eben seinem Namen und seinem Glauben erbte Kopernikus als Sohn seiner Heimat auch den seit langem schwelenden Konflikt mit dem Deutschen Orden. Sein Vater hatte in Danzig und Thorn sogar selbst gegen die Deutschritter gekämpft, und sein Großvater mütterlicherseits, ein Thorner Ratsherr, hatte Anleihen aufgelegt, mit denen er die sporadisch aufflammenden kriegerischen Auseinandersetzungen der Stadt mit dem Orden finanzieren half. Als kleiner Junge hatte sich Kopernikus in seiner Geburtsstadt in den Ruinen der Ordensburg herumgetrieben. Nachdem sie während der Kreuzzüge im Heiligen Land gewütet hatten, kamen die Deutschritter im frühen 13. Jahrhundert ins Kulmerland, wo sie mit der Burg Thorn ihre erste Festung im alten Preußenland erbauten.
Mehrere polnische Herzöge und Fürsten hatten sie herbeigerufen, damit sie die aufrührerischen Elemente, die es dort allenthalben gab, unter Kontrolle brächten. Rücksichtslos und mit harter Hand unterwarfen die Ritter die slawischen Stämme, die dem Landadel Ärger machten, und bekehrten das Heidenvolk zum Christentum. Fünf Jahrzehnte lang zogen sie kämpfend und missionierend durch Gebiete, die sie schon bald als ihren Besitz betrachteten – ungeachtet der älteren Ansprüche ihrer adligen Gastgeber. Das brutale Auftreten der Deutschritter lief den Interessen der aufsteigenden Kaufmannsschicht und des städtischen Bürgertums zuwider. Als die Stadt Thorn um das Jahr 1280 der Deutschen Hanse beitrat, erbauten sie weiter nördlich an dem Fluss Nogat die mächtige Marienburg, die fortan der Sitz des Hochmeisters des Ordens war. Dank dieser weiträumigen Anlage und weiterer Festungen entlang der Wasserstraßen – zusammen mit dem Hafen von Danzig, das sie 1308 erobert hatten –, kontrollierten die Deutschritter den Zugang zur Ostsee. Über die nächsten hundert Jahre beherrschten sie weitgehend den Bernsteinhandel. Als der Hochmeister des Ordens Polen 1409 die »Fehde« erklärte, zogen seine Ritter in dem anschließenden »Großen Streit« allerdings den Kürzeren, denn die Landesfürsten schlossen sich unter einem starken neuen König gegen sie zusammen. Nachdem die Streitmacht des Deutschen Ordens in der Schlacht bei Tannenberg eine schwere Niederlage erlitten hatte, verloren die Deutschritter in Preußen immer mehr an Einfluss. Im Jahr 1454, um die Zeit, als Niklas Koppernigk senior nach Thorn übersiedelte, erhoben sich die Bewohner
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Verpachtung wüster Hufen Der Hirte Stenzel erhielt drei Hufen, von denen Hans Calau floh. Er erhielt ein Rind, eine Kuh, ein Ferkel, zwei Scheffel Saatroggen und sonst nichts, und ich habe versprochen, ein Pferd hinzuzufügen. Aus einer Eintragung von Kopernikus in das Pachtregister des Kammeramts Allenstein vom 23. April 1517
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der Stadt gegen den Orden. Der erste Zusammenstoß in diesem »Dreizehnjährigen Krieg« hatte die Zerstörung der Ordensburg Thorn zur Folge. Und mit dem Friedensvertrag von Thorn aus dem Jahr 1466 verloren die Deutschritter den Westteil ihres Staates im alten Preußenland. Fortan lag Thorn im offiziell der polnischen Krone unterstehenden »Preußen Königlichen Anteils« (auch als »Königliches Preußen«, »Königlich-Preußen« oder »Polnisch-Preußen« bezeichnet). König Kasimir IV. residierte eine Zeitlang in der früheren Ordensburg Marienburg, kehrte aber schon bald zurück an den traditionellen Königssitz, in das