wir nicht hier und hätten nicht dieses Arbeitsverhältnis mit Universal.“ Nicht bei einem Majorlabel gesignt,

»Das ist es, was wir bei dieser Platte gelernt haben: freudig zu diskutieren.« wären die Chancen darauf, dass Pete Doherty sie 2008 fürs Vorprogramm der Babyshambles engagiert, auch sichtlich geringer gewesen. Schwein gehabt, er hat sie gehört. Und überhaupt, radikales Indie-Getue halten die Kilians für „verkackten Idealismus“. „Verständlich ist, dass man möchte, dass die Kunst, die man macht, auch als solche behandelt wird. Aber jede Plattenfirma hat das gleiche Ansinnen – Platten verkaufen. Es ist stark zu bezweifeln, dass die Leute in dem Moment, wo sie die Möglichkeit bekommen, da wirklich so idealistisch rangehen und ei-

nen Vertrag beim Major ablehnen.“ Ein Vertrag beim Major bedeutet ja auch lange nicht, dass man unbedingt Erfolg haben wird. Doch dass sie ein Händchen für guten Sound haben und live außerordentliche Leistungen erbringen, haben sie schon auf ihrer ersten Tour mit Tomte bewiesen. Dort haben sie erstmal locker 700 EPs verkauft – und das als bis dato unbekannte Vorband. Ein Vertrag beim Majorlabel bedeutet auch nicht, dass man völlig abhebt. Simon gibt in Köln, wo er lebt, nebenbei Gitarrenunterricht und auch beim Videodreh für die erste Single „Said And Done“ war die Band mit dem Schleppen von Musikinstrumenten auf kanarische Anhöhen beschäftigt: „Das ist einfach normal. Beim Videodreh habe ich mir auch ab und zu gedacht, dass jeder außer mir für jeden Tag bezahlt wird. Ich bin auch noch der, der danach die Fresse in die Kamera halten und lächeln muss. Im Endeffekt gehen wir aber auch da wieder raus, weil wir wollen, dass das ein schönes Video wird. Und es zeigt, dass man während des Prozesses den ganzen Prozess in Frage stellen muss. Weil du eben nicht hingehst und sagst: „Geil, geil, geil!“ Das ist es, was wir bei dieser Platte auch gelernt haben: freudig zu diskutieren. Und wenn etwas tot geredet wird. Lieber so, als gar nicht. Wir dürfen niemals im Nachhinein mit irgendetwas unzufrieden sein.“ Grund zur Unzufriedenheit besteht auch bei „They Are Calling Your Name“ nicht – mit ihrem Zweitwerk haben die Kilians ihr Gespür für eingängigen Indierock erneut bewiesen und lassen uns beim Hören von „Who Will Win“ oder „You Should Be Thinking Of Me“ das Wasser im Munde zusammenlaufen, wenn wir an die bevorstehende Open-Air-Saison und Rampensau Simon denken.

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UND ZWISCHENDRIN:

AM LIEBSTEN STILLE TexT TErESA MOHr FoTograFie MATTHiAS dAVid

Alev lenz ist das „Storytelling Piano Playing Fräulein“. bewaffnet mit einer Ausstrahlung, an der man schwer vorbeikommt und einem Album voll sorgsam instrumentalisierter Songwriterperlen, hat sie sich aufgemacht, die postmoderne Ödnis im bereich „deutsch, weiblich und am Klavier“ mit ihrer Saat wieder zum blühen zu bringen. die Chancen dafür stehen gut. Um den Status Quo festzuhalten, haben wir sie in ihrer berliner Wohnung besucht. BLANK: Wir sind hier in deiner Wohnung. Wo bist du zu Hause? ALEV LENz: They say home is, where the heart is. Momentan fliegt es aber irgendwo rum. Ich würde sagen: Überall und nirgends. BLANK: Wie war die Arbeit am Album, wie lange hat es gedauert, die Platte zu machen? AL: Ewig! Erstmal Songs schreiben, dann proben. Vor Publikum, vor sich selbst. Dann einen Produzenten finden. Dann die Aufnahmen planen. Die Songs wieder proben, instrumentieren und weiter proben und weiter live spielen. Danach Plattenfirma suchen und von den Majors um kostbare Zeit beraubt werden. Tiefschlag, wieder aufstehen, sich aufrappeln, nicht unterkriegen lassen. Platte Mischen und Mastern und die ganze Sache alleine angehen. Zweifeln. Nicht mehr Zweifeln. Mutig sein. Die Platte pressen, das Artwork machen und sicherstellen, dass die CD beworben wird und in den Läden steht. Die Werbung timen und die Veröffentlichung planen und verschieben, wieder planen und verschieben. Um dann nach so langen Wehen endlich die Platte am 13. Februar 2008 veröffentlichen! Vier Jahre, nachdem ich die Entscheidung getroffen hatte, ein Storytelling Piano Playing Fräulein zu werden. Puh. BLANK: Wo hast du aufgenommen? AL: Ich habe den Großteil mit Don Philippe in Berlin aufgenommen, im Audiocue Tonlabor. Ein fantastisches Studio am Prenzlauer Berg, mit einen fantastischen Toningenieur, Rainer Robben, der noch die Amis beim Mischen mit seinen Aufnahmen zum Staunen gebracht hat! Einen kleinen Teil, zum Beispiel „Wein-

glas“ und viele „Mellotron“- Parts, habe ich dann während der Mischung noch als Feinschliff in New York aufgenommen. BLANK: Wie hat dich die Zeit in New York verändert? AL: NYC hat mich sehr stark verändert. In New York herrschen eine Toleranz und eine Vielfalt, wie ich sie noch nie erlebt habe. Man bekommt in New York auch so eine Lust, sich in Arbeit zu stürzen. Ich habe jeden Tag tolle Künstler erlebt und wollte dann schnell wieder heim, um an mir und meiner Kunst zu arbeiten und

»Ich empfinde es als Geschenk, die Möglichkeit zu haben, zwei Völker zu verstehen.« mich mit ihr zu beschäftigen. New York hat meine Kreativität, meinen Kampfgeist und meinen Willen extrem gestärkt. BLANK: Hast du dort mehr Möglichkeiten gehabt, dich auszuprobieren? AL: Viel mehr! Unendlich viele! Und die Menschen in New York - und ich traue mich jetzt hier mal die Behauptung aufzustellen - auch die generelle Mentalität der Amerikaner fördert eine „Let’s do it“- Atmosphäre. Ich empfinde das als sehr angenehm. BLANK: Wie sieht die Songwriterszene in den USA aus?

AL: Die Szene in New York ist großartig und extrem vielfältig. Und so talentiert! Es gab, glaube ich, kein Konzert, keinen Open Mic Abend, an dem mich nicht mindestens ein unbekannter Künstler von den Socken gehauen hat. New York ist wie eine Pilgerstätte. Die Songwriter kommen einfach von überall her, um in New York zu spielen und sich mit den Massen an anderen Künstlern auszutauschen. Über die Szene in den USA kann ich wenig sagen, da ich dafür noch nicht genug gesehen habe. Allerdings höre ich meinen amerikanischen Freunden sehr gut zu, und habe schon die eine oder andere Reise unternommen. Zum Beispiel nach Nashville. Und Nashville ist eine ganz andere Welt! Ein anderer Planet, würde ich fast sagen. Auch dort gibt es sehr viele Songwriter und sehr talentierte Musiker, aber es geht viel offensichtlicher ums Business. Country macht Millionen in den USA und diesen Streit um die Millionen spürt man in Nashville. Alle wollen den Hit schreiben, den sie dann höchstbietend an den nächsten Country-Star verkaufen. Ich bin, natürlich auch beeinflusst von Erzählungen meiner amerikanischen Kollegen, überzeugt, dass New York und die Songwriterszene dort einzigartig ist. Die Stadt ist hungrig. Natürlich auch nach Erfolg, aber eben auch noch nach etwas anderem. Ein befreundeter Songwriter sagte über den Vergleich Nashville - New York: „In Nashville they sing from the outside in, in New York, they sing from the inside out.“ BLANK: Du bist als Tochter einer Schauspielerin groß geworden. Inwiefern hat dich diese Umgebung geprägt? AL: Diese Umgebung hat mich sicherlich sehr geprägt. Zum einen habe ich wundervolle, sehr aufgeschlossene und sehr interessante Menschen an und um die

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Theater, an denen meine Mutter gearbeitet hat, kennengelernt. Vor allem viele Theater spielende Türken oder Türken im kreativen Umfeld. Das ist die Türkei, mit der ich aufgewachsen bin: wundervolle, kreative, engagierte Menschen mit viel Kraft und Willen. Wie meine Mutter. Zum anderen war ich natürlich stets im Kontakt mit der Bühne, sie hat mich fasziniert und anscheinend auch angezogen, schließlich bin ich selber auf ihr gelandet. BLANK: Wie stark hat sich die türkische Kultur auf dich niedergeschlagen? AL: Ich denke inzwischen schon, dass die musikalische Kultur sich niedergeschlagen hat, nicht unbedingt im hörbaren, sondern im fühlbaren Bereich. Ich leide gerne in meiner Musik und liebe die Melancholie. Ich koste diesen vertonten Schmerz gerne aus, und das höre ich auch in türkischer Musik, in türkischem Gesang. Am meisten spüre ich es, wenn ich auf Türkisch singe. Da kommt dann die Emotion aus meinem innersten Inneren. Eine seltsame Erfahrung und auch schwer zu beschreiben. Ansonsten denke ich ein-

Klavier beigebracht. Ein sehr zwangloser Unterricht war das. Später habe ich dann klassischen Unterricht bekommen und habe mich in Chopin verliebt. Diese Melancholie... er hütete sie wie einen Schatz – Zumindest sagte er das so auf meiner Kinderkassette über Chopins Leben. Das hat mich schon als Kind geprägt. BLANK: Welche Künstler außer Chopin haben dich im Laufe deines Lebens beeinflusst? AL: Später kam dann Michael Jackson dazu. Das war das erste und letzte Mal, dass ich glühender Fan war. Meine erste Schallplatte war „BAD“. Und auch meine letzte. Das nächste Michael-Jackson-Album war dann schon eine CD. Ich finde, dass ich seitdem eher seltsame Hörgewohnheiten habe. Ich schaffe mir Musik sehr zufällig an, aus jedem Genre. Am liebsten entdecke ich jedoch Musik oder höre sie mir an, weil mir jemand etwas von einem Künstler erzählt. Philippes Empfehlungen höre ich widerstandslos. Ansonsten gehe ich gerne auf Entdeckungsreise, bei Open Mics oder irgendwo im Internet. Und wenn mir dann

»Manche Lieder entstehen erst durch den Text, andere entstehen aber auch, wenn ich am Klavier denke, wenn die Gedanken Töne anstatt Wörter sind.« fach generell, dass der Einfluss zweier Kulturen extrem bereichernd ist. Ich bin offen und sehr neugierig und liebe Neues und Anderes. Ich empfinde es außerdem als ein großes Geschenk, die Möglichkeit zu haben, zwei Völker zu verstehen. BLANK: Du sprichst von der Faszination der Bühne. Wie hast du dein Instrument, das Klavier, für dich entdeckt? AL: Das Klavier habe ich sehr früh entdeckt, beziehungsweise meine Eltern haben mir schon früh ein Instrument zur Verfügung gestellt. Und das war eben ein Klavier. Ich besitze dieses Klavier übrigens noch heute und habe es mit nach Berlin genommen. Jedenfalls fing ich schon mit sechs - oder sogar früher - mit Improvisationsunterricht an. Mein erster Klavierlehrer hat mir das Geschichtenerzählen auf dem

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mal etwas gefällt, höre ich es ausschließlich. Auf Repeat. Rauf und Runter. Und zwischendrin: am liebsten Stille. BLANK: Du warst früher Frontfrau der Hardrock-Band „ALEV“. Wann hattest du den Moment, an dem du wusstest, dass du etwas anderes machen möchtest? AL: Das war in Neuseeland. Ich bin alleine dorthin abgehauen. Ich hatte die Musik der Band damals dabei, konnte sie aber immer nur am iPod vorspielen. Bis jemand mich bat, doch etwas am Klavier zu spielen. Ich hatte damals schon ein, zwei Songs am Klavier geschrieben, die jedoch nicht ins Bandrepertoire passten und führte eben diese vor. Plötzlich merkte ich, dass eine andere Intimität zwischen mir und den Zuhörern entstand. Und vor allem eine Intimität zwischen mir und meinem Inne-

ren, von der ich nicht mal gewusst hatte, dass ich sie vermisste. Das hat mich umgehauen. Als Mensch und als Künstler. Nach langen Überlegungen und der Suche nach Lösungsansätzen folgte dann der für mich unvermeidliche Ausstieg. BLANK: War es eine große Umstellung, dass du plötzlich keine Band mehr im Rücken hattest, sondern in ganz intimer Atmosphäre allein am Klavier gesessen hast? Keine wild haareschüttelnden Rockfans, sondern andächtige Zuhörer? Was nicht heißen soll, dass Haareschüttler nicht aufmerksam wären… AL: Keine Band mehr zu haben, war in der Tat eine Riesenumstellung. Die Zuhörer waren gar nicht das Auffälligste – bei Breathe gibt es immer noch Haareschüttelnde am Ende. (lacht) Vielmehr war ich einfach ganz allein. Allein mit meinen Zielen, allein mit der Arbeit, allein mit meiner Meinung, allein vor jeder Entscheidung. Auch allein auf der Bühne zu stehen war ein großer Unterschied zu vorher. Da gibt es keine Minute, in der man mal nachlassen kann, sich hinterm Bassamp was zu trinken holen kann oder sich mal ein anderer vorne hinstellt und Show macht. Man macht das plötzlich alles ganz allein. Ich finde es toll, dass ich jetzt die Songs mit Band performe, also Schlagzeug, Kontrabass, Gitarre und Cello. Es ist ein schönes Gefühl, gemeinsam auf der Bühne zu stehen. Aber das Schöne und Neue ist, dass ich so beides haben kann. Es gibt die intimen Shows, bei denen ich ganz alleine auf mich gestellt bin, und das genieße ich auch. Und dann gibt es aber auch die Bandshows, bei denen jeder Musiker noch seine eigene Note, seine Persönlichkeit und Ausstrahlung zum Ganzen hinzufügt. Auch das ist wundervoll. Ich würde keines von Beidem missen wollen! BLANK: Wann schreibst du Songs, was inspiriert dich? AL: Das Leben inspiriert mich. Über es nachzudenken, inspiriert mich. Zu leben, inspiriert mich. Es sind meistens kleine Momente, in denen plötzlich aus meinem Gedankenlabyrinth eine Zeile für das nächste Lied ihren Ausweg findet. Mal eine Zeile, mal der Titel, mal gleich das ganze Lied. Ebenso ergeht es mir am Klavier. Manche Lieder entstehen erst durch den Text, andere entstehen aber auch, wenn ich am Klavier denke, wenn die Gedanken Töne anstatt Wörter sind. Eigentlich schreibe ich immer und überall.



