Untat

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Untat Guido Rohm

Conte

krimi


Für Annette

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-941657-78-6 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © Guido Rohm © Conte Verlag GmbH, 2013 Am Rech 14 66386 St. Ingbert Tel: (0 68 94) 1 66 41 63 Fax: (0 68 94) 1 66 41 64 E-Mail: info@conte-verlag.de Verlagsinformationen im Internet unter www.conte-verlag.de Lektorat: Amelie Schröder und Christina Wolfrum Umschlag und Satz: Markus Dawo Druck und Bindung: Faber, Mandelbachtal


» Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß, und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!« Bertolt Brecht



Erster Tag

1 Wir sind nervös. Natürlich. Das wären Sie doch sicherlich auch, wenn Sie sich in wenigen Minuten einem Verbrecher anvertrauen würden. Oder? Wir haben uns das nicht ausgesucht. Wir wurden erwählt. Von wem? Von Oscar! Das überdimensionale Bild einer lachenden Frau auf einem Plakat sieht auf uns hinab. Sie zwinkert uns mit dem linken Auge zu. Wir haben es gesehen. Aber weil man nicht als verrückt gelten will, übersieht man so etwas am besten. Man spricht nicht darüber. Nur Verrückte fühlen sich von einem Gesicht auf einem Werbeplakat angesprochen. Wir sind nicht die Verrückten hier. Wir sehen zum Himmel hinauf. Der Himmel ist weit entfernt. Wolken, die einen Pessimisten an Särge erinnern würden, ziehen rasch über uns hinweg. Die Zeit scheint sich beschleunigt zu haben.

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Die Gebäude seitlich erwecken den Eindruck, jede Sekunde auf uns hinabzustürzen. Wir sitzen in der Falle. Unsinn, denken wir, das sind doch nur Häuser. »Ihr kommt zu spät!« Oscar fuchtelt mit den Händen in der Luft herum. Ein dem Wahnsinn verfallener Dirigent. Er ist ein hässlicher Mann. Ein kleiner Mann. Er hat kaum noch Haare, schlechte Zähne und Glupschaugen. Er riecht schlecht. Das kommt der Wahrheit nicht nahe. Er stinkt. Ein Mann wie aus einer Hollywoodkomödie. Oder wie aus einem der alten Gangsterfilme. Eine Mischung aus Peter Lorre und Edward G. Robinson. Wir kennen uns aus. Wir haben die Filme alle gesehen. Wir sind ständig damit beschäftigt, unseren Horizont zu erweitern. Die Sonne scheint. Sie verbrutzelt uns regelrecht. Wir fühlen uns wie glühende Kohleklumpen. Wir schwitzen, aber Oscar scheint ganz besonders stark zu transpirieren. Sein Hemd zeigt an einigen Stellen dunkle Flecken, die uns rasch zur Seite blicken lassen. So etwas will man nicht sehen. Man schämt sich dafür. »Ich bin Oscar«, sagt er und streckt uns seine feuchte Hand entgegen. Die Hand ist über und über mit dunklen Haaren übersät. Die Hand erinnert an die Klaue eines Werwolfs. Die Fingernägel sind zu lang. Frauenfingernägel. Mordinstrumente. Unter den Fingernägeln ist die Schwärze von Dreck zu erkennen. Der