Schloss Wawel in seiner Geburtsstadt Krakau. Die Deutschritter zogen sich in die östlichen Gebiete zurück, wo sie weiterhin gegen ihre polnischen Nachbarn wüteten. Insbesondere Ermland war ihnen ein Dorn im Auge. Schon die Geografie des Bistums war eine Provokation – wie durch einen engen Flaschenhals zwängte sich diese kleine Blase Königliches Preußen in den Deutschordenstaat hinein, um sich dann dort aufzublähen. Bischof Watzenrode hatte in den zwei Jahrzehnten seiner Amtszeit die Angriffslust des Ordens stets in Schach halten können. Bischof von Lossainen fehlte jedoch Watzenrodes Führungsstärke, und so erwies er sich als ein schwacher Gegenspieler für Albrecht von Hohenzollern, den 37. Hochmeister des Deutschen Ordens. Albrecht war erst 21 Jahre alt, als ein Generalkapitel des Deutschritterordens ihn 1511 in das höchste Amt wählte, das der Orden zu vergeben hat. Er war von Anfang an für eine kirchliche Laufbahn bestimmt gewesen und hatte bereits ein Kanonikat am Kölner Dom inne. Neben seinem Glaubenseifer war seine Abkunft ganz nach dem
Geschmack des Ordens: Albrechts Vater, Friedrich II. von Hohenzollern, regierte als Markgraf von Brandenburg-Ansbach und von Brandenburg-Kulmbach zwei Kleinode unter den Territorien des Heiligen Römischen Reichs; seine Mutter, Prinzessin Sofia Jagiellonica, war die Schwester des polnischen Königs Sigismund. In den Augen der Deutschritter verkörperte Albrecht die Hoffnung auf Wiedergewinnung ihres früheren Glanzes, ihres früheren Herrschaftsgebiets und der Oberhoheit über Preußen. Getreu dieser Vision wuchs Albrecht mit Leib und Seele in seine Rolle hinein und warb um Verbündete in Deutschland und in Moskau, während er sich für neue Waffengänge mit Polen rüstete. Münze ist geprägtes Gold oder Silber, womit die Preise der käuflichen und verkäuflichen Dinge berechnet werden, je nach Festlegung durch das Gemeinwesen oder dessen Oberhaupt. Sie ist also ein gewisses Maß für Bewertungen. Nun muß aber das Maß immer eine feste und beständige Größe bewahren, sonst wird die Ordnung des Gemeinwesens zwangsläufig gestört, wie auch die Käufer und Verkäufer mannigfach betrogen werden, wenn die Elle, der Scheffel oder das Gewicht keine bestimmte Größe wahrt. Anfang Juli 1516 wurde ein Bürger der nahe Frauenburg gelegenen Stadt Elbing von acht Deutschrittern überfallen. Sie raubten ihn aus und schnitten ihm beide Hände ab. Das Domkapitel organisierte ein Aufgebot von Männern, das die Räuber bis in das Ordensterritorium hinein verfolgte, wo es einen von ihnen in Gewahrsam nahm. Hochmeister Albrecht forderte die sofortige Freilassung des Gefangenen und rächte sich mit weiteren Übergriffen in ganz Ermland. Am 22. Juli legte Tiede-
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mann Giese, der Kopernikus’ Nachfolger im Amt des Kanzlers geworden war, in einem verzweifelten Schreiben an König Sigismund die Sorgen des Kapitels dar und bat ihn flehentlich um den Schutz, den er vor Jahren versprochen hatte. Die gespannte Lage zwischen den Deutschrittern und der ermländischen Kirche bestand auch noch im November des Jahres, als das Domkapitel Kopernikus zum Administrator seiner ausgedehnten Besitzungen weiter im Süden Ermlands wählte. Der Administratorenposten, der im Turnus zwischen den sechzehn Kanonikern wechselte, bedeutete, dass der jeweilige Amtsinhaber viele Kilometer von seinen Mitbrüdern entfernt war und neue Verpflichtungen auferlegt bekam.