NEUE TONTRÄGER tiga „ciao!“

(Different/ PIAS) Ja, hallo auch. Ob Tiga immer noch seine „Sunglasses At Night“ trägt, da sind wir uns nicht so sicher. CIAO! ist nämlich definitiv kein reines Clubalbum. Trotz dominanter Elektrobeats und jeder Menge „Beep Beep Beep“ – der Kanadier hat in Kollaboration mit Soulwax, Gonzales und anderen die Grätsche versucht. Vor allem die hohe Vocaldichte ist auffällig, was wahrscheinlich daran liegt, dass Tiga seine Lyrics diesmal vor dem Aufnehmen geschrieben und nicht spontan eingefügt hat. Dass er sich deshalb gleich mit Leonard Cohen vergleichen muss, ist vielleicht ein bisschen übertrieben, denn Songtitel wie „Sex O’ Clock“ wären dem wohl selbst beim Kacken noch zu plump. Trotzdem – Clubreißer wie „What You Need“ stehen neben einem erst wie eine Klavierballade anfangenden und erlösend rockig endendem Track wie „The Love Don’t Dance Here Anymore“ und bieten seichtes Hörentertainment, das keinem weh tut. (TM)

two fingers feat. Sway „two fingers“ (Big Dada/ Ninja Tune/Rough Trade)

Interessant. Amon Tobin (ja, der verrückte Brasilianer, der „normalerweise“ regelrecht Landschaften aus Klängen baut) macht zusammen mit Ninja-Tune-Kollegen Joe Chapman und Rapper Sway Musik. Könnte man Trip-Grime-Hop’n-Bass nennen. Oder so. Eine seltsame Kreatur haben sie da gezüchtet: Das selbstbetitelte Album ist wandelbar wie ein Chamäleon, flink wie ein Wiesel, unberechenbar und sexy wie ein wildes Tier. Tiefdunkle, grimige Beats dominieren die Platte, es gibt aber immer wieder kleine, eingestreute Lichtblicke wie der Einsatz orientalischer Klänge, zum Beispiel bei „Keman Rhythm“ oder „Jewels and Gems“. Völlig aus der Rolle fällt „Bad Girl“, mit sehr sonnigen Dancehall-Beats, intoniert von Cecile, die schon mit Sean Paul kollaborierte. Rap-Kollege Sway hat bereits auf dem letzten Album der Kaiser Chiefs

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mitreißende Rhymes gespittet und auch auf „Two Fingers“ beweist er durchweg einen äußerst variablen Flow. Außerdem dabei: Missy Elliot-Schützling Ms. Jade, die bei „Doing My Job“ zeigt, wie man so sexy rappt, dass dem Hörer die Ohren glühen. Ein spannendes Projekt, bei dem man darauf hoffen darf, dass es noch mehr zu hören geben wird. (TM)

the marmaduke duke „duke pandemonium“ (14th Floor/ Roughtrade)

„Je Suis Un Funky Homme“ – ja, das würde ich so unterschreiben. Die Marmaduke Dukes haben sich schon ganz richtig als „Funky Dudes“ eingeschätzt. Optisch an den Feder-Trend angepasst, den 2008 die Killers und Deichkind vorgaben, blicken sie mich auf der Presseinfo zum zweiten Teil ihrer Duke-Trilogie bezylindert und rennfahrerbebrillt an und lassen auf ein ebenso unorthodoxes musikalisches Erscheinungsbild hoffen. Und ja, die Hoffnung wird bestätigt: das ist reiner Wahnsinn auf Compact Disc. Schon „Heartburn“ beweist das Freakpotenzial der beiden Schotten. Drums und Elektrogeschrubbe, dazu eine ziemlich hohe, angekratzte Stimme, ähnlich der des Veto-Sängers Trœls Anderson, deren Melodiebogen sachte an Donna Summers „I Feel Love“ erinnert. Die folgenden Tracks halten eine appetitliche Mischung aus Indie und Elektro bereit, immer mit einem funky Funken Wahn und sehr tanzbar. „Erotic Robotic“ knüpft mit einem endzeitmäßigen Orgel- und E-GitarrenIntro an die morbide Optik des Projektes an und entwickelt sich zu einem noisigen Elektromonster, während „Rubber Lover“ eine gewisse 80er-Ästhetik bereit hält, die sich mit dämonischen Beschwörungen, lieblichem Gitarren-Indiesound und Hula-Rhythmen abwechselt. Wie es die CD schon vermuten lässt, sind die Live-Shows ein Erlebnis, das neben reiner Tanzwut auch Netztüten auf dem Kopf tragende Protagonisten und sogar die Möglichkeit, deren Geschlecht zu berühren, beinhaltet. Irre. (TM)

mongrel „Better than heavy“

(PIAS)

Eine Promenadenmischung, im englischen Slang ein Mongrel. BastardPop-Hip-Hop-Electro-Dub-Rock aus Großbritannien, eine Gruppe exquisiter Musiker, die sich zusammenschlossen, weil sie nach Eigenauskunft etwas zu sagen haben, eine politische Meinung vertreten, ja aus einer inneren Notwendigkeit heraus handeln. Gegen Rassismus, gegen die prekären Zustände in England und gegen soziale Ungerechtigkeit wird angerappt und gepredigt. Neben dem Rapper Lowkey sind Andy Nicholson und Matt Helders von den Arctic Monkeys sowie Jon McClure (Reverend and The Makers) und Drew McConnell (Babyshambles) die Kernmitglieder der Band. Kraftvolle Alliterationsketten fliegen einem um die Ohren („Alphabet Assassins“), bei „Julian“ leuchtet ein, wie der Genre-Clash geplant war, nämlich als spannendes Aufeinandertreffen völlig gegensätzlicher Musikrichtungen, durch das etwas völlig Neues entsteht. Aufgegangen ist das nicht wirklich. „Better Than Heavy“ klingt wie ein gutes, modernes HipHop-Album mit live eingespielten Instrumenten, für dieses Ergebnis hätte man allerdings wohl nicht die Crème des nationalen Pop-Business versammeln müssen. (SH) Neuerscheinungen im April 03.04. Doves „Kingdom of Rust" (EMI) 11.04. Thunderheist „Thunderheist" (Big Dada/Roughtrade) 24.04. Clueso „So sehr dabei live“ (Four Music) 24.04. Wilco „Ashes of American Flag" (Warner)

MUSIK

Unbe


timezone.de MUSIK

Unbenannt-1 1

13.03.2009 13:22:58 Uhr


BLANK EMPFIEHLT IM APRIL 2009 Konzert

unter freiem Himmel tanzt. Dabei bist du nur bei den Sweet Vandals. Im „Lovelite“. Oder irgendwo anders in Deutschland.

kippen

11.04. Wiesbaden, Schlachthof 12.04. Erlangen, E-Werk

seinen Appetit auf mehr auch schwer zügeln. Und live gibt’s fürs Auge auch noch erwartungsgemäß wahnwitzige Kostümchen, verflixt und zugenäht von der Künstlerin selbst. 28.04. Köln, Luxor 29.04. Berlin, Postbahnhof 30.04. München, 59:1

Konzert

Bonaparte

„Talfahrt zur Futterkrippe“ hieß das im letzten Sommer veröffentlichte Debut der Braunschweiger Band Kippen und wer sich in Nürnberg, denn da gibt es im April die einzige Möglichkeit Kippen live zu sehen, in Schrammel-Punk-Manier auf den Wahlkampf einstimmen möchte, sollte noch schnell ein paar Texte lernen: „Münte hat gelogen, war uns schon lange klar./ Aber das ist jetzt die Höhe!/ Und keiner der sich ernsthaft daran stört./ Wo brennen denn die Agenturen?/ Wo bleibt denn der Aufschrei?/ Ich hab nichts gehört“.

Die 20er-Combo um den Schweizer Tobias Jundt, mit Sitz in Berlin und zusammengewürfelt aus den Bewohnern unterschiedlichster Nationen, wird des Tourens nicht müde. Mal ist Jundt ganz allein auf der Bühne, meist aber nicht, das Ensemble wechselt. Mit „Too Much“ lieferte die Band einen der Indie-Hits des Sommers 2008 und hat sich, herrlich „Anti Anti“ und hedonistisch bis zum get no wie sie sich gibt, in aller Ohr gespielt. Wenn Bonaparte mit ihrer wilden Mixtur aus Polka, Indie, Punk und Trash aufspielen, darf man frivol-burleske Bühnenshows inklusive Tierverkleidungen erwarten. Man sollte auch eine angemessene Portion Irrsinn mitbringen, um diesem Happening standzuhalten.

04.04. Nürnberg, K4

23.04. Stuttgart, Wagenhallen 24.04. Heidelberg, Karlstorbahnhof

Konzert

Konzert

„Lovelite“ heißt das neue Album der Sweet Vandals. Benannt nach einem Berliner Club, in dem es der Band so gut gefiel, dass ihnen der Name wohl als gutes Omen erschienen sein muss. Ob es am Omen liegt, weiß man nicht, aber der Funk/Soul-Sound der Band ist ein Erlebnis, das dich direkt in ein wunderschönes Land beamt, in dem alle barfuß laufen, die Mädchen in bunte Stoffe gewickelt und die Jungs tierisch breit sind. Plötzlich liegst du am Strand und schlürfst zuckersüße Kokosmilch, obwohl du gerade in der Bahn sitzt und dir Automaten-Kaffee den Rachen herunterpresst. Und dann schwitzt du, als ob du nachts bei 30°C

Sia Kate Isobelle Furler kommt eigentlich aus Australien und hat ein Gemüt, sonnig wie ihr Heimatland. Um ihre Karriere in Gang zu bringen musste sie allerdings ins gräulich-grieselige London ziehen. Rentiert hat sich das allemal, das lustige, bunte Fräulein, welches vom SPIEGEL unter anderem als das „netteste Psychowrack der Welt“ bezeichnet wurde, hat neben Projekten mit Beck und der Band Zero7 mittlerweile drei Soloalben veröffentlicht und einen Song zum Soundtrack der HBO-Serie „Six Feet Under“ beigesteuert. Kein Wunder, bei jazzigen Sounds mit Elektrostreuseln, Streichertopping und einer Stimme, süß und dunkel wie Krokant, kann man

the Sweet Vandals

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TERMINE

Sia

Konzert

kilians Das wird ein Fest für Indie-Jünger jeden Alters. Denn obwohl die Kilians noch in der Rocker-Krippe sind, beherrschen sie die Fähigkeit, klassischen Indierock zu schreiben und spielen, der, wenn man nicht an einer Gitarrenunverträglichkeit leidet, ganz schön mitreißend ist. Da mutieren in einem Moment blond gelockte Mädchen zu Haare schüttelnden Biestern und rocken den Moshpit, bis der nächste Moment folgt, in dem Simon gerade „When Will I Ever Get Home“ singt und der Saal schmachtet. Die Mädels, weil er „so süß ist“, und die Männer, weil er „’ne echt geile Stimme für sein Alter“ hat. 23.04. Mülheim a.d.R., Ringlokschuppen 24.04. Köln, Stollwerck 25.04. Kaiserslautern, Kammgarn 26.04. Freiburg, Waldsee 28.04. Konstanz, Kulturladen

Konzert

miss kittin & the hacker Die Queen ist zurück. Erst 2008 hat sie „Batbox“ veröffentlicht, schon ist die Parisienne zurück, denn bereits zum zweiten Mal hat sie in Kollaboration mit The Hacker ein Album produziert. Im März sind die beiden zu Audienzen in Deutschland zu erwarten. Nun, das sollte genug an Information sein, die edlen Namen „Miss Kittin“ und „The Hacker“ sprechen für sich. 07.04. Mannheim, Alte Feuerwache 08.04. München, Die Registratur 09.04. Berlin, Lido 10.04. Hamburg, Übel&Gefährlich 11.04. Leipzig, Zentraltheater


12.04. Stuttgart, Rocker 33 14.04. Wiesbaden, Schlachthof 15.04. Köln, Gloria

Konferenz

re:publica’09 – Shift happens Die re:publica ist seit 2007 die deutsche Konferenz für die „digitale Gesellschaft“, soziale Medien und Blogs. Nicht virtuell, sondern in Fleisch und Blut kommen in Berlin Netzbewohner, Nerds und Neugierige zusammen um als passionierte Laien oder gemeinsam mit Vordenkern und Kritikern die gesellschaftliche und politische Bedeutung des Webs zu diskutieren. Für sowohl Netzaktivisten als auch Politiker dürfte der Besuch von Stanford-Law-School-Professor Lawrence Lessig zu den Höhepunkten der Konferenz zählen: Als Gründer der Creative-Commons-Initiative vertritt er unter anderem die Sicht, das bestehende Urheberrecht stelle eine Gefahr für gesellschaftliche und technische Innovation und ihren Diskurs dar. Während der dreitägigen Konferenz werden keinesfalls nur die „üblichen Verdächtigen“ Datenschutz, Journalismus und Wahlkampf diskutiert; in diesem Jahr findet mit der re:health eine eigene Subkonferenz zu Thema Gesundheit statt und auch vermeintlich verlachte Themen haben ihren Platz: „Wenn Frauen bloggen: Warum Babykotze genauso relevant ist wie das iPhone“, ist eigener Programmpunkt des dritten Tags. 1.–3. April 2009, Berlin Eine Anmeldung ist erforderlich. www.re-publica.de www.twitter.com/republica

Film

filmfest dresden „Man geht nicht bloß ins Kino, um sich Filme anzusehen. Man geht vielmehr ins Kino, um mit zweihundert Menschen zu lachen und zu weinen“. So sagte es einst der weise John Naisbitt. Dazu gibt es auf einem Kurzfilmfestival genügend Gelegenheit. Aber ja, die Nebenwirkungen werden brennende Augen und starke Tageslichtunverträglichkeit sein. Und ja, es kann auch mal ein cineastischer Reinfall dabei sein.