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Dreck stößt uns ab. Trotzdem schütteln wir seine Hand. Er ist der Boss dieser Unternehmung. Er hat das Sagen. Er hat uns engagiert. Er hat ein Recht darauf, die Hand geschüttelt zu bekommen. »Achtet nicht auf meine Hände«, sagt er. »Ich habe die ganze letzte Nacht ein Loch gegraben.« Sagt man so etwas nach der ersten Begrüßung? Er schon. Wir nennen unsere Namen. Er nimmt sie gelangweilt zur Kenntnis. Er weiß, wer wir sind. Er hat uns gebucht. Wir fragen nicht, warum er ein Loch gegraben hat. »Ich müsste trotzdem noch eure Ausweise sehen«, sagt Oscar. Wir kramen unsere Presseausweise aus den Rucksäcken und zeigen sie ihm. Kleine Plastikscheiben. »Die behalt ich eine Weile.« Oscar steckt die Ausweise mit einem Grinsen in die rechte Gesäßtasche seiner schwarzen Jeans. Später werden wir von ihm träumen. Aber jetzt lernen wir uns erst einmal kennen. Und dann sagt Oscar: »Ich muss euch dort drüben noch kurz einer Leibesvisitation unterziehen. Regt euch darüber nicht auf. Eine reine Formalität.« Er lächelt verlegen. Einem solchen Mann kann man nicht böse sein. Oscar zeigt zu einer öffentlichen Toilette hin. Einem matt glänzenden Metallkubus. Wir nicken und folgen ihm.

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Wir betreten die Toilette. Es riecht nach Urin und Fäkalien. Oscar verdreht die Augen und bewegt den Kopf entschuldigend hin und her. »Muss leider sein«, sagt er. »Ich mag solche Orte ja auch nicht.« Wir fragen ihn, ob dies seine erste Entführung ist. Er hebt die Arme, als wolle er sich ergeben, und winkt dann ab. »Wir kennen uns noch nicht. Ich möchte noch nicht über solche Dinge sprechen. Später. Später vielleicht.« Wir geben ihm zu verstehen, dass wir das verstehen. Wir haben Verständnis für seine Lage, die gewisse Vorsichtsmaßnahmen nötig macht. Um sein Vertrauen zu gewinnen, sagen wir, es sei unsere erste Entführung. Wir wollen, dass er uns mag. Oscar kontrolliert die Kabinen. Niemand da. Er kommt zu uns zurück. »Über was habt ihr denn bisher so berichtet?«, fragt er. Ehe wir antworten können, drückt er uns mit seinen Händen an die Wand. Er hat starke Hände und arbeitet zielgerichtet zeitgleich mit der linken wie auch mit der rechten Hand. Unsere Körper sollen jeweils ein X bilden. Beine und Arme weit auseinander. Rasch klopft Oscar uns von oben nach unten ab. »Ihr seid sauber«, sagt er. Die Tür der Toilette öffnet sich. Ein offensichtlich angetrunke-

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ner Penner wankt herein. Er sieht erschreckend verwahrlost aus. Wirres graues Haar flammt um seinen Kopf. Wir stehen noch mit gespreizten Beinen vor der Wand. Unsere Hände kleben an den Kacheln. Wir können den Dreck auf den Kacheln spüren. Er klebt. Wir lösen die Hände wie Saugnäpfe und drehen uns zu ihm um. »Wollte euch nicht stören, Jungs«, sagt der Penner. »Muss nur schnell pinkeln.« Der Penner kichert und schiebt sich an uns vorbei. Er schüttelt dabei den Kopf. Oscar gibt uns ein Zeichen. Wir nicken und folgen ihm ins Freie. Nur raus hier, denken wir. Verkehrslärm. Hupen. Die Stadt versinkt allmählich in ihren Abgasen. Oscar hat für unser erstes Treffen eine besonders befahrene Straße der Stadt ausgesucht. Trotzdem ist heute eher wenig los. Ferienzeit. Laut dem Internet ist der Himmel unter der Dunstglocke metallicblau. Oscar zieht uns zu einer Hauswand hinüber, die mit Schmierereien übersät ist. »Wir sollten jetzt erst einmal eine Zigarette rauchen«, sagt Oscar. Er sieht uns erwartungsvoll an. »Was ist? Habt ihr Zigaretten dabei?« Wir müssen seine Frage verneinen. Wir rauchen nicht. Wir