Das Fürstbistum Ermland mit seinen 90 000 Einwohnern war in zehn Bezirke – »Kammerämter« – unterteilt. In sieben von ihnen übte der Bischof die landesherrlichen Rechte aus, darunter in Heilsberg mit der bischöflichen Residenz. Die restlichen drei waren Gemeinbesitz des Domkapitels: im Norden, an das Frische Haff grenzend, Frauenburg, Standort des Doms und Sitz des Domkapitels, südöstlich davon Mehlsack und ganz im Süden Allenstein. Mehlsack und Allenstein zusammen umfassten etwa 60 000 Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche (teils fruchtbares Ackerland, teils Weideland), die das ermländische Domkapitel ernährten und ein ausreichendes Jahreseinkommen für jedes seiner Mitglieder abwarfen. Den Boden ertragreich zu halten hieß, für seine Bewirtschaftung durch Bauern zu sorgen, auf deren Schultern die ganze Last der harten Landarbeit ruhte – ein Personalproblem, das Kopernikus seine gesamte dreijährige Amtszeit als Administrator hindurch beschäftigen sollte. Unmittelbar nach seiner Wahl brach er von seiner Kurie in Frauenburg zum Sitz der Verwaltung der beiden südlichen Kammerämter des Kapitels auf. Während der Jahre im Dienst seines Onkels in Heilsberg hatte er in einer ehemaligen Deutschordensburg gelebt, und nun zog er abermals in eine solche ein: Schloss Allenstein am Ufer der mäandernden Alle (heute Łyna). Sein neues Amt trat er am 11. November 1516 an, dem Martinstag, der nach altem Brauch den ersten Tag des neuen Geschäftsund Verwaltungsjahres markierte. Das gängige Bild von Kopernikus – die einsame, weltabgewandte Gestalt, die sich mit ihren Büchern in eine mönchische Klause zurückgezogen hat oder irgendeinen Ausguck erklimmt, um den Nachthimmel zu erkunden –
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Albrecht von Hohenzollern, 37. Hochmeister des Deutschen Ordens
hat mit der Wirklichkeit in Allenstein kaum etwas gemein. Seine Tätigkeit dort versetzte ihn mitten unter das einfache Volk und ließ ihn an all dessen täglichen Sorgen mitfühlend teilnehmen. Die ihm unterstellten Bauern wohnten in ärmlichen Hütten und lebten in ständiger Furcht vor den räubernden Deutschrittern. Sie zahlten dem Kapitel jährlich eine Preußische Mark Pachtzins pro Landhufe (1 Kulmer Hufe = 16,8 Hektar) für das Recht zu pflügen, zu säen und zu ernten – obschon die Kirche auch einen erklecklichen Teil der Ernte (den »Zehnten«) und darüber hinaus »Scharwerksdienste« als Entgelt für die Verpachtung forderte. In gewissem Sinne war der Bauer Besitzer seines Landes, denn er konnte es seinen Kindern vererben oder an einen anderen Bauern veräußern. Grundsätzlich jedoch hatte die Kirche immer das Heft in der Hand, insofern jeder Besitzerwechsel von Hufen genau wie deren Vergabe vom Administrator vollzogen und in dessen Geschäftsbüchern penibel registriert wurde. Auf eine leere Seite eines solchen Geschäftsbuchs schrieb der neue Administrator: Locatio mansorum per me Nicolaum Coppernic anno Domini MDXVII – »Verpachtung der Hufen durch mich, Nicolaus Copernicus, im Jahr 1517«. Die Pflicht rief ihn zuerst nach Jonkendorf, wo er die Übernahme von drei wüsten, also vakanten Hufen durch einen Bauer namens Merten Caseler absegnete. Der Vorbesitzer Joachim war als Dieb gehängt worden. Aufgrund seiner Vergehen oder seiner Bestrafung hatte er die Felder nicht bepflanzt, weswegen Kopernikus Merten Caseler den Zins für das erste Jahr erließ. Außerdem verzeichnete Kopernikus das Inventar, das mit den überschriebenen Hufen einherging: »Er erhielt eine Kuh, eine