Solche Dinge passieren, wenn man sich dazu entschließt, fünf Tage lang in die Welt des Films einzutauchen. Manchmal ist es kurz und schmerzlos, manchmal trauert man ob des bisweilen viel zu schnell heran eilenden Endes. Vor allem ist ein Kurzfilmfestival wie das Dresdner aber eines: Eine Sammlung verschiedenster Türen und Fenster, welche sich uns für einen Zeitraum von in der Regel unter 30 Minuten öffnen und unendlich viele Ideen, Eindrücke und Wünsche zurücklassen. Da sind brennende Augen und Softdrinküberdosen doch zu verkraften. 14.04– 19.04. Dresden, Filmtheater Metropolis

Kino

John rabe Auf der diesjährigen Berlinale lief Florian Gallenbergers „John Rabe“, aufgrund eines zu großen Angebots guter deutscher Filme (sprach Herr Kosslick), außerhalb des Wettbewerbs. Völlig egal, die Premiere im Rahmen der Kategorie „Berlinale Special“ wurde frenetisch mit Standing Ovations gefeiert. Die epische Produktion kann nicht nur mit ehrenwerten Akteuren wie Steve Buscemi, Daniel Brühl, Dagmar Manzel und Anne Consigny aufwarten, sondern hat eine dramatische Geschichte zu erzählen: Der Deutsche John Rabe ist Geschäftführer der chinesischen Siemens-Niederlassung in Nanking. Als 1937 der japanisch-chinesische Krieg ausbricht, ist die Zivilbevölkerung den Gefechten hilflos ausgesetzt. Rabe, gespielt von Ulrich Tukur, engagiert sich für die Errichtung einer Schutzzone – und hat Erfolg. Auf einem zwei mal zwei Kilometer großen Grundstück können sich die Flüchtlinge aufhalten. Zusätzlich lässt Rabe eine riesige Hakenkreuzfahne spannen, um die mit den Nazis verbündeten Japaner von Bombardierungen abzuhalten. Der Plan geht auf, Rabe rettet mehr als 200.000 Chinesen das Leben, er wird als der „Oskar Schindler von China“ in die Geschichte des Landes eingehen. In seinem Heimatland blieb der Verdienst des Deutschen lange unbekannt. Florian Gallenberger hat John Rabe nun ein filmisches Denkmal gesetzt. Start: 02.04.

Kino

das festmal im august

Gianni ist chronisch pleite, lebt mit Mitte 40 noch immer mit seiner Mutter unter einem Dach und steht moralisch knietief in der Kreide bei zwei seiner guten Freunde. Die nutzen das aus und halsen dem Geplagten, dargestellt vom Regisseur Gianni Di Gregorio, über die Feiertage ihre Mütter und eine nicht abgesprochene Tante auf. So viel zum Topos. Während Gianni also alle Hände voll damit zu tun hat, die Marotten, die gesundheitlichen und psychischen Besonderheiten, sowie kulinarischen Vorlieben der vier Damen zu berücksichtigen, entspinnen sich rührend bis komische Situationen zwischen Fernsehzimmer und Küche. Nicht umsonst hat „Das Festmahl im August“ bei der Viennale den Nachwuchspreis abgeräumt. Start: 30.04.

Kino

wasser & Seife Die Dokumentation von Susanne Gluth zeigt das Leben der Angestellten einer Wäscherei ihrer Eltern im feinen Hamburger Stadtteil Groß-Flottbeck. Während Monika und ihre Kollegen sich um die schmutzige Wäsche der Oberschicht kümmern, leben sie selbst in einer anderen Welt, nämlich jener nahe des Existenzminimums. Zwischen dampfenden Textilbergen und ihrer kleinen Wohnung in Hamburg-Wilhelmsburg, wärmt sich Gerti an der Gesellschaft ihres betagten Terriers „Bonnie“ und dem Luxus eines Coffee-to-go auf der allabendlichen Heimfahrt. Eine bedrückende Beobachtung der Auswirkungen des Globalisierungsprozesses auf das Individuum. Start: 30.04.

TERMINE

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15 PM

HOROSKOP WiDDER | 21.3. – 20.4.2009

COME OUT AND PLAY Wenn des Konsolen-Junkies höchste Form des Gemeinschaftserlebnisses bisher das geteilte Dauergebimmel in der Bahnhofsspielothek war, brechen jetzt andere Zeiten an.

D

enn was sich in schummrigen Hinterzimmern und gemütlichen WGG emei nschaf tsräu men zum Volkssport entwickelt hat, wird per sofort in den Rang eines Lifestyle-Erlebnisses erhoben. Daddeln und Konsolensport als Loungeevent. Denn am Alexanderplatz in Berlin hat das PLAY aufgemacht, um allen E-Sportlern ein würdiges Ambiente zu bieten und sie aus der Anonymität und von dem latenten Generalverdacht zu befreien, der die komplette Jugendkultur in immer wieder kehrenden Wellen schlechterdings kriminalisiert. Zocken in Club-Atmosphäre: holzvertäfeltes Interieur anstatt Plastikhockern, Bar anstatt Pepsi-Automat und Lounges in verschiedenen Größen anstatt Großraumdisko. Das PLAY ist der erste Versuch seiner Art und damit ein Pionierprojekt. Kann Daddeln nicht nur Spaß machen, sondern auch stylisch sein? Armageddon in Armani wird es hier nicht geben, dafür aber After Work-Workouts auf der Wii Fit und andere Bald-Trends. Beschlipste Cocktailtrinker treffen lichtscheue Vielspieler. If the kids are united... Spannend, spannend. BLANK verlost in Zusammenarbeit mit PLAY eine 12-Mann-Lounge für drei

Stunden. Du und deine Freunde, unbegrenzte Wii-Möglichkeiten inklusive Spaßgarantie. Wer ein paar Freunde auftreiben und uns darüber hinaus noch einen würdigen Anlass liefern kann, zu dem er im PLAY einfallen würde, schreibt eine Mail mit dem Betreff „PLAY“ an verlosung@blank-magazin.de. Du willst die Nintendo Wii Fit inklusive Zubehör gewinnen? Da ist die Aufgabe wirklich kniffl ig: Schick uns ein Foto, das Dich in Deiner liebsten Yoga-Position zeigt, an verlosung@blankmagazin.de.

Krise allenthalben, die vier Reiter der Apokalypse pflügen mit flammenden Schwertern durch Wirtschaft und Gesellschaft und um die Nationalmannschaft stand es auch schon besser. Was haben wir noch vom Leben zu erwarten? Lucja Romanowska hat einen Blick in die Sterne geworfen und sagt, wie zumindest Widder sich auf dem rutschig gewordenen Parkett des Alltags bewegen könnten. Unterhaltung: Eine schwere Last liegt auf deinem Spaß-Stern. Um unter Freunden nicht als depressiver Hänger zu gelten, solltest du dir dringend eine Hautkrankheit zulegen. Vergiss nicht, dass das Fernsehen nicht mehr als 95 % der Wirklichkeit wiedergibt! Sozialer Status: Es wird Zeit, noch einmal durchzustarten. Häng deinen Beruf und Deine Hobbys an den Nagel, dann erwarten dich viele spannende Begegnungen. Damit das Ganze auch rund wird, solltest du dringend über neue Eltern nachdenken. Abenteuer: Vorsicht: Flatrate-Saufen ist nicht alles! deine Aufnahmebereitschaft könnte dir in nicht allzu ferner Zukunft einige Sorgen bereiten. Benzin und Heizöl lassen sich auch zu anderen aufregenden Zwecken nutzen. Glücksspiel: Lass dich durch einen Gewinn ruhig hinreißen! Wer früher stirbt, ist länger tot.

HOROSKOP

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What‘s next? Mai 2009

IMPRESSUM Herausgeber: Berger, Blersch, David & Finke GbR Chefredakteur: Johannes Finke Art Director: Tobias Blersch Direktor of Photography: Matthias David Grafik: Romy Berger

Titelthema: Jetzt wird es still! Noch mal mehr Weiblichkeit im Wahlkampf re:publica Ein Rückblick, eine Ansicht, vielleicht Bewertungen

Redaktionsleitung: Till Erdenberger Musik & Film: Teresa Mohr Mode & Politik: Teresa Bücker Mode & Musik: Sophia Hoffmann Literatur: Roman Libbertz Autoren: Nilz Bokelberg, Elmar Bracht, Teresa Bücker, Till Erdenberger, Sophia Hoffmann, Amon Barth, Johannes Finke, Teresa Mohr, Jan Off, Till Wilhelm, Daniel Vujanic, Ariane Sommer, Roman Libbertz Fotografen: Matthias David, Lucja Romanowska, Santiago Engelhardt, Marcus Albert, Cosma Shiva Hagen, Ursula Seeger, Pandora Film, Tobias Blersch, Valentin Selmke Lektorat: Christian Müller Online: Mario Meißner

"Verschlimmbessern" Die Kolumne von Nilz Bokelberg "Um nichts vorwegzunehmen, aber..." Die Literaturkolumne von Roman Libbertz Neuer Boulevard: aktueller Klatsch und Trash Neo-Punk und Artverwandtes: Blinker Links, Kippen, Kleinstadthelden u.a.

„Als ich einst Prinz war“ Fotografie: Marcus Albert Assistenz: Stefan Ruhmke Models: Karl Diwisch (Tempo Models/Vienna) Vincent Mank (Mega Model Agency/Berlin) Make up & Styling : Sophia Hoffmann „Kein alter Hut“ Fotografie: Matthias David Haare & Make Up: Christiane Fortis Models: Dennis Droemer (Mega Model Agency/Berlin) Victoria Beckinger (Mega Model Agency/Berlin)

Druck: Johler Norddruck GmbH Gadelander Straße 77 | 24539 Neumünster | www.johlernorddruck.de Vertrieb: asv vertriebs gmbh Süderstraße 77 | 20097 Hamburg | www.asv-vertrieb.de Aboservice: abo@blank-magazin.de Abonnement (jährlich, 10 Ausgaben): 34.- Euro (Schüler, Studenten, Journalisten, Rentner, ALG I, ALG II gegen Nachweis 29,50 Euro) Preise inklusive 7 % Mehrwertsteuer Anzeigen & Marketing: 030 44 31 80 41 Internet: www.blank-magazin.de Redaktionsanschrift: BLANK | Postfach 02 10 02 | 10121 Berlin Tel: 030 44 31 80 41 | Fax: 030 44 31 80 42, info@blank-magazin.de Steuernummer: 34/231/53026 Finanzamt Berlin Mitte/Tiergarten Auflage: 10.000

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Meine persönlichen Angaben sollen nicht an Dritte weitergegeben werden.

Datum, Unterschrift BLANK Magazin | Berger, Blersch, David & Finke GbR | Rheinsberger Str. 7, 10115 Berlin


REGISTER Persönlichkeiten im heft

A Achternbusch, herbert Anderson, trœls B Bernhard, thomas Bowie, David Brühl, Daniel Buscemi, steve

Viii Xi 77 77

c chapman, Joe

74

D Di Gregorio, Gianni Dunger, nicolai e eismann, sonja

77 Xi

XiV

m manzel, Dagmar mc cain, John mc clure, John mc conell, Drew mc illrath, tim meder, marian meinmberg, manuel miss kittin mitscherlich, Alexander mørk, christian

77 74

O Obama, Barack Off, Jan Overath, Dieter

27, 28, 59 3 27 ff

25 iX

P Persson, nina Ploier, Ute

G Gallensberger, florian Garland, Judy Glukhovski, Dimitri Gluth, susanne

77 Viii 34 77

h haaf, meredith hagen, cosma shiva hecker, maximilian hecker, maximilian helders, matt hilton, Paris hüller, sandra

XV 4, 27 6 65 ff 74 32 XiV

r rapp, tobias reeves, keanu robben, rainer roche, charlotte rönicke, katrin rulfo, Juan

J Jackson, michael Joop, Wolfgang Jundt, tobias k kim, Julia: klum, heidi köver, chris kuttner, sarah l larson, nathan lenz, Alex lessig, lawrence loggins, kenny lohaus, stefanie

Xi

72 44 76

47 Xiii XiV 38

iX 71 ff 77 X XiV

77 59 74 74 59 . 57 57 76 14 34

n naisbitt, John nicholson, Andy

f fleming, Joy frisk, niklas

i iha, James

82 I BLANK

Vi ff 74

s sankara, thomas schaaf, miriam schönberg, eberhard schwarzer, Alice sia streidl, Barbara summer, Donna

iX 41, 47

16 Xi 71 XV XiV 34

28, 32 41 21 XV 76 XV 74

t tobin, Amon tukur, Ulrich

74 77

W Wasser, Joan Wells, Benedict

Xi 34

Z Zimmermann, friedrich

Viii


HEFT ZWEI

TiTelThema Zeitenwende von Amon Barth Kapitel: aus – eine hinterhofgeschichte von Roman Libbertz Der Geschmack von Beton von Ariane Sommer KUNST Du hast keine Chance, aber nutze sie. Eine Herbert Achternbusch-Werkschau mUSiK We will flash our mental genitals for you von Sophia Hoffmann BlaTTKRiTiK Wo ist der neue Feminismus? von Teresa Bücker


HEFT ZWEI TiTelThema

Scheiße genau in den Nachrichten kam oder welche Werbejingles gerade durch die Luft geisterten, welche Musik man

Zeitenwende

hörte oder welche Stofffetzen gerade getragen wurden, wel-

von Amon Barth

che Clubs hip waren und wer sich welche Autos wünschte; doch ich weiß noch genau, wie ich mich mitten in all dieser Scheiße wohlfühlte, und dass, obwohl ich wusste, dass ich

Ich wollte schon immer weg von allem, irgendwo von

von Wahnsinn, Opportunismus und Geiz umgeben war

Neuem anfangen. Immer? Zumindest, seit ich damals von zu Hause weg und in

und obwohl ich fieberhaft meinen Ausbruch aus der WG

eine verrottete WG zog, in der ich nach einigen Wochen mit

und aus der damit einhergehenden Beziehung zur Brillen-

einer unattraktiven, blonden Brillenträgerin, ihre Brille er-

schlange plante.

schien mir wie angewachsen, mein erstes Mal Ficken erlebte.