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halten nichts von solchen Lastern. Nur schwache Menschen rauchen. »Mann, was seid ihr nur für Typen«, sagt er. »Dann müssen wir eben Zigaretten kaufen.« Und dann fragt er noch: »Aber Geld habt ihr doch wenigstens dabei, oder?« Wir haben Geld dabei. Auf dem Weg zum nächsten Supermarkt oder Kiosk erzählt uns Oscar von dem Stress, den er bereits an diesem Morgen hatte. »Ich hab bis in die frühen Morgenstunden gegraben. War eine echte Plagerei. So eine Entführung sitzt man nicht einfach auf der rechten Arschbacke ab. Ich habe kaum geschlafen. Die Nerven gehen langsam mit mir durch. Man ist ja keine Maschine. Ich bin alleine, müsst ihr wissen. Ich mache alles mit mir alleine aus. Früher war ich verheiratet. Aber meine Frau ist durchgebrannt. Mit einem Schwarzen. Ich bin kein Rassist, aber musste es denn gleich ein Schwarzer sein?« Wir haben darauf keine Antwort, zumal wir die Frage geschmacklos finden, es aber nicht zum Ausdruck bringen möchten. Er ist der Boss. Er hat das Sagen. Er bestimmt die Denkrichtungen. Oscar unterbricht sich, als wir einen Kiosk erreichen. Er lässt sich von uns Geld geben und kauft drei Packungen Zigaretten. Zwei Packungen verstaut er sofort in seiner Jacke. Eine Packung öffnet er direkt vor dem Kiosk. Das Silberpapier glitzert in der Sonne. Er wirft es in einen neben dem Kiosk befindlichen Müll-

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eimer. Aufgeregte Wespen lauern auf jede Hand, die ihnen den Deckel zum Paradies öffnet. »Wo war ich stehen geblieben?«, fragt Oscar Wir machen ihn darauf aufmerksam, dass uns der Verkäufer aufmerksam beobachtet. »Ja, wir sollten weiter gehen«, sagt Oscar. Der Mann ist ein Profi. Das sieht man sofort. Man kann es erkennen, wenn man einen echten Profi vor sich hat. Oscar muss einer sein. Wir sind uns nicht sicher. Aber wir glauben daran. Oscar hat Hunger und möchte mit uns etwas essen gehen. Wir fragen ihn, ob wir nicht zunächst einmal zu seinem Haus fahren sollten, damit er uns dort alles zeigen kann. Oscar zieht gierig an seiner Zigarette und sagt: »Das hat Zeit. Erst muss ich etwas essen. Einen Burger vielleicht. Mögt ihr Burger?« Wir verneinen. Oscar dirigiert uns in eine U-Bahn-Station. Wir wollen wissen, wo er sein Auto geparkt hat. »Das steht am anderen Ende der Stadt«, sagt er. »Verwirrung ist alles. Niemand soll etwas mitbekommen. Ich will auf keinen Fall auffallen. Wir müssen nur zwei Stationen weit fahren. Die haben einen hervorragenden Burgerladen. Dort esse ich rasch etwas. Und ihr könnt ja etwas trinken. Einen Kaffee vielleicht.« Achtlos wirft Oscar die Zigarette von sich. Wir fühlen uns versucht, die Kippe ordnungsgemäß zu entsorgen. Lassen es dann

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aber doch. Der Umgang mit ihrem Müll sagt viel über die Menschen aus. Wir sagen nichts. Wir wollen den Anschluss an Oscar nicht verlieren. Wir steigen die Treppen in den Untergrund hinab. Vereinzelt kommen uns Leute entgegen. Ein Skater. Ein Mann im Anzug und mit Koffer. Eine alte Frau, die sich mit ihren Tüten abmüht. Oscar schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Verflucht!«, ruft er aus. »Aber so etwas kann ich einfach nicht sehen.« Wir sind bereits einige Stufen von der alten Frau entfernt. Oscar bremst ab und nimmt jeweils zwei Stufen auf einmal. Schon ist er bei der Frau, die ihn ängstlich ansieht und fragt: »Was wollen Sie?« Oscar lächelt sie gütig an und sagt: »Sie erinnern mich an meine Mutter. Ich will Ihnen mit den Tüten helfen.« »Das ist ja sehr nett von Ihnen, junger Mann«, sagt die Frau. »Ich benötige aber keine Hilfe. Ich packe das alleine.« Oscar bewegt seinen Kopf langsam von links nach rechts. »Das werde ich auf keinen Fall zulassen«, sagt Oscar bestimmend. Die alte Frau wendet sich von ihm ab. Sie scheint ihm keinerlei weitere Beachtung schenken zu wollen. Oscar sieht zu uns runter und zuckt mit den Schultern. Dann trifft er eine Entscheidung und läuft ihr nach. Er packt nach der Tüte in der rechten Hand der Frau und zieht daran.