Färse, eine Axt und eine Sichel sowie ein Scheffel Hafer und Gerste für die von seinem Vorgänger vernachlässigte Aussaat.« Unter seine Beurkundung des Geschäfts setzte Kopernikus das Datum »Mittwoch, den 10. Dezember 1516« und trug dann noch nach: »Ich habe auch 2 Pferde versprochen.« Kopernikus war zwischen den 120 Dörfern der Region zu Pferd unterwegs, oft in Begleitung seines Dieners Albert Szebulski oder seines Burschen Hieronymus, die in dem Geschäftsbuch häufig als Zeugen einer Beurkundung genannt werden. Die Entscheidung über jeden einzelnen Fall traf er freilich ganz allein, und sein Wort galt für das gesamte Domkapitel. »Der Schmied Bartold Faber aus Schönwalde erhielt 1 1/2 Hufen, die von Petrus Preus, da er altersschwach ist, verkauft wurden. Von der halben Hufe wird er [Bartold] eine halbe Mark Zins der Herrschaft zahlen, von der anderen Hufe aber schenkte das Kapitel dem genannten Petrus eine Mark auf Lebenszeit.« Mit anderen Worten, Kopernikus erlaubte Bartold Faber, dem Kapitel – der »Herrschaft« – Geld vorzuenthalten und dieses dem Petrus Preus auf seine alten Tage als Rente zuzuwenden. »Nach dessen Tod wird der gesamte Zins an die Herrschaft zurückgehen. Geschehen am Montag nach Laetare [23. März] 1517 in Anwesenheit meines Dieners Albert [Szebulski] und des Hieronymus etc.« Ähnlich verfuhr Kopernikus im Fall des Urban Alde, der »sowohl dem Namen nach als auch in Wirklichkeit ein alter Mann« und obendrein »kinderlos« war: Als Urban sich genötigt sah, einen Teil seines Besitzes zu verkaufen, gewährte Kopernikus ihm für den Rest Zinsfreiheit. Keine Zinsfreiheit gab es dagegen für Jan
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in Windtken, als dieser vier Hufen erhielt. Offenbar sah Kopernikus Jan bestens versorgt durch seinen Onkel mütterlicherseits, Czepan Copetz, der dieses Land bis zu seinem Tod bewirtschaftet und darauf folgendes Inventar hinterlassen hatte: »vier Pferde, ein Fohlen, vier Kühe, sechs Schweine, einen Hinterschinken, einen Scheffel Roggen, einen Scheffel Mehl, 1/2 Scheffel Erbsen, vier Scheffel Gerste, fünf Scheffel Hafer, einen großen Kochkessel, einen Karren, Werkzeug für den Pflug, eine Axt, eine Sense«. In Fittichsdorf stieß Kopernikus auf eine weitere Familie mit einem guten Onkel, der in ihm Erinnerungen an seinen guten alten Bischof wachgerufen haben dürfte: »Gregor Knobel vermehrt seine zwei Hufen um eine Hufe aus dem Nachlass Peter Glandes, der verbrannte. Gregor ist der Vormund der unmündigen Knaben seines Bruders Peter und verspricht, diese zufriedenzustellen, wenn sie erwachsen sind.« Kopernikus’ eigener Bruder war jetzt irgendwo in Italien allein unterwegs, ein Aussätziger, von jedermann gemieden, in dessen Haut langsam die Nerven abstarben. Die letzte Nachricht von Andreas, im Februar zuvor von einem Dritten überbracht, enthielt die Bestätigung, dass er seinen Teil von Onkel Lukas’ Erbe erhalten hatte. Es war mehr als wahrscheinlich, dass die Summe ihm für den Rest seines Lebens ausreichen würde. »Hans Clauke, der zwei Hufen hat, für die er der Kirche in Berting das Erbgeld schuldete, verkaufte, da er seit langer Zeit arbeitsunfähig ist, jene Hufen dem Simon Stoke mit meiner Erlaubnis. Geschehen am 4. Mai.« Sollte Kopernikus mit seiner ärztlichen Kunst kranken oder altersschwachen Bauern beigestanden haben, so hat
er diese Behandlungen nicht in seinem Geschäftsbuch verzeichnet. Der Tod – durch Hinrichtung, durch Feuer, infolge von Krankheit oder Altersschwäche – dezimierte die bäuerliche Bevölkerung im üblichen Umfang. Auch die Landflucht forderte ihren Tribut. »Jacob Wayner, der im letzten Jahr mit seiner Frau geflohen war, [wurde] jetzt vom Schulzen zurückgebracht«, notierte Kopernikus am 2. August 1517. Das Bauerndasein war ein hartes Los – so hart, dass viele das Weite suchten in der Hoffnung, anderswo ein besseres Leben zu finden. Bei mehr als einem Viertel der von Kopernikus beurkundeten Transaktionen ging es um vakantes Land, von dem irgendein Simon oder Martin oder Cosman
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Auf diesem Holzschnitt von Tobias Stimmer hält Kopernikus ein Maiglöckchen in der Hand: in der Ikonographie der Frührenaissance ein Attribut des Arztes.