Für mich war das alles ein Spiel, und dass Menschen

Viele reden von ihrem „ersten Mal“ und lassen das

irgendwo verhungerten, Kriege sich wie Computersimulationen abspulten, dass die Mafia des Leidens in jeder Stadt vor

Wort Sex oder Ficken gerne weg.

sich hingärte, ja das wusste ich zwar, aber Wissen bedeutet

Als ich - zum ersten Mal - eine Schlange sah, war ich

noch gar nichts.

neun Jahre alt, und ich spielte gerade mit meinem besten

Ich kann nicht behaupten, die Probleme und das Elend

Freund in einem beinahe vollkommen ausgetrockneten

seien mir egal gewesen, dass ich kein Mitgefühl gehabt

Flussbett irgendwas mit Gewalt und Erschießen.

hätte; doch es war wie bei „Super Mario“: Hüpfen, wenn

Als sie wie aus dem Nichts auftauchte, schrien wir, be-

gehüpft werden musste, ausweichen beim Auftauchen eines

kamen Angst und liefen davon.

Hindernisses, die höchste Punktzahl entscheidet, eben ein

In meiner Erinnerung war es eine große Schlange, keine

einfaches Leben – und verflucht ja!, mir gefiel dieses Spiel.

kleine Natter. Heute ist mir, als wäre es die Gewalt unseres

Mein einfaches Leben war ein Cocktail aus kleinen und

Spiels gewesen, welche in der Schlange Gestalt angenom-

größeren Alltagsabenteuern, und das

men und uns wie ein Spiegelbild erschienen war, vor dem

Abscheuliche der Welt war die notwendige Begleitmu-

wir nur noch Reißaus nehmen konnten. sik.

In der WG, in der ich circa zehn Jahre später meine sogenannte Unschuld mit einer blonden Brillenschlange verlieren

Ich lebte aus meinem Bauchgefühl heraus, und glaubte

sollte – es muss erwähnt werden, dass sie wirklich sehr nett

mich in einer Zeitzone, deren Koordinaten sich wie Lego-

war, die blonde Schlange – hing über dem Herd neben vielen

steine zu meinem Weltbild zusammensetzten. Ich atmete Frühlingsluft und liebte es, halbnackt im

anderen Postkarten auch eine, auf der eine große Königs-

Regen zu tanzen, allein oder auch mit anderen Verrückten.

kobra zu sehen war. Ich weiß das noch genau, da ich mir, während die Blon-

„Verrückt“ war in diesen Tagen sowieso jeder, zumindest

de kochte und irgendwas über Freiheit, Emanzipation und

war es „in“, von sich zu behaupten, man sei ein bisschen

Politik vortrug, diese Postkarten, oftmals ohne ihr wirklich

verrückt. Wie vergänglich und damit irreal diese Bausteine waren,

zuzuhören, eingehend angeschaut habe. Auch wenn die Blonde einen guten Spruch drauf hat-

aus denen ich mir mein Weltbild und damit auch die Rou-

te und trotz ihrer Unattraktivität verrückte Sachen im Bett

tinen meines Daseins konstruierte, wollte ich nicht wissen,

anstellen konnte, hielt mich damals schon bald nichts mehr

und ich verdrängte es kontinuierlich.

in der WG. Obwohl ich gerade erst von zu Hause ausgezo-

Ich glaubte tatsächlich, während ich arbeitete, las, die

gen war - ich wohnte noch kein halbes Jahr mit der Blonden

Nächte durchfeierte oder fickte, dass mein Weltbild bis heu-

und zwei anderen Scheintoten zusammen - wollte ich schon

te, bis zu dieser Sekunde durchhalten würde, doch alles ist

wieder weg von allem; wohin wusste ich nicht, nur neu und

anders, alle Zeit hat sich gewendet, viel stärker, als ich es für

anders, frisch irgendwie, sollte es sich dort anfühlen.

möglich gehalten hätte.

Es liegt mir fern, die Welt, wie sie damals war, als ich

Die Geschichten, die ich mir über mich selbst erzähle,

weg von allem wollte, genau beschreiben zu wollen: Was für

waren immer und sind es noch heute, Heldengeschichten, in

II


HEFT ZWEI denen ich mein Dasein, das eines Antihelden, letztlich narra-

waren, ihre Gegenwart zum Anbeginn einer neuen Ära zu

tiv rechtfertige, indem ich meiner Existenz eine verschachtel-

erklären, und zweitens, dass eine schlichte, unaufgeregte

te Aufgabe zuschreibe, durch die ich mich letztendlich dann

Zufriedenheit für die wenigsten von ihnen, etwas Erstre-

doch zum Helden mache…

benswertes ist. „Herr, bete zu uns, wir sind nah“ schrieb ein großer

Ich wollte schon immer weg von allem, irgendwo von

Dichter - doch wieso sage ich das?

Neuem anfangen. Jetzt, viele Jahre nachdem ich die WG, in der über dem

Hier in meiner Hütte aus Blech und Holz, welche ich

Herd die Königskobra hing, verlassen habe, stehe ich hier,

mir gerade errichtet, in der die Zeitenwende ein Spiel ist, wel-

genau hier in dieser Wüste des Realen, umgeben von Blech

ches die draußen in der Stadt spielen, ein Spiel, geglaubt von

und verrotteten Holzteilen, aus denen ich die Hütte bauen

jedem, der Hoffnung sucht, ein Mantra, ein Fanfarenstoß,

werde, in der ich schlafen und sterben will.

ein Spiel, bloß ein Spiel; in dieser Hütte, in der noch nicht

Manchmal betonen die Menschen die Ähnlichkeiten

mal Gott zu mir betet, geschweige denn ich zu ihm, in der

zwischen schlafen und sterben, träumen und tot sein; ich

der Weg so wenig wie alles ist, in dieser Hütte lebe ich meine

selbst weiß gar nichts davon.

Zeitenwende, meinen Neuanfang, von dem ich hoffe und fürchte, dass es der letzte wird bleiben müssen.

Es mag sein, dass es melancholisch und morbide klingt, doch ist das Totsein keine unmögliche und schon gar nicht

Ich verkleide mich als Ameise und jage Bären durch den

eine unangenehme Vorstellung für mich, nur das Sterben,

Wald, ich sauge die Zeitenwende heraus aus der Stadt, hinein

das langsame und oft qualvolle Totwerden missfällt mir –

durch die Wände meiner Hütte, wie Rauch in meine kobalt-

tot sein ist ok, sterben nervt.

blauen Lungen, ich lese in den Formen der Wolken am Him-

Die Wüste, in der ich angekommen, die neuerliche

mel, wie lang es noch dauert, bis du wieder lachst, scheuche

Frucht meines bisher nie versiegenden Drangs nach Neu-

traumgeborene, schwangere Pferde über Wälder und Wie-

anfängen, 20 Jahre, nachdem ich mit der Brillenschlange

sen, verhänge mit Blütenblättern die Vorstadtmauern eurer

schlief, 30 Jahre, nachdem ich meine erste Schlange sah, ist

sterbenden Stadt, fackle alles und jeden ab, fliege mit dem Bie-

nicht das frische neue Paradies, das ich mir gewünscht habe.

nentotem durch die feuchte, frische Morgenluft, lege mich in

Es stinkt hier, nach verdorbenen Fleischresten, nach

den in Blumenkelchen gesammelten Tau, lehne mich an, mit dem ganzen Gewicht meines Körpers, an die Luft, die du aus-

Urin, nach Erbrochenem und nach kalter Asche. Ich nehme einen Stock und male meinen Namen in

stößt, nachdem ich dir in den Bauch schlug und ich verrenke

den Sand neben der feuchten Asche, sammle Blechteile und

mich, krank wie ich bin, durch die Zeit hin zu dir – nicht zu

Holzstücke auf für den Bau der Hütte.

Gott – auf dass du mich nicht und niemals wirst finden können, sitzend und wartend in dieser Hütte am Feuer.

Ich friere, doch ich habe keinen Hunger, nur Sehnsucht nach einer Stimme, die mir zuhört, nach einem Auge, das mich anblickt, es könnte irgendwer sein, ein Mann, eine Frau, ein Kind, nur miteinander reden müsste man können.

TiTelThema

Die Stadt war immer ein einziges Reden, sie ist die Stimme aus dem Nichts und in ihrer Ungreifbarkeit ist sie unser

Kapitel: aus – eine hinterhofgeschichte

aller Trauma.

von Roman Libbertz

Als ich eines Nachts durch die Stadt gewandert war, traf ich einen alten Gammler, der mir so untot wie eine Mumie

Ich saß auf unserem Balkon, der in den Hinterhof

erschien, als würde er seit Jahrhunderten durch die Länder

ragte.

wandern, und dennoch sang er leise vor sich hin, während er

Es war endlich passiert. Sie hatte mich betrogen.

träge durch die leeren Gassen zog.

Meine Mitbewohner hatten dicht gehalten.

Er sagte mir, es gebe zwei Dinge, die er besonders fin-

Natürlich wollte ich töten, egal wen, Hauptsache

de an den Menschen: zum Einen, dass sie konstant durch

mich mit.

alle Zeit der Geschichte hindurch dazu in der Lage gewesen

III


HEFT ZWEI Ich hatte auf einem klapprigen Holzstuhl Platz genom-

für dich,

men, eine Kerze flackerte, ich hielt einen Stift in der Hand

für uns,

und rauchte eine, was auch immer, jedenfalls eine Zigarette.

psst.

Ich fühlte mich wie in einem Owen-Wilson-Film, nur Dann strich ich die Zeilen durch und zog die Balkon-

dass ich nicht er und dass es nicht gut ausgegangen war. Der Riss hinter mir in der Wand neben dem Geländer.

tür auf. Oh Gott, wie hasse ich diesen vanillefarbenen, im

Selbstverständlich wollte ich darin verschwinden, aber wie

Grunde mehr beigen Teppichboden, den unser Vermieter

zur Hölle war das hilfreich? Wenigstens hast du noch Ver-

uns damals aufgeschwatzt hatte, aber was hasste ich nicht?

antwortung! Vor wem? Zumindest vor meinen Eltern, sagte

Ich griff mir die Vodka-Flasche vom Esstisch. Wer

eine Stimme in meinem Kopf kleinlaut. Begrab deinen Kopf,

brauchte jemals am River Quai, oder war das die Brücke,

dein Herz ist es sowieso.

keine Ahnung, ein Trinkgefäß? „Ich nicht“, schrie ich mich selbst an.

Ich pfiff die Melodie von „Spiel mir das Lied vom Tod“

Nimm einen tiefen Schluck, beweine dein gebrochenes

und es drängte in mir, mich in Selbstmitleid zu ertränken.

Herz, deine verpassten Chancen, dein nicht aus dem Arsch

Ich las damalige Zeilen in meinem Notizbuch:

kommen, dein immer die falschen Worte zur richtigen Zeit sagen, dein Leben oder kauf dir einfach einen Helm!

Gib mir etwas Zeit,

Ich setzte mich wieder und spülte die Stimmen in mei-

zu atmen,

nem Kopf mit klarem Brennenden hinunter.

zu denken,

Ich brauche mich und zwar nur mich. Nicht von Men-

um mich wirklich kennen zu lernen.

schen gestört. Aber damit kannst du nicht umgehen.

Stille

Aber ich bin doch Neo! Gib mir etwas Zeit,

Seit wann?

für mein Innerstes,

Schon immer.

es nicht zu verderben.

Und wo sind die Beweise, du Pan?

um es einmal richtig zu machen.

Dann setzte ich den Stift an.

Stille

Ein Panorama und ich falle heraus, stürze fast,

Gib mir etwas Zeit,

die Welt zerreißt,

mich zu finden,

und es bleibt Enttäuschung,

mich zu lieben, nur ein Mal das Herz kontrollieren,

um Dir wahre Liebe zu schenken.

keine Tränen, keine Ausbrüche,

Stille

und keine treibenden Gedanken mehr, Gib mir etwas Zeit, Gedanken zu bündeln,

ein Panorama und ich in ihm,

Worte zu formen,

nahtlos eingefügt,

um es endlich vom Herzen zu sagen.

die Welt ist ganz, und es bleibt harmonisch.

Stille Ich breitete meine Arme aus und sah in den Himmel. Der Mond versteckte sich, selbst er wollte mich nicht sehen.