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»Aber …!«, schreit die Frau auf. »Ich werde das nach oben tragen«, sagt Oscar. »Lassen Sie mich in Ruhe!« Die alte Frau sieht sich hilfesuchend um und erblickt uns. »Rufen Sie doch die Polizei!«, schreit sie plötzlich. Und dann wieder und noch lauter: »Die Polizei!« Das Wort Polizei verschreckt Oscar natürlich. Er lässt von der Tüte ab und sagt: »Blöde Kuh! Ich wollte Ihnen doch nur helfen.« Die alte Frau beschleunigt ihre Schritte und verschwindet im Tageslicht. Das Licht verschluckt sie einfach. Oscar schüttelt den Kopf und winkt uns zu. »Alles in Ordnung!«, ruft er. »Alles in Ordnung!« Die nächste U-Bahn fährt laut der Anzeige in zwei Minuten. Wir stehen in der Nähe einer unbesetzten Bank. Wir versuchen, die Schriftzüge der Sprayer an den Wänden zu entziffern. Oscar bemerkt unsere Blicke. »Das ist Sachbeschädigung«, sagt er. Auf dem Bahnsteig stehen vereinzelt Leute. Ein Pärchen hält sich eng umschlungen. »Der frisst ihr ja bald das Ohr weg«, sagt Oscar. »Diese jungen Leute. Die wissen ja gar nicht, was die Liebe so alles anrichten kann.« Ein Luftzug erfasst uns. Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig fährt eine Bahn ein. Die Türen öffnen sich mit einem zischenden Laut. Die Gerüche hier unten sind unerträglich.

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Eine Frau mit einem Kinderwagen erscheint. Sie spricht auf das Kind im Wagen ein. Oscar mustert sie argwöhnisch. »Wenig los«, sagt Oscar. »Das liegt am Sommer. Die Ferien. Urlaub. Die sind alle fort.« Wir erkundigen uns nach seinem zukünftigen Opfer. Ganz einfach so. Nebenbei. Das ist unsere Taktik. Wir wollen Oscar nicht verschrecken. »Da ist alles in Ordnung«, erklärt uns Oscar. »Ich habe die Lage völlig im Griff. Die Eltern der Kleinen sind für ein paar Tage verreist.« Wer sich denn so lange um die Kleine kümmere, wollen wir von Oscar wissen. »Es gibt da ein Kindermädchen. Das passt auf sie auf. Body­ guards gibt es nicht. So reich sind ihre Eltern dann auch wieder nicht.« Natürlich interessiert uns jetzt, welche Summe ihm denn so vorschwebe. »Ich bin nicht gierig«, sagt Oscar. Wieder ein Luftzug. Unsere Bahn fährt ein. Oscar spricht weiter. Der von ihm genannte Betrag wird vom Lärm des eintreffenden Zuges verschluckt. Wir werden ihn erst sehr viel später erfahren. Wir verteilen uns in dem Waggon, um nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig zu erregen. Oscar hat sich einen Fensterplatz gesucht. Er schlägt das rechte Bein über das linke Knie und trommelt mit den Fingern einen Takt auf seinen rechten Oberschenkel.