geflohen war. Üblicherweise nahm der Dorfschulze im Namen des Kapitels die Verfolgung solcher Flüchtlinge auf und brachte sie an ihren Arbeitsplatz zurück, damit der Boden nicht zur Brache oder, schlimmer noch, von Wald oder Buschwerk überwachsen wurde, in welchem Fall man neuen Pächtern die Aufgabe, den Boden zu roden und neu zu bestellen, durch Geld schmackhaft machen müsste. Jacob »erhielt eine Hufe des verstorbenen Caspar Casche«, heißt es in Kopernikus’ Geschäftsbuch weiter, »mit einem baufälligen Haus von geringem Wert, das von den Erben und Verwaltern deswegen verlassen worden ist. Ich habe ihm mit seinem Einverständnis ein Pferd gegeben, ein Viertel der Saat, etwas vom Sommergetreide und die Freiheit vom nächsten Zins.« Sodann trug Kopernikus noch Michael Wayner, den Bruder des Ausreißers, als »Bürge[n] für immer« in sein Buch ein – der dafür einstehen sollte, dass Jacob nie wieder weglaufen würde. »Gregor Noske erhielt die 1 1/2 Hufen, von denen Matz Leze wegen des Verdachts auf Diebstahl floh.« In jedem Monat des Jahres ging unter den Bauern Land von einer Hand in die andere über – »am Vorvorletzten des Januar«, »am Samstag vor dem Palmsonntag«, »am Tag der Heiligen Peter und Paul«, »am Fest St. Michael«, »am Tag der hl. Caecilie«, »am Tag der elftausend Jungfrauen«. Auch während er das Pachtregister führte und dabei mal nach dem weltlichen, mal nach dem kirchlichen Kalender datierte, setzte Kopernikus sein einsames Ringen um die Bestimmung der wahren Länge des Jahres fort. In
seiner Stellungnahme zur Problematik des Julianischen Kalenders gegenüber dem Laterankonzil hatte er wahrscheinlich beklagt, dass die Astronomen keine Kenntnis der genauen Jahreslänge besäßen. Ob mit oder ohne Kalenderreform, Kopernikus musste Gewissheit über diesen fundamentalen Parameter haben. Die Jahreslänge entsprach der Umlaufzeit der Erde um die Sonne – oder, wie andere Astronomen meinten, der Sonne um die Erde – und betraf deshalb fast alle Berechnungen im Rahmen der heliozentrischen wie auch jeder anderen Planetentheorie. »Der Hirte Peter in Thomasdorf erhielt zwei Hufen, die wegen der Flucht des Hans vakant sind.« In einer Mauernische an der Südfront von Schloss Allenstein, gleich vor seiner Privatwohnung, legte Kopernikus eigenhändig ein Instrument zur Jahresmessung an. Nachdem er auf die roten Ziegelsteine eine Schicht von weißem Gips aufgetragen hatte, malte er auf die glatt gestrichene Fläche das Zifferblatt einer Sonnenuhr. Die Linien und Ziffern müssen, als sie noch neu waren, schwarz und rot gewesen sein, obschon sich die Farben auf den verblassten Bruchstücken des Zifferblatts, die noch heute an der Schlosswand kleben, nur mehr erahnen lassen. Darunter, auf einen Tisch oder auf den Boden, legte er einen Spiegel (vielleicht benutzte er auch eine Schale Wasser), der die Sonnenstrahlen auffing und auf das Zifferblatt reflektierte, auf welchem Kopernikus dann markierte, wie sich die Mittagshöhe der Sonne im Gang der Jahreszeiten änderte. »Jakob aus Jomendorf erhielt zwei Hufen, die ihm der altersschwache Markus Kycol mit meiner Erlaubnis verkaufte.«
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Die Sonne erreicht ihren mittäglichen Höchststand über dem Horizont zur Sommersonnenwende, am längsten Tag des Jahres, und die Jahreslänge ließ sich durch Messen der Zeit zwischen einer Sommersonnenwende und der nächsten bestimmen. Oder man könnte die Zeit zwischen der Frühlingstagundnachtgleiche eines Jahres – dem Zeitpunkt, zu dem die Sonne beim kalendarischen Frühlingsbeginn auf ihrer scheinbaren Bahn um die Erde die Äquatorebene passiert und dabei den Tag in gleich große Hälften der Dunkelheit und der Helligkeit teilt – und der folgenden Frühlingstagundnachtgleiche messen. Die Tagundnachtgleichen waren für Kopernikus leichter dingfest zu machen als die Sonnenwenden, weil die tägliche Veränderung des Sonnenstands im Vorfeld der Ersteren stärker ausfällt als vor dem längsten und kürzesten Tag des Jahres. Den genauen Zeitpunkt einer Tagundnachtgleiche zu bestimmen, stellt gleichwohl noch den sorgfältigsten Beobachter vor eine große Herausforderung. In