Gib mir etwas Zeit,

IV


HEFT ZWEI „Hey, ich bin ich“, versuchte ich ihm zurufen, aber es war

Zuneigung, Vertrauen. Verständnis.

verdammt noch mal der Mond. Ich unterringelte die letzten drei Worte, als es plötzlich

Wer war denn immer noch der Gleiche? Ich sicher nicht

zischte und krachte. Eine Hitzewelle schwappte gegen den

oder mehr als das. Ist doch auch scheißegal. Sie hat mich verlassen. Ich bin selbst schuld. Wieso habe

Balkon. Auf einmal war alles in rotgelbes Licht getaucht und

ich sie nicht gegen die Penner da draußen verteidigt, sie be-

dann passierte es. Das Heizkraftwerk hob ab und flog in den

schützt, mich ihr geöffnet, sie nicht nur als zu Bett gehen

unbesternten Himmel. Ich wusste es immer.

begriffen, sie wirklich im Arm gehalten, ihr vielleicht sogar den Hof gemacht, ihr gezeigt, dass ich ein Familienvater sein kann, sie so geküsst, wie ich es nie zuvor tat, mit Gefühl? Erneut drängte es mich, zu schreiben.

TiTelThema

Mit dem Handrücken stieß ich die Flasche vom Tisch. Da saß ich vor den Scherben und versuchte die Scherben in

Der Geschmack von Beton

mir zu kitten.

von Ariane Sommer

Ende heißt Ende, verstehst du das nicht? Nein! In der Dunkelheit sah ich die Lichter des Heizkraftwer-

Das Schnappen des Schlosses in der Wohnungstür

kes vor mir. Wenn es Gott wirklich gibt, hebst du ab und

begrüßt mich zu Hause.

nimmst mich auf deiner Reise, egal wohin, einfach mit. Wieder steckte ich mir eine Zigarette an und fragte

Abgestandene Stille versucht, in meinen Kopf zu krie-

mich, wie oft sich die Welt gedreht hatte, seit ich war, ich ich

chen. Ein schneller Knopfdruck füllt den Raum mit Licht

war, ich mit den anderen Kindern spielen, manchmal sogar

und Stimmen, die mir auch in meinem von zuckendem

Spielleiter sein durfte.

Erwachen durchsetzten Schlaf versichern, dass ich noch da bin.

2000irgendwas, hör mir auf mit Zahlen. Ich kritzelte:

Die Mädchen von Next Top Model flackern in Ich muss versuchen,

meinem Wohnzimmer, fast kann ich sie berühren, ein

nicht einsam alleine aufzuwachen,

Armstumpfjunge im Kongo neben seiner starrgesichtigen

alles hat sich verändert,

Mutter, eine undefinierbare blaue Flüssigkeit wird von

Gemeinsamkeit,

einer Binde aufgesogen, „Mit der globalen Finanzkrise

vorbei,

enden 25 Jahre des Wohlstands“, sagt die Ohneunter-

Gedanken noch sehnsüchtig?

leibsfrau aus den Nachrichten, ein Eisbär, nicht Knut, auf einer winzigen Scholle treibend, im Gazastreifen brennt

Ich weiß nicht, ob du mir jemals nahe warst,

irgendetwas, auf MTV lächelt mich der Schritt von Ma-

ob ich dich jemals brauchte,

donna an, irgendwo auf einer Pressekonferenz spreizt

vielleicht, als ich aus meinem früheren Leben wollte.

Ahmadinejad seine Lippen, feuchtglänzende Zähne entblößend. Die Stimmen zerren an meinen Synapsen, ich redu-

Ich versuche, mich an deine Worte zu erinnern, nichts wird bleiben,

ziere sie, bis sie nur noch ein Summen sind und schmiege

Zweisamkeit,

mich an mein Spiegelbild im Fenster, das meine Berüh-

abgebrochen,

rung kühl erwidert, die erste des Tages. Draußen verglüht der Himmel, die Dämmerung setzt

Tränen noch traurig?

ein, durchbrochen von scharfkantigen, blauflimmernden Ich weiß nicht, ob ich Dir noch etwas sagen will,

Diamanten, einer über dem anderen, Reihe um Reihe, ein

ob es jemals Worte brauchte,

Meer aus Hochhäusern, hinten wird ein neues gebaut, die

vielleicht als ich einer Idealisierung nacheiferte.

Welt, ein Igel mit Betonstacheln.

V


HEFT ZWEI KUNST

Menschen sitzen vereinzelt in den erleuchteten Glaskästen vor dem Fernseher, dem Computer, mit den Nip-

Du hast keine Chance, aber nutze sie.

peln der Tastaturen und Fernbedienungen spielend.

Eine Herbert Achternbusch-Werkschau

Aus einer Fensterspalte irgendwo unter mir steigt Frank Sinatra’s Stimme auf, wie Rauch, voll Verlangen

Herbert Achternbusch ist ein Un-Bayer. Kritisch ge-

von Verlangen singend.

genüber der Bigotterie der katholischen Kirche, kritisch

Mein iPhone surrt, warum eigentlich nicht wePhone?

gegenüber der selbstauferlegten Duldungsstarre der

Eine Nachricht von ihm. „Schaffe es heute doch nicht. Nächste Woche gleiche

Landsleute und nicht zuletzt kritisch gegenüber den Ri-

Zeit?“ Kurzer Phantomschmerz in meiner Brust. Welt der

tualen des Alltags. Die Auflösung des Überhöhten im Tri-

nicht eingehaltenen Versprechen, das Größte von ihnen,

vialen war und ist eine der Leitlinien des Filmemachers,

auf das ich all meine Hoffnungen und Träume gesetzt

Malers und Schriftstellers, der in den letzten Jahren nicht

habe, eines, das nie gemacht wurde.

mehr ganz so rastlos produziert, wie in den Achtzigern und Neunzigern.

Ein Mann steht im Fenster im Hochhaus mir gegen-

Ende 2008 trat der Universal-Künstler nun in sein

über, wie ich, gegen das Glas gepresst. Hunger höhlt mich aus, aber alles, was ich habe sind

achtes Lebensjahrzehnt ein. Das Museum Moderner

ein paar verdorrte Chicken Nuggets im Pappkarton und

Kunst ehrte den Maler Achternbusch, die Stadt München

eine angebrochene Flasche Wein auf dem Wohnzimmer-

erwies dem Schriftsteller Achternbusch bereits zehn Jah-

tisch. Ich giesse mir ein Glas voll bis an den Rand, leere es

re vorher die Ehre einer umfassenden, massenwirksamen

in einem Zug und wiederhole das Prozedere.

Würdigung. Jetzt ist der Filmemacher dran. Fünf seiner

Der Mann im Hochhaus gegenüber steht immer noch

Filme (Die Olympiasiegerin, Das Andechser Gefühl,

am Fenster. Seine Linke hält etwas vor sein Gesicht, ein

Die Atlantikschwimmer, Das Gespenst und Hick‘s Last

Fernglas, während die Rechte rhythmische Bewegungen

Stand) sind in einer DVD-Box erschienen und laden ein,

in der offenen Hose vollzieht. Kurz hält er inne, als er

nachzuvollziehen, warum Achternbusch bei der Obrig-

sieht, dass ich sehe. Dann zieht er sein Teil aus der Hose.

keit in seiner bayerischen Heimat nach wie vor teils kri-

Der gesichtslose Mann drängt sich an die Scheibe, seine

tisch diskutiert wird. Das Erscheinen seiner filmischen

Bewegungen jetzt marionettenhaft und ruckartig.

Retrospektive bot Anlass, das Schaffen des Alt- und Großmeisters des deutschen Autorenkinos anhand der

Ein Narr in seinem gläsernen Käfig gestapelt über

versammelten Werke ausführlich zu besprechen.

andere und dahinter mehr Narrenkäfige, bis an den Horizont. Er wird Flecken hinterlassen, die in der Morgensonne

Das andechser Gefühl (1974)

vertrocknen werden. Weit unter uns im fluoreszierenden Licht auf dem Be-

Was ist Andechs? Ein beschauliches Dorf in Bayern;

ton, ein einzelner Baum, in den knorrigen Ästen ein ver-

ein Dorf, in dem der Biergarten mit seiner urigen Atmo-

hedderter Ballon, den der Wind im Kreis peitscht. Ich nehme einen letzten Schluck aus dem Weinglas

sphäre und dem Ausblick auf die idyllische Landschaft

und lächele zum ersten Mal an diesem Tag. Das Klirren

einen zentralen Punkt im öffentlichen Leben einnimmt,

ist überraschend klangvoll.

ja fast zum Wallfahrtsort wird.

Für einen Sekundenbruchteil sehe ich sein Gesicht,

Der namenlose Biertrinker sitzt so lange in diesem

unverdeckt, die Linke mit dem Fernglas auf Schulter-

Biergarten „wie die Sonne scheint“. Dort säuft er sich sei-

höhe, die Rechte nutzlos in der Hose, festgefroren, wie

ne Existenz als Lehrer erträglich und seine Familie aus

mein Lächeln. Über mir der Himmel, um mich die kalte

dem Gedächtnis. Die Gattin betrügt er, nicht nur mit

Luft, unter mir der Beton. Ob ich ihn mit meinen Zähnen

einer Frau; die einzige Zuwendung, die seine Tochter er-

durchbrechen werde können?

fährt, sind Misshandlungen. Der Lehrer wird von einer

VI


HEFT ZWEI Todessehnsucht getrieben, die davon herrührt, dass ihm die Prüfung zur Verbeamtung auf Lebenszeit bevorsteht. Denn der Gedanke an die Endgültigkeit seiner gutbürgerlichen Existenz, mit der ihn dieser eigentliche Karriereaufstieg konfrontiert, erscheint ihm unerträglich. Was den Biertrinker am Leben hält, ist das Biertrinken – und

Das hemmungslose Ausleben sexueller Phantasien sollte Glücks- und Hochgefühle nach sich ziehen, muss es aber nicht. Jetzt im Buchhandel: Jan Offs ffs neuster ff Geniestreich.

die Hoffnung auf die Rückkehr der begehrten „Filmschauspielerin“. Die Filmschauspielerin, deren Nähe er sich so sehr wünscht, und die doch in einer ganz anderen Welt lebt – ob sie wohl noch kommen wird, um ihn aus seinem Kokon aus Perspektivlosigkeit und geistiger Einöde zu retten? Die Tatsache, dass Achternbusch gleichzeitig als Regisseur, Hauptdarsteller, Drehbuchautor und Kameramann fungiert, gibt ihm die Möglichkeit, die Geschichte sehr authentisch und dicht zu inszenieren und seine Intention ohne Umwege auf die Leinwand zu bringen. Durch die geringe Anzahl von Schnitten wird das „Andechser Gefühl“ greifbar. So greifbar, dass der Film surreal wirkt, obwohl er tatsächlich das Geschehen nur abbildet. Womit Achternbusch sein Ziel erreicht – er schubst uns mitten ins Leben des Biertrinkers, dessen Einzelschicksal stellvertre-

JAN OFF UNZUCHT

tend für ein ganzes Lebensgefühl beschrieben wird. (TM)

Die atlantikschwimmer (1976) Dem einen oder anderen mag dieser Film etwas sinnfrei erscheinen. Zwei handelsübliche Loser versuchen in den trist und lebensfeindlich wirkenden 70er Jahren dem Leben die letzten Wahrheiten zu entlocken und, über diese Schlussfolgerung lässt sich vielleicht streiten, sie schaffen es nicht. Sie zerbrechen an ihrer eigenen Emotionalität und der Bürde des Besonderen. In der Aussichtslosigkeit, in dem Fall die Überquerung des Atlantiks für Schwimmer und Nichtschwimmer, liegt der Ausweg, das persönliche Heil. Die vom Kaufhaus Mix-Wix ausgelobte Prämie von 100.000 Mark verspräche zumindest Linderung, denn auch vor alltäglichen Problemen wie Schulden sind die zwei pseudo-Homoerotiker nicht gefeit. Dieser Film ist ein Abgesang auf die Emotionalität und Sinnsuche der von den Hippies gestarteten romantischen Revolution, kalt, roh und seiner Zeit entrissen ein Film, der einen nachdenklich und

VII

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HEFT ZWEI unruhig stimmt. So sind wir Menschen. So werden wir

nichtgut Adi, den er sich als potentiellen Vater ausgesucht

immer sein. Völlig verloren.

hat, dazu zu bringen, mit Ilona, seiner Wunschmutter,

(EB)

sich selbst zu zeugen. Dies gestaltet sich recht schwierig, da Adi erstens Das Gespenst (1982)

mit Gabi verheiratet ist, was ihn weniger stört, doch aufgrund anderer Damen und Freizeitaktivitäten kommt er

„Skandal“, schrien sie 1982, als Herbert Achtern-

immer wieder vom Ilona-Kurs ab.

busch sein „Gespenst“ vorlegte. „Skandal“ schrien sie,

Wie in allen Achternbusch-Filmen - wieso sollte es

die Vertreter der katholischen Kirche, und der damalige

auch anders sein - wird auch hier nahe an der Grenze

Innenminister Zimmermann stimmte mit ein. Dabei ließ

zum Slapstick großer Pathos zelebriert („ Meinst du,

Achternbusch lediglich eine Christusfigur vom Kreuz

dass mich der Verlust meiner Schuhe zwingen kann, län-

steigen und mit der Oberin eines bayerischen Klosters ko-

ger bei dir zu bleiben?“). Oder vielleicht ist es gerade die

pulieren. Auf der Leinwand, wohl gemerkt. Die Reflexe

Reduzierung auf das Offensichtliche, die für die bizar-

stimmten damals noch bei den Tugendwächtern, die sich

ren Momente sorgt. Geschlechterkämpfe, tradierte Rol-

hernach nicht mal zu schade waren, Protest-Stuhlgänge in

lenbilder - die Essenz der „Olympiasiegerin“. Ilona, die

den Programmkinos aufzuführen, die den Film zeigten.

durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges um ihren

Wo heute ein antisemitischer Bischof Einzug in den Kreis

Lebenstraum, den Gewinn der olympischen Goldmedail-

der Edel-Schäfchen halten kann, war seinerzeit noch ein

le, gebracht wurde, geht an dieser Enttäuschung und der

gesundes Empörungspotenzial vorhanden. Dabei hatte

Vernachlässigung durch den Mann zugrunde.

der Regisseur doch nur das gemacht, was er immer tut:

Der Knabe Herbert allerdings ist am Ende des

Er dampft die bedeutungsschwangeren, symbolisch über-

Films der strahlende Sieger, er wird doch noch gebo-

ladenen Konstrukte des Alltags auf ihre ureigenen Essenz

ren und somit strebt die Olympiasiegerin 1 1/2 Stun-

ein und schafft es, den Alltag zur Groteske zu erheben. Je-

den lang dem Ende zu - zurück zum Anfang.