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Eine junge Frau nähert sich. Sie setzt sich neben Oscar, den das sofort merklich nervös macht. Er räuspert sich. Er täuscht einen Husten vor. Die Frau sieht zu ihm hin, lässt sich aber ansonsten nicht weiter irritieren. Später wird er sagen: »Warum hat die sich neben mich gesetzt? Der ganze verfluchte Wagen war leer.« Oder hat er das nie gesagt und wir haben es nur geträumt? Wir sitzen seitlich hinter Oscar und beobachten ihn. Sein Kopf ist gerötet. Nachdem sich die junge Frau neben ihn gesetzt hat, scheint er kurz vor einer Explosion zu stehen. Für den Rest der kurzen Fahrt konzentriert sich Oscar auf die Schlieren des verdreckten Fensters. Sein Gesicht spiegelt sich darin. Oscar untersucht seine Gesichtszüge, die von den Schlieren wie Schienenstränge eines U-Bahn-Netzes durchzogen sind. Er beruhigt sich allmählich und beginnt, die Anwesenheit der Frau zu vergessen. Wir meinen ein Blinzeln im Fenster gesehen zu haben. Wir sprechen ihn später darauf an. Das Blinzeln erinnert uns an das Blinzeln der Frau auf dem Plakat. Die Gesten, die uns umgeben, scheinen sich beständig zu wiederholen. Das macht uns Angst. Im nächsten Moment beruhigt es uns aber auch wieder. In den Wiederholungen liegt eine gewisse Beständigkeit, die das Unerwartete ausschließt. Warum haben wir dann Furcht vor solchen Gesten? Vielleicht, weil wir sie nicht verstehen, weil wir sie nicht eindeutig zuordnen können. Solch ein Blinzeln. Was soll uns das sagen? Soll es Verbunden-

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heit ausdrücken, Schalk, soll es einen Witz unterstreichen oder soll es die Überlegenheit des Blinzelnden aufzeigen? Wir machen uns zu viele Gedanken. Daran wird es wohl liegen. Wahrscheinlich ist es nur ein Blinzeln. Mehr nicht. »Wieso sollte ich mir selbst zublinzeln?«, fragt Oscar. Wir sind zurück an der Erdoberfläche. Zurück unter den Lebenden. Die Straßen hier sind noch weniger befahren. Es gibt weniger Bürogebäude, dafür mehr Mietshäuser, die verlassen wie Idioten im Sonnenlicht stehen. Wir drehen uns im Kreis und sehen uns um. »Der Burgerladen ist dort drüben«, sagt Oscar. Fußgänger sind kaum unterwegs, also wagen wir es, das Thema wieder auf die Entführung zu bringen. »Nein, nein«, sagt Oscar. »Wir haben schon viel zu viel in aller Öffentlichkeit darüber gesprochen. Wir sollten jetzt damit warten, bis wir tatsächlich unter uns sind. Wenn wir bei mir sind, dann zeige ich euch alles. Ihr dürft keine Fotos machen. Das wisst ihr. Außerdem will ich am Ende euren Bericht gegenlesen.« Wir versichern ihm, dass uns an einem objektiven Bericht gelegen ist, der auf keinen Fall für vorschnelle Schlüsse beim Leser sorgen wird. Wir würden ihn, also Oscar, auf keinen Fall verzerrend darstellen oder sonst auf irgendeine Weise verunglimpfen. Unsere Zusicherungen scheinen ihn zu beruhigen. Er greift nach den Zigaretten und zündet sich eine an. Wir weisen ihn auf die krebserregenden Stoffe im Tabak hin. Oscar tut