manchen Jahren entzieht er sich gänzlich der Beobachtung, etwa wenn er am fraglichen Tag in die Nachtoder Dämmerungsstunden fällt. Kopernikus umging die natürlichen Hindernisse, indem er über mehrere Tage vor und nach dem erwarteten Ereignis mittägliche Beobachtungen anstellte und den gesuchten Zeitpunkt dann durch Interpolation ermittelte. Seine Berechnung lieferte ihm eine bis auf die Minuten, ja Sekunden genau definierte Jahreslänge, und das in einer Epoche, als noch keine Uhr die Zeit in so kleine Einheiten zu stückeln vermochte. Er wiederholte das Verfahren Jahr für Jahr und führte seine Zahlen zusammen, um noch genauere Ergebnisse zu erzielen. Zur Verbreiterung seiner Datenbasis bezog er auch einige
Ergebnisse des Ptolemäus in seine Berechnungen mit ein, und er übernahm Ptolemäus’ Praxis, kalendarische Daten anhand der Regierungszeiten antiker Herrscher zu beziffern. So erinnerte er sich, wie er in Frauenburg die Herbsttagundnachtgleiche beobachtet hatte, »und zwar im Jahre 1515 nach Christi Geburt am 14. September, das war nach Alexander’s Tode im 1840sten ägyptischen Jahre am 6ten Phaophi, eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang«. Trotz der etwas schwerfälligen Formulierung, zu der er nötigte, fand der ägyptische Kalender seiner Beständigkeit wegen Anklang bei Kopernikus’ Zeitgenossen: Die Liste der Könige reichte zurück bis ins 8. vorchristliche Jahrhundert, und jedes Jahr setzte sich zusammen aus zwölf Monaten zu je dreißig Tagen plus fünf am letzten Monat angestückelten Zusatztagen – Schaltjahre gab es nicht. Wandelte man ein Datum des 16. Jahrhunderts in ein solches ägyptischen Stils um, ließ sich mühelos die Zeit berechnen, die eine eigene Beobachtung von einer ähnlichen des Ptolemäus trennte. »Jakob … besitzt zwei Hufen und hat diese mit meiner Erlaubnis dem Lorenz, dem Bruder des Schulzen, verkauft.« Das Geld, mit dem die Bauern bei ihren Geschäften zahlten, war ein Gemisch von alten und neuen Münzen preußischer wie polnischer Herkunft. In der Region prägte der Deutsche Orden seit dem 13. Jahrhundert Preußische-Mark-Münzgeld, aber mit Beginn des Dreizehnjährigen Krieges 1454 dehnte König Kasimir das Münzrecht auf die Städte Thorn, Elbing und Danzig aus. In rascher Folge brachten die Stadtbürger nun ihr eigenes preußisches Münzgeld heraus, in den vertrauten Bezeichnungen Mark, Skot, Groschen und Pfennig. Weil
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es allerdings nichts gab, was einem gesetzlichen Münzfuß oder einem amtlichen Umrechnungskurs auch nur nahegekommen wäre, schwankte der Materialwert einer Mark – ihr Silberanteil – von Münzstätte zu Münzstätte. Mitunter änderte sogar ein und dieselbe Münzanstalt nach Belieben das Verhältnis von Silber zu Kupfer in ihrem Geld. Infolge eines verdächtig schwindsüchtigen Silberanteils in aufeinander folgenden Emissionen wog eine neue Mark weniger als eine alte, wenngleich sie vorgab, dem alten Wert zu entsprechen. Kopernikus verglich Münzen mit Hilfe einer Balkenwaage und wies so den Gewichtsunterschied nach. Er wusste, dass gewiefte Bürger sich die Diskrepanz zunutze machten, indem sie nur neue Münzen ausgaben, die alten aber horteten, um sie dann zum Goldschmied zu tragen und des höheren Werts ihres Feinmetallgehalts wegen einschmelzen zu lassen. Andere Unsitten wie beispielsweise das Abzwicken kleiner Stücke vom Rand der Münzen trugen ebenfalls zum Währungsverfall bei. Manchmal waren die Pfennige, mit denen die Bauern den Abschlag auf den Pachtzins zahlten, in langem Gebrauch so sehr gedrückt und befingert worden, dass sie ganz abgewetzt waren. Kopernikus war sich all dessen bewusst und brachte einen Teil seines ersten Sommers in Allenstein damit zu, persönliche Betrachtungen zu dem seines Erachtens Besorgnis erregenden Zustand der preußischen Währung niederzuschreiben. Diese Meditata – seinen lateinischen Entwurf einer Denkschrift über die Problematik des Münzwesens – stellte er am 15. August 1517 fertig und ließ sie anschließend, ganz ähnlich, wie er es mit dem Ersten Entwurf gemacht hatte, unter einigen ausgewählten Freunden zirkulieren.