(SH)

sus als Wirt der Klosterschänke, beschürzt und mit überdimensionierten Brustwarzen. Und Jesus kann als Herrgott nun mal nicht in einem See schwimmen, sondern nur

„hick´s last Stand“ (1990)

darüber laufen. Und wenn das Brot sein Leib, der Wein sein Blut ist, was ist dann das Wiener Würstchen? Gott

Haha. Touché. Würde mich nicht wundern, wenn

hätte es schwer dieser Tage auf der Erde. Vom eigenen

die delirierende Raubkatze am Anfang des Films nur der

Vermächtnis, den eigenen Moralvorschriften erschlagen.

Verballhornung des berühmten Metro-Goldwyn-Mayer

Das zeigt Achternbusch - nicht mehr, nicht weniger - in

Löwen dienen würde. Jedenfalls passt der hochtrabende

„Das Gespenst“. Wie steht es im Klappentext der DVD

MGM Bannerslogan: „Ars gratia artis“ auch gut zum um-

so passend? „Wie alle Blasphemie ist das keine, sondern

sich-selbst-kreisenden „Hicks Last Stand“. Nur eben anders.

ein religiöser Angriff auf selbsternannte Stellvertreter auf

Im U.S. amerikanischen Biblebelt trifft eine statische

Erden.“ Die Meta-Ebene der Darstellung? Weniger ist

Kamera auf Judy Garland´s „Over The Rainbow“ und auf

mehr? Achternbusch halt.

poetische Reflexionen über die miteinander kopulierenden

(TE)

Variablen Krieg und Frieden. Beständig auf Mikro- und Makroebene ejakulierend, verschafft sich der bayerische ReDie Olympiasiegerin (1983)

gisseur/Schriftsteller/Künstler Herbert Achternbusch hiermit Luft, für etwas, das man zweifelsohne „das große War-

Achternbusch inszenierte 1983 mit „Die Olympiasie-

ten“ nennen könnte. In seichten Farben und mit zeternden

gerin“ eine anarchistische Gender Studie, noch bevor es

Worten. Durch seine permanenten, den Zuschauer demü-

das Wort überhaupt gab.

tigenden, labyrinthischen Verschachtelungen in rezitativer

Der Knabe Herbert versucht, den Zahnarzt und Tu-

Briefform (der Autor Thomas Bernhard agiert mit vergleich-

VIII


HEFT ZWEI barerer Vehemenz in seinem Roman „Der Untergeher“)

Filmmusik-Komponist war er beteiligt an der Unterma-

und einer totalen visuellen Auflösung des Individuums, in

lung von Streifen wie „Velvet Goldmine“, „Boys Don‘t

diesen zutiefst unwirklichen, erhabenen und menschenlee-

Cry“ oder „Liljia 4ever“. Dritter im Bunde ist der schwe-

ren Räumen, entsteht ein unangenehmes Gefühl der Orien-

dische Vollblutmusikant Niklas Frisk, Sänger und Gitar-

tierungslosigkeit und spitzfindigen Langeweile. Menschliche

rist der Band „Atomic Swing“ und auch als Produzent

Errungenschaften sowie menschliche Eigenschaften werden

tätig. Das erste, selbstbetitelte Album von „A Camp“ er-

permanent der Lächerlichkeit preisgegeben. Technik, Kom-

schien 2001, seitdem sind acht Jahre vergangen, in denen

munikation und Liebe sind Fehlgriffe in Vortrag und Bild:

zwei „Cardigans“-Alben folgten. Am 20.3.2009 wird nun „Colonia“ auf dem briti-

Trucks, leere Straßen und surreal anmutende Berglandschaf-

schen Label Reveal Records veröffentlicht.

ten wirken wie der dicke und ereignisarme Vorhang nach einem langsam verhallenden Theaterstück, das sich „Leben“

Ich bin die erste Interviewerin an diesem Tag und

schimpft. Der Autor/Schauspieler re-mystifiziert die Ver-

so werde ich von der total entspannten Band herzlich

gangenheit (seine, die der amerikanischen Ureinwohner, die

begrüsst und erstmal mit einer dampfenden Tasse Kaffee

der ganzen Welt) mit rituellen Handlungen, Kontemplation

versorgt.

und irrlichternder Resignation. Dadaistische Diskrepanzen

Schon bevor und auch nachdem das Aufnahmege-

zwischen Bild- und Tonspur erhöhen hier die cineastische

rät läuft, betreiben wir offenherzigen Small Talk, Nina

Reibung und sorgen zusätzlich für eine noch entwurzeltere,

spricht über die Farbblindheit ihres Mannes und die da-

geisterhafte Atmosphäre, in der Achternbusch wie ein lach-

mit verbundenen Probleme bei der Wahl der Auslegware

hafter Todesengel im blauen Skiblouson am Straßenrand

im neu erworbenen Eigenheim, mein Friseur bekommt

hockt und den vorbeipreschenden Brummis pseudo-gehei-

Komplimente und die Pet Shop Boys werden gedisst.

me Handzeichen, Rauchsignale und Gesten übermittelt. Unverständnis, Non-Linearität und passive Aggressivität

BlaNK: Ich habe keine wirklich spezifischen Fragen an

köcheln bei mittlerer Hitze. Schließlich geht es immer weiter

Euch vorbereitet, würde stattdessen gerne einfach einmal

westwärts, in Richtung Ozean, einem Ende, einem Neuan-

ein bißchen etwas über das neue Album hören. Über die

fang. Es gibt hier zwar nichts zu holen, aber (Zitat Achtern-

Produktion und die Entstehung, immerhin ist es acht Jah-

busch) „Der Tod und das Sterben sind die besten Quellen

re her, dass das erste „A Camp“-Album erschienen ist.

für die Fantasie“. Ein pseudo-dokumentarischer Film, wie

NiNa PeRSSON: Ja, verdammt, es ist acht Jahre her!

ein Sarkophag aus Enttäuschung und Einsamkeit. Und dem

Im Gegensatz zu unserem ersten Album hatten wir ent-

sehr großen und sehr leeren Gesicht Amerikas.

schlossen, „Colonia“ selbst zu produzieren. Es waren

(DV)

zwar noch zusätzliche Musiker beteiligt, aber es gab dieses Grundgefühl ,dass wir drei mittlerweile in allen Bereichen der Produktion genügend Erfahrungen haben, mUSiK

das alleine hinzukriegen. Tatsache ist, dass wir schon seit Jahren über das zweite Album geredet hatten, aber alle so

We will flash our mental genitals for you

mit anderen Dinge beschäftigt waren, dass wir erst vor

von Sophia Hoffmann

etwa eineinhalb Jahren angefangen haben, das zusammen zu tragen, was an Ideen und Material schon vorhanden war. Niclas kam nach New York, wir fingen an zu

Ein kühler, zugiger Vormittag in Hamburg Anfang Februar. Ich habe einen Interview-Termin mit A Camp,

proben und aufzunehmen.

vordergründig bekannt als Soloprojekt der Cardigans-

NiClaS FRiSK: Ich zog nach New York, um ein Lager

Sängerin Nina Persson, besser ausgedrückt ein Wunsch-

(engl.= a Camp, Anm. d. Aut.) in der Stadt zu finden. (lacht)

kind Ninas und ihres Ehemannes, des amerikanischen Musikers Nathan Larson, der in den Neunziger Jahren

BlaNK: Du bist extra für die Dauer der Aufnahmen

mit seiner Band „Shudder to Think“ bekannt wurde.Als

nach New York gezogen?

IX


HEFT ZWEI NiClaS: Ja, so kann man das sagen.

permanent Lieder schreibt und wir dann alles einfach auf ei-

NaThaN laRSON: Aber du hast deine Wohnung dort

nen grßsen Haufen werfen. Wir sortieren erst einmal schön

jetzt behalten, oder?

herum, schauen was so zusammen gekommen ist.

NiClaS: Ja ja, ich lebe jetzt quasi mit einem Bein in New

NaThaN: Es ist vielleicht eine etwas abgeschmackte

York, ich habe das als Anlass genommen.

Metapher, aber im Grunde ist es so, wie wenn dir jemand

NaThaN: Wir als Band haben uns als Band seit dem

Sand in den Hintern stopft und irgendwann scheidest du

ersten Album nicht viel verändert. Wir standen auch

eine wunderschöne Perle aus. Natürlich kannst du nicht

schon in dieser Besetzung live auf der Bühne. Der Unter-

sicher sein, dass so etwas Schönes entsteht, erst einmal

schied ist, dass wir uns diesmal die Verantwortung geteilt

muss der ganze Mist dort eine Zeit lang verweilen.

haben und keinen externen Produzenten dabei hatten.

NiClaS: Exakt. Nervig ist nur, wenn man das Gefühl

Außerdem haben wir alles selbst organisiert und finan-

hat, die Perle steckt fest und kommt gar nicht raus. Das

ziert, naja, hauptsächlich meine Frau (lacht). Außerdem

passiert erst, wenn man entweder den Text für ein Lied

hatten wir keine Plattenfirma, wir konnten tun was wir

geschrieben oder es schließlich aufgenommen hat.

wollten und uns die Zeit nehmen, die wir brauchten.

NaThaN: Die wunderbare Perle-im-Arsch-Metapher!

NiClaS: Es ist kein hitorientiertes Projekt, wir haben

NiClaS: Genau. Es fühlt sich an wie eine Reinigung des

einfach so drauf losgemacht..

Verdauungstraktes.

NiNa: Niemand hatte uns darum gebeten..

NaThaN: Was wiederum eine großartige Sache ist, falls

NaThaN: Wir haben uns unseren Weg ins Showbiz er-

sich dir mal die Möglichkeit bietet.

schlichen…

NiNa: Eine Darmspülung...

NiNa: Das ist schon gut, denn mit den Cardigans waren

NaThaN: Genau, Darmspülung. In L.A. gibt es eine

wir immer auf Majorlabels, hatten aber nie A&Rs. Des-

ganze Sparte im Telefonbuch nur mit Annoncen für

halb bin ich eine relative künstlerische Freiheit gewohnt.

Darmspülungen…

Noch besser ist es natürlich, wenn einem gar niemand

NiClaS: Hat das einen sexuellen Aspekt?

über die Schulter schaut, bis man fertig ist. Mit jeder an-

NaThaN: Nein. Naja, wahrscheinlich doch. Für man-

deren Situation hätten wir uns unwohl gefühlt, so war

che Leute durchaus.

es sehr befriedigend. Allerdings: Aufnahmestudios sind

NiClaS: Ist das wirklich angenehm?

ziemlich teuer in New York, deshalb muss man darauf

NiNa: Man spritzt warmes Wasser in dich hinein und

achten, dass die Aufnahmen nicht zulange dauern.

spült dich sozusagen aus und dann nochmal. (Ausfüh-

NaThaN: Du musst den Scheiß schnell machen. Das

rungen zum Thema Darmspülung, Nina erklärt allen

hilft, einzugrenzen, was du willst, alles wird reduzierter

Anwesenden die wissenswerten Details)

und einfacher, du denkst vor der Aufnahme genauer über das Ergebnis nach, machst dir einen Zeitplan, planst dei-

BlaNK: Ja, auch bei uns ist das mittlerweile recht tren-

nen Tagesablauf, wie in einem ganz normalen Job.

dy, sich den Darm säubern zu lassen. Meist im Zuge ei-

NiClaS: Beim ersten Album trafen wir aufeinander und

ner Diät oder Ernährungsumstellung…

hatten das Gefühl, dass A Camp deshalb notwendig sei, da

NaThaN: Genau, eine lustige Geschichte. Kenny Log-

wir genau diese Musik nicht in unseren Hauptprojekten ver-

gins, der Typ, der die Musik zu „Footloose“ geschrieben

wirklichen konnten. In der Zwischenzeit haben auch wir

hat, ist angeblich süchtig geworden nach Darmspülun-

viel mit diversen anderen Künstlern kooperiert, trotzdem

gen. Der hatte da ein richtiges Problem. Aber ich merke

können diese Musik nur wir gemeinsam zustande bringen.

schon, ich schweife ab…

BlaNK: Manche Ideen habt ihr schon seit Jahren mit

BlaNK: Ein wenig. Erzählt mir doch etwas über die

euch herumgetragen.

Kooperationen auf diesem Album. War es so , dass ihr

NiNa: Der erste Ideen-Embryo war das Lied „Chinatown“

mit bestimmten Künstlern einfach unbedingt mal arbei-

oder? Egal, auf jeden Fall ist es nicht so, dass jeder von uns

ten wolltet oder lief es eher nach dem Prinzip: „Ach, wir

X


HEFT ZWEI sind eh gut befreundet, komm doch vorbei und sing mal

NiNa: Wenn wir es gemacht hätten, wären wir jetzt

mit.“?

schon völlig entnervt, weil wir nur über David Bowie re-

NiNa: Joan (Joan Wasser a.k.a. Joan as a Police Wo-

den müssten.

man) war schon auf dem ersten Album mit dabei, sie

NaThaN: Um aber die Frage zu beantworten: Ich glau-

ist eine langjährige gute Freundin. Und was James Iha

be, wir haben die perfekte Balance gefunden, was die Ko-

(Smashing Pumpkins)betrifft, so war es auch ganz selbst-

operationen und deren Auswahl betrifft.

verständlich, mit ihm zu arbeiten. Wir haben viel in sei-

NiNa: Mir fällt jetzt auch niemand Spezielles ein, mit

nem Studio gemacht und er ist ein alter Kumpel. Nur

dem ich unbedingt noch hätte arbeiten wollen. Es ist im-

bei Nicolai Dunger war es anders, meinem Duettpartner

mer erfrischend, mit jemand Neuem etwas zu machen.

bei „Golden Teeth and Silver Medals“. Mit ihm mussten

Es ist immer fruchtbar, man lernt immer etwas und be-

wir erstmal Kontakt aufnehmen, wir hatten aber beim

kommt etwas zurück.