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unsere geäußerten Bedenken mit einem Schulterzucken ab und reagiert auf die so typische Art vieler Raucher mit der Bemerkung: »An irgendetwas muss ich ja schließlich sterben.« Bereits nach drei Zügen haben wir den Burgerladen erreicht. Oscar bittet uns, schon einmal hinein zu gehen und einen freien Tisch für uns zu suchen. Er werde derweil die Zigarette aufrauchen und dann nachkommen. Der Burgerladen ist aufdringlich eingerichtet. Nummernschilder an den Wänden zeugen vom schlechten Geschmack der Restaurantkette. Hier feiert sich das Proletariat in einer romantischen Verklärung aus Country-Musik und Fernfahrermystik. Wir fühlen uns deplatziert. Wir würden einen solchen Laden normalerweise nicht betreten, aber um uns geht es die nächsten Tage nicht, sondern einzig um Oscar, dessen Gast wir sein dürfen. Oscar steht noch draußen und raucht. Wir können ihn durch die Panoramafensterscheibe beobachten. Er tippelt nervös mit den Füßen und zieht unanständig schnell an seiner Zigarette. Wenn man schon raucht, sollte man nicht so wie Oscar rauchen. Genuss muss ein Fremdwort für ihn sein, und wenn es nicht alle Tage so ist, dann aber zumindest in diesen Tagen. Die Anspannung und Nervosität, die seine bevorstehende Tat hervorrufen muss, würden dies ausreichend erklären. Eine Kaugummi kauende Bedienung tritt als lebendes Klischee an unseren Tisch heran. Die beschäftigen also Kühe hier, denken wir. Wir schämen uns für den Gedanken.

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Wir verweisen sie auf unseren Freund dort draußen, der jeden Augenblick zu uns stoßen würde. Wir bitten sie, sich noch einen Moment zu gedulden. Sie lächelt und kaut ihren Kaugummi. »Geht klar, Jungs«, knatscht sie und dreht sich um. Der Hintern spricht für den Bewegungsreichtum ihrer Tätigkeit. Wir blicken ihr fast verzückt nach. Diese Frau arbeitet hier nicht. Sie weidet hier. Oscar hat sich neben uns gesetzt. Aufgereiht wie die Perlen auf einer Schnur sitzen wir nebeneinander auf der Bank. Oscar winkt der Bedienung, die sich ein Lächeln ins Gesicht zwängt und erst am Tisch das Kauen des Kaugummis wieder aufnimmt. Wir bestellen uns Kaffee. Oscar ordert einen Cheeseburger und eine Cola. »Was für ein Fahrgestell«, sagt Oscar und grinst hinter der Bedienung her. Für Sekunden entsteht ein unangenehmes Schweigen. Dann sagt Oscar: »Ich bin früher jeden Tag in die Stadt gefahren. Ich habe bei einer Bank gearbeitet. Der Vater des Entführungsopfers ist ein ehemaliger Vorgesetzter von mir.« Die Tür öffnet sich. Ein Vater und sein verheulter Sohn kommen herein. Der Mann redet auf das Kind ein. »Seht euch das an. Heutzutage wird viel zu viel gequatscht«, sagt Oscar. »Das ist ja das Elend dieser Tage. Wir reden uns kaputt. Es gibt Diskussionen über jeden und alles. Man sollte handeln und nicht so viel reden.«

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Oscar lehnt sich zurück und bedenkt seine letzten Worte. Die Bedienung bugsiert auf einem Tablett unsere Bestellung zum Tisch. Sie stellt das Tablett ab und wünscht uns einen gesegneten Appetit. Wir nicken und greifen nach den Kaffeepappbechern. Oscar packt seinen Burger rasch und neugierig wie ein Geschenk aus. Er beißt hinein und sagt: »Ein guter Burger, ein sehr guter Burger. Ihr hättet euch auch einen Burger bestellen sollen.« Wir erklären ihm, dass wir bereits gefrühstückt haben und uns dieser verspätete Kaffee völlig ausreichen wird. Der Vater versucht immer noch, seinen Sohn zu beruhigen. »Ich habe keine Kinder«, sagt Oscar. »Ich hätte Kinder haben sollen, dann wäre meine Ehe vielleicht nicht auseinander gebrochen. Oder sie wäre trotzdem gegangen. Dann wäre es noch schlimmer geworden. Habt ihr Kinder?« Wir verneinen. Unsere Arbeit ließe keine Zeit für eine Familie. Oscar nickt und sagt: »Ja, man muss sich entscheiden. Entweder Familie oder die Karriere. Und ihr habt euch eben für die Karriere entschieden.« Über der Theke hängen große Flachbildschirme, die nun aufflackern. Stumm grinst uns ein Clown entgegen. Im nächsten Bild beißt er herzhaft in einen Hamburger. Dann kommt ein Hinweis auf das Sparmenü der Woche. Nur ein paar Sekunden später folgen Bilder von der Front. Panzer fahren einen Sandhügel hinauf. Dann die Leichen von Rebellen. Oscar zeigt zu den Bildschirmen und sagt: »Das nimmt einfach kein Ende. Ich habe auch gedient. Wie wir alle. Ihr doch auch, oder?«