Zur selben Zeit, da Kopernikus seine Bedenken betreffend das Finanzwesen auflistete, verfertigte ein Priester, Augustinermönch und Theologieprofessor namens Martin Luther in Wittenberg ebenfalls eine Liste. Darin zählte er die zahlreichen Beschwerden auf, die er gegen die katholische Kirche vorzubringen hatte, und prangerte deren Praxis an, Ablassbriefe als Garantieurkunden für die Erlangung des Seelenheils zu verkaufen. »Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt«, hatte Luther geldgierige geistliche Ablasskrämer verkünden hören. Wie Kopernikus’ Meditata waren Luthers »95 Thesen« eigentlich nur für einen ausgewählten kleinen Kreis von Bekannten bestimmt. Doch während Kopernikus’ Ratschläge zur Verbesserung des Münzwesens eine höfliche Reaktion auslösten, die ihn kaum von der
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»Der große Reformator« Martin Luther. Gemälde von Lucas Cranach d. Ä.
Wahrnehmung seiner Amtspflichten ablenkte, entfachte Luthers Empörung ein Feuer, das bald zu einem Flächenbrand geriet. »Voytek, der ebendort zwei Hufen hat, erhielt zwei weitere Hufen, die lange verlassen waren wegen der Flucht des verstorbenen Stenzel Rase, und er wird den nächsten Zins zahlen.« »Lorenz, der eine Gastwirtschaft ins Branswalt gekauft hatte, verkaufte mit meiner Zustimmung vier Hufen.« Im November 1518 erreichte Kopernikus die Nachricht, dass Andreas nach langem Leiden den Endstadien der Lepra erlegen und aus dieser Welt geschieden war. Während er den Tod des Bruders betrauerte, verlor sein Freund Tiedemann Giese durch die in Polen ausgebrochene Pest seine beiden Schwestern. »Stenczel Zupky erhielt zwei Hufen für 33 Mark, die ihm Matz Slander mit meiner Erlaubnis verkaufte.« Vertreter der preußischen Landstände, denen Kopernikus’ Schrift Meditata zur Kenntnis gelangt war, hielten sie für wert, auf einem Landtag diskutiert zu werden. Kopernikus zeigte sich bereit, den Text den Abgeordneten aus Danzig zuliebe ins Deutsche (das in dieser Stadt, wenn sie auch der polnischen Krone unterstand, noch immer Amtssprache war) zu übersetzen. Bis Ende 1519, als seine Amtszeit als Administrator zu Ende ging, stellte er eine überarbeitete deutsche Fassung her und freute sich darauf, seine Vorschläge zur Verbesserung des Münzwesens – nicht zuletzt durch Festsetzung eines Münzfußes – realisiert zu sehen. Wenige Wochen nach seiner Rückkehr nach Frauenburg brach jedoch der seit langem drohende Krieg mit dem Deutschen Orden aus. Am 31. Dezember überfiel Albrecht Braunsberg, die größte
Stadt Ermlands. Kopernikus ritt von Frauenburg zum knapp zehn Kilometer entfernten Braunsberg, um mit Albrecht zu verhandeln, aber in zweitägigen Gesprächen als Bevollmächtigter des Bischofs, am 4. und 5. Januar, konnte er dem Hochmeister nichts weiter abringen als die Zusage sicheren Geleits für den Fall, dass er in Zukunft neuerlich Verhandlungen aufnehmen wolle. Mit leeren Händen kehrte er heim. Zwei Wochen später, am 23. Januar 1520, griffen Albrechts Reiter Frauenburg an, plünderten und brandschatzten die Stadt. Lediglich die befestigte, von einer Phalanx polnischer Soldaten geschützte Domburg entging der Zerstörung. Kopernikus’ Kurie außerhalb der Domburg wurde in Schutt und Asche gelegt. Auch sein pavimentum lag in Trümmern.
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