Schreiben des Songs schon an ihn gedacht.. NaThaN: Wir hatten seinen Namen schon in den Song

BlaNK: Ich kenne bis jetzt leider nur die erste Single

eingebaut.

eures neuen Albums. Wie klingt es, was erwartet mich,

NiNa: Eigentlich haben wir ihn angerufen und ihn mehr

wie kann ich es mir vorstellen?

oder weniger gezwungen, so nach dem Motto: „Dein

NiClaS: Oh, es klingt bombastisch, wie eine große

Name kommt im Text vor, du musst das Lied mit uns

Hochzeitstorte! Wenn das erste Album Bohnen mit

aufnehmen.“(kichert). Nachdem er das gehört hatte, war

Speck war, dann ist dieses definitiv eine Hochzeitstorte.

er natürlich schon neugierig.

Ein Dessert. NiNa: Es ist nicht unbedingt ein fröhliches Album, aber

BlaNK: Gibt es jemanden mit dem ihr gerne arbeiten

ein sehr ausgeschmücktes. Eher ist es eine Hochzeitstorte

würdet, der aber nicht auf dieses Album zu hören ist?

mit viel Guss darauf. Aber wenn man den etwas abkratzt,

NiNa: Natürlich habe ich viele große Helden, wir haben

dann kommt etwas Verrottetes zum Vorschein,

auch einen von Ihnen kontaktiert, aber er hat dann abge-

NaThaN: Viel Blut, viel Schmerz verbirgt sich darunter.

sagt. Zurückblickend würde ich sagen, vielleicht hat mir

Aber hinter einem glücklichen Gesicht.

das den Arsch gerettet. Oder besser: Ich bin ganz froh,

NiClaS: Strahlend und gutaussehend!

dass es nicht geklappt hat, weil manche seiner Helden

NaThaN: Die erste Singleauskopplung („Stronger than

will man gar nicht wirklich treffen. Es handelte sich um

Jesus“) ist eher untypisch für das Album. Dieses Lied

David Bowie. Ein Freund von uns kennt ihn gut und hatte

klingt noch nach dem ersten Album, die restlichen Lieder

mit ihm gesprochen.

sind sehr anders.

NaThaN: Er wohnt gleich um die Ecke von dem Stu-

NiClaS: Mehr Broadway als Woodstock.

dio, in dem wir aufgenommen haben und wir wollten, dass er bei einem Lied etwas mitsingt. Ab dem Moment,

BlaNK: Woher der Broadway?

in dem das Ganze konkret wurde, wo es hieß, ja , könn-

NiClaS: Das ist so passiert. Ihr beide wohnt in New

ten wir die Lyrics haben und so weiter, dachten wir „Ver-

York und ich jetzt auch, aber das Ganze hat auch starke

dammt, vielleicht wollen wir gar nicht, dass es klappt“.

europäische Züge. Altes Europa.

Dann hätten wir ihn treffen müssen und so.

NaThaN: Wenn wir Broadway sagen, meinen wir

NiNa: Auf einmal fingen alle an: „Also, ich werde nicht

nicht so stark den amerikanischen Broadway. Eher die

im Studio sein, wenn er auftaucht.“

Ursprünge, die Wurzeln, die goldenen Zwanziger, Ber-

NiClaS: Wie hieß nochmal diese Band mit Keanu Ree-

lin, Weimarer Republik, Vaudeville, klassiches Kabarett.

ves am Bass? Wie muss es sich anfühlen, der Sänger dieser

Nina macht Kabarett.

Band zu sein, wenn alle nur den Bassisten ankreischen?

NiNa: Ich mache mit einer Hand voll Leuten in New

Dann wirst du zu einer Art unscharfer Fresse im Hinter-

York Kabarett (The Citizens Band, Anm. d. Aut.). Es geht

grund, die singt.

um Amerika, aber im Stil des klassischen europäischen

XI


HEFT ZWEI Kabaretts. Auch sehr politisch, gemischt mit amerikani-

tagskontext nicht möglich. Wenn ich das nicht über die

schen Einflüssen wie Burleske, Showgirls. Ich war davon

Musik kompensieren könnte, müsste ich wahrscheinlich

sehr stark inspiriert und wollte unbedingt weiter in diese

jedem meine Genitalien zeigen. Das ist ein sehr ähnlicher

Richtung gehen und das auch in das Album einfließen

Mechanismus.

lassen.

NaThaN: Vielleicht ist es doch besser zu sagen, man zeigt sein offenes Herz als seinen Schwanz.

BlaNK: Habt Ihr einen bestimmten Fetisch oder eine

NiClaS: Was manchmal hässlicher sein kann als die Ge-

Sucht?

nitalien…

NiNa: Ich würde sagen, mein Fetisch ist Ebay. Ebay und Antiquitäten.

BlaNK: … und wesentlich intimer.

NaThaN: Ich bin mir nicht sicher.

NiClaS: Auf jeden Fall. Die Leser können sich darauf

NiNa: Schuhe, Baby!

gefasst machen, dass wir mit unseren mentalen Genitali-

NaThaN: Ja, meine Frau hat auch ne Menge Schuhe,

en vor ihnen herumwedeln werden, sobald wir auf Tour

aber ich schätze, mein Schuhtick ist noch stärker. Und

gehen..

dann noch der klassische Musikerfetisch: Musikequip-

NiNa: Ein einziger emotionaler Striptease.

ment. Alte Synthesizer aus den siebziger Jahren und so Zeug. Das ist es wohl, dafür gebe ich verdammt viel Geld

BlaNK: Das ist doch ein wunderschönes abschließen-

aus.

des Statement! Ich bedanke mich herzlich für das Inter-

NiClaS: Ich denke, ich bin ein ziemlicher Suchtmensch.

view und den Kaffee.

Ich habe wohl viele Süchte, aber einen Fetisch? Sexueller Fetisch würde hier wohl etwas zu weit gehen. Mir fällt

A CAMP auf Tour in Deutschland, Österreich und der

keine gute Antwort ein.

Schweiz

NaThaN: Ich kenne dich so gut, ich weiß, wonach du süchtig bist. Und zwar nach Feedback, nach Reaktionen,

13.04. Köln/ Luxor

nach freudigen Neuigkeiten, nach guter Musik. Deine Re-

15.04. Hamburg/ Übel & Gefährlich

aktionen sind immens: „AAAAAhhhhh“ (Nathan stößt

16.04. Berlin/ Lido

einen wilden, euphorischen Schrei aus - Anm. d. Aut.)

19.04. Wien / Flex 21.04. München/ Backstage

BlaNK: Sucht danach, enthusiastisch sein zu können?

23.04. Zürich/ Abart

NaThaN: Sucht nach Reaktion!

24.04. Lausanne/ Docks

NiClaS: Das stimmt. Gierig nach starken Reaktionen, das hat mich wahrscheinlich auch ins Showbiz gebracht. Ja, starke Reaktionen, das ist mein Fetisch. Musik maBlaTTKRiTiK

chen ist ja irgendwie wie zuhause in seinem Verschlag zu sitzen und Bomben zu basteln und darauf zu warten, sie explodieren zu lassen. So ist es für mich, wenn man ein

Wo ist der neue Feminismus?

Album aufnimmt. Man will eine Reaktion, einen Kon-

von Teresa Bücker

takt zur Außenwelt. Man findet aber keinen Weg und der „Schönsein ist so öde.“ – Neues wagen scheinbar

Drang wird immer stärker. NiNa: Begibst du dich jetzt doch in sexuelle Gefilde?

auch. Das Missy Magazine ist zwar eine ernstzuneh-

NiClaS: Nein, ich vergleiche es nur. Ich denke, mit dem

mende Bereicherung des Zeitschriftenmarktes, dem

Lieder schreiben ist es das Gleiche. Dinge, die man ei-

Anspruch, ein Sprachrohr für die einflussreichen, hell-

gentlich für sich behalten sollte, teilt man mit, man muss

wachen Frauen von heute und morgen zu sein, genügt

sie herzeigen und das ist in einem normalen sozialen All-

es hingegen nicht.

XII


HEFT ZWEI Ein ganzes Magazin den Frauen, ihren Herzensangelegenheiten, Stolpersteinen und Ideen zu widmen und sich dabei stark vom Angebot der Hochglanzblätter mit Appell an die perfekte Tussi abzugrenzen, hätte man für den deutschen Pressemarkt nicht erwartet. Die Anzahl der Magazine, in denen Frauen von anderen Frauen für dumm verkauft werden, hat sich nicht auf eine erträgliche Schar gesundgeschrumpft. Ihre Sprache hat zudem die Frauenbewegung wieder auf den Einsatz von Schönheit und den Reiz des weiblichen Körpers zur Verbalisierung der weiblichen Forderungen reduziert. Köpfchen kennt der Journalismus für Frauen nicht. Es sieht heute so aus, als „beschränke sich die Frauenbewegung mit einhelligem Kopfnicken, dass die Frau von heute keine Emanzipation mehr benötige“ (Violetta Simon: Germany‘s Next Role-Model. sueddeutsche.de vom 05.03.2009). Dass intelligenten Frauen unter 30 kein Printprodukt zur Verfügung stand, das sie als Hauptzielgruppe ansprach, ist einem großen Verlagshaus in den letzten Jahren nicht aufgefallen. Anstatt sich dieser Marktlücke anzunehmen, verspürt man die Einstellung von Park Avenue und Vanity Fair als Verlust und stopft unzählige Frauenwebportale in Rosé-Schattierung lieblos ins Netz, die weiterhin an Frauen mit Appetit auf Politik, Kontroverse und Schöngeist vorbei schlittern. Heidi Klums Erniedrigung junger Laufstegaspirantinnen mit kritischer Miene zur Kenntnis zu nehmen, gilt heute bereits als frauenrechtliches Engagement. Es ist bezeichnend für den Stand der Emanzipation und den Rückschritt, den diese beschreitet, dass von Redakteurinnen geführte Blätter die Darstellung der Frau als ganzheitliches Geschlecht nicht vollbringen, sie nicht auskommen ohne Modestrecken mit Mannequins, deren Knochigkeit Sex und Vernunft entbehrt, sie die Beschränkung der weiblichen Interessen auf Haute Couture, Beauty, Innenarchitektur und Diät nicht vermögen aufzubrechen, ohne sehnsüchtigen Blick nach Hollywood und Traumspiel des Horoskops nicht auskommenend. Das Missy Magazine Das Ende 2008 erstmalig erschienene Missy Magazine erfüllt, was Anzeigenverkäufer in Angstschweiß ausbrechen lässt: Die Zeitschrift, die sich selbst und ihre Zielgruppe mit dem Claim „Popkultur für Frauen“ sehr

XIII


HEFT ZWEI klar und doch weit interpretierbar beschreibt, ist an eine

konzerns, der zwar stets politisch ambitioniert ist, aber

Gruppe weiblicher Wesen adressiert, die bislang kom-

sein Image grundsätzlich über die junge Frau als Sex-

merziell keine bedeutende Rolle gespielt haben und ihr

objekt inszeniert, zieren dieses Mal sogar die Titelseite

Stück zum Kuchen der Werbeeinnahmen mit der Lektüre

der Missy. Sie kleiden Schauspielerin Sandra Hüller für

von Magazinen wie brand eins, Intro, dem Spiegel und

ein biederes Bild, versehen mit ihrem Zitat: „Schönsein

überregionalen Tageszeitungen beigetragen haben, sowie

ist so öde.“ In der Aufbereitung des Eingangstors der

abseits des für deutsche Verlage relevanten Marktes ihre

Missy offenbart sich somit die Widersprüchlichkeit zwi-

intellektuelle Befriedigung im Zwiegespräch, in Zines,

schen Anspruch und Sein, die das Magazin konsequent

Blogs, sowie englischsprachigen Print- und Onlinemedien

prägen. Korrespondierend zu der Abkehr an die schöne

gesucht und gefunden haben. Wie beschreibt Marketing-

Frau – eine ausgelutschte feministische Phrase – scheint

Deutsch junge Frauen, die Wimperntusche, Lipgloss und

Neues wagen ebenso öde, wie schön sein. Sexismus und

Conditioner alltäglich benutzen, deren Brechreiz bei den

freiwillige Unterordnung des weiblichen Geschlechts

zuständigen Werbespots und –anzeigen nur schwer zu

– zwei Dinge, die eine junge Szene in Orientierung an

kontrollieren ist? Kann ein Magazin mit feministischem

Hipstertum, Vice-Magazine und dem eigenen Ego als

Anspruch glaubhaft eine pink eingefärbte Seite mit Süd-

Beruf zelebriert, und Frauen als Errungenschaft ver-

seefeeling neben einem redaktionellen Artikel platzieren?

kauft – erfährt keine Auslösung über den Weg, die Sym-

In Missy #2 hat noch kein Frauenprodukt gewagt, für

bolik (in diesem Fall American Apparel) in einen femi-

sich zu werben. Ein Grund mehr, die Art der Werbean-

nistischen Kontext zu übertragen, umzukehren und für

sprache für ein Durchdringen zu einer „neuen Genera-

dieses Feld ausgewählte Vertreterinnen in altbekannten

tion junger Frauen“ (Missy-Mediadaten) zu überdenken:

Gemeinplätzen sprechen zu lassen.