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Wir erzählen ihm von der Ableistung unseres Ersatzdienstes. Von den Stunden im Krankenhaus. Dem Stöhnen. Den Schmerzen. »Muss wohl auch jemand machen«, sagt Oscar und verzieht das Gesicht dabei. Er schluckt den letzten Rest des Burgers hinunter und spült mit der Cola nach. Auf den Bildschirmen tanzt der Clown um eine Gruppe von Kindern herum. Wir starren gebannt auf den Clown.

2 Wir haben Oscars Wagen erreicht. Es war eine lange Fahrt mit der U-Bahn bis dorthin. Wir schweigen. Wir hängen alle unseren eigenen Gedanken nach. Oscars Wagen ist alt und rostzerfressen. Es schimmern ver­ schiedene Lacke durch. Das Auto war mal rot. Grün wohl auch. Der Wagen steht in der Nähe eines unbebauten Grundstücks. Ein Plakat weist auf den Verkauf der freien Fläche hin, die von hohen Grasbüscheln überwachsen ist. Heimat für zahllose Großstadttiere. Wahrscheinlich auch solcher, deren Leichen man entsorgen wollte. Vorstellen können wir uns das. Wir können uns überhaupt viel vorstellen, weil unsere Fantasie öfter mit uns durchgeht. Aber das muss niemand wissen, weil wir für unsere Tatsachenberichte bekannt sind.

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Oscar lädt unsere Rucksäcke in den Kofferraum. Er zündet sich noch eine Zigarette an. »Im Auto wird nicht geraucht«, sagt Oscar. »Ich habe da meine Prinzipien. So etwas muss nicht sein. Ich rauche auch nicht im Haus. Ich gehe raus. Der Rauch verpestet sonst alles. Ich kann Raucher, die immer und überall rauchen müssen, nicht verstehen.« Eine Lüge. Aber das wissen wir noch nicht. In diesem Augenblick ist es eine Wahrheit. Ein unumstößliches Oscar-Gesetz. Er inhaliert gierig. Er legt den Kopf zurück und stößt den Rauch aus. Er erinnert uns an eine alte Lok. Wir müssen lachen und machen ihn auf unseren Vergleich aufmerksam. Oscar lächelt. Sonderlich lustig findet er es aber wohl nicht. Wir können es an seinem Gesicht ablesen. Er denkt nach. Seine Gedanken scheinen abzugleiten. »Ihr werdet keine Fotos machen. Ihr dürft euch Notizen machen. Das ist alles. Haben wir uns verstanden? Und wenn das hier vorbei ist, dann könnt ihr den Bericht bringen. Aber verratet mich nicht. Ich habe Beziehungen. Ihr würdet es bereuen. Glaubt mir.« Wir geben ihm unser Ehrenwort. Wir wissen wohl, dass uns die Polizei in die Mangel nehmen wird, aber wir sind Profis genug, um die Quelle all unserer Informationen nicht zu benennen und zu gefährden. Oscar klopft uns auf die Schultern. Er spielt den stolzen Kameraden. »Ja, ich wusste es sofort. Auf euch ist Verlass. Ihr wisst noch, was der Beruf von einem verlangt. Gute Leute.« Er klopft und

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klopft und nickt mit dem Kopf und sagt dann noch einmal: »Gute Leute.« Es klingt, als würde er sich etwas einreden. Er wirft die Zigarette von sich. »Los geht es!«, ruft er. Er bittet uns darum, dass wir hinten Platz nehmen. Das geht in Ordnung. Wir sind die Begleiter. Wir sind nur die Begleiter.

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