Es ist nicht alles Gold, was pink glänzt – auch wenn die 5-jährige Tochter des Kreativchefs diesem leicht sugge-

Missy bedient sich in der redaktionellen Umsetzung

rieren mag, dies bliebe auch nach Ende der Pubertät für

der Klischees über Frauen, die sie zunächst vermeiden

immer ihre Lieblingsfarbe.

wollten. Wertet man die Ausgaben #1 und #2 hinsichtlich

Das ästhetische Farbempfinden von jungen Frauen für

der adressierten Stereotypen aus, findet man vieles, das

ebensolche umgesetzt, findet sich seit der ersten Ausgabe

die ausgerufene Freiheit der jungen Feministin beschnei-

der Missy in der Gestaltung des Hefts. Insgesamt spielt

det und auf die Schreiberin und Leserin zurückführt,

die Artdirektion eher mit der düsteren Seite der Palette:

die wir seit jeher aus der Popkultur kennen: Die Abkehr

die emanzipierte Frau, das unnahbare und mystische Ge-

ins Schräge und Seltsame, statt Mut zur Schönheit; eine

schöpf, gerade der Emo-Phase entwachsen und kurz vor

Überthematisierung der Facetten der Unterdrückung,

dem Sprung auf die Stufe der Gehaltstreppe, die eine teu-

statt Mut zu Intellektualität und steiler, politischer Ar-

re und elegante Garderobe in gedeckten Tönen auf Dauer

gumentation; das Strotzen vor Selbstbewusstsein und Ja

ermöglicht. Oder eben die urbane Göre Mitte zwanzig,

zu hartem Sex und Masturbation, statt das Aufspüren

die das finstere Farbportfolio aus H&M, American Ap-

der schwachen Seiten unseres Geschlechts und vorhan-

parel und Berliner Jungdesignern zusammenstellt.

dener unsicherer oder romantischer Seiten. Die Frauen, die sich als Wahrheit der Popkultur

Der Rahmen für die Weiblichkeit

verstehen und die Missy als Produkt dieses Selbstver-

Mit dieser modischen Zielgruppeneingrenzung aus

ständnisses, schreien mittlerweile so laut und großspu-

Holzfällerhemd und Lamé-Leggins nähert man sich nun

rig, dass es Angst macht und zudem eher enthüllt als

dem Kern der Herausforderung, die das Missy-Team,

verschleiert, dass hier keine neuen Ideen eines jungen

bestehend aus Sonja Eismann, Chris Köver und Stefanie

Feminismus entstehen, sondern die althergebrachten

Lohaus, als eigenen Anspruch artikuliert, aber auch in

Autorinnenthemen der Popkultur lauwarm an einem

der zweiten Ausgabe des Heftes nicht meistern konnte.

zentralen Ort wiederaufgelegt werden. Ebenso bricht

Die zarten Baumwollstoffe des amerikanischen Groß-

Missy die althergebrachten Magazin-Strukturen hin-

XIV


HEFT ZWEI sichtlich journalistischer Stilformen oder Aufbau einer

Da die drängende Frage nach der Zukunft der Frau-

Zeitschrift nicht auf und fügt sich nahtlos in den Maga-

enbewegung für die sanfte Natur der Popkultur zu rigo-

zinmarkt, anstatt zu irritieren.

ros zu sein scheint, erklärt sich die Abwesenheit harter

Vertraute Themen fügen sich in zahmer Umge-

Themen im Heft wie Politik und Wirtschaft sowie das

bung zusammen: Der Popfeminismus von Spex, Neon,

Fehlen des Dialogs mit Frauen aus diesen Bereichen.

De:bug, Intro und vergleichbaren Schriftstücken, denen

Glaubt man der Missy, werden Künstlerinnen aus Musik,

die Autorinnen „gekündigt“ haben, um ihren eigenen

Mode und Film der Frau irgendwann zu realer Gleich-

Spielplatz damit auszustatten, gehört nun einem Zent-

berechtigung verhelfen. Die Verlegenheitslösung, die den

ralorgan. Denn der Spielplatz der Popkultur, so schreibt

politischen Anspruch der Missy so mutlos künstelt wie ei-

die Missy-Redaktion in Ausgabe #1, war bislang zu 80

nen vorgetäuschten Orgasmus, sind Kurznachrichten aus

Prozent von Männern besetzt: „Sie sitzen auf der Schau-

den Federn der Mädchenmannschaft und ein schwaches,

kel, der Wippe, dem Klettergerüst, blockieren die Rut-

im Politikressort eingeordnetes Dossier zur Finanzkrise.

sche und den Sandkasten. Wir hatten keine Lust mehr

Die Texte von Meredith Haaf, Katrin Rönicke und Bar-

zuzusehen, wir wollten selbst spielen. Missy ist so etwas

bara Streidl sind wie immer gut und frauenpolitisch; die-

wie unser Gummitwist, reserviert für Mädchen.“ Auf

se Autorinnen aber nur auf einer Seite zu Wort kommen

diese Weise entsteht ein eigener Bolzlplatz der alternden

zu lassen ist zu wenig, zumal diese Wahl vermittelt, man

Popmädchen, aber keine neue Spielwiese des Feminis-

habe keine weiteren fachlich versierten Autorinnen auf-

mus. Dieser selbst errichtete Spielplatz verkörpert nun

spüren können, die erkannt haben, dass Emanzipation

tatsächlich eher etwas Kindliches, und nicht erwachse-

ein politisches Diskussionsthema und kein popkulturelles

nen Journalismus. Bloß ohne die Jungs.

Diskursthema ist. Was nun bleibt sind Geschichten für Mädchen am

Auf Spurensuche des „neuen Feminismus“

Beginn ihres Studiums der Erziehungswissenschaft,

Die Inhalte für die in den Mediadaten beschriebenen

Kunstgeschichte und Medizin, die Feminismus im letzten

Frauen, die nicht nur eigene Familien sondern auch Un-

Jahr als populäres Thema kennen gelernt haben und für

ternehmen gründen und „Zugang zu mehr Information,

sich noch nicht feststellen konnten, dass ein Vorantreiben

als jede andere Generation vor ihnen“ besitzen, sucht frau

der Emanzipation dem Feiern des Wellnessfeminismus

vergeblich. Missy richtet sich derzeit an junge Frauen, die

vorzuziehen ist. Für 19-jährige sind Gleitmittel-Tests (vgl.

gerade erst beginnen, feministische Themen zu entdecken

die verblüffende Ähnlichkeit des Tests und Korrespon-

und Magazine mit popkulturellem Fokus bislang nicht

denz der Werbekunden mit der ersten Ausgabe „Alley

konsumiert haben. Sie bietet ihnen aber keine ernsthaf-

Cat“ – das erste deutsche Erotikmagazin für Frauen),

te Diskussion um den Stand der Emanzipation, sondern

Portraits von sich nicht über Schönheit definieren wol-

setzt diese als vollzogen voraus. Die Missy-Leserin ist

lende Jungschauspielerinnen („Courtney war für mich

emanzipiert, mit den „Errungenschaften der Frauenbe-

schon damals viel wichtiger als Nirvana.“) und Sexismus-

wegung aufgewachsen“ und sieht es als „selbstverständ-

Vorwürfe an den amerikanischen Playboy („Beispielhaft

lich an, gleichberechtigt zu leben.“ Wo ist der Hinweis,

wird hier die Krise des heutigen Mannes kompensiert,

dass die Emanzipationsbewegung durch das pinke Flüs-

der unter der schrittweisen Emanzipation der Frau leidet

tern aus den Sprachrohren von Charlotte Roche, den Al-

und sehnsüchtig seine Rolle sucht.“) gute, erste Denkan-

phamädchen und neuen deutschen Mädchen im letzten

stöße, wenn auch frauenrechtlich wenig progressiv.

Jahr keinesfalls wachgerüttelt und fortgeführt wurde?

Für Frauen, die alt und wissbegierig genug sind, um

Wo ist die Nachfolgerin von Alice Schwarzer, die – bei

mehr über Familie, Politik und Ökonomie wissen zu

all ihrem Egozentrismus – der Frauenbewegung tatsäch-

wollen, löst ein Satz wie „Es gibt wohl wenig Verteidi-

lich fehlt?

genswertes am Beruf der Börsianerin, sowie an allen Verantwortlichen der Wirtschaftskrise, unabhängig, ob Frau

Softe Themen, bitte!

oder Mann“ eher ein Stirnrunzeln aus. Relevante Politik

XV


HEFT ZWEI findet im Missy-Magazin nicht statt; was im Inhaltsver-

mutlich gewollt: Schwimmt man in der Zielgruppe eines

zeichnis unter dem Etikett angekündigt wird, formiert

Magazins „von Szenefrauen für Szenefrauen“ hat man

sich als Alibi in einem Finanzratgeber für den Alltag.

selbstverständlich schon den gleichgeschlechtlichen Akt

Drei erklärende Sätze zum Ehegattensplitting und ver-

vollzogen oder sieht diesen als die nächste Herausfor-

meintlichem Wirtschaftsvokabular wie „Altersarmut“

derung, die frau bestehen muss, um in der Generation

und „Selbstausbeutung“ sind schwache Platzhalter für

„neuer“ Frauen das Rederecht erteilt zu bekommen.

die Beantwortung der Frage durch Politikerinnen, welche Partei denn zu wählen sei, um das Ehegattensplitting

Fragen lernen, streiten lernen

von einem frauenfreundlicheren Steuermodell ablösen zu

Die Lektüre der Missy lässt mich mit dem Resümee

lassen. Missys Familienteil findet wie die Politik nur auf

zurück, das Programm einer Splitterpartei der Spex

einer Seite als „Das kleine ABC der Fortpflanzung und

zu lesen. Die langen Jahre zwischen Mädchenmagazin

Elternschaft“ statt und zeigt eindrucksvoll, dass Famili-

und Brigitte werde ich weiterhin ohne Fachzeitschrift

englück für die Missy-Macherinnen auf das erste Jahr der

für mein Geschlecht überbrücken müssen. Wann for-

Mutterschaft beschränkt ist: In beiden Heften widmet

dert Gruner + Jahr die eigene Frauenexpertise erneut?

sich die Kolumne dem Stillen.

Tatsächlich war die Brigitte Young Miss in ihren ersten Jahren näher an der weiblichen Lebensrealität und po-

Missys Männer

litischer als die Missy jetzt – obgleich für Schülerinnen

Die Missy-Redaktion praktiziert den Weg der

und mit Beauty-Teil. Kluge Mädchen halten noch immer

Frauenbewegung, der nicht zielführend sein wird, um

Ausschau nach ihrer legitimen Nachfolge, die politikbe-

irgendwann die Frage nach Gleichberechtigung, Fa-

geisterte junge Frau noch immer nach ihrem Magazin.

milienmodellen und Sexismus nicht mehr stellen zu

Die Missy ist dennoch ein Lichtschimmer im weiblichen

müssen: die Abgrenzung. Männer dürfen in der Mis-

Zeitschriftenmarkt: Ihre Inhalte konfrontieren junge

sy nicht schreiben und werden auch nicht portraitiert.

Frauen vielleicht noch mit den Widersprüchen, die sie

Die Quotenherren sind die wenig bissigen Vertreter des

selbst die nötigen Fragen formulieren lassen, die die

anderen Geschlechts, die für das gleichnamige Kurz-

weibliche Wählerschaft im Wahlkampf und hinsichtlich

interview ausgesucht werden, zudem wagt man eine

des Setzens ihres Kreuzes auf dem Stimmzettel im Sep-

seichte Öffnung für den Mann in Missy #2: Ein Autor

tember bewegen sollten.

darf die Rezension zum Gus Van Sant-Film über den Gay-Rights-Aktivisten Harvey Milk schreiben (gut, die

Meine eigentliche Aufforderung an Frauen ist den-

Schwulen sind bekanntlich die erste Wahl für Shopping

noch, das zu tun, was Feminismus und Frauenbewe-

und Liebeskummer nach der besten Freundin), es gibt

gung können müssen: Im Dialog mit den Männern den

eine Buchrezension zu „Der Mann in der Krise“ sowie

Fortschritt gestalten. Die Selbsteinschätzung von jungen

eine 7-seitige Fotostrecke, die an das kriselnde Manns-

Frauen und Männern mündet heute wohlmöglich für

bild anschließt: „Tausend Tränen tief“ zeigt weinende

beide im Label des schwachen Geschlechts. Die Zwänge,

Schönlinge, deren Authentizität abermals unter das

in Beruf und Gesellschaft zu bestehen und den Wunsch-

Stichwort „vorgetäuschter Orgasmus“ fällt, diese da-

partner mit Erfolg zu umgarnen, sind beidseitig so viel-

für aber auf der Kastanienallee durchaus ein Objekt

fältig, dass separates Durchbeißen in halbgarer Selbst-

der Begierde für Frauen mit tickender biologischer Uhr

findung endet. Ein Spielplatz ohne Jungen beschert uns

darstellen könnten. Nach so viel männlichem Elend,

die Neurosen einer Jugend im Mädcheninternat. Sich

Hinweise auf die Gemeinheiten des Patriarchats und die

kabbeln – nicht kuschen und schmollend abspalten – ist

Ausblendung des Erfolgsmodells „Zusammenspiel von

die moderne Lösung.

weiblichen und männlichen Stärken“ bekommt die LeDie kräftigen Kinder zeugen wir meist im Zusam-

serin maximal Lust auf analytischen Sex mit einer heroischen Frau. Die Erzeugung dieses Bedürfnisses ist ver-

menspiel. Das gilt auch für publizistische Babys.

XVI


MeiréundMeiré

Anteil der Deutschen, die durch das Meistern schwieriger Situationen Glück empfinden, in Prozent: 63 Anteil der Deutschen, für die die Freiheit von Geldsorgen ein Glücksfaktor ist, in Prozent: 31

Weitaus mehr als nur Zahlen